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Mensch – Natur

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Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Dr. Christoph Hubig, StuttgartHD Dr. Volker Schürmann, LeipzigProf. Dr. Gerhard Schweppenhäuser, Bozen/ItalienDr. Michael Weingarten, MarburgProf. Dr. Jörg Zimmer, Girona/Spanien

Management

Andreas Hüllinghorst, transcript Verlag

2003-09-08 16-06-58 --- Projekt: transcript.pantarei.holz.anthropologie / Dokument: FAX ID 019531303164818|(S. 2 ) T00_02 editorial board.p 31303164826

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Edition panta rei |

Hans Heinz Holz

Mensch – NaturHelmuth Plessner und das Konzepteiner dialektischen Anthropologie

2003-09-08 15-08-03 --- Projekt: transcript.pantarei.holz.anthropologie / Dokument: FAX ID 019a31299629690|(S. 3 ) T00_03 innentitel.p 31299629714

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Der Rijksuniversiteit Groningen in Verbundenheitund Dankbarkeit gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, BielefeldSatz: digitron GmbH, BielefeldDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarISBN 3-89942-126-4

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Inhalt

Vorwort7 |

Einleitung.Anthropologie und Geschichtsphilosophie

11 |

Überbeanspruchung der Anthropologie11 | Die »anthropologische Differenz«14 | Die »Modernität« der Anthropologie17 |

Kritische Exposition einer ontologischzu fundierenden Anthropologie

19 |

Unzulänglichkeit einer empirischen Fundierungder Anthropologie

19 |

Der cartesische Dualismus25 | Fichtes ursprüngliche Einsicht28 | Feuerbachs materialistische Wendung30 | Josef Königs Rückkehr zur Ontologie34 | Setzung, Selbstsetzung und das Ganze37 | Der transzendentale Schein der Subjektpriorität41 |

Auf dem Weg zur philosophischen Anthropologie47 | Die Anfänge anthropologischer Fragestellungen47 | Die Geschichtlichkeit des Menschen52 | Die irrationalistische Wende57 | Max Scheler: Der Mensch als animal metaphysicum59 |

Helmuth Plessner: Von der deskriptiv- zurtranszendental-phänomenologischen Methode

69 |

Das System der Sinnlichkeit83 | Das Leib-Seele-Problem83 | Gegenstand und Inhalt der Sinneswahrnehmung86 | Doppelaspektivität: aktiv – passiv; innen – außen92 |

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Positionalität und Grenze96 | Ontologische Grundfragen98 | Die Leistung der Sinne101 | Regionalontologie der organischen Natur105 | Dialektische Einheit der Natur114 |

Die dialektische Natürlichkeit des Menschen117 | Das Problem einer Dialektik der Natur117 | Die typlogische Deutung deskriptiv gewonnener Befunde120 | Positionalität126 | Der Leib als Sinnganzheit129 | Logische Stationen der Dialektik131 | Von der Anthropologie zur Soziologie133 |

Nach Plessner hinter Plessner zurück141 | Begründung der Anthropologie in Daseinsontologie142 | Gehlens Deutung der Menschen als Mängelwesen145 | Die existenzphilosophische Wende152 |

Ausblick159 | Dialektisch-materialistische Anthropologie164 |

Anhang: Landvermessung im Unbewussten.Zur Psychoanalyse Sigmund Freuds

171 |

Kritische Rationalität172 | Materialistische Grundauffassung173 | Die Eigenart des Psychischen174 | Die Traumdeutung176 | Weltanschauliche Überforderung177 |

Literatur181 |

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Vorwort

Als ich im Studienjahr 1987/88 an der Rijksuniversiteit Groningenein Kolleg mit Seminar zur philosophischen Anthropologie ankün-digte, wollte ich bewusst an die Tradition Helmuth Plessners an-knüpfen, der während der Emigrationsjahre in Groningen gelehrthatte und gegen den Zugriff der Nazis geschützt worden war. Zuvorhatte aus Anlass des 90. Geburtstags von Plessner das Philosophi-sche Institut der Universität ein Symposion veranstaltet, dessenBeiträge 1986 unter dem Titel Philosophische Rede vom Menschenerschienen sind (vgl. Delfgaauw et al. 1986). Der genius loci unddie überragende Bedeutung Plessners für die philosophische An-thropologie waren bestimmend dafür, dass seine Konzeption imMittelpunkt des Kollegs stand. Im Verlauf des Kollegs und der zuanderen philosophischen Positionen stattfindenden Seminarübun-gen wurde mir die singuläre Stellung Plessners, sein weiter philo-sophischer Abstand sowohl von der als Metaphysik als auch von derals bloß empirische Einzelwissenschaft betriebenen Anthropologieimmer deutlicher; zugleich damit auch die Notwendigkeit einerkritischen Reflexion der Disziplin, die wesentliche Bereiche derPhilosophie zu usurpieren begann.

1 Die Allgegenwart der Frage »Was ist der Mensch« , die in je-dem Bereich menschlichen Tuns und Wissens gestellt werden kann,weil Tun und Wissen ja immer Mensch-Welt-Verhältnisse sind, kann

1 | Auf diese Frage spitzt Kant das System der Philosophie zu: »Das Feldder Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgendeFragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darfich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphy-sik, die zweyte die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthro-pologie. Im Grunde aber könnte man alles dieses zur Anthropologie rech-nen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (Kant 1800:25).

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur dazu verführen, in ihrer Beantwortung eine Grundlegung der Phi-losophie zu versuchen. Die methodologische Perspektive entschei-det dann darüber, von welchem Seinsbereich her die anthropologi-sche Konstruktion des Ganzen unternommen wird – biologistisch,psychologistisch, soziologistisch, geisttheoretisch; und für jedenEinstieg ließen sich plausible Präferenzgründe angeben, wennauch schließlich dabei sehr verschiedene, unvereinbare Mensch-Bilder herauskämen. Nur eine Wissenschaft, die vor den Chimäreneines Pluralismus ihr konstitutives Prinzip der Systemkohärenzpreisgegeben hat, kann sich mit einem solchen Zustand zufriedengeben. Die hier vorgelegten Überlegungen sind darum keine Einfüh-rung in die Anthropologie – weder im Sinn einer Übersicht überdie anthropologischen Lehrmeinungen noch in der Absicht einerSystematisierung ihrer Problemstellungen. Vielmehr wird kritischnach der Möglichkeit und dem Status von Anthropologie im Corpusphilosophischen Wissens gefragt, das sich als Begründung des Wis-sens von Welt im Ganzen versteht. Nicht der Mensch, sondern dasIn-der-Welt-Sein des Menschen ist Gegenstand dieses Buches. Die Kritik am Pluralismus der anthropologischen Ansätze kannnicht auf die Elimination der Anthropologie abzielen. Vielmehr istzu untersuchen, auf welche Weise sie als philosophische begriffenwerden muss, ehe sie in die diversen Disziplinen der empirischenMensch-Welt-Verhältnisse diffundiert. Dazu soll diese Studie einenBeitrag leisten, indem die ontologische Struktur umrissen wird, indie die Anthropologie eingebettet ist. Ich bin mir bewusst, dassdiese Denkbewegung gegen den mainstream verläuft; Wirbel, diedadurch entstehen, haben der Wissenschaft nicht geschadet. Inder Anknüpfung an Helmuth Plessner kann ein Impuls wieder-

2gewonnen werden, der dieser Denkbewegung Schubkraft verleiht.

