meine reise zu chaplin

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SV

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Patrick RothMeine Reise zu Chaplin

Ein Encore

Suhrkamp Verlag

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Erste Auflage 997© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 997

Alle Rechte vorbehaltenSatz: Libro, Kriftel

Druck: Allgäuer Zeitungsverag, KemptenPrinted in Germany

ISBN 3 518 40948 4

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Für Louis Begley

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Love comes unseen.Amerikanisches Sprichwort

All I need is the opportunity.Charlie Chaplin

Der flüchtige Held aber sprang in eine Kapelle,die in der Nähe war, und gleich oben zumFenster in einem Satze wieder hinaus.

Brüder GrimmDas tapfere Schneiderlein

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Alles beginnt im Dunkeln.Ich lag als Fünfjähriger mit schwerem Fieber

im Bett, da hörte ich meine Großmutter derMutter zuflüstern:

»Laß den Bub doch Chaplin kucken, wenn eraufwacht. Der tut ihm sicher gut.«

Die ersten Bilder von ihm, die ich nach demUmgebettetwerden vom Sofa aus sehen durfte,unterschieden sich nur geringfügig von meinenAlpträumen, liefen hastig im Fieberschwarz-weiß des Kriegs vor mir ab, lösten Lachsalvenbei Großmutter und Eltern aus, die mir unver-ständlich blieben, weil ich mit meinen fiebrigenAugen die Figuren in den unscharfen und wievon Hahnenfüßen zerkratzten, heller und dunk-ler flatternden Fernsehbildern nur geköpft-kopflos hin- und herwuseln sah. Schlachthof-komik, grauenhaft! Ich sah weg, schob die Handunters Laken und schlief wieder ein.

Charlie Chaplin war in Bemerkungen meiner

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Eltern, Erzählungen der Großeltern, der On-kel und Tanten, wiederholt aufgetaucht.Sprichwörtlich war er, als habe es »Chaplin«schon immer gegeben. Und schnell. Wenn seinTramp irgendwo was angestellt hatte, ließ ersich nicht fassen, schlug schneller zu als dieanderen, entkam schneller, um schnell irgend-wo noch schnell anderes anzuzetteln.

Unglaublich. Aber wahr. Denn Chaplin be-saß, gerade weil ihn die Erwachsenen nannten,auch Wirklichkeit. Im Kindergarten wußte maleiner von uns:

»Der hat doch auch die Autobahn gebaut.«Na klar. Und leicht einzusehen, warum. Denn

auch die Autobahn war »schnell«, vom Herrnder Ungeduld, vom Herrn der Fluchtwege ge-baut, damit auch andere Leute, mein Vater zumBeispiel, Gelegenheit hätten, sich am Wochen-ende per Aufholjagd schnell bei Verwandten zuzeigen, sie aber, wenn’s uns Kindern langweiligwurde oder ein Heimspiel des KSC bevorstand,ebenso schnell wieder im Rückfenster des klei-nen VW verschwinden zu lassen.

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Schon in Chaplins Namen erschien unsSchnelligkeit mit Komik gemischt. CHAP wardas Geräusch, das ein Zweig machte, wennman ihn in fliegendem Lauf mit raschemSchwertstreich abschlug: CHAP! Unheimlichnah waren wir damals, ohne’s zu ahnen, einerHerleitung seines Namens, die »Chaplin« alsenglische Variante des französischen chaplain(»Kaplan«, eigentl. »Geistlicher in einer Kapel-le«) deutet, dahinter aber noch die Capellanierkennt, jene Hüter der capa, des Mantels SanktMartins, den der Heilige mit einem Schwert-streich teilend dem frierenden Bettler zuge-worfen hatte. CHAP.

Schwertstreich bleibt Schwertstreich, hättenwir damals gesagt. Die VerkleinerungsformCHAP-lin jedenfalls bedeutete uns soviel wie»kleiner Streich« oder »Kleiner, der Streichemacht«.

Was für Streiche?Streiche, die Spuren hinterlassen.Insofern waren auch jene verkratzten Film-

streifen, die das Fernsehen zeigte (die großen

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Filme hatte Chaplin damals aus dem Verkehrgezogen), bei uns Kindern enorm beliebt. Esschien uns, als seien die Kratzer durch Chap-lins wahnsinnig schnelles Handeln, durch seineUnruhe, juckende Ungeduld, herrliche Streit-süchtigkeit, durch seinen zähen Lebenswillenund seine Lust zu Streichen entstanden. DerKleine, der Streiche macht, wollte gesehen wer-den, weigerte sich schon in seinem ersten öf-fentlich gezeigten Streifen, Kid Auto Races AtVenice, der Kamera aus dem Weg zu gehen, ver-kratzte uns kräftig das Glas, hinter dem wirsaßen und glotzten, und sagte damit: »Ja,schaut her! Her zu mir! Wie ich die Kurve krat-ze! Beißt euch durch! Hinterlaßt Spuren!« JedesKind hat ihn wortlos so verstanden.

Wieder im Dunkeln.Acht Jahre später.Wir saßen im Kino, dreizehnjährig, ließen

uns von Doktor Schiwago überrollen, verliebtenuns alle in Julie Christie, die Mädchen in OmarSharif. Aber spätestens auf dem Nachhause-

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weg, als ich ihre Augen nicht vergessen konnte,hatte ich eine zweite Geliebte: die Frau, dieSchiwago zurückgelassen, der er untreu gewor-den war und die, wie wir wußten, »in Wirklich-keit« Geraldine Chaplin hieß, Charlies Tochter.

Die von Schiwago zu Unrecht Verlassenewar, so schien es mir, in ihrem Verlassensein,ihrem verlassenen Treubleiben, nur noch schö-ner geworden, hatte sich ganz in ihre Augenzurückgezogen, diese zu schwarzen Schlitzengeschlossen, auch die schreckweiße Haut ihresKörpers so eng um sich gespannt, daß es michnoch in der Erinnerung überkommt, wie sehrman als Junge die Arme um sie legen, sie wär-men und lebenslang liebhaben wollte.

Im selben Jahr entdeckte ich auf dem Schul-hof eine Quintanerin, die Geraldine Chaplinähnlich sah. Und wie diese schien sie sich ihrerirrsinnigen, eigenartigen Schönheit überhauptnicht bewußt. In fliegendem Lauf, aus der Mit-te des Flüsterbogens, den zwei Freundinnenum sie schlössen, stieß ihr Bild in mich, ver-schlug mir Schwertstreichs den Atem: CHAP.

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Während jeder Schulpause gab es jetzt nureines: sie zu finden, sie zu sehen und – viel-leicht – von ihr gesehen zu werden. Sie an-zusprechen, hielt ich seit ihrem Auftritt inunserer Aula für ausgeschlossen. In Anwesen-heit aller Schüler hatte sie auf ihrer QuerflöteDebussys Syrinx gespielt. Syrinx, das ist die Flö-te des Pan. Aber auch der Name des Mädchens,das sich dem Gott noch unter der Hand aus-gelöscht hatte, verwandelt entkommen war.Panisch-chaplinesk war auch meine Reaktion:unnahbar war sie jetzt, denn »niemand kam ansie heran« – aber auch grenzenlos begehrens-wert.

Einmal, wieder beim Gehen, auf dem Pau-senweg, hielten ihre Mitengel überraschend,umstanden sie schützend. Scheinheilig mußteich weiterlaufen, wollte den Deckmantel deslässigen Pausenschlenderers nicht verlieren.Als ich nahekam, verlangsamte ich doch, dennich sah: Sie hatte einen ihrer Zöpfe gelöst, umihn mit schnellen Fingern neu zu flechten. Se-kundenlang glaubte ich genau zu wissen, wie

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fließend-glatt ihr Haar sich anfühlte, wie kühlund dichtgepreßt es in den schwarzen Zopf-spangen stak, die ihre Fingerspitzen abschlie-ßend berührten. Ich war an der Gruppe fastschon vorbei, da blickte sie auf und sah mich:sehen. Errötete, als schaute ich auf eine Blöße.Strich sich den Zopf über die Schulter und lä-chelte mir zu.

Warum bin ich damals weitergegangen?She sends me. Diese heute veraltete Redensart

Verliebter war in den USA der fünfziger Jahrenoch oft zu hören. Ende der Sechziger ent-sprach ihr dann: she turns me on (sie erregt mich).Aber in she sends me war noch das Bild der Reisebeschlossen, Reise ins Reich der Gefühle, Bilddes Reisenden, der der »Senderin« zusingt: Iwould do anything foryou. Tödlich-wörtlich ist das

zu nehmen, bis zur Selbstaufgabe, Gefangen-schaft, grausam genug. Denn der »Gesandte«,dieser reisend Liebende, dient immer. Dient –ohne ’s zu wissen – dem Gott, Eros, dem allesLieben, alles Fragen gilt. Dem daher alle gro-ßen Reisen gelten. He sends you.

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In der Nacht, die über meine Reise nach LosAngeles und meine nächsten 22 Jahre entschei-den sollte, saß ich Rücken an Rücken mit eineramerikanischen Anglistikprofessorin der Frei-burger Uni. Unter der Leitung eines englischenRegisseurs probten die Lehrkräfte des Fachbe-reichs Anglistik eine Aufführung von ArthurMillers The Crucible – im Original. Ich war dereinzige Student, der mitwirken durfte. Rücken-an-Rücken war eine exercise, mit der unsere»Sensibilität für non-verbales Kommunizie-ren« erprobt werden sollte. Eine Erfahrung,die in einem Sinne wenigstens sending verlief.Zwar sprang beim Sich-Streifen, Sich-Reibender blinden Schulterblattpaare nichts über aufsPaar. Denn wir dienten nicht, auch nicht un-wissentlich; sondern benutzten »Technik«: sehrwohl wissentlich. Aber als der Regisseur ein-mal sah, daß sich unsere Hände beim Abstüt-zen versehentlich berührten, rief er: »Hey, nohands!«, als hätten die allerdings den springen-den Funken erzeugen können.

Aus jener Übung jedenfalls kam das Signal

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zur Reise. Unsere rollenden Wirbel und schlei-fenden Schultern erinnerten die Amerikanerinan die milde, die beste Sorte kalifornischerearthquakes. Ob ich jemals in Kalifornien gewe-sen sei?

»Hey, no talking eitherl«Der Regisseur wollte es stumm. Worte wür-

den die Übung stören. Aber stumm war balddoch zu intim, der Rücken des anderen zurProjektions fläche geworden. Was da unsicht-bar vieldeutig abrollte, wollte in Worten aufge-halten, entzaubert sein – um dann doch wiederzweideutig nachzuhallen.

»Nein, aber da würde ich gern einmal hin«,flüsterte ich zurück und zog die rechte Schulterhoch in Richtung ihres Nackens.

Später, in einer Pause, wurde es sachlicher.Als ich fragte, welches Stipendium sie mir fürdie USA empfehlen könne, sagte sie:

»Die Formulare dafür hab ich noch irgend-wo. Ließ ein Freund bei mir liegen.«

Wir gingen in ihre Wohnung, konnten – oderwollten – die Papiere nicht finden. Da sah ich

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ein Chaplin-Poster, das sie auf der Außenseiteihrer Badezimmertür angebracht hatte. Ichwies aufs Plakat. Sie mißverstand wohl, ver-schwand etwas murrend hinter der Tür undbegann im Badezimmer weiterzusuchen. DasPoster zeigte den Tramp auf einer Quaitreppebei Nacht, in seiner Hand: eine Blume.

»Aus welchem Film stammt denn das Po-ster?« rief ich.

Keine Antwort.Etwas verlegen kam sie aus dem Badezim-

mer hinter Chaplins Treppe hervor und reichtemir ein paar feuchtgewordene Formulare. Siehatte sich auch Lippenstift nachgezogen.