In Erinnerung an achtzehn fruchtbare Jahre der Lehre und For-schung sei dieses Buch der Rijksuniversiteit Groningen gewidmet,den Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden; und verbunden miteinem Dank an die Rektoren dieser Jahre, insbesondere Eric Bleu-mink und Simon Kuipers, für die stets verständnisvolle und förder-liche Zusammenarbeit. Dem Verlag sei Dank, dass er mit diesem Buch einen Publika-

2 | Im ganzen Buch wird Helmuth Plessner nach der Ausgabe der Gesam-melten Schriften, hg. von Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker,Frankfurt/Main 1980–1985, 10 Bände, unter einfacher Angabe von Band-und Seitenzahl zitiert.

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Vorworttionsweg beschreitet, der die gesellschaftliche Forschung in denBereich philosophischer Grundlagentheorie erweitert. Und es istmir eine besondere Freude, dass dieser Weg im Garten Epikurs vonAndreas Hüllinghorst betreut wird, dessen Studien ich an der Uni-versität Groningen fördern und bis zum Abschluss begleiten durfte.

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2003-09-08 15-08-04 --- Projekt: transcript.pantarei.holz.anthropologie / Dokument: FAX ID 019a31299629690|(S. 7- 9) T00_06 vorwort.p 31299629738

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Einleitung.Anthropologie und Geschichtsphilosophie

Überbeanspruchung der Anthropologie

In regelmäßigen Abständen wird die zeitgenössische Philosophievon Flutwellen einer modischen Richtung überschwemmt, in dersich die Betroffenheit von Fragestellungen entwicklungsträchtigerEinzelwissenschaften, wie Humanbiologie, Psychologie, Soziologie,mit unklaren Weltanschauungsbedürfnissen und ungeklärten Welt-anschauungsmotiven vermischt. Ich meine die so genannte philo-sophische Anthropologie – und nehme aus dem Folgenden die In-tention und Position des ebenso wissenschaftlich wie philoso-phisch strengen Denkens von Helmuth Plessner ausdrücklich aus. In den vierziger und frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhun-derts erlebte die hier gemeinte philosophische Anthropologie ei-nen ersten Höhepunkt mit den Werken von Arnold Gehlen (1962/1940), Hans Lipps (1941), Otto Friedrich Bollnow (1943) und einerRenaissance der von den Nazis aus der Diskussion verdrängtenNachwirkung Max Schelers (1947). In den späten sechziger Jahrengab es dann eine Konjunktur dessen, was man den »humanen So-zialismus« nannte, der sich zu Unrecht auf die Jugendschriftenvon Marx berief und von einer religiös gefärbten Marx-Rezeptionim linken Protestantismus bis etwa zur jugoslawischen Praxis-

1Gruppe reichte. In den siebziger Jahren knüpfte eine neue philo-sophische Anthropologie an die negative Dialektik Theodor W.Adornos an – wie Ulrich Sonnemann (1969) und Dietmar Kamper(1973), an die strukturalistische Ethnologie – wie Wolf Lepenies(1971), an die Psychoanalyse – wie Alfred Lorenzer (1973, 1974)

1 | Vgl. Marxismus-Studien 1954ff.; Vranicki 1969; Markovic 1968; Z, Zeit-schrift für marxistischer Erneuerung 18(1994). Zur Kritik der erstgenanntenAnsätze vgl. Holz 1972.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur 2und generell der von Alexander Mitscherlich herkommende Kreis.Die Ausstrahlung dieser Strömungen war und ist zum Teil nochheute außerordentlich groß und reproduziert sich in Weltanschau-ungsakzenten, die von den Feuilletons für das gebildete Publikumgesetzt werden. Was ist nun das Philosophische an einer Anthropologie, diemeint, sich auf eine Bestimmung des ›faktischen Wesens des Men-schen‹ gründen zu sollen – wie auch immer dieses bestimmt wer-den möge, und sei es gar bloß als die negative Bestimmung seinerprinzipiellen Unfixierbarkeit im historischen Fluss oder in der in-dividuellen Entwicklung? Um das Problem zuzuspitzen, verschärfeich die Frage provokativ: Hat es die Philosophie überhaupt mitdem faktischen Wesen des Menschen zu tun? Diese Frage zieltnicht in Richtung des Anti-Humanismus Louis Althussers (1968),der objektive geschichtliche Strukturen, solche des ökonomischenProzesses, als unabhängig vom handelnden, arbeitenden Menschenverstehen möchte (vgl. Sandkühler 1977; Grimm 1980; Steenbak-kers 1982). Vielmehr frage ich, ob die ›anthropologische Wende‹nicht von dem Grundproblem der Philosophie, dem Verhältnis vonSein und Bewusstsein, wegführt beziehungsweise dieses Verhältnisbereits in einem ungeprüften Vorentscheid einseitig auslegt. Max Horkheimer hat gegen die Zentrierung der Humanwissen-schaften auf eine allgemeine Anthropologie den Einwand der his-torischen Relativität des Menschen erhoben. »Die Aufgabe, dieMax Scheler der Anthropologie gestellt hat, genau zu zeigen, wieaus einer ›Grundstruktur des Menschseins‹ […] alle spezifischenMonopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: […]– diese Aufgabe ist unmöglich. […] Sie widerspricht dem dialekti-schen Charakter des Geschehens, in das die Grundstruktur vonGruppen und Individuen jederzeit verflochten ist, und kann imbesten Fall zum Entwurf von Modellen im Sinn naturwissenschaftli-cher Systeme führen« (Horkheimer 1968: 202). Die Orientierungder Kritik an Schelers Konzeption eines, sozusagen durch göttli-chen Schöpfungsakt gesetzten, unveränderlichen Wesens ›desMenschen‹ verschiebt allerdings die Problemstellung. Anthropolo-gie wird als eine metaphysische Antithese zur naturwissenschaftli-chen Evolutionstheorie aufgefasst und damit auf eine kategorialeEbene mit den empirischen Disziplinen gestellt, während doch der

2 | Vgl. zu einer psychologischen Anthropologie mit marxistischen Ein-schlägen die beiden von Hans-Peter Gente herausgegebenen Bände Marxis-mus, Psychoanalyse, Sexpol, Frankfurt/Main 1970, besonders Band II: Dieaktuelle Diskussion.

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philosophieund Geschichts-AnthropologieEinleitung:Hervorgang des Menschen (qua Naturwesen) aus der Natur in ein

Anderes der Natur (qua Zivilisationswesen) als ein qualitativer Um-schlag, das heißt als ein Vorgang in der Dialektik der Natur zu be-greifen wäre. Weil Horkheimers Dialektikbegriff eine Dialektik derNatur ausschließt (vgl. Holz 2003b), muss er Anthropologie in ei-nen Gegensatz zur Geschichtsphilosophie bringen. »Der Versuch,den Menschen als feste oder werdende Einheit zu begreifen, isteitel. […] Die menschlichen Eigenschaften sind in den Gang derGeschichte verschlungen« (Horkheimer 1968: 226f.). Diese richtigeEinschränkung jedes essenzialistischen Apriorismus hypertrophiertdann aber zu der Behauptung, dass »die Geschichte keineswegs alsEntfaltung eines einheitlichen Menschenwesens anzusehen ist«(ebd.), damit wird aber auch jeder immanenten Begründung einerhumanen Lebenspraxis und dem Postulat eines Fortschritts in derBeförderung der Humanität (vgl. Herder 1889) der Boden entzo-

3gen. Wenn andererseits von der Anthropologie gesagt wird, siehabe es »in der Tat in erster Linie mit Konstanten des Menschen,des Humanum, des über- und interkulturell Identifizierbaren undWiederfindbaren beim Menschen« zu tun (Lenk 1983: 145), so wirddie historische Variabilität menschlicher Verhaltensweisen und derin ihnen sich erst verfestigenden Eigenschaften und also die so-ziokulturelle Konstitution von Identität zu Gunsten der Vorstellungvon einem ungeschichtlichen Naturwesen des Menschen verdrängt.Odo Marquard hat das programmatisch ausgesprochen: Die philo-sophische Anthropologie verhalte sich zur Geschichtsphilosophieals »ihr wirkliches Gegenteil, und zwar dadurch, daß die für siefundamentale Frage nicht die Frage nach der Geschichte des Men-schen ist, sondern die Frage nach seiner Natur. […] Die Gegen-wartsanthropologie beginnt also nicht nur, sie vollendet sich auchim Zeichen der ›Wende zur Natur‹« (Marquard 1982: 27, 136). Die-se Diagnose einer Antinomie steht nun aber im Gegensatz zu demBefund, auf den sie sich selbst beruft: Anthropologie sei nämlich»eine ganz und gar neuzeitliche Angelegenheit« (ebd.: 124) undalso eine Reflexionsgestalt in jenem Emanzipationsprozess, der

4den Menschen zum autonomen, mündigen Menschen werden lässt.Anthropologie bildet damit die Voraussetzung für die Humanwis-

3 | Das lässt sich am Beispiel der Menschenrechte zeigen; vgl. Holz 1996.4 | Säkularisierung oder Legitimität der Neuzeit ist die Alternative, un-ter die Marquard im Anschluss an Hans Blumenberg (1966) diesen Emanzi-pationsprozess stellt: »Geschichtsphilosophie ist diejenige, die aufruft zumAusgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit […]:das ist der Mythos der Aufklärung« (Marquard 1982: 14, vgl. 1983).

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur senschaften, wie sie sich heute verstehen. Die Konzeption einer›menschlichen Natur‹, die den Wesensbegriff mit dem Naturbegriffkonfundiert, ist mithin aus einem bestimmten geschichtlichenWeltverhältnis des Menschen entstanden und bestätigt die Frage-stellung der Geschichtsphilosophie, statt sie zu dementieren.

Die »anthropologische Differenz«

Vor dieses Dilemma gestellt, bleibt die Entwicklung eines theoreti-schen Verständnisses der Humanwissenschaften eine noch zu lö-sende Aufgabe. Die Kritische Theorie ist in den beiden umfassen-den systematischen Versuchen, diese Aufgabe zu lösen – TheodorW. Adornos Negative Dialektik (1966) und Ulrich Sonnemanns Ne-gative Anthropologie (1969) – zu keinem Ergebnis gekommen, undsie konnte von ihren Voraussetzungen aus auch nur eine Destruk-tion systematischer Anthropologie erreichen, ohne mehr als dieTrümmer einer philosophischen Theorie vom Menschen zu behal-ten. In Geschichte und menschliche Natur (1973) geht DietmarKamper von diesen Aporien aus. Er entwickelt seine Fragestellungaus der Unzulänglichkeit jener Positionen, die von der Existenz-philosophie und von der Frankfurter Schule bezogen wurden. DerAblösungsprozess von diesen Positionen gehört zu den Inhalteneiner möglichen Neukonstituierung philosophischer Anthropolo-gie, die sich nicht durch fixierbare Resultate ausweisen will, son-dern den Konstitutionsprozess selbst als kritische Auflösung einerWesenslehre vom Menschen vorantreibt. Bei diesem kritischen Ver-fahren kommt die Konvergenz existenzialistischer Anthropologieund kritischer Anthropologie der Frankfurter Schule deutlich he-raus – eine Konvergenz, die sich sozusagen unter der Hand bei denVertretern der älteren Generation der Kritischen Theorie auch sonsteinstellt: Adornos wie Marcuses Positionen schlagen vielfach inexistenzialistische um, ohne dass beide sich Rechenschaft darübergeben würden. An diesem theoriegeschichtlichen Befund muss sich das Prob-lembewusstsein einer kritischen Anthropologie schärfen. Diesekann sich nicht auf eine Destruktion herrschender Lehren be-schränken, sondern müsste – wenn sie auch die Erfahrung desScheiterns einer positiv verfestigten Idee vom ›Menschen an sich‹zur Voraussetzung hat – daraus die Perspektive eines eigenen in-haltlich zu erfüllenden Verfahrens entwickeln. Zentrum des kamperschen Ansatzes in dieser Richtung ist derBegriff der ›anthropologischen Differenz‹, der terminologisch zwar

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philosophieund Geschichts-AnthropologieEinleitung:an Heideggers Begriff der ›ontologischen Differenz‹ anklingt, mit

diesem sonst jedoch wenig gemein hat. Vielmehr umreißt Kamperdas Gemeinte: »Ein Begriff vom Menschen, der die Unmöglichkeiteines Begriffs vom Menschen begrifflich nachweist, steht noch aus.Dies genau wäre der Inhalt der anthropologischen Differenz«(Kamper 1973: 26). Für Kamper erfüllt sich ein solches Programmin einer Theorie der Reflexion und der Reflexivität. KonstruierteHegel die geschichtliche Systematik der Gattungsnatur des Men-schen in der Phänomenologie des Geistes als ein geschlossenes Re-flexionssystem, so sei nach Marx ein analoger Entwurf einer philo-sophischen Anthropologie nicht mehr möglich. Die Reflexivitätmüsse vielmehr als eine »unabschließbare Struktur« beschriebenwerden, »weil sie jeweils gesellschaftlich und geschichtlich vermit-telt ist« (ebd.: 151). Was Reflexion ist, könne ohne die inhaltli-chen Momente, durch die sich die Vermittlung vollzieht und diedie Vermitteltheit der Reflexion ausmachen, nicht bestimmt wer-den. Der Vermittlungsprozess sei aber prinzipiell unendlich undreproduziere sich immer wieder auf neuen Ebenen und in neuenFormen und mit neuen Inhalten. So komme die Entfaltung desmenschlichen Wesens nie zum Abschluss einer sich selbst genü-genden Wesensbestimmung, sondern bleibe in einem stetigen Pro-zess der Veränderung, die zugleich eine von außen bewirkte Ver-änderung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und eineSelbstveränderung mit Rückwirkung auf die gesellschaftlichenVerhältnisse ist. Allerdings kann eine Anthropologie, die vom Primat der gesell-schaftlichen Prozesse ausgeht, nicht beim ›individuellen‹ Men-schen anheben (und auch nicht bei ihm enden); die Mängel derfeuerbachschen Konzeption, die schon Marx deutlich genug ausge-sprochen hat, müssten sich sonst reproduzieren. Insofern ist Kampers Versuch, Anthropologie im Reflexionsver-hältnis zu fundieren, ein Rückgriff auf eine ontologische Struktur.Er selbst versteht sie transzendental und fällt damit dem Missver-ständnis zum Opfer, die Reflexion der Reflexion vor die Reflexion

5zu setzen. Dass der Mensch »sich nur dann versteht, wenn ande-re ihn verstehen« (Kamper 1973: 154), ist eine Spezifikation desSachverhalts, dass jedes Seiende nur das ist, was es ist, indem essich auf ihm gegenständliche, andere Seiende bezieht. Marx hatdies als Fundamentalstruktur alles Seins herausgestellt und mitdem kategorialen Titel »gegenständliches Wesen« (vgl. Marx 1968:

5 | Er müsste dann eine ›objektive Transzendentalität‹ setzen (vgl. Zim-mer 2003: 32ff.), was er jedoch nicht tut.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur 576ff.) bezeichnet: »Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges,lebendiges, wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist,heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand sei-nes Wesens, seiner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirkli-chen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann. Gegen-ständlich, natürlich, sinnlich sein und sowohl Gegenstand, Natur,Sinn außer sich haben oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn für eindrittes sein ist identisch. […] Ein Wesen, welches seine Natur nichtaußer sich hat, ist kein natürliches Wesen, nimmt nicht teil am We-sen der Natur. Ein Wesen, welches keinen Gegenstand außer sichhat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein Wesen, welches nichtselbst Gegenstand für ein drittes Wesen ist, hat kein Wesen zu sei-nem Gegenstand, d.h. verhält sich nicht gegenständlich, sein Seinist kein gegenständliches. Ein ungegenständliches Wesen ist einUnwesen« (ebd.: 578). Das besagt, dass die Materialität eines Seienden in einem Ver-hältnis ihre Wirklichkeit hat – sie ist ›materielles Verhältnis‹. DieReflexion ist das allgemeine und universelle Verhältnis, die Refle-xivität ist die allgemeine und universelle Struktur des Seins imGanzen, der Natur. Darin liegt, dass die Spezifik des Menschseinsals ein spezielles Naturverhältnis beschrieben werden kann, und dadies, wie alle Verhältnisse in einem bewegten System von Vielen,zeitlichen Veränderungen unterliegt und also geschichtlich ist, fal-len Natur und Geschichte nicht dichotomisch auseinander, wieMarquard unterstellt. Mit Recht macht Kamper dagegen geltend:»Der Resultatcharakter der menschlichen Natürlichkeit tritt nichtin den Blick. Kultur, Gesellschaft, Politik usf. erscheinen als zu-sätzliche Bestimmung. Daß sie im Gegenteil das Medium der ›na-türlichen‹ Entwicklung des Menschen darstellen, bleibt außer Be-tracht. Weil die bürgerliche Anthropologie das Individuum als ihrPrinzip unterstellt, schirmt sie sich selbst gegen jegliche ge-schichtliche Relativierung ab. […] Die Asozialität des bürgerlichenMenschenbilds wird vor allem, seit die Wissenschaften lebensprak-tisch unerläßlich sind, über anthropologische Theoreme vermit-telt« (Kamper 1973: 19, 155). Wenn Kamper dann allerdings das wechselseitige Reflexions-verhältnis der Seienden, die »doppelte Reflexion« (vgl. Holz 1983:40ff.), das die Differenz der Reflexionsglieder in ihrer Beziehungs-einheit festhält, eben wegen dieser Differenz in den Bereich der»Unbegrifflichkeit« verweist, versperrt er sich den Blick auf die Ra-tionalität der dialektisch-ontologischen Verfasstheit von Welt. »DieUnbegrifflichkeit des erst praktisch zu sich selbst kommendenMenschen, die an der anthropologischen Reflexion begrifflich

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Page 18: Mensch – Natur · 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphy-sik, die zweyte die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthro-pologie. Im Grunde

philosophieund Geschichts-AnthropologieEinleitung:nachgewiesen wurde, zeigt ihre methodologische Relevanz gerade

darin, daß die humanwissenschaftliche Theorie ihren Momentcha-rakter festhält und auf Praxis nicht mehr in der Weise eines totalenEntwurfs wirkt, sondern sich selbst begrenzend, menschliche Uni-versalität praktisch freigebend und die Reflexivität jedes einzelnenkonkreten Individuums postulierend. Historische ›Experimente‹müssen von denen ›kontrolliert‹ werden können, die sie passiv und

6aktiv erfahren« (Kamper 1973: 237). Da wird Freiheit aus der ver-nünftigen Selbstbestimmung in die planlose Selbstbestätigung zu-rückgenommen. Das heißt, Kamper fällt wieder auf den von ihmzuvor kritisierten Standpunkt des isolierten Individuums zurück,weil er sich die philosophische Grundfrage nach den Konstitutions-bedingungen von Totalität nicht stellt (vgl. Sartre 1967: 46ff., 703ff.).

Die »Modernität« der Anthropologie

Die Abkehr von philosophischen Grundfragen, die der Frage nachder Natur des Menschen vorgeordnet sind, entspringt einer spezi-fisch neuzeitlichen Einstellung; sie geht einher mit dem Zerfall dermetaphysischen Gewissheit des Gehalten- und Begründetseins jeg-licher, vorab der menschlichen Existenz in einem kosmischen Gan-zen oder einer als transzendent verstandenen Schöpfungsinstanzund reflektiert das Zurückgeworfensein des Menschen auf dieSelbstgewissheit, die Descartes in der Evidenz des cogito fand (vgl.Wein 1948). Weltanschaulich vorbereitet und ermöglicht wurde siejedoch durch die biblische Lehre von der Sonderstellung des Men-schen gegenüber jedem anderen Seienden, die Lehre von der ima-go Dei (Gottesebenbildlichkeit) und von dem dominium terrae(Herrschaft über die Erde) (vgl. Moses 1,1, 26–28). Sobald aus die-sem Schöpfungsverhältnis Gott entfernt wurde (oder auch nur de-istisch in Abstand versetzt wurde), war die Umkehrung in die Vor-

7stellung einer anthropotropen Weltordnung unaufhaltsam.

6 | Wir können diese Konsequenz nicht mit der richtigen Einsicht zu-sammenbringen, »daß ›Mündigwerden‹ kein beiläufiger Vorgang ist, derzum Menschen nachträglich addiert werden kann, sondern, ein Prozeß, dermit dem Hervorgang des Menschen selbst identisch ist« (Kamper 1973:169).7 | Im Hochmittelalter wird die nachgeordnete Funktion des Menschentrotz der imago-Dei-Lehre durch eine feine Unterscheidung aufrecht erhal-ten: Der Mensch sei nicht Ebenbild Gottes (imago Dei), sondern »nach dem