»Abgabetermin war heute. Schade.«Schade? »Dann hab ich doch noch ne halbe

Stunde, bis der Nachtschalter schließt.«Ich wußte: Jetzt Kurve kratzen, schnell jetzt,

nur schnell …

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Ein Jahr später sah ich in Los Angeles denChaplin-Film, dessen Titel sie mir schuldig ge-blieben war.

Man hatte mir ein zweisemestriges Angli-stik-Stipendium bewilligt. Den Großteil derZeit aber brachte ich mit praktischen Film-studien im USC Cinema-Department zu. Allezwei Wochen entstanden unsere Stummfilme,Super-8-Epen, in die wir alles packten, waswir »gesehen«, besonders Eisenstein, Welles,Hitchcock, Sternberg, Ray, Peckinpah undKurosawa abgeschaut hatten.

Vor allem, Form. Alles war Form. Wir warenim Form-Rausch. Kamerawinkel, Tiefenschär-fe, Beleuchtung, Bildkomposition und Aus-schnitt, Bewegung der Kamera zum Schauspie-ler, des Schauspielers zur Kamera. Sonst hattenwir Augen für nichts. Zum Beispiel FLOG inunseren Streifen die KAMERA wellesisch-ag-gressiv aus einer TOTALEN im LOW ANGLE

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zur Rückenpartie einer Halbnackten in Hitch-cock-Unterwäsche auf, die sich - im sternberg-schen Chiaroscuro eines MEDIUM CLOSE UP

– wellesisch-barock zur Kamera drehte, denTelefonhörer ans Ohr gepreßt, wild ihren blon-den Haarschweif in Peckinpah-SLOW MO-TION nachkreisen ließ, während die rotierendeWählscheibe im CRESCENDO eisensteinscherFLASH CUTS entgegengesetzt kreiste und –plötzlich hielt. Ausdruck größter Überra-schung auf dem Gesicht der Blonden. In gel-lendem Ray-Rot brach dimegroß ein Schuß inihre Stirn, dieselbe Farbe klatschte den Loch-kranz der Wählscheibe voll, dann trat der –Kurosawa-REISS-SCHWENK – lüstern grin-sende Killer aus den Schatten hervor und ver-ließ in der ÜBERBLENDUNG zur HIGH-ANGLE TOTALE lässig den Tatort. So etwa.Stories und Charaktere waren fast nebensäch-lich, wenn nur die Spielzeugbedienung stimmte.

Chaplins City Lights – in der Kleinanzeigeauf den Kinoseiten war das today only kaum zuentziffern – lief in einem verfallenden Kino

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namens »Encore«, einem revival house, das aus-schließlich alte Filme zeigte. Das ENCORE lagneben einem doppelt so großen Parkplatz EckeMelrose und Van Ness in Hollywood. Ich be-saß damals noch kein Auto, überzeugte abereinen japanischen Physikstudenten, der lüsterngrinsen konnte und in unseren Filmen auch alsFahrer öfter zum Einsatz kam, daß es für seinenächste Rolle von großer Wichtigkeit sei, die-sen Stummfilm, der – immerhin in Anwesen-heit Einsteins! – vor 44 Jahren in Los Angelesseine Premiere gefeiert hatte, noch heute mitmir anzusehen.

In jener Nacht glich der Parkplatz des EN-CORE einer leerstehenden Festung. Statt diebrüchig gewordene Leinwand des alten Kinosauszuwechseln, hatte der Besitzer gerade füreinen neuen Zaun, für Stacheldraht und Flut-licht bezahlt, als gälte es, dem Verfall des EN-CORE vom Parkplatz aus zu wehren. Uns kames vor, als seien die Besucher von City Lights ingroßer Gefahr, im Dunkel des ENCORE alleszu verlieren. Ein dicker mexikanischer Wach-

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ter mit Sonnenbrille saß, bis an die Zähnebewaffnet, am Eingang des Gevierts und beru-higte uns:

»Is jus’ for your security.«Von wegen security. Kurz nach Beginn der

Show hörte ich das knarzende Leder seinesPistolenhalfters. Er hatte sich ein paar Reihenhinter uns niedergelassen, die Sonnenbrille ab-gezogen, um Chaplin zuzusehen.

Als wir nach der Vorstellung vors ENCOREtraten, schien die stille Avenue von Regen zuglänzen. Es waren aber nur die Augen, nochverweint von der letzten Szene des Films. Mei-ne Unruhe, meine Hast waren gewichen. DieBegeisterung, die ich für City Lights empfand,war grenzenlos ruhig. Ich war hilflos, wußtenicht, wie der Film gemacht war. War glücklich,so hilflos zu sein. Alles Suchen nach Form warwie weggesprengt. Das Unnachahmbare konn-te nur angestaunt werden.

Der Wächter rief, er müsse schließen. Aberich konnte nicht weiter. Ich stand noch immeram Rinnstein vor dem Kino und dachte: Ich

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werde in dieser Stadt bleiben. Irgendwie werdeich das schaffen, auch ohne Stipendium. Ichwerde hierbleiben, weil Chaplin als Fremderhierherkam, nicht aufgab. Weil er Spuren hin-terlassen hatte … City Lights entstand nur we-nige Meilen vom ENCORE entfernt.

Wir gingen noch nicht nach Hause, sondernmachten den kleinen Umweg Richtung SunsetBoulevard und kreuzten ein paarmal auf undab vor Chaplins altem Studio Ecke La Brea undDe Longpre Avenue. Dann entschlossen wiruns zur größeren Reise: fuhren nach BeverlyHills, den Benedict Canyon hinauf, zum Sum-mit Drive, wo er, bevor er ins Exil gedrängtwurde, lange gewohnt hatte, und weiter, nachWesten, bis ins mitternächtliche Venice, zu denStraßen am Strand, wo Chaplin vor sechzigJahren zum ersten Mal als Tramp aufgetretenwar.

Kurz darauf kamen die Weihnachtsferien.Ich flog für ein paar Wochen nach Deutsch-land, besuchte die Anglistikprofessorin in Frei-burg. Ihr Badezimmer lag noch immer hinter

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Charlies Treppe. Aber für meinen Plan, in dieSchweiz zu fahren und Chaplin dort zu besu-chen, »war sie nicht zu begeistern.

»You’ll be wasting your time.«Zweiundzwanzig Jahre ist das jetzt her. Ich

war zweiundzwanzig Jahre damals und befand,es sei meine Zeit und ganz an mir, sie an meineInteressen zu verschwenden.

Meine Eltern, die einige Tage in Gstaad ver-brachten, waren ebenfalls gegen die Reise.

»Nach Vevey? Chaplin besuchen? Jetzt wohlvöllig verrückt geworden, was?«

Ich sagte, mir würde es schon vollauf genü-gen, die … – ich hatte keine Ahnung, wie dieGegend um Chaplins Haus aussah – … dieBlätter der Hecke vor seinem Haus zu berüh-ren.

»Jedenfalls muß ich dort hin. Jetzt oder nie.«

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Die Eltern hielten mich noch über Silvester,aber am Morgen des . Januar 976 brach ichzum Gstaader Bahnhof auf, kaufte mir fürachtzehn Franken und vierzig Rappen ein Bil-let zweiter Klasse und stieg in den Zug nachVevey.

Man fuhr westwärts über Montreux undkam nur mühsam voran. Kaum war beschleu-nigt worden, wurde schon wieder verlangsamt,um im nächsten Gebirgsdörfchen zu halten.Als wir die letzte Berghöhe endlich erklommenhatten, ich den prächtigen Spiegel des GenferSees unter mir ausgebreitet sah, schien der Zugstillzustehen, überhaupt nicht mehr weiterzu-wollen. Es war, als solle sich jeder Zuggastdiesen Anblick einprägen. Ich saß am Fenster,aber See und Landschaft beschäftigten michnicht.

Wäre ich nicht in Angst gewesen, Vevey zuversäumen, ich hätte kaum aufgeschaut. Denn

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während der Reise schrieb ich den Brief. DenBrief an Chaplin. Den Brief, den ich bei ihmabgeben wollte. Schrieb ihm vom Kinobesuchdes Filmstudenten im ENCORE auf MelroseAvenue (idiotisch, als müsse er dieses Kinonoch kennen!), schrieb ihm, wieviel mir CityLights bedeutete, »shell of all emotions«, die michimmer noch gefangenhielt, und daß er meinLeben verändert hatte: Ich würde L. A. nichtaufgeben, sondern neu dort beginnen.

Stundenlang schrieb ich an diesem Brief,schrieb zögerlich, verzagt, dann wieder wahn-sinnig mutig, dachte: Er wird ihn lesen, er muß,du wirst sehen.

Sofort waren mir Niederlage und Demüti-gung ebenso gewiß: Glaub doch nicht, daß erdavon auch nur erfährt!

Aber das angstgelähmt-selbstvernichtendeMoment wurde vom lächerlich anmaßendenüberschrien. Damals hätte ich mich vor jedenGott gewagt.

In Vevey angekommen, entschied ich: DiesenBrief wird er sowieso nicht lesen. Ich über-

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querte die Place de la Gare, setzte mich insnächste Gasthaus, bestellte einen Kaffee, be-stellte ihn wieder ab, bestellte Mineralwasserund schrieb den Brief schließlich ins reine. Diegefalteten Blätter legte ich in ein weißes Ku-vert, das ich mitgebracht hatte.

Draußen, unter grauem Himmel, wartete eineinsames Bahnhofstaxi. Ich stieg ein.»Manoir de Bern, s’il vous plaît.« So hieß dieChaplin-Residenz, die, wie ich wußte, irgend-wo oberhalb Vevey in Corsier-sur-Vevey liegenmußte.

»Aaah, vous voulez voir Monsieur Charles Chap-lin«, sagte der Taxichauffeur und ließ denFlachmann, aus dem er getrunken hatte, imSeitenfach der Tür verschwinden. »C’est ça?« Inseinem Ton war durchaus zu hören: Und wersind Sie? Gast oder Attentäter?

»C’est ça«, antwortete ich, mein weißes Ku-vert in der Hand.

Der Taxifahrer erzählte mir, Chaplin seheman nur noch selten. Manchmal werde er vonOona, seiner Frau, in die Stadt gefahren, um

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Zeitungen zu kaufen. Er bleibe dann im Wagensitzen, sehe dem Treiben der Leute zu: »Il re-garde comme les gens bougent.« Ach, er sei alters-schwach und kindisch geworden.

Er sagte gâteux (altersschwach), was ich nichtverstand, sondern mit gâté (verwöhnt) ver-wechselte. Letztere Bedeutung ergab durchausSinn und erschien mir in bezug auf den großenMann gar nicht abwertend. In meiner Vorstel-lung jedenfalls lebte kein altersschwacherMann im Manoir de Ban, sondern Chaplin, derAutor von City Lights.

Als wir den Bahnhofsplatz verließen, sah ichzum Fenster hinaus. Da, auf einer Bergterrassehinterm Bahnhof … was war das?

»Pas le Manoir en tous cas«, lachte der Taxifah-rer. Das sei die Eglise St. Martin, die schönsteKirche am Ort.

Hätte ich ihm erklären sollen, was sie mir imZusammenhang mit Chaplin – und dem ver-schwundenen Flachmann – bedeutete? DerTaxifahrer hätte wohl kaum gelacht. Trotzdemwar es ein geradezu mythisch-chaplineskes De-

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tail, daß der mantelteilende Sankt Martin ledig-lich deshalb zum Schutzheiligen der Trinkerwurde – der bold drunks oder Trunkenbolde, dieChaplin in unzähligen Filmen spielte –, weilihm der . November im Kirchenkalender alsFesttag bestimmt worden war. An diesem Taghatte man aber bisher das Weinfest gefeiert, dasdem heidnischen – von Pan begleiteten – Dio-nysos Bacchus galt. Aus den Vinalia des Alter-tums wurden die Martinalia des Mittelalters,und was getilgt werden sollte, gerade an Mar-tini, dem Martinstag, ausschweifend löschenderinnert.

Vor allem in den Kurven ließ sich der Flach-mann hören. Mit nüchternen Fragen versuchteder Taxifahrer das Geklapper zu überspie-len.

»Sind Sie zum ersten Mal in Vevey?«Ich bejahte, wich weiteren Fragen aber aus,

so gut ich konnte. Ich fürchtete, er könne meinVorhaben durch seine Kommentare lächerlichmachen, mich vielleicht ganz davon abbrin-gen.

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Wir fuhren bergauf durch hügelige Land-schaft. Alles lag still und verschlafen, nur abund zu sah ich am Wegrand ein Haus. Ich waran die seltsame Stimmung der ersten Zeilenvon Chaplins Lebensbeschreibung erinnert,die ich vor Jahren gelesen hatte. Da zeichneteChaplin Kennington Road, die Straße seinerKindheit in London »Before Westminster Bridgewas open …«, also ganz im Licht noch der Vor-vergangenheit des 8. Jahrhunderts, als sie ver-schlafener Reitweg gewesen war. Über jenenersten stillen Sätzen der Autobiographie warte-te dem Leser aber schon alles: Zukunftsgewim-mel drängte und rieb sich über der idyllischen,nichtsahnenden Landschaft. »Was-noch-alles-geschehen-würde« war unheimlich präsent.Weniger in Form der vierhundertneunundsech-zig Seiten, die noch zu lesen wären. Mehr in derStimme dessen, der einige Zeilen lang bewußtim alten Licht erzählte. Als sei »noch nichtsgeschehen«, als habe ihn Hannah Chaplin, diegeisteskranke Mutter, noch nicht wegge-schickt, »You run along now … There’s nothing here

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for you«, als habe er nie die Kurve kratzen müs-sen, als sei noch alles still und verschlafen, erselbst – noch ungeschaffen. Und jetzt, da allesgeschehen war, ein ganzes Leben sich ereignethatte, war es wieder still, Kennington Roadwieder Reitweg, verschlafene Straße, auf derwir ihm oberhalb Veveys näherkamen.

Der Fahrer deutete an mir vorbei, zur Rech-ten: »Hier beginnt’s. Das gehört schon zuChaplins Anwesen.«

Bewaldete Hügel, aber noch kein Haus inSicht. Der Besitz, an dem wir entlangfuhren,schien riesig.

»Da oben kommt gleich das Tor.«Meine Aufregung, dem Ziel so nahe zu sein,

verdoppelte die Größe des Landsitzes, um dieZeit vor der Ankunft zu dehnen, zu verzö-gern …

Man will den Anfang so wenig wie das Ende.Als ich eines Nachts, fast zwei Jahre später, inL. A. einen Hügel Nähe Normandie und Rose-wood Avenue hochfuhr, im Radio von Chap-lins Tod hören mußte, war es zu spät. Auch,

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daß sich bei dieser Meldung wieder alles ver-langsamte, mein Wagen den Hügel kaumschaffte, ich die Lichter der City, die vomKamm aus zu sehen waren, noch nicht sehenwollte und hielt, verzögerte, Halt wollte in derDunkelheit … auch das kam dann zu spät.

Und dieses »Dann«, letzter Halt und Ende,war zwar noch nicht, wartete aber schon aufdem Hügel über Vevey: in meinem Nicht-an-kommen-Wollen war es enthalten, im Zögernvor dem Ziel, jener Angst vor dem endgültigenAnfang. Das Taxi lahmte also nach oben, hatteden Kamm des Hügels beinahe geschafft, dakommentierte der Fahrer nach links:

»Das hat Chaplin gleich dazugekauft.«Ich sah neugierig nach links: Ein leeres

Grundstück am Hang.»Damit ihm unsereins nicht reinschauen

kann«, meinte er grinsend, bog zum Straßen-rand und hielt.

Wir standen vor einem großen schmiede-eisernen Tor, an das zur Linken ein fensterlosesGebäude, zur Rechten eine mannshohe, den

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Hügel auch hinabbegleitende Hecke schloß.Tatsächlich: Die Hecke vor Chaplins Haus …– von der ich doch nichts wissen konnte. Heu-te morgen hätte ich mich zufriedengegeben,nur ihre Blätter zu berühren.

»Soll ich warten?« fragte der Taxifahrer. Erblickte aufs weiße Kuvert, das ich hielt, sahmeine Aufregung. Sicher wußte er, daß ich kei-nerlei Zutritt hatte, keinerlei Plan. Immerhinsei’s ein kalter langer Weg zum Bahnhof, mein-te er. Würde womöglich regnen.

»Nein, nein, vielen Dank.«Ich bezahlte und stieg aus. Während ich

langsam aufs Tor zuging, fürchtete ich, er wollejetzt selbst regarder comme lesgens bougent, also im

Wagen sitzenbleiben, um sich mit MonsieurFlachmann die Komödie anzusehen.

Ich stand vor den Stäben, kramte in meinerManteltasche. Wonach, wußte ich selbst nicht.Vielleicht sollte es aussehen, als habe ich Schlüs-sel. Da hörte ich das Taxi hinter mir wenden,sich bergab wieder entfernen. Gut so. Ich wolltealleine sein, keine Zuschauer.

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Durch das Tor hin war kaum etwas zu sehen.Ein breiter Kiesweg, der vor einem baumbe-standenen Rasenstück abbog. Selbst wenn ichmich ganz ans Gitter stellte, verschloß die brei-te Hecke den Blick auf alles andere …

Würde jetzt mündlich erzählt, dann stündeich spätestens an dieser Stelle auf. Nicht nurum klarzumachen, daß es bei diesem Wartenund Spähen allerdings physisch-aktiv zuging.Ich könnte auch demonstrieren, wie ich mitjeder verwarteten Minute dem Tramp in Chap-lins Filmen ähnlicher wurde, begann, unbe-wußt Stellungen einzunehmen, die ans Pan-tomimische grenzten: Ich reckte den Hals,eingesperrt wie sein Immigrant, den man bei derAnkunft in Amerika hinters Seil pfercht, denBlick aufs gelobte Land versagt, umgriff dieTorstangen wie Charlies Sträfling das Gitter desFahrkartenschalters in The Pilgrim, stand aufZehenspitzen und war nur wenig davon ent-fernt, mich mit beiden Händen am Hinternhochzuziehen wie der durchs Guckloch spä-hende Vagabund in The Circus. Überhaupt wur-

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de ich jetzt, eben weil Geschehen und Absichtauf Elementares beschränkt waren – jemandwill sehen, will eindringen, finden, will gese-hen, gehört werden, sucht – von Chaplin-Gesten, von Erinnerungen an Chaplin-Filmeüberschwemmt.

Immer wieder blitzte auch das Bild des Am-Schlafittchen-Gepackten auf, des Tramps, derin City Lights ins Haus des Millionärs geranntwar, nur um vom Butler gepackt und rüde hin-ausbefördert zu werden.

Ich trat vom Tor zurück und untersuchte dieSeiten. Nirgendwo war »der Briefkasten« ange-bracht, den ich mir vorgestellt hatte.

Es war eben alles nur vorgestellt. FORTISIMAGINATIO GENERAT CASUM hieß es aufeinem kleinen Dali-Bild, das ich mir in L.A.über den Tisch gehängt hatte. Darauf wider-sprach alles der Schwerkraft: Früchte schweb-ten über ihren Schalen, Kreuze, losgelöst vonihren Kuppeln, Kirchtürme von ihren Kirchen,und die Menschen, ihre Krücken triumphalzum Himmel gereckt, gingen luftgetragen über

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der Erde. Aber das Tor vor Chaplins Haus, derEinbildung widersprechend, blieb fest in sei-nen Angeln verhakt, die Hecken standen un-nachgiebig dicht und tiefverwurzelt. Was fürein Unsinn, hierher gereist zu sein. Mit einemBrief! Ich könnte hier noch Stunden in der Käl-te stehen, nichts würde passieren.

Das weiße Kuvert einfach durch die Gitter-stäbe zu schieben, dem Zufall zu überlassen,schien mir allerdings noch idiotischer. Unddoch gingen meine Gedanken dem nach, alssei’s schon geschehen. Als sei meine messagezwischen den Stäben passiert. Bereits aus derHand. Weiter als ich. Aber was hieße dasschon?

Ein Windstoß würde genügen, dann läge derBrief in den Hecken, »auf immer verloren«.Und sollte er dennoch gefunden werden, hätteder Regen die Botschaft fleckig gemacht odergelöscht. Wenigstens die mir wichtigen Wortedarin. Von alters her schien es so bestimmt:Littera lituras habet. Die »Tränenflecke« Ovids.Die allerdings waren auffindbar. Im Stowasser,

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dem Lateinwörterbuch der alten Schule, warensie aufbewahrt. Zum Staunen schön dort imGleichklang. Littera lituras habet. »Der Brief hatTränenflecke«, so war die Stelle zu übersetzen.Denn wichtiger als Worte war: was sie ausge-löscht hatte. Die sichtbar Unsichtbargemach-ten: waren die wirkliche Botschaft.

Und weil aus ihnen sprach, wer ausgelöschthatte, blieb Ovids Liebesbriefschreiberin selbstin ihnen versteckt. Das kürzende Zitat imSchulwörterbuch hatte die Weinende »ausge-strichen«. Damit aber universal gemacht. Imlittera lituras habet war ihr Brief everyone’s letter,Brief jedes Getrennten, also auch meiner ge-worden.

Nicht gerade ermutigend, solche Gedanken.Mir wurde immer kälter dabei. Um mich warmzu halten, begann ich, das kleine Trottoir vordem Tor auf und ab zu gehen.

Think positive. Es wäre doch immerhin mög-lich, daß sich jemand auf dem Rasenstückzwischen den Stäben sehen läßt.

Was? Am ersten Tag des neuen Jahres?

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Gerade dann. Den ersten Tag zu begrüßen.Mit offenen Armen, wie Chaplin im Schlußbildvon The Police.

Quatsch. Die Kälte heute war Cop. Vertriebdie Leute wie jener Polizist, der damals auchChaplin aus dem Schlußbild gejagt hatte.Und die Bushaltestelle auf der andern Seiteder Straße? Dort könnte doch jederzeit jemandmit Einkäufen fürs Manoir aussteigen, die Stra-ße überqueren und mich mit meinem Brief amTor …

Unsinn. Die Haltestelle war eine Attrappeaus einem seiner Filme. Denn offensichtlichfuhren hier keine Busse.

Niemand würde kommen.Ich überlegte mir, wie ich wenigstens über

die Hecke sehen, so vielleicht jemanden erspä-hen könnte, dem ich den Brief dann zuwerfenwürde.

Längs der Hecke war eine Reihe gedrunge-ner Bäume postiert, auf die ich steigen konnte

– aber nicht stieg. Bei näherem Betrachten sa-hen sie mir verwunschen aus, diese grauen

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Bäumchen. Wie Möchtegern-Übersteiger, diebeim Besteigen der Hecke erstarrt waren, ohnedas Haus des Meisters gesehen zu haben. Mitihren häßlich geschwollenen Armgelenken wa-ren sie dazu verdammt, immer wieder nachoben zu greifen, nur um kurz vorm Überspä-hen der Hecke vom Gärtner Chaplins be-schnitten zu werden.

Gedankenseherei, die bei jedem jungenMann gliedschrumpfende Wirkung gehabthätte.

Sollte ich nicht doch umkehren, das alleslassen? Ich könnte den Brief immerhin nochunten in Vevey zur Post bringen, so sicherge-hen, daß er ankommt.