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Für diesen Umschlag ist Bernhard Groethuysens PhilosophischeAnthropologie im Handbuch der Philosophie charakteristisch. 1931erschienen, gehen ihr die beiden Arbeiten von Scheler und Pless-ner, die man als die Stiftungsurkunden der Anthropologie alsGrundlagendisziplin bezeichnen darf, aus den Jahren 1927/28 vo-ran. In ihnen wird die herausgehobene Einzigartigkeit des Mensch-seins im Rahmen des universellen Naturseins zentral – bei Schelerin metaphysischer, bei Plessner in naturdialektischer Perspektive.Groethuysen verzichtet darauf, diesen Neueinsatz, der doch aller-erst die Selbstständigkeit der philosophischen Anthropologie be-gründete, überhaupt zu erörtern. Er entwickelt vielmehr die Lehrevom Menschen als Moment des Weltverständnisses, von Platon undAristoteles bis zur Renaissance, ihr Fundament in einem den Men-schen bedingenden und ihn umfangenden Seinszusammenhangfindend. »In der kosmologischen Anthropologie der Renaissancebedeutet Selbsterkenntnis: Bestimmung des Menschen in seinemWeltverhältnis« (Groethuysen 1931: 181). Bei Erasmus sieht er dieAnzeichen der veränderten Einstellung: »Bei Erasmus grenzt sichdas Persönlich-Menschliche vom Kosmischen ab. Der Mensch findetin seiner Menschlichkeit etwas vor, das sich ihm als etwas Selbst-verständliches, Natürliches darstellt, an das er sich hält, um von daaus sein Leben zu regeln« (ebd.: 194). Damit beginne eine neueEpoche der Menschheitsgeschichte, in der der Mensch zum erstenMal die Welt von sich aus konstruiere, sie um sich anordne. DasDenkmotiv, den Allmittelpunkt einer unendlichen Sphäre an jedemOrt lokalisieren zu können (vgl. Mahnke 1937), spitzt sich nunsubjektphilosophisch zu (vgl. Holz 1997a). Es beginnt das, wasman den ›Diskurs der Moderne‹ genannt hat (vgl. Habermas 1988):die Deutung der Welt als Entwurf aus der Leistung des Menschen,sei es in der Arbeit, in der Sprache, in der Erkenntnis. So ist – trotz aller modischen Einkleidungen, in denen sie auf-tritt – die Anthropologie doch keine Mode, sondern eine im Wesender Neuzeit angelegte Weise, die Frage nach dem Anfang der Philo-sophie zu stellen. Wird aber, in verkürzter Sicht, als vermeintlicherGegenstand dieses Fragens der Mensch oder gar der Mensch ge-nommen, und nicht das menschliche Verhältnis zur Welt, so verfehltdie Anthropologie ihr eigentliches Problem. Die Aporie, dass An-thropologie nur dann sinnvoll möglich ist, wenn sie gerade nichtzuerst nach dem Menschen fragt, soll in den folgenden Schrittenaufgeschlossen werden.

Bilde Gottes geschaffen« (ad imaginem factum) (Petrus Lombardus, Senten-zen II, dist. 16 c).

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Kritische Exposition einer ontologischzu fundierenden Anthropologie

Unzulänglichkeit einer empirischen Fundierungder Anthropologie

Eine philosophische Anthropologie, die im strengen Sinne dem An-spruch einer philosophischen Disziplin genügen will, ist nicht die –sei es empirische, sei es eidetische – Lehre von einem wie immergearteten Gattungswesen des Menschen als der Gattung homo sa-piens sapiens. Dies unterstellt allerdings die gängige Auffassung,für die hier die Äußerungen Otto Friedrich Bollnows stehen sollen:»Unter philosophischer Anthropologie versteht man bekanntlich[…] die philosophische Bemühung um die Beantwortung derFrage: Was ist der Mensch?.« Sie sei dadurch gekennzeichnet, dasssie »jede einzelne Erscheinung des menschlichen Lebens, die sichdarbietet, in gleicher Weise ganz ernst nimmt […] [und] jedeneinzelnen Zug in eine unmittelbare und ursprüngliche Beziehungzum Ganzen des menschlichen Lebens bringt […]. Die philosophi-sche Anthropologie geht also aus von […] der entscheidenden undfür sie bezeichnenden Frage: Wie muss das Wesen des Menschen imGanzen beschaffen sein, damit sich diese besondere, in der Tatsa-che des Lebens gegebene Erscheinung darin als sinnvolles undnotwendiges Glied begreifen läßt?« (Bollnow 1943: 1, 3, 4). DieseCharakterisierung von Anthropologie trifft, mit Varianten und Nu-ancen, aber im Grundsätzlichen übereinstimmend, das Selbstver-ständnis fast aller Vertreter der philosophischen Anthropologieund steht daher hier als Indiz. Nun wäre aber eine quasi deskriptive Phänomenologie desMenschen, wie Bollnow sie vorstellt, wohl eine Grundlagenwissen-schaft für alle empirischen Disziplinen, die sich mit dem Menschenbefassen, sie würde indessen noch durch nichts ausweisen, was sie

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur 1zu einer eigentlich philosophischen macht. Natürlich ist eineAnthropologie in diesem Sinne, wie jede Grundlagenwissenschaft,von philosophischem Interesse und hat philosophische Ingredien-zen. Dies soll durch unsere These nicht bestritten werden; vielmehrrichtet sich deren Radikalität gegen die mit der philosophischenAnthropologie vielfach programmatisch verbundene Prätention, ei-ne Klärung der ›Natur des Menschen‹ könne das Fundament fürjegliche Philosophie abgeben und, als Konsequenz der neuzeitli-chen Wende zur Subjektivität, die Funktion der Ontologie im klas-sischen Aufbau der Philosophie ersetzen. Eine Anthropologie, die den Menschen qua Gattung homo sapi-ens sapiens hinsichtlich seiner Gattungseigenschaften betrachtet,kann ihn stets nur als Seiendes unter Seienden begreifen – wiesehr sie ihn auch gegenüber allen anderen Seienden als etwas aus-nehmend Besonderes, Herausgehobenes beschreiben mag (vgl.

2Scheler 1947/28; Gehlen 1962). Insofern ist die von Biologie, Paläontologie, Ethnologie undPrähistorie erörterte Frage nach der Anthropogenese zwar durch-aus ein Problem der Anthropologie als einer empirischen Disziplin,nicht aber eines der philosophischen Begründung. Historische Ur-sachen und konstitutionelle Wesensbestimmungen sollten metho-disch auseinander gehalten werden, wenn sie auch in der konkre-ten Sachverhaltsanalyse wieder zusammengeführt werden müssen.Es ist nicht einzusehen, dass im Rahmen der allgemeinen Historizi-tät der Natur der Ursprung des Menschengeschlechts überhaupt einphilosophisches Problem sein soll, wie es bei Peter Damerow et al.(1980) erscheint. Der kontinuierlich gleitende Übergang vom Tierzum Menschen, der von einer biologischen Anthropologie, die ihrVorbild an den Arbeiten von Plessner hat, einschließlich der indiesem Kontinuum vorkommenden ›Sprünge‹ beschrieben werdenkann, bietet gegenüber den sonstigen Problemen einer ›Spezifika-tion der Natur‹ bzw. der Evolution keine andersartigen Schwierig-keiten. Nur wenn die philosophische Begründungsfrage dem Sche-ma einer linearen Kausalität subsumiert wird, ergibt sich die (un-seres Erachtens unsinnige) Frage, welcher Faktor denn nun dieEntstehung der Art homo sapiens sapiens entscheidend bewirkt

1 | Die Unsicherheit im Hinblick auf das Spezifische der Philosophie ge-genüber den Grundlagen der empirischen Wissenschaften ist weit verbreitet.Sie gehört zu den Verfallserscheinungen der Philosophie, die im 19. Jahr-hundert aufzutreten begannen.2 | Gehlen (1962) bestimmt die Besonderheit aus der Negation: derMensch als Mängelwesen.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionhat. Die langen Überlegungen bei Damerow et al. zu diesem Thema