Aber das war es nicht, das Ankommen wargar nicht gemeint. Es war ja nicht statistischesWissen, das mich befriedigt hätte: 99,9 % allerin Vevey aufgegebenen, in Vevey ausgetrage-nen Briefe kommen auch in Corsier-sur-Veveyan. Meiner würde also mit sehr hoher Wahr-scheinlichkeit sein Ziel erreichen.

Das war es nicht.

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Sondern das Gehörtwerden, das Berührenund Berührtwerden, das war das Ziel.

Vor seinem Haus zu stehen und zu warten,dabei zu wissen, daß die geschriebenen Zeilen

– vielleicht jetzt – von ihm gelesen würden, ersich eine Vorstellung machen, mich – auch nurfür Sekunden – in sein Bewußtsein schließenkönnte, diese Gleichzeitigkeit-mit-ihm war dasZiel.

Vermessen genug. Ich hatte ihn mit Numi-nosem versehen. Aber das sah ich damals nicht,weil ich es lebte. Ich war »drin«, hätte jedem, dermir kritisch beobachtend gekommen wäre, ge-antwortet: »Und ob ich das sehe! Aber warumwäre dieser Mensch nicht göttlich? Ich sehe ihnso, weil er mir davon zeigt. Er zeigt mir etwas,das mich durchs Ansehen verwandelt.«

Solche und ähnliche Gedanken wärmtenmich auf. Nur blieb der Boden der Tatsachen,auch bei längerem Hin- und Hergehen, unbe-streitbar kalt: Kein Mensch ließ sich sehen. Indieser Gegend zeigten sich nicht einmal Neu-jahrsspaziergänger. Nur oben an der Straße,

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gegen die Berge hin, hatte sich etwas getan, ichbemerkte es erst jetzt. Hinter einem fernen Hü-gel sah ich Rauch hervorquillen. Jemand hatteein Feuer entzündet.

Kurz darauf entdeckte ich, daß das schmie-deeiserne Tor nicht – oder nicht mehr? – ver-schlossen war. Sein linker Flügel war jetztetwas nach vorne, zur Straße hin, versetzt.

Warum war mir das nicht sofort aufgefal-len? Hatte ich, als ich ganz dicht ans Tor tratund die Stäbe mit Händen faßte, um an derHecke vorbeizusehen, den Flügel nach hintengepreßt?

Oder spielte jemand mit mir?Ausgeschlossen. Ich hatte das Tor, bis auf

wenige Momente, immer im Auge gehabt.Sollte ich die Chance jetzt wahrnehmenund …?

Ich mußte mich innerlich richtig anfeuern.Denn das Tor aufzustoßen, den Weg um dieHecke weiterzugehen wäre ein Übertritt.

No Trespassing. Solche Verbotsschilder über-sieht man vor allem in Amerika nicht, weil ihr

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Anspruch dort, schon bei geringer Verletzung,mit der Waffe verteidigt wird. Schlagzeile: FANFELLED ON CHAPLIN’S LAWN (FAN AUFCHAPLINS RASEN: UMGEMÄHT).

Aber hier waren keine »Betreten verboten«-Schilder, keine Drahtzäune, keine scharfschie-ßenden Wächter oder Hausbesitzer. Es warnicht das Xanadu Charles Foster Kanes, zu demich gereist war. Charles Spencer Chaplin hattedas Tor zum Manoir geöffnet …

Also jetzt!Ich stoße den rechten Flügel nach innen und

schlüpfe hinein. Auf Kiesweg geht’s weiter …um jene Hecke herum. Da wird die Sichtfrei …

Sein Haus liegt vor mir. Breit angelegt, zwei-stöckig, weiß. Zwei Pfade führen hin. Dennder Kiesweg hier teilt sich. Seine Schleifen füh-ren in großem Bogen um Rasen und Bäume,bis sie sich, in einiger Ferne, die Ecken desHauses fast streifend, zur Mitte hin vor derHaustüre wieder vereinen.

Völlige Stille. Weit und breit keine Men-

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schenseele. Unheimlich. Nur das Knirschenunter meinen Schuhen. Ich gehe weiter, dasHaus immer im Auge. Trete fester auf, um end-lich bemerkt zu werden.

Seht mich doch, hier! Der mit dem weißenKuvert!

Plötzlich von links: scharfes Gebell. EinSchäferhund rast auf mich zu. Ich weiß sofort,daß es zu spät ist. Das Tier springt aus vollemLauf an und wird – noch in der Luft – vonseiner Kette zurück zu Boden gerissen.

Völlig starr bleibe ich stehen.Der winselnde Hund liegt wenige Schritte

vor mir, richtet sich wieder auf. Ihm läßt dieKette zum Bellen kaum Luft.

Im fernen Hintergrund gackert und scharrtaufgeregt Hühnervieh hinterm Drahtzaun. Einbraunfedriger Hahn flattert umher, Ruhe zustiften.

Der Hund aber bellt gnadenlos weiter.»Hey … Shut up! Shhhhh …«Wie kann ich ihn beruhigen? Wie heißt der

Kerl?

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«Hey, Rex. Rex, shut up! … Tais-toi, goddam-mit!«

Wie komme ich auf »Rex«?Rex – King of the Air, so heißt doch der schö-

ne Seiltänzer und Rivale, den der Tramp in TheCircus phantastisch zu Fall bringt, dann einfachnach Hühnerart zuscharrt.

Aber das ist hier nicht drin. Aus der Luftgeholt, bleibt dieser Rex immer noch King imLuftholen. Bellt weiter, auf Teufel kommraus …

Jetzt muß jemand kommen. Ich trete vorsich-tig mehrere Schritte zurück, sehe mich um.Sicher beobachten sie mich schon durch dieFenster des Hauses. Sind dabei, Maßnahmenzu ergreifen …

Den Brief in der noch zitternden Hand, lasseich den Hund weiterbellen. Warum auch nicht?sage ich mir. Statt der Klingel, sage ich mir. Dieja am Tor nicht zu finden war.

Ich warte. Aber nichts rührt sich. Kein Fen-ster geht auf, keiner ruft nach dem klingelndenHund.

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Rex lasse ich links liegen, nehme die rechteSchleife des Wegs, gehe langsam weiter. DemHaus zu.

Als Unschuldsheld am Höllenhund vorbei,gebe ich mir gleich die nächste Rolle. Ich binjetzt Bote, halte den Brief abgabebereit in derBotenhand. Bote mit wichtiger Nachricht.Sonst komm ich hier nicht durch. Mir ist, als seidas argwöhnische »Sie da! Was haben Sie hierzu suchen?« zur Landschaft geworden. Ankla-ge, Verleumdung überall. »Der Rex röchelt ja!Was haben Sie denn mit dem Hund gemacht?«

Nur als Bote kann ich jetzt weiter.Einige Tannen, an denen ich vorbeilaufe,

Chaplins Tannen, sind mit roten und blauenWeihnachtskugeln behangen. Erinnert er daAmerika? Auch in Beverly Hills schmückt manzu Christmas immer nach außen.

Die Sicht auf das Haus wird frei. Im erstenStock, rechts oben, brennt Licht.

Ich halte. Niemand am Fenster. Kein Vor-hang bewegt sich. Ich gehe auf die Haustürezu, da hört der Hund plötzlich zu bellen auf.

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Was mir nicht recht ist. Denn jetzt, noch unent-deckt, in der völligen Stille, bin ich gezwunge-nermaßen wieder in der Rolle des Eindring-lings, des möglichen Diebs.

An der Haustüre suche ich die Klingel, findesie links und – kaum zu glauben – sehe, daßauch diese Türe eine Handbreit offensteht!

Was heißt das?Zufall?Oder heißt das – wie im Märchen –, daß jetzt

Zugang ist, die verbotene Tür aufgetan?Scheinbar achtlos, in Wahrheit aber für mich?

Zweimal schon! Als bahne mir hier einerden Weg …

Aber die Vorstellung, ich könne im Dunkelhinter der Tür, etwa beim Hinaufsteigen derTreppe, ertappt werden, ist doch zu peinlich.Mein weißer Umschlag würde dann gar nichtsmehr beweisen. Niemand die Komik sehen.TRAMP CAUGHT IN CHAPLIN’S HOUSE. Ichschon gar nicht.

Ich klingele. Auch um mein Hiersein ein fürallemal offiziell zu machen.

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Niemand kommt. Im ganzen Haus kein Ton.Habe ich die Klingel überhaupt gehört?Eher nicht.Bin ich zu aufgeregt zu hören, oder funktio-

niert das Ding nicht?Ich klingele nochmals. Diesmal etwas länger.Die Klingel ist gut zu hören.Dann wieder völlige Stille.Ich trete zurück, sehe zum beleuchteten

Fenster hinauf.Keine Spur von Beobachtern.Klingele zum dritten Mal, vor offener Tür!Und – wie im Märchen – höre ich erst jetzt

jemanden rufen. Eine Frauenstimme.»Monsieur! Venez!«Links, hinter der fernen Ecke des Hauses,

sieht ein kleiner weißbehaubter Kopf hervor.Aus einiger Höhe. Ich schätze: Zwischen Par-terre und erstem Stock. Dann ein weißer win-kender Arm.

»Venez ici!«Kopf und Arm zucken wieder hinter die

Ecke zurück. Eine scheue Riesin?

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Ich laufe am Haus entlang, biege um dieEcke.

Am Absatz einer kleinen Treppe steht eineältere, in Weiß gekleidete Bedienstete. KeineRiesin. Eher eine Akrobatin, wird mir jetzt klar.Sie hatte wohl der Kälte wegen »abgekürzt«.Vom Absatz muß sie auf den Müllcontainerrechts der Treppe gesprungen sein, sich elasti-schen Arms am Fallrohr um die Ecke gebogen,rufend und winkend mit mir verständigt undwieder in den Eingang zurückkatapultiert ha-ben.

Einen Augenblick lang scheint es, als vernei-ge sie sich vor ihrem Zuschauer. Freundlichfröstelnd blickt sie auf mich herab.

»Excusez-moi, Madame… Ich habe einenBrief für Monsieur Chaplin.«

Ihr Arm schnellt, offene Hand, routiniertaus dem Türspalt nach unten.

Meine Aufregung steigert sich. In meinembesten Französisch höre ich mich sagen:

»Ich würde ihm den Brief gerne selbst über-geben.«

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»Tut mir leid«, flüstert sie. »Er schläft gera-de.«

Und ich hatte dreimal geklingelt, Rex inRage gebracht!

Statt betreten zu sein, sehe ich sie wohl eherverständnislos an. Sie legt ihre Handflächenzusammen, zieht sie als Kissen unter die Bak-ke:

»Il dort.«»Oui, oui, je comprends. Aber würden Sie bitte

dafür sorgen – (nochmals im Flüsterton) . . .Würden Sie dafür sorgen, daß er den Brief per-sönlich zu lesen bekommt?«

»Persönlich«, flüstert sie schmunzelnd. Deu-tet auf den Brief, den ich immer noch halte.

Hatte sie eben mit den Fingern geschnippt?Ich bin völlig verwirrt.

Statt die wenigen Stufen hinaufzugehen,bleibe ich unten stehen, strecke mich umständ-lich, das Kuvert zwischen ihre Fingerspitzenzu schieben… – die es mir blitzschnell ent-ziehen, hinter der Türe wieder verschwin-den.

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Den liest sie jetzt erstmal, denke ich. Oder erwandert gleich in den Papierkorb.

Dankend nickt sie, will die Türe schließen.Rechtzeitig sage ich noch:»Ich werde draußen warten.«Verdutzt kommt ihr Gesicht nochmals zum

Vorschein.Ich sage: »Bis Monsieur Chaplin wieder auf-

wacht. Vielleicht kann er mir antworten.«»Aaah, vous savez…«, seufzt sie. Pausiert.Kommt jetzt die Abfuhr?»Man weiß leider nie, wie lange Monsieur

schläft. Warten sollten Sie nicht in der Kälte.Gehen Sie lieber ein wenig spazieren.«

Und damit schob sie die Türe endgültigzu.

Endgültig? Eben nicht.Ich dürfte wiederkommen. War ja so gut wie

verabredet mit ihr. Am Lieferanteneingang.Und wiederkommen, das hieß: wiedererkanntwerden. Fast schon wie ein Vertrauter. »Ach,der ist das ja, der junge Mann, mit dem ich micham Lieferanteneingang verabredet habe.« Wie-

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derkommen, dachte ich und sah mich schonwiederkommen.

Und?Antwort erhalten?In meiner Aufregung glaubte ich, mir diesen

einen Eingang unbedingt merken zu müssen.Als könnte ich ihn später nicht mehr finden,die Orientierung verlieren. Als besäße die-ses Haus Hunderte von Lieferanteneingängen.Dabei hatte man sich doch nur zu merken: DerMüllcontainer stand auf der linken Seite desHauses, rechts vom Lieferanteneingang. Gegen-über, in einem Abstand von etwa zwölf Schrit-ten, lag ein kleiner Brunnen, von dem aus manlinker Hand wiederum zum Tor zurückfand.Für die Rückkehr hatte ich mir das lediglich inumgekehrter Reihenfolge zu merken, undschon würde ich ohne weiteres wieder zuBrunnen und Müllcontainer gelangen, zwi-schen den Gegensätzen also sicher den Ein-gang finden.

So kindisch-glücklich hatte mich die Hoff-nung gemacht, so gedankenverwirrt, daß ich

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vergaß, auf dem Rückweg zum Tor die vormalsrechte, jetzt linke Wegschleife zu nehmen, undso auf dem rechten, vormals linken Weg, Rex,dem anschlagend-angeschlagenen König derLuft, nur knapp wieder entkam.

Ich rannte weiter, sah schon das Tor. Undwie ein treuer Bekannter kam es mir offen ent-gegen.

Als ich hinaustrat, ahnte ich nicht, daß ichdie Frau, mit der ich verabredet war, nie wie-dersehen würde.

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Draußen schien alles verändert. Alles gehörtejetzt »dazu«. War zum Vorhof des Manoir ge-worden. War gar nicht mehr fremd, nicht mehreinsam. Die öde Landschaft wies nicht mehr ab,weil ich drinnen nicht abgewiesen worden war.

Ich ging den Fußgängerweg bergauf, über-querte kurz darauf die Straße und kletterte,ziemlich übermütig, eine schneefleckige Bö-schung empor.

Bald kam ich, immer wieder das Geschehe-ne herbeirufend, durch ein unwegsames Wald-gebiet. In der Erinnerung erscheint mir derWald wie eine einzige Höhle. Er bot nicht nurSchutz vor kaltem Wind, sondern meinen Ge-danken auch einige Konzentration und Ruhe.

Ich ging bewußt ziellos, die Augen am Boden,immer nur auf den nächsten Schritt achtend.Ich fragte mich, warum meine Begeisterungfür diesen Mann so unmäßig war. War sie ge-rechtfertigt?

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Rechtens sogar, schien mir.Was band mich so an ihn? Der große Regis-

seur? Der Autor, Komponist und Produzent?Oder war es die Figur des Tramps, des gentle-

man, poet, dreamer – always hopeful of romance, wieer sie selbst einmal beschrieben hatte?

Warum war ich Chaplin wortwörtlich vonder Leinwand bis vor die Haustüre gefolgt?Suchte ich die Verbindung zu den Anfängendes Films, einer Kunstform, in der ich erzählenwollte? Und also nach einem link – das immermagisch-konkret sein muß?

Das war es auch. Dann aber wieder: über-haupt nicht. Denn das Wesentliche meiner Lie-be zu Chaplin betrafen diese Stichworte nicht.

Was war wichtig?Ein wahnwitziges Gedankenspiel stellte sich

ein. Ich sah Chaplin auf dem Sterbebett übersein Leben entscheiden. Was war wichtig,was sollte bleiben, was sollte gehen? Mit ihmvergehen. Ich hörte, wie er einzelnen Beauf-tragten, die an sein Bett traten, ins Ohr flü-sterte:

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»The Kid… The Goldrush… The Circus…Modern Times… The Great Dictator… MonsieurVerdoux… Limelight…«

Dazu sprach er einzeln und immer wiederdie Weisung:

»Verbrennen . . . Verbrennen . . . Verbren-nen!«

Entsetzt wich ich zurück, rannte den Aus-führenden nach, die, ohne erschrocken zu sein,das Sterbezimmer vor mir verlassen hatten.Am Keller noch, in dem Chaplin alle Negativeaufbewahrt hatte, fing ich sie ab, die Wahnsin-nigen!

Ich kämpfte langsam und zäh, wie inschwärzesten Träumen, die Filme zu retten.Und verlor sie alle.

Alle, bis auf einen.Denn mit dem Beauftragten, der gekommen

war, City Lights zu vernichten, weil sein Herrauch den nicht für wert befunden hatte, kämpf-te ich anders. Kämpfte, um nicht zu überleben.»Wer will schon leben, wenn es den nicht mehrgibt!« rief ich ihm zu. Der Beauftragte aber ließ

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ab, von meinem Entschluß beschämt und er-mutigt zugleich. Ermutigt, seinen Herrn zubetrügen. Beschämt, mich damit bereichert zuhaben.

Fade Out.Ich mußte lachen. Eine Frechheit, eine Un-

verschämtheit, mir auszumalen, Chaplin kön-ne – am Ende noch – seine Filme verbrennenwollen!

Das war ich, der da lag und entschied. Ver-brennen ließ, retten ließ. Das ganze Spiel, nurum zu finden, »was wichtig war«.

Was war dem Zweiundzwanzigjährigen sowichtig an City Lights, daß er pathetischste Ret-tungsphantasien bemühte, daran endlos Gefal-len fand?

In diesem Augenblick mußte ich, um nichtabzurutschen, mit beschleunigten Schrittenden Hang einer größeren Kuhle hinablaufen,kam also kurz in Geschwindigkeit und konnteerst unten wieder verlangsamen. Stand. Standunten. Mußte nochmals lachen. Verlief dennder Boden des unwegig hügeligen Walds, durch

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den ich getrottet war, meinen Gedanken ent-sprechend?

Denn genau jenen plötzlich beschleunigen-den, dann abrupt haltenden Gang hatte Chap-lin in einem höchst wichtigen Moment von CityLights, an den ich gerade dachte.

Ich spreche von der letzten Sequenz desFilms.Chaplins Bewunderung war ja bereits ent-facht, als ihm die schöne Virginia Cherrill (Na-menmusik: kirschrote Jungfrau. Später hieß sieVirginia Cherrill Martini) zu Anfang des Filmseine Blume verkaufen wollte. Bewundernd-verwirrt kam er näher. Denn sie hatte den arm-seligen Tramp mit »Sir« angesprochen.

Als er die Blume, die sie ihm hinhielt, verse-hentlich zu Boden stieß und rasch wieder auf-las, sah der Tramp das Mädchen vor ihm insKnie gehen. Ihre Hand sah er neben dem aus-gebreiteten Kleid: nach der Blume tasten. Daßsie blind war, sah er erst jetzt. Aber nicht, wieblind es ihn schon zu ihr zog. Zu ihr hinab sichbeugend – die kürzeste Reise je eines Verlieb-

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ten –, nahm er ihre Hand und hob das Mäd-chen auf. Sie dankte, tastete nach seinemRevers und zog ihm die Blume ins Knopfloch.

Die Blinde hielt den Tramp für einen reichenMann. Aus großem Wagen hatte sie ihn ebennoch aussteigen hören. Ahnte nicht, daß ersich da nur durchgestohlen hatte. Sondern alsder Wagen weiterfuhr, rief sie ihm – der immernoch neben ihr stand! – nach, weil er nicht aufsein Wechselgeld gewartet hatte. Dieser reiche,großzügige Gentleman! Und vor dem schlichsich der Tramp davon, die Geliebte nicht zuenttäuschen. Denn er hatte erkannt, wer er derBlinden war. Auch welche Rolle er für sie inZukunft spielen dürfte: als Reicher, als Kava-lier, als Gönner. Und letztlich als Retter. Denner beschaffte ihr das Geld für eine Operation,die es ihr ermöglichen sollte, wieder zu sehen.

»Dich wieder zu sehen?« fragte sie, als er ihrdas Geld in die Hand drückte und Abschiednahm.

Beim Türeschließen noch las man seine Lip-pen. Er antwortete: »Ja«, ohne daran zu glau-

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ben. Ohne es sich wünschen zu können. Dennwas für ein Wiedersehen wäre das, wenn er ihrkeine Rolle mehr spielte?

Kurz darauf wurde der Tramp an einer Stra-ßenecke verhaftet. Man beschuldigte ihn, dasGeld gestohlen zu haben. Er verteidigte sichnicht mit Worten. Beschwor nicht seine Un-schuld. Sondern nahm auf sich, was kam, be-reit, der Welt auch den Dieb zu spielen – for hersake, dem Mädchen zuliebe.

An einem . Januar – sein Absatz kickt dieletzte Zigarette im Bogen durch die Luft – wirder ins Gefängnis geworfen, fällt das Tor zu.

Und hier beginnt die letzte Sequenz desFilms, wie alles andere: im Dunkeln.

Denn als er, Herbst ist es jetzt, ohne Stock,ohne Hut, völlig zerlumpt an den Schaufen-sterläden der Stadt entlangtrottet, der Straßen-ecke zu, an der er verhaftet wurde, da ist ihmdas Grauen der Monate im Gefängnis, das Un-recht der Bestrafung, tief ins Gesicht gezeich-net. Den Nacken hält er eingezogen, alserwarte er nur weitere Schläge.

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Zwei newsboys, die an der Ecke Zeitungenverkaufen, erkennen den Tramp. Mit Schüssenaus dem Blasröhrchen wird er von ihnen ge-piesackt. Geschwächt und müde ist er, prote-stiert kaum, als er, an ihnen vorbei, um dieEcke trottet.

Nochmal wird er vom peashooter getroffen.Blickt über die Schulter zurück, wie ein ge-schlagener Hund. Behält seine Quäler schritt-lang im Auge.

Und sieht dabei nicht, was wir schon sehen.Kann nicht sehen, was wir bereits erkennen. Istvor Demütigung blind für das, was jetzt zusehen wäre.

Denn hinter ihm, im großen Schaufensterdes Blumenladens, sitzt bei der Arbeit: Diejunge Frau, die ihm damals die Blume ver-kaufte.

Anklagend noch deutet der Tramp auf dieJungs, die nicht aufhören, ihn zu nadeln. Siehtso auch nicht, daß man hinter ihm Blumenresteaus dem Laden fegt. Sekunden später bemerkter —

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Im Rinnstein:das Weggeworfene.Eine Rose.Bückt sichsie aufzuheben.

Von hinten kommt, rasch heran, einer derJungs. Grapscht dem Gebückten einen Unter-hemdzipfel aus der zerschlissenen Hose. Wü-tend reißt der Tramp den Fetzen wieder ansich, rennt dem Kerl hinterher

beschleunigt undgroßen Schrittshat ihn fast,aber –steht schon wieder.Kickt dem Bengel nur hinterher.

Hinterm Schaufenster des Blumenladenssieht die junge Frau zu. Lacht mit der Blumen-fegerin über den zänkischen Tramp: Wie ko-misch, ihn den wiedergewonnenen Fetzenauch noch falten, sich damit schneuzen und indie Tasche fürs Kavaliertuch stecken zu sehen!