kommen über die von Anfang an feststehende Bemerkung nichthinaus: »Die Entwicklung zum Menschen als konkreter Totalität,als Einheit von Gattungswesen und Individuum, läßt sich begreifenals Prozeß der Selbsterzeugung des Menschen in der Arbeit« (ebd.:265). Dies ist eine Formulierung, die Marx schon in den Ökono-misch-philosophischen Manuskripten gebraucht hat, und diese For-mulierung reicht aus, um den Sachverhalt zu konstatieren. Überdie philosophische Verfassung der Arbeit wird durch evolutionsthe-oretische Überlegungen nichts ausgemacht; denn das philosophi-sche Problem besteht gerade in der Bestimmung des Wesens, nichtder Genesis der spezifisch menschlichen Weltbeziehung. Wohl aberkönnen evolutionstheoretische Einsichten die These von der ma-teriellen Einheit von außermenschlicher und menschlicher Naturstützen (vgl. Holzer 1978). Die Erörterung der Anthropogenese in der Abhandlung vonDamerow et al. scheint uns in einer Weise zu verfahren, wie geradenicht mit Gegenständen empirischer Wissenschaften umgegangenwerden sollte. Diese Wissenschaften vermögen die Realdialektikder Entwicklung im Übergangsfeld von Tier und Mensch kompeten-ter zu beschreiben als die Philosophen, die ihre Informationen nuraus zweiter Hand beziehen. Natürlich ist der Übergang vom Tierzum Menschen (wie von der Pflanze zum Tier, von der anorgani-schen zur organischen Materie) auch ein philosophisches Problem,insofern daran Bestimmungsmomente der Dialektik der Natur aus-gemacht werden können. Das ist aber gerade nicht die von Dame-row et al. gestellte Aufgabe: »Erstens muß die reale Möglichkeitnachgewiesen werden können, daß im biologischen Entwicklungs-zusammenhang die Momente des Arbeitsprozesses als historischeVoraussetzungen der Menschwerdung entstehen konnten« (Dame-row et al. 1980: 261). Hierfür sind allein die genannten Einzeldis-ziplinen zuständig, allerdings nicht ohne mit dem begrifflichen In-strumentarium der Dialektik zu arbeiten. Die zweite gestellte Auf-gabe zu zeigen, »wie sich unter den biologischen Entwicklungsbe-dingungen des Tier-Mensch-Übergangsfelds die historischen Vo-raussetzungen der Menschwerdung in logische Setzungen des Ar-beitsprozesses verwandeln und so der Entwicklungsprozess revolu-tioniert wird, und die charakteristischen Merkmale des Menschensich zum logischen Verhältnis zusammenschließen« (ebd.), kannindessen nicht als Rekonstruktion des Übergangs, sondern nurpost festum als Beschreibung des Resultats gelöst werden. Denndie in die Arbeitsprozesse eingehenden logischen Setzungen sindMomente eines Reflexionsverhältnisses, das als solches erst einge-

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Mensch – Natur sehen werden kann, wenn es bereits aus den historischen Voraus-setzungen hervorgegangen ist. Die Philosophie begreift hier einenqualitativen Sprung, muss sich aber Rechenschaft darüber ablegen,dass die Wesensverschiedenheit, die in dem ›plötzlichen‹ odersprunghaften Anderssein zum Vorschein kommt, nicht als materiel-ler Prozess in der Zeit, sondern als ideelle Bestimmtheit zweierMomente des Prozesses aufgefasst werden muss. Dass diese ideelleBestimmtheit selbst einen Widerspiegelungscharakter hat und alsoetwas Reales an dem Prozess ausdrückt, ist ein anderes Problem.Ungeachtet der notwendigen Kritik an Georg Lukács’ Arbeitsbe-griff, liest man in diesem Zusammenhang mit Gewinn seine Aus-führungen über das Setzen (vgl. Lukács 1973: 11ff.). Damerow et al. verwickeln sich auch sogleich in eine falscheAlternative: »Die Annahme, eine derartige (biologisch bedingte)Form des Werkzeuggebrauchs und der Werkzeugproduktion seiVoraussetzung der Menschwerdung und nicht ihr Resultat, wirddurch die Tatsache empirisch erhärtet, dass sich Werkzeugge-brauch und Werkzeugproduktion in primitiven Formen bereits beiden Hominiden finden« (Damerow et al. 1980: 262). Wäre statt ei-ner konsekutiven Konstruktion nicht eine konzessive angemesse-ner: Indem die Hominiden den Gebrauch und die Herstellung vonWerkzeugen erlernen, vollzieht sich ihre Entwicklung zum Men-schen? Die Erwägungen, die André Leroi-Gourhan aufgrund der Aus-wertung empirischer Befunde der Paläontologie anstellt, weisen indie richtige Richtung: »In der Entwicklung der Arten ist alles mitallem verbunden«, konstatiert er, und er unterscheidet sehr wohlzwischen »fundamentalen Merkmalen« – zu denen er »aufrechtenGang, kurzes Gesicht, Hände, die bei der Fortbewegung frei blei-ben, und den Besitz beweglicher Werkzeuge« rechnet (Leroi-Gourhan 1980: 36) – und einer Wesensbestimmung, die erst ausder Synthese physischer, sozialer und -bedeutungsstiftender (geis-tiger) Prägungen hergeleitet werden kann. Dazu gehören dannauch Sprache, Gedächtnis, Verhaltensrhythmen, Symbolbildungenusw. (vgl. ebd.: 489ff.). Aber nicht in der Addition dieser Erschei-nungsformen des Menschseins findet sich ihr philosophischer Sinn,sondern in einem mit ihnen manifest werdenden Typus des Welt-verhältnisses, der sich von dem aller anderen Entwicklungsformendes Lebens wesentlich unterscheidet. So gilt für die philosophische Anthropologie – wie für jede We-senswissenschaft das von Karl Saller ausgesprochene Postulat: »Alspädagogische, technische, medizinische, auch politische Anthro-pologie betrachtet sie den Menschen in verschiedenen Lebenslagen

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionund deutet ihn von daher. In unserer Zeit sind Herkunft, Entwick-

lung und Wesen des Menschen auf naturwissenschaftlicher Basisderart geklärt worden, daß alle genannten anderen Anthropologienan diesen Erkenntnissen nicht mehr vorbeigehen können, ja, siegeradezu als Grundlage für ihre Thesen und Hypothesen nehmenmüssen und damit von ihnen abhängig werden. So ist das Men-schenbild der naturwissenschaftlichen Anthropologie an die ersteStelle aller Bilder gerückt, die vom Menschen gemacht werdenkönnen« (Saller 1958: 5f.). Die Antwort auf die philosophische(und nicht nur naturwissenschaftliche) Frage »Was ist derMensch?« wird jedoch gerade nicht durch die Feststellung seinerArtbesonderheit gegenüber anderen Arten von Säugetieren, oderüberhaupt Tieren, gegeben. Dass der Mensch nicht nur in eineUmwelt eingepasst ist, sondern eine Welt hat, zu der er sich plan-mäßig verändernd verhält und damit auch zu sich selbst verhält –das ist eine Formbestimmtheit, die sich aus seinen natürlichen Ei-genschaften herausbildet, aber nicht einfach als deren Summe re-sultiert. Auch jede transzendentale Begründung des So-seins derWelt auf die durch die Ausstattung der menschlichen Rezeptivitätdeterminierte Gegebenheitsweise der Weltinhalte unterliegt nocheinem quasinaturalistischen Missverständnis. Es liegt in der logischen Form der Bestimmung durch Angabevon Eigenschaften oder Attributen in der Form der Prädikation,dass das Bestimmte als ein Besonderes neben anderen Besonderenvorgestellt wird. Es ist das, was es ist, aufgrund der Grenze, an deres und durch die es anderes ausschließt (definitio), seine Be-stimmtheit ist Negation des Ausgeschlossenen (omnis determinatioest negatio). Gerade darum kann der Mensch als eine in der Weltvorkommende besondere Gattung nicht der Grund sein, aus demdie Mannigfaltigkeit der Welt in ihren Besonderheiten abgeleitetoder in den sie zurückgenommen werden kann. Der Mensch in die-sem sozusagen naturanthropologischen Sinn kann weder Aus-gangspunkt einer deductio multorum noch Endpunkt einer reductioin unum sein. Denn er ist als Naturwesen selbst Teil eines ihn um-greifenden Ganzen. Heidegger hat in seinem vehementen Votum gegen »dieses an-