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Jet2t aber – aus ihrer Sicht hinterm Schaufen-ster sehen wir’s:

Beginnt das Lumpenmännchen sich . . .umzudrehen.Noch gedemütigt blickt er.Noch im Wenden.Und da!Sieht er sie?Sieht er sie und . . .?Steht er still?Stillstehend sieht er sie an.Und alle Zeitsteht still.

Hinter ihm tobt der Verkehr, Passanten ha-sten vorbei, Sonnenlicht sprüht durch den auf-gewirbelten Straßenstaub.

Aber stillstehend er.Hat sie erkannt.

Und auf sein erstes Erschrecken über dasUnverhoffte folgt Freude. Nur die. Erwartetnichts von ihr. Ist nur die.

Kein Zeichen gibt er, wer er ihr sei.Er lächelt sie an nur.

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Steht da.Die Kehrichtrose in der Hand.Von ihren Augenläßt er nicht ab.

Und sie lacht, durchaus amüsiert, über denarmen Trottel. »Da hab ich ja eine Eroberunggemacht«, sagt sie und lacht über die Schulterzur Blumenfegerin.

Und als sie sich herwendet wieder: steht erimmer noch da. Lächelt sie an. Da bemerkt diejunge Frau, daß ihm – so fest pressen sie seineaufgeregten Finger – die Blätter der Rose ab-fallen.

Und zieht aus der Vase und hält ihm – hinterGlas – gleich die neue bereit.

Aber ohne zu wissen,hält ihre Hand hindie Rose.Wie damals.

Trifft ihn. Sie winkt ihn noch her: Soll erdoch in den Laden kommen, die Blume sichholen. Aber der Tramp, an sie verloren, siehtsie nur immer noch an. Sieht sie sagen: »Oh, ich

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weiß, was du willst. Warte…« Schon blitzt einGeldstück in ihrer Hand. Auch das hält sie hin.Blume und Geldstück. Unverwandt schaut erauf sie.

Erschrickt er?Als sie aufsteht?Zu ihm zu gehen?Er wendet sich ab,humpelt ängstlich davon.

Sie tritt aus dem Laden, ruft dem Tramp hin-terher.

Und drei Schritte entfernt…Bleibt er stehen?Wendet sich um,

sieht das Geldstück, das sie ihm hinhält. Daser wie ein Kind sich verdienen und abholensoll.

Aber er kommt nichtweg von ihren Augen.Lächelt sie an.

Da zieht sie die Hand mit dem Geldstückzurück, hält hin die Hand mit der Rose.

Und zögert er?

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Stehenbleibend streckt er den Arm nach derRose. Holt sie aus ihren Fingerspitzen zu sichzurück. Hält sie beidhändig jetzt.

Und sie?Fast etwas unwillig übers mißachtete Almo-

sen tritt sie rasch zu ihm hin, greift am Gelenkseine Hand, preßt ihm das Geldstück hinein. Inder Handkuhle vergräbt sie’s ihm, wie es gütigeGroßmütter tun, wenn sie Kindern geben undnie mehr zurückhaben wollen.

Ja, sie patscht ihrem armen Mann nochdie Hand,begütigend, gute Tat.Fühlt diese…Hand-Undda!Jetzt!!…

SPRINGT es über auf uns, die wir nicht se-hen. Denn wir sehen nicht, was sie sieht. Son-dern fühlen, was sie ertastet, mit ihrer Handjetzt erfährt. Erfahren mit ihr, was in sie fährtwie in uns.

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Ernst sieht sie ihn anFühlt und streicht seine HandLäßt nie mehr jetzt abvon den Augen . . .Denn da:In diesem Augenblick:

war das Andere. Ganz Andere. Es sprangüber auf sie wie auf uns. War nicht zu sehengewesen. Und alles Sehen half nicht mehr, auchder hilflosen Frau nicht, die

erkannt hatte.Mit der Hand an der Wangeihn anstarrend.Sekunden so.Dieses Bild.

Und den Händen ein eigenes Bild jetzt: IhreHand liegt auf seiner. Über die Knöchel derFinger

fährt sie ihm streifendtastend den Armhoch zur Schulter,kreuzt rasch zum Reversin das blind

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sie die Blume flocht.Damals.

Verlegen sieht er sie an und lächelt. Hältquer-verlegen vor seinen Lippen die Rose. Aufihr »You?« nickt er still.

»You can see now?« fragtder Tramp,und das Mädchenantwortet ihm:»Yes, I can see now.«

Alles hat sich ihr verwandelt, auch der Sinndieser Worte. Gefunden hat sie den, der verlorenwar. Verloren hat sie den, der gefunden war. Siehält seine Hand, läßt nicht los, was sie trennt.

Denn sie sieht.Wird gesehen.Läßt ihn nicht los.

Und langsam verdunkelt sein Bild. Erst wer-den unsichtbar Stirn und Mund, dann dasAuge, dann aber das Ohr, zuletzt die Rose.

Es ist diese Szene des Wiedererkennens in CityLights, die Chaplin für mich so unbegreiflich

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macht. Hier ist etwas. Die Hände. Die wir nicht»fühlen« können. Das »Fühlen«, das wir nichtsehen können – und doch kam›s aus dem Se-hen.

Wir »sahen«: etwas sprang über. Unsichtbar.Das ist der Moment. Dieser: des Haltens, Ge-haltenwerdens, Erkennens.

Und was erkennen wir im Halten, Halten derHände? Den Anderen. Erkennen, was nicht zusehen war.

Auch im Film nicht. Denn das ist die Kunst:Im höchsten Moment verneint sie ihre eigenenMittel, gibt auf – und geht damit über das Ziel.Der Film spricht dann: Ich bin blind. Als wärebruchsekundenlang die Blindheit des Mäd-chens, ihr Unvermögen zu sehen, überge-sprungen auf uns. Als hätte uns dieser Momentder Blindheit sehend gemacht.

Denn wir »sehen« jetzt, was nicht zu sehenwar. Wir fühlen. Hier, in diesen Händen, insolchem Berühren war das Unsichtbare: sicht-bar gemacht.

Nicht nur hat Chaplin diesen Film – immer-

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hin drei Jahre Arbeit – nur wegen dieser Szenegeschaffen, alles darauf hinarbeiten lassen. Erhat auch nur gelebt, so sage ich, für diese eineSzene. Man darf hier übertreiben. Denn hier-hin geht jetzt alles. Hier ist die Essenz.

Das Einfachste: The visual is denied. Das istdas Große. Das Sehen wird zurückgewiesen,vom Seher, Chaplin. Dem Medium, in dem erarbeitet, wird widersprochen. Und Eingang ge-schaffen einem anderen, Größeren. Dem Füh-len der Hand, die dem Sichtbaren vernichtendwiderspricht. Denn was die Hand fühlt, ist un-sichtbar.

Jetzt aber da!Sekundenlang da.Im Erkennen hat das Mädchen den Toten

erweckt. Und: sich verwandelt. Denn die ihmtot war, lebt jetzt nur noch, ihn zu sehen. Abersehend wurde sie, um zu erkennen, sehenderst, als der Tramp das Licht von sich zog, indie Dunkelheit ging, im Gefängnis ihr unsicht-bar wurde. Auch in der Erzählung Chaplinsbleibt sein Leiden dort unsichtbar: ausgelöscht,

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unerzählt, dunkel. Diese Dunkelheit war es, dieihr das Augenlicht wiedergab. Nur so auchwird der Erfolg ihrer Operation glaubhaft.

Jetzt aber umgekehrt: Als Sehende erkenntdas Mädchen und holt den Gefangenen für im-mer aus seiner Dunkelheit.

Solches Erkennen ist Totenerwecken.Und darüber gehst du nicht hinaus. Dafür ist

alles, was ist. Lebendig zu werden durch dich.Dich zu leben. Dafür ist alles.

Dahin geht er als Erzähler, Chaplin. Undnicht darüber hinaus. Nur dahin. Das ist derMoment. You end it there. Du erzählst nicht wei-ter. Das ist der Moment: Die Welt, die ich sah,die Welt, wie ich sie sah: liegt zerstört. Wider-sprochen hat ihr ein anderes. Mächtiger als ich.

Aber das, immerhin, dieses Größte, hat ergefangen, Chaplin, zog es ins Netz und zieht esuns zu. Danach kein Bild mehr. Fade Out. Endedes Stummfilms.

Schon höre ich eine amerikanische Freundinsagen: »Was soll dieser Schluß zum Schluß? Ichhabe gesehen, habe verstanden. Auch den Sinn

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der Geschichte, Sinn jener letzten Szene. DieBlinde sieht wieder. Sieht, daß er anders aus-sieht, als sie sich›s vorgestellt hatte. Kein rei-cher Kavalier, nur ein armer Hund. HeartbreakCity, so what? Was sollen deine Bemerkungenzum…«

»Zum Erkennen im widersprochenen Se-hen?«

»Whatever…«»Eben«, sag ich. »Ich sprach von meinem

Chaplin. Jedem den seinen. Ich habe nur de-stilliert, was diesen heiligsten Moment derFilmgeschichte - der das filmische Sehen letzt-lich verneint – mit anderen Momenten verbin-det.«

»Aber bitte jetzt keine Filmgeschichtenmehr«, sagt die Freundin. Das sei doch nurErfundenes. Und klar könne man darin finden:»whatever you like.«

»Nichts Erfundenes werd ich dir erzählen«,sage ich. »Wirklichkeit, wie du sie liebst. RealityTV. With a bit of blood.«

»Was ist denn passiert?« fragt sie neugierig.

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»Hier, vor deinem Apartment«, sage ich.»Was denn? Am Pool?«»Tut mir leid«, sage ich. »Nicht ganz so nah.

Aber einen Block weiter, Ecke Cedros undDickens Street. Gestern. Ich kam vor Sonnen-untergang vom Zeitungsstand nach Hause, dasah ich auf dem Fußgängerweg eine alte Frauliegen. Ein paar Leute standen neben ihr. Sielag rücklings auf den noch warmen Steinplat-ten. Und fror. Jemand hatte ihr eine Thrifty’s-Einkaufstüte unter den blutenden Kopf ge-schoben. Sie sei hingefallen, sagte die alte Frau.Gestolpert. Ein Krankenwagen war schon ge-rufen worden. Aber sie wollte nicht, daß manihr Altersheim verständigt. ›Sonst lassen diemich nicht mehr raus‹, sagte sie. Ich habe michneben sie hingekniet, weil sie immerzu fror.Und hier – jetzt! – geschah etwas. War fremd,unheimlich, bestürzend-vertraut. Denn wäh-rend ich sie ansah, griff ich nach ihrer Hand, siezu halten. Berührte dabei – weil ihre Handflä-che nach unten lag – erst ihre Finger. Und ihreFinger schlössen sich von oben um meine. So

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daß ich von ihr, sie von mir, die Hand nur biszum zweiten Fingerknöchel zu spüren bekam.

Und da: unterscheidet die Hand noch nicht!Bis zum zweiten Fingergelenk, dem mittle-

ren, könnte, so scheint es, die Hand »nochjedem« gehören. Und weil ich nur Stunden zu-vor deine gehalten hatte, war ich an deine Handerinnert, nein, hielt in diesem Moment: deineHand. Und schaute dabei in ein altes Gesicht,Gesicht jener Frau, die hingefallen war. InDEIN Gesicht. Verwandelt sah ich dich. Diealte Frau, die Fremde aber: als Ganz-Nahejetzt, Vertraute. Und nicht durch Sinnestäu-schung, sage ich. Es ist, als seien unsere Finger›blind‹, bis hin zum zweiten Knöchel. Um unssehen zu lassen, daß einer immer schon im an-deren beginnt. Dort, an den Fingerspitzen.«

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Ähnlich weit abgeschlagen hatten mich meineGedanken zu Chaplins City Lights im Wald beiVevey. Jedenfalls war mir nicht kalt gewordenbeim Gehen.

Wieviel Zeit war verstrichen? Ich hatte völligdie Orientierung verloren. Nach längeremHerumirren gelangte ich endlich auf eine kleineLichtung und sah von hier aus den Rauch jenesFeuers nahe der Straße, der mir wieder dieRichtung wies.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, alles falschgemacht zu haben.

Ich hätte warten sollen, vor dem Tor zumManoir warten sollen, auf irgendein Zeichen.Ich hätte mich auf die verstreichende Zeit kon-zentrieren, die erste halbe Stunde gut abschät-zen, mich nach einer knappen Stunde bei derFrau am Lieferanteneingang durchaus wiedermelden können.

Verhetzt, verschwitzt und ziemlich verdreckt

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erreichte ich die Straße und begann den Rück-weg zum Tor.

Ich war schon in Sichtweite, als ein weißerWagen langsam aus der Toreinfahrt rollte, vordem Abbiegen kurz am Straßenrand hielt. Vieroder fünf Personen waren im Wagen.

So panisch enttäuscht war ich, daß ich nochauf das Auto zurannte – saß Chaplin darin? –und winkte und »Hey! … Hey!!« rief, als derWagen abbog. Über die Toreinfahrt hinaus liefich, den Wagen noch einzuholen …

Aber ich kam zu spät. Der Wagen war schonbergab unterwegs, ohne daß auch nur einer derInsassen das Waldgespenst bemerkt hätte.

Sollte ich warten? Bis sie zurückkämen? Orcall it a day? War doch schon alles gelaufen.Wütend war ich über mich. Das versäumt zuhaben. Das verträumt zu haben. War ich hier-hergekommen, vor seinem leeren Haus zu war-ten? Ich lief weiter, immer weiter vom Tor weg,die Enttäuschung war im Stehen nicht zu er-tragen. Langsam ging ich bergab, längs derHecke und ihrer grauen Linie erstarrter Über-

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Steiger. Ich begann mir einzureden, daß der Tagdoch gut verlaufen sei. Der Brief wenigstenswar in sicheren Händen.

War er’s?Letztlich wußte ich’s nicht.Die Verbindung zwischen mir und dem

Empfänger des Briefs war, magisch herbeibe-schworen, doch nicht zustande gekommen.Denn ich blieb ohne Antwort.

Im Versäumnis war Antwort. Ich war nahgekommen, ganz nah. Dann vorbeigelaufen.Weitergelaufen. Als hätte ich den Moment derVerbindung selbst nicht gewollt. Nicht wirk-lich. Sonst hätte ich gewartet. Die eine halbeStunde.

War das umherstreifende Wünschen schönergewesen, das Herbeiwünschen des Momentserträglicher als das harte Rechnen, das an Ortund Stelle gerechnet hätte?

Im Weiterlaufen noch wurde mir klar: Hierwar etwas, das nicht war. Ich ging an etwasvorbei, das »hätte sein können«, an etwas, das»gewesen wäre, wenn«. Heute morgen hatte

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noch alles gewartet, war unheimlich präsentgewesen. Zukunftsgewimmel. Fließend-un-sichtbar. Jetzt aber geronnen. Dieser der Wege,den ich jetzt ging, war sichtbar.Erträumt?

Eher verträumt. Den Umständen zugestan-den.

Und das Versäumte? Wo war es hin?Hatte sich sicher zurückgezogen. Hinterließ

dafür nur die quälende Spur: Bild des Verlusts.Bild des verlorenen Augenblicks. Der jetztSchritt mit mir hielt.

Ich beschleunigte etwas, sah, daß es leichterwürde, der Weg nach der ersten Kurve raschabfiel. Behielt meinen Quäler aber schrittlangim Auge. Beschleunigte also – wie in eine Kuh-le hinab –, bis ich… verlangsamte, anhielt und

– stand.War ich blind?Was wäre zu sehen gewesen? Hinter mir be-

reits zu sehen gewesen. »Im Schaufenster« …Wenn ich mich nur umgedreht hätte.

War ich dort oben, dem abfahrenden Wagen

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hinterher, nicht an einem offenen Tor vorbeige-rannt?

Natürlich war es offen, mußte es weit offensein. Wie hätte der Wagen sonst durchfahrenkönnen.

Und ein »offenes Tor«, das bedeutete doch:What the hell are you waiting for!? Wovor hast dunoch Angst? Hol dir die Antwort!

Ich wandte mich um und begann zurückzu-laufen. Nein, rannte bergauf zurück. Verrückt!Als könnte niemand das Tor hinterm Wagengeschlossen haben. Als sei das nicht möglich.Nie möglich gewesen. Als sei der verlorene Au-genblick einzuholen. Noch ungeschehen. Alswarte noch alles auf mich. Als warte es, weil eswarten mußte.

Außer Atem kam ich an.Die Flügel des Tors standen weit offen. Nie-

mand da, sie zu schließen.Ohne Zögern lief ich durchs Tor.An der Hecke, die ich vor Stunden noch ehr-

fürchtig berühren wollte, rieb ich mir rasch denDreck von den Schuhen, ging weiter.

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Routine. Rex schlug an. Ich verlangsamte.Holte mir beim King of the Air etwas Atem …Niemand kam, niemand rief nach ihm.

In sicherem Abstand ging ich weiter, an sei-nem Kettenradius vorbei. Nahm jetzt die linke,die kürzere Wegschleife. Auf Brunnen undMüllcontainer zu. Zum unverwechselbarenLieferanteneingang …

Routine. Das Gebell brach ab, als der Hundmich an der Treppe halten sah.

Jetzt warten oder klingeln?Als ich die erste Stufe hochstieg, fiel mir auf,

daß der Verschlußdeckel des Müllcontainersnach hinten verschoben war.

Vielleicht sollte ich einen Blick in den Mülltun. Mir das weitere zu ersparen. Mein Briefkönnte schon dort gelandet sein.

Sekundenphantasie: Wie ein Tramp würdeich – zunächst ganz diskret – von der Treppeaus die Mülloberfläche untersuchen. Dann imMüll kramen. Fände den Brief aber nicht. Da-für den Einstieg hinab zu Chaplins »verworfe-nen Seiten«. Yessir, und was für Funde! Nicht

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nur jede Menge zu rettender projects & rejects…

Ich tauchte hinab zu süßen Skizzen, zu derPhiole Nasenblut von Marvellous Mabelle, zuHettys Hairpin, Killerträumen, zu Litas Lok-ken, Carnal Karno, den bathing beauties Windel-weich & Cherry-Red, und fände, ganz-ganzunten: die Kehrichtrose.

Ich klingelte.Kurz darauf öffnete ein schwarzgekleideter

Butler. Aufs Haar glich er dem Diener in Citi-zen Kane, der nach Kanes Tod die Reporterdurch die Hallen Xanadus führt: als sei er jetztHerr des Hauses.

»Sind Sie der jeune homme, der den Brief an SirChaplin geschrieben hat?« fragte er.

Peinlich. Ich hatte meinen Brief keineswegsan den zum Ritter Seiner Majestät geschlage-nen Sir, sondern an Dear Mr. Chaplin gerichtet.Das Sir des Butlers klang zurechtweisend.Überhaupt: Woher wußte er von dem Brief?Ich hatte ihn doch der Frau-in-Weiß gegeben.Hatte die ihn zurückgehalten, weil er nicht kor-rekt adressiert war? Jedenfalls gestand ich:

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»Oui.«Der Butler fuhr jetzt feierlich fort: »Lady

Chaplin bat mich, Sie hereinzulassen.«Ich war versucht, schnell hinter mich zu

blicken. Does he mean me?Dann ein Moment, den ich nie vergessen

werde: Die Türe, jetzt weit geöffnet … DieSchwelle ins Haus, über die ich in Zeitlupe tre-te.

Alles beginnt im Dunkeln. In einem dunklenGang.

Der Butler geht mir voraus. Raschen Schritts.Als wisse er, daß mein Auge überall verweilenwill. Rechts: eine verschlossene Tür. Die ichnur sehe, weil es jetzt heller wird. Ganz hellschließlich.

Eine große, makellos blankgeputzte Küche,in die er mich führt. Der Himmel der Lieferan-ten. Verwirrend-perfekte Symmetrie der Kü-chenschränke, der Unter- und Oberschränke.Alles ist weggeräumt. Alles. Nirgendwo Glas,Besteck, Frucht, die herumlungern würde. Inder Mitte ein leerer Tisch: riesig und zum Dar-

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überstreichen glatt. Aus einem Abzug, der kro-nengleich über der Tischebene glänzt, hör ichein leises Pfeifen. Gespenstisch.

Jenseits des Tischs am Küchenausgang sitzteine kleine, ehrwürdig aussehende ältere Dameauf einem Barhocker. Sie häkelt.

Der Butler hält, stellt mich ihr vor.»Das ist der jeune homme, der den Brief an

Monsieur geschrieben hat.«»Oh, jener Brief«, lächelt die Alte ehrwürdig

und nickt. Auch sie scheint ihn gelesen zu ha-ben. Sie reicht mir die Hand. Ich verneigemich. Da fällt ihr das rosa Häkeldeckchen zuBoden.

»Oh!« ruft sie wieder.Aber hier kann nichts schmutzig werden.

Der Butler blickt nach unten.Warum zögert er?Wir alle sehen nach unten.Das Deckchen ist auf einem schmutzigen

Schuh gelandet. Hecken- und dreckverkratztsteht ein zweiter daneben.

Sofort will ich mich bücken. Aber der Butler

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ist schneller an meinem Schuh. Wortlos hebt erdie Handarbeit auf.

Klopft er sie ab? Fast unmerklich.Mit wohlwollendem Lächeln reicht er sie der

Dame zurück. Sie selbst gibt vor, überhauptnicht nach unten gesehen zu haben.

»Oh, merci.«Als sie sich von mir verabschiedet, sehe ich

den Butler aus dem Augenwinkel meinen Wegnach Spuren beäugen.

»Alors au revoir, Monsieur.«»Au revoir, Madame.«Er führt mich weiter. Nochmals einen unbe-

leuchteten Korridor hinab. Diesmal silhouet-tiert ihn keine Lichtquelle vor uns, verschwin-det er ganz im Dunkeln. Kurz darauf höre ichseine Schritte halten. Er öffnet eine kleine Türzur Rechten, aus der Tageslicht in den Gangfällt, und bittet mich einzutreten.

Ein schmaler Raum mit langem Bauerntisch.Der Butler schließt die Türe hinter uns. Er bie-tet mir einen Sitz an, was ich vor Aufregungüberhöre. Ich bleibe stehen.

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Wieder der feierliche Ton. »Madame« habemeinen Brief, nachdem Chaplin aufgewachtsei, »Monsieur« vorgelesen …

Pause.Als er sieht, welche Wirkung er mit der ein-fachen Feststellung bei mir erzeugt, lächelt er.Gar nicht ungütig.

Daß meine Worte, die niedergeschriebenen,auch nur eine kleine Zeit lang von ihrer, vonOonas Stimme lebendig gemacht, in ChaplinsOhr gedrungen waren, an Ohrmuschel undSchmalzdrüsen vorbei nicht nur Trommelfell,Hammer, Amboß und Steigbügel in Bewegunggesetzt hatten, als Schwingungen von der La-byrinthflüssigkeit des Innenohrs absorbiertworden waren, das schallempfindliche C. C. C.Organ – Charlie Chaplins Cortisches also –erregt hatten, sondern gleich weiter im Staffel-lauf von den Hörnerven übernommen undbis zum Hörzentrum in sein Gehirn gelangtwaren: eine komische Vorstellung. »Gleichzei-tigkeit«, die mir immer bleiben würde. Sienachzuvollziehen, sie mir in ihren einzelnen

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Etappen immer wieder vorzustellen: great joyindeed.