3thropologische Beforschen des Menschen« (Heidegger 1949: 42)diese in der Natur der Sache liegende Unzulänglichkeit der An-thropologie ausgesprochen. Dennoch nimmt er den Menschennicht einfach als ein Glied in die Reihe der Seienden (series rerum)

3 | Der fragliche Abschnitt des Nachwortes richtet sich ausdrücklich ge-gen Bollnow.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur zurück. Denn: »Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt,angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder:Daß Seiendes ist. […] Aber das Sein ist kein Erzeugnis des Den-kens. Wohl dagegen ist das wesentliche Denken ein Ereignis desSeins« (ebd.: 42, 45). Lassen wir die pathetische Formulierung von der Stimme desSeins und dem Wunder aller Wunder beiseite und beschränken unsauf den Sachverhalt: Seiendem ist, indem es ist, sein Dass-seinnicht gegenständlich. Jedem besonderen Seienden ist zwar dasSo-sein der anderen Seienden gegenständlich, insofern es ja mitihnen in einem Wirkungszusammenhang steht (vgl. Holz 1983). Inder Beziehung des Wirkens und Bewirktwerdens bleibt aber dasDass-sein gegenüber dem So-sein unausdrücklich, gleichsam still-schweigend in ihm enthalten. Die philosophische Urfrage, derLeibniz die Form gegeben hat: »Pourquoi il y a plustôt quelquechose que rien? – Warum gibt es überhaupt etwas und nichtnichts?« (Leibniz 1965: 426), taucht erst auf, wenn das Seiende imGanzen sich zu sich selbst verhält, also nicht mehr verschiedeneSo-seiende aufeinander jeweils als so und nicht anders bestimmtediese oder jene Wirkungen ausüben, welche ihr gegenseitiges Ver-hältnis ausmachen, sondern das Ganze (mit allem in ihm enthalte-nen So-sein) sich gegenständlich wird; denn dann erscheint das

4ganze Sein, das heißt das reine Sein. Dieses Sich-selbst-gegenüber-Treten des Seins ereignet sich imDenken des Seins. Wir lassen hier zunächst diesen Genitiv bewusstzweideutig: Ist es das Sein, das denkt oder das gedacht wird? Je-denfalls ist es der Mensch, als das denkende Seiende, in dem unddurch den dieses Denken des Seins geschieht. Daher ist derMensch von allen anderen Seienden nicht nur verschieden, son-dern unterschieden, ein ausnehmend Besonderes, aber ausneh-

5mend nur, indem er das Sein im Ganzen denkt, also Denkendes ist.Das Eigentümliche des Menschen, das das Thema einer philosophi-schen Anthropologie zu sein hätte, liegt darin, dass er in seinernatürlichen Besonderheit, die sein So-sein ausmacht, zugleich dasGanze des Seins und also das Dass-sein denkt und dergestalt (alsGedanke) in sich enthält. Die Möglichkeit einer philosophischen Anthropologie – das hat

4 | »Dieses reine Sein als dasjenige Sein, was die Spekulation meint undzuweilen Existenz genannt hat (z.B. Spinoza), ist keine empirisch-endlicheExistenz« (König 1926: 67).5 | Die anderen anthropologischen Merkmale sind gerade keine Spezifikadieser seiner Besonderheit.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische ExpositionHeidegger gesehen – liegt in der ›ontologischen Differenz‹ von

6Seiendem und Sein und kann nur von ihr her begründet werden.Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese ontologische Differenzso gedeutet werden muss, wie Heidegger dies tut. Nur in dem Ver-hältnis von Sein und Denken werden die ontischen Verhältnisseder Seienden (die Welt) ontologisch (als Kategorien) darstellbar.Das heißt aber, dass eine philosophische Anthropologie erst als einDerivat einer allgemeinen Ontologie des Verhältnisses von Sein

7und Denken entwickelt werden kann (vgl. König 1937).

Der cartesische Dualismus

Dass die Frage nach der Welt umgeformt wurde in die Frage nachden Bedingungen der Möglichkeit der Darstellung von Welt imDenken macht den wesentlichen Gehalt der Wende zur neuzeitli-

8chen Philosophie aus. Erst von da an ist eine philosophische An-thropologie als eigenständige Disziplin möglich. Das wird sehrdeutlich an Groethuysens Darstellung (1931), die ausschließlichdie vorneuzeitliche Vorgeschichte der Anthropologie in den Blickfasst und die anthropologische Frage nach dem Wesen des Men-schen letztlich als eine mythologische des Ursprungs, als eineethische und politische des Verhaltens und als eine metaphysischedes Gegensatzes zur Natur (Pneumatologie) – immer aber unter derPerspektive der rechten Lebensführung (τ� ε� ��ν τ� ε� πρτ-τειν), nicht des wahrhaften Seins (�ντως �ν) – begreift. Vor Des-cartes wird der Mensch nicht als das Konstituens der Welt, sondernals deren Glied oder Teil gesehen. Die Gründe der cartesischen Wende zum Ich brauchen hiernicht erörtert zu werden (vgl. Holz 1994a). Für unsere Frage ist aus-schlaggebend, dass im Ergebnis des Zweifelsversuchs und der ihnleitenden omnia-falsa-Fiktion als die einzig evidente Gewissheitdie Erfahrung meines Denkens, dass ich denke, übrig bleibt undalle weiteren Erfahrungsinhalte als Korrelate des cogito erscheinenund aus dessen Verfassung begründet werden müssen. Das Denkenist jetzt nicht mehr der Ort, an dem das Sein des Seienden ins Licht

6 | Heidegger (1927) hat in Sein und Zeit die Differenz zwischen Seinund Seiendem zum zentralen Thema der Fundamentalontologie gemacht.7 | Darum ist die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken die›Grundfrage der Philosophie‹ (vgl. Holz 1990a).8 | Zur Diskussion über die Moderne vgl. Blumenberg 1966; Habermas1988; Henrich 1982: 83ff., 1987: 11ff.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur tritt, sondern das Sein wird seiner selbst nur im Sein des Denkens(als denkend-sein = sum cogitans) bewusst und zugleich auch un-widerleglich gewiss (cogito ergo sum). Dieses Bewusstsein und die-se Gewissheit kommen nur der Selbsterfahrung des individuellenIch (des cogito, das ich selbst bin) zu. Der Grund für die gegen-ständliche Wirklichkeit alles anderen Seienden kann nur in mirselbst gefunden werden. Die philosophische Besonderheit des Menschen liegt darin,dass sich im Denken das natürliche Verhältnis von Mensch undWelt – der Mensch ist ein Teil der Welt und in ihr enthalten – ge-