Der Brief müsse Chaplin, fährt der Butlerfort, wohl sehr berührt haben.

»Nach dem Vorlesen hat er geweint.«»Geweint?«Der Butler schließt die Augen. So wenigstens

habe es ihm Madame geschildert.Er sieht, wie unangenehm mir das ist.»Vielleicht. . . hat sich Monsieur bei Ihrem

Brief an etwas erinnert.«»Erinnert?«Wieder pausiert er.»An etwas aus seiner Vergangenheit.«Er läßt mich Atem holen. Lächelt.»Jedenfalls hat Monsieur hier etwas für Sie.«Ein wenig geziert schwenkt er zur Seite, wie

ein Manegendiener Sicht frei gebend auf dieÜberraschung des Abends:

Auf dem Tisch liegt etwas. Schon beim Ein-treten hatte ich es gesehen, aber nicht weiterbeachtet.

Ein ockerfarbenes, großes Kuvert.

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Ich habe es heute noch.Der Butler stellt mit Befriedigung fest, daß

ich viel zu nervös bin, die drei Schritte daraufzuzugehen.

Er überreicht es mir selbst.Das Kuvert ist offen.Ich falte die Klappe des Umschlags zurück

und finde:Ein Photo Chaplins.Er steht in dunklem Jackett auf der Veranda

des Manoir, blickt in den Garten.Unter dem Photo: ein schmaler weißer Ab-

schnitt.Da ist etwas zu lesen. Seine zitternde Hand

hat hier in schwarzer zierlicher Schrift ver-merkt:

Thank your letter –Charlie Chaplin

Jetzt muß ich mich doch setzen. Der Butlersieht es mit Genugtuung.

Er rückt mir den Stuhl am Tischende zu-recht. Erst hier bemerke ich die Waschmaschi-

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ne dahinter, deren Trommel zum Glück nichtrotiert. Mir wäre schwindlig geworden.

Er fragt, ob er mir etwas Kaffee bringenkönne, und verläßt dann »diskret« das Zimmer.

Ich lege das Photo auf den Tisch. Damitmeine zittrigen Hände beim Betrachten nurnichts verwischen.

Ohne Berührung allerdings wirkt das Photowieder fremd. Als betrachtete ich ein Ausstel-lungsstück hinter Glas. Das Dokument einesFremden. Was es nicht mehr ist, sobald meineFinger das Photo am Rand berühren.

Denn dann meint es mich, den zweiund-zwanzigjährigen Reisenden, ist mir zugespro-chen. Erst in Berührung der Hand lebt dasBild. Seltsam. Auch seine Schrift spricht mirerst zu, weil sie ausgelöscht werden könnte –von mir.

Der Butler kehrt zurück. Mit einem Silber-tablett, darauf zwei Tassen Kaffee und eineSchale Plätzchen.

Ich schiebe das Photo ins Kuvert. Sicher-heitshalber.

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»Dieses Bild hat …«, der Butler zögert mitdem Respekt des Historikers, nicht des Fans,spricht aber dann doch ihren Vornamen aus,»… hat Oona vor einigen Jahren aufgenom-men.« Sofort nimmt er wieder Abstand. »Ma-dame ist vorhin mit den Kindern nach Veveygefahren …«

»Ohne Monsieur?« frage ich und ahneschon: Chaplin ist noch im Haus!

Der Butler nickt. »Selbstverständlich ohneMonsieur.«

»C’est dommage«, sage ich. Und höre, daß esklingt wie: Schade, daß mir die andern ent-wischt sind. Ich gestehe dem Butler zwar nicht,daß ich Oonas Wagen in meinem Wahn nochaufhalten wollte, kann mir aber nicht verknei-fen:

»Und Geraldine? War Geraldine im Wa-gen?«

Nein, die sei schon wieder in Spanien.Ich bin beruhigt.»Dafür kam sie schon vor einem Monat hier

an.« Der Butler schweift ab, als wolle er mir

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beweisen, wie schwer es sei, das Kommen undGehen des Chaplin-Clans zu koordinieren.

Chaplins Sohn Sydney sei ja auch nicht mehrhier, sondern gerade in Gstaad. Fliege aberbald wieder nach L.A., denn dort habe er … —

Ich wage zu unterbrechen. Frage, ob Chap-lin jetzt wach sei.

Er schüttelt den Kopf.»Monsieur est trés bas.«Es gehe ihm nicht gut. Monsieur schlafe

schon wieder. Er schlafe sehr viel dieser Tage.Wache immer wieder mal auf, um zu essen oderein wenig fernzusehen. Er habe zwar ein aus-gezeichnetes Herz, einen ausgezeichneten Ap-petit, aber sein Gedächtnis lasse in letzter Zeitnach.

»Mit seinen 86 Jahren hat er immerhin einerfülltes Leben gehabt«, sagte der Butler ruhigund sachlich. Als stünde Chaplins Tod täglichbevor.

Ich gehe, durchaus unbewußt, dagegen an.Frage ihn nach Chaplins großem Projekt, TheFreak.

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»Ach, da geht es um ein Mädchen, das mitFlügeln zur Welt kommt.«

Soviel wußte ich auch.»Schreibt er denn noch daran?«Nein, es sei abgeschlossen. Chaplin habe es

für Victoria, seine Tochter, geschrieben. Sogarmechanische Flügel für sie entworfen und bau-en lassen.

»Soviel Arbeit, soviel Hin und Her«, meintder Butler und stöhnt, als wolle er sagen: Auchfür uns! »Aber … das ist ja jetzt vorbei. Abge-schlossen.«

Der Butler trinkt seinen Kaffee.»Schon sechzehn Jahre bin ich jetzt im

Haus.« Nach einer Pause sagt er: »Immer-hin.«

Dann schweigt er wieder.In der Stille kommt es mir sekundenlang

vor, als hörte ich Chaplin sich in einem deroberen Zimmer bewegen. Was, wenn ich jetztbei ihm anklopfen würde? Mein Ohr an seineTür legte? Würde ich sein ruhiges, gleichmäßi-ges Atmen hören? In meinen Gedanken trete

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ich in jenes Zimmer im ersten Stock, in dem ichLicht gesehen hatte:

Ein Sessel am Fenster. Daneben geöffneteKartons und Kisten. Leise komme ich näher.Federn am Boden. Federn? Hat er hier einHuhn geschlach — …? Plötzlich rutsche ichaus, fliege … und kann mich gerade noch fan-gen. Umklammere eine Puppe aus Eisen undDraht, die in der Mitte des Zimmers steht.Mottenkugeln rollen mir voraus. Ich richtemich vorsichtig an der Puppe auf. Jetzt, von derSeite, sehe ich: den eingeschlafenen Alten. Ar-tifex … Urvater. Er lehnt tief im Sessel. Aufseinen Knien: die ausgepackten Flügel seinesMädchens. Und in den weißen Haaren über derStirn, … was hat er da? Ich komme näher,sehe: Er ist der Freak. Ein Menschenengel mitden Hörnern Pans.

Der Butler räuspert sich.»Hätten Sie lieber etwas anderes gehabt? Tee

oder …«»Nein, nein. Vielen Dank. Der Kaffee ist

noch heiß, wird mir guttun.«

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Ich blase eine imaginäre Feder von der er-hobenen Tasse.

»Sieht Chaplin sich manchmal noch seineFilme an?«

»Oh, ja«, sagt der Butler. »Dann hole ichentweder den Acht- oder den Sechzehn-Milli-meter-Projektor vom Speicher. In sechzehnMillimeter haben wir alles da. Manchmal zeigeich Monsieur die alten Filme allein. Aber auchwenn die Familie zusammenkommt, wird im-mer ein Film gezeigt. Man kommt, wie ichIhnen sagte, noch oft zusammen. Immer anWeihnachten. Da kommen sie alle. Diesmalhabe ich City Lights gezeigt, … davor Lime-light.«

»City Lights, wirklich? An Weihnachten?«»Monsieur wollte City Lights sehen«, sagte

der Butler. Läßt dabei spüren, daß er für jenenAbend jedenfalls einen anderen Titel passendergefunden hätte.

»Ich würde Chaplin gerne schreiben, wennich wieder in Los Angeles bin«, sage ich. »Ihmerzählen, was mir heute geschehen ist. Von den

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offenen Türen und Toren, den wunderbarenZufällen. Mich auch für das Photo bedanken.Könnten Sie mir die genaue Adresse hier ge-ben?«

Kurz darauf kommt er aus dem gegenüber-liegenden Zimmer mit einem Paket-Aufkleberzurück. Er setzt sich neben mich und streichtmit rotem Filzstift den Namen Oona Chaplinaus der Adresse des Senders. In Großbuchsta-ben setzt er darüber: »G. Canese«.

Mir wird klar, daß er mich mißverstandenhat. Er denkt, der zukünftige Brief sei ihm be-stimmt. Denkt und wünscht also nichts ande-res als ich vorhin: Er will gesehen, will gemeintsein. Ich werde zwei Briefe schreiben müssen.Einen an G. Canese. Den anderen an Chaplin.

»Wofür steht denn das ›G.‹?« frage ich ihn.»Gino«, sagt er, schlicht und stolz.

Draußen regnete es, wurde schon dunkel. Dabot Gino Canese an, mich zum Bahnhof zufahren.

Auf welchem Weg wir das Haus verließen,

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weiß ich nicht mehr. So groß war das Glücks-gefühl. Unbegreiflich, dies alles wegtragen zudürfen and live to tell the tale. Denn jetzt ging eswieder nach draußen, zurück in die Welt.

Auf dem Weg zum Auto beschimpfte Ginoden Hund, der wieder zu bellen begann.

»Das tut er sonst nicht, wenn ich dabei bin«,meinte Gino und fuhr den Hund an:

»Cochon!«Rex ließ ab.Und ich dachte: Der Hund schlägt an, wenn

ein Dieb sich nähert. Reich wie ein Dieb gingich an ihm vorbei.

Wenige Schritte gegenüber lagen die ehema-ligen Reitställe, die man zu Garagen umgebauthatte. Das Auto, ein dunkelblauer BMW, warhier untergebracht.

Wir stiegen ein.Gino deutete auf meinen Platz: »Da sitzt

auch Monsieur immer, wenn ich ihn fahre.«Machte sich der Butler über mich lustig?

Oder nahm er nur teil an meiner Freude? Viel-leicht war hier etwas aus seiner Vergangenheit,

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an dem er durch mich wieder teilhatte: DieAufregung, die Gino verspürt haben mußte, alsjeune homme in diesem Haus Anstellung zu fin-den. Unwürdig glücklich war ich, lehnte michtief in Chaplins Sitz zurück.

Was konnte jetzt noch schiefgehen? Ginofuhr den Wagen rückwärts aus der Garage. Rexbegann wieder zu bellen. Ich wollte mich an-schnallen. Aber Chaplins Wagen besaß keineSitzgurte. Eine unsinnige Angst kam auf, alsmüsse das alles noch in einem blutigen Unfallenden.

Warum?Weil man sich solche Tage nicht ungestraft

stiehlt.Als wir losfuhren ins Dunkel, durch die noch

offenen Torflügel des Manoir, sah ich nichtmehr zurück.

Handgehalten lag Chaplins Bild auf meinemKnie. Wie zum Zeichen.

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»Charles Spencer Chaplin hatte das Tor zumManoir geöffnet … Also jetzt! Ich stoße denrechten Flügel nach innen und schlüpfehinein. Auf Kiesweg geht’s weiter … um jeneHecke herum. Da wird die Sicht frei … SeinHaus liegt vor mir.«