9nau umkehrt: die Welt ist der Inhalt des Denkens. Erst in dieserUmkehrung entspringt das, was in strengem Sinne Subjekt ge-nannt werden kann und was mir, als mein eigenes Subjektsein, inder Erfahrung eines bestimmten, dem reinen Denken äußerlichenInhalts nie unmittelbar in der intentio recta gegeben ist; nur in derReflexion auf diese Inhalte und ihre Sequenz wird die Subjektivitätals Bedingung des Inhaltseins der Gegenstände im Denken erkanntund das Subjekt als eine jeder gegenständlichen Erfahrung entzo-gene Substanz (res cogitans) ausgedrückt. Jeroen Bartels hat dafürdie treffende paradoxe Formulierung geprägt, das Subjekt sei das»abwesende Zentrum«, das im Inneren des Ich, das der denkendeMensch ist, liegt. Zugrunde liegt die Einsicht, »daß mit dem Be-wußtsein stets ein ›Selbst‹ verbunden ist. Ein Bewußtsein (des ei-nen oder anderen Etwas), das nicht zugleich – wie auch immer –Selbstbewußtsein ist, wird als ganzes auch kein Bewußtsein sein«(Bartels 1993: 59). Unmittelbar bleibt dieses ›Selbst‹ aber im Be-wusstsein von etwas hinter diesem ›Etwas‹ verborgen, wie ein in-nerer Kern, der unter der Oberfläche der (wechselnden) Bewusst-seinsinhalte liegt. Siegfried Kirschke hat die richtige Beobachtung gemacht, dassder Substanzendualismus von res cogitans und res extensa Des-cartes in die Lage versetzt, eine an der Mechanik der res extensaorientierte natürliche Anthropologie auszuarbeiten (die im Aufklä-rungskonzept des homme machine weiter wirkt): »Er entkleideteden lebenden Organismus (Körper) seiner Sonderstellung gegen-über den nicht lebenden Erscheinungen und rechnete ihn zur aus-gedehnten Substanz, zur res extensa. Des Weiteren trennte er Le-ben und Seele begrifflich voneinander. Das Leben des Organismuserklärte er als das Ergebnis des Zusammenwirkens der Teilchen zuden Funktionen der Organe und des Körperganzen. Mit diesem ein-schneidenden Konzept machte er sich, seinen Anhängern und

9 | Edmund Husserl (1962: §§ 16ff.) hat diese ›Kehre‹ analysiert.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische ExpositionNachfolgern den Weg frei, um auch die Funktionen des menschli-

chen Körpers und seiner Organe, beispielsweise der Lunge, desMagens, der Leber oder des Herzens, nach materiellen, also me-chanischen Gesetzen zu erklären« (Kirschke 1989: 104). In derspäten Schrift Les passions de l’âme (1649) erklärt Descartes dannauch noch die Seelenzustände als Folgeerscheinungen der körper-lichen Beschaffenheit des Menschen und schafft damit die Voraus-setzung für eine einheitliche naturwissenschaftliche Lehre vonMenschen, die Anthropologie, wie sie zum Beispiel in Helvétius’Werk De l’Homme (1772) ausgeführt wird (vgl. Krauss 1968). AlsNaturwissenschaft kann die Medizin der Aufklärung diese Seite descartesischen Konzepts übernehmen und zugleich ihr transzenden-tales Korrelat, die materialiter nie erscheinende Substanz des Den-kens (das Subjekt) und dessen weltkonstituierende Funktion bei-seite setzen (vgl. Weickard 1790). Wie wissenschaftliche Empirizi-tät und philosophische Konstruktion auseinandertreten und dabeizwei disparate Systematiken von Anthropologie – eine natürlicheund eine transzendentale (philosophische) – entspringen, machendie ironischen Bemerkungen von Melchior Adam Weickard deut-lich: »Wenn unsere Seele bey unserer Geburt schon angebohrnemetaphysische Begriffe mit sich brächte, wie es Cartes und Malle-branche sollen behauptet haben: so dörften wir etwa nie so guteMetaphysiker als im Schlafe seyn. Alsdenn würden sich die ange-bohrnen Begriffe, von dem Lärmen jener, welche uns im Wachendurch die Sinne beygebracht werden, ungehindert in der Seele er-regen, und mit dem grössten Nachdrucke wirken. Wie unvergleich-lich wäre es alsdenn für manche Metaphysiker gesorget, da es ih-nen doch wenigstens im Traume auf diese Weise richtig in ihremdenkenden Gehirne wäre! […] Es giebt so wenig angebohrne Begrif-fe, als es Bäume giebt, die ihre Früchte schon mit sich bringen,sobald sie aus der Erde wachsen. […] Ehe wir tüchtig sind, Begriffezu erhalten oder endlich denken zu können, wird bey dem neuenWeltbürger eine gewisse Festigkeit des Gehirnes erfordert« (ebd.:13ff.) Descartes aber meinte, wie die Passions de l’âme zeigen, beider res cogitans gar nicht den natürlichen Menschen, der Gegen-stand der Mediziner ist, und auch nicht die Vermittlung der Er-kenntnis durch Sinnesempfindungen, von der Locke spricht, son-dern das Problem der Erkenntnisgewissheit, also des (ontologi-schen) Verhältnisses von äußerer Welt und deren Repräsentation inder Form von Bewusstseinsinhalten (cogitationes). Die Fragestel-lung führte ihn zur Konstruktion des ›reinen Denkens‹, des ›reinenIch‹ oder, wie es später bei und nach Kant heißen wird, des

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Mensch – Natur »transzendentalen Subjekts«. Und weil dieses Konstrukt, ausge-hend vom natürlichen Menschen, immer nur als Wesensabstraktiondes (natürlichen) Menschen gewonnen wird und existiert, kann esGegenstand einer möglichen philosophischen Anthropologie sein.

Fichtes ursprüngliche Einsicht

In gebotener Kürze und damit Verkürzung sei auf die systematischunentbehrliche Stufe der Problemformulierung verwiesen, die Fich-tes Philosophie des Ich darstellt. Fichte hat, nach Kants transzen-dentalphilosophischer Kritik der Metaphysik, die Intention desPhilosophierens wieder auf die Frage gelenkt, wie eine spekulative

10Theorie des Ganzen zu denken sei. Den cartesischen Ansatz, dass die Begründung alles So-seinsauf mein eigenes Ich = cogito als einzigen gewissen Erkenntnis-und Seinsgrund zurückgeführt werden müsse, gibt die modernePhilosophie nicht mehr preis. Er ist die theoretische Garantie fürdie Autonomie des Menschen als handelnden Wesens, die Voraus-

11setzung für die praktische Theorie der Freiheit. Dass eine Onto-logie, die auf der Freiheit des Ich = cogito aufbaut, eine transzen-dentale Anthropologie sein müsse (die etwas wesentlich anderesals eine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« ist), hat Fichteklar gesehen. Die Entwürfe der Wissenschaftslehre begleitet er mitder Schrift Die Bestimmung des Menschen. Diese beginnt mit demMenschen als Naturwesen, und Natur ist der Inbegriff aller nachdem Satz vom zureichenden Grund bestimmten Erscheinungen:»Die Natur schreitet durch die unendliche Reihe ihrer möglichenBestimmungen ohne Anhalten hindurch; und der Wechsel dieserBestimmungen ist nicht gesetzlos, sondern streng gesetzlich. […]Ich selbst mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieserKette der strengen Naturnotwendigkeit« (Fichte 1845b: 173f., 179). Mit allem? Mit allem, was ich habe, was also meinem Ich äu-ßerlich ist. Doch wenn ich von all diesem Äußerlichen absehe, so

12bleibt etwas unmittelbar Präsentes , das ich bin: mein Ich. »Meinunmittelbares Bewußtsein, die eigentliche Wahrnehmung, geht

10 | Eine klare Rekonstruktion des Weges vom transzendentalen zum ab-soluten Idealismus gibt de Jong 1993.11 | Dass in Descartes’ theoretischem Ansatz eine Anthropologie derFreiheit impliziert ist, hat Sartre (1947: 314ff.) prononciert ausgesprochen.12 | Später wird es phänomenologisch heißen: in Selbstgegebenheit(vgl. Husserl 1950: 126, passim).

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionnicht über mich selbst und meine Bestimmungen hinaus, ich weiß

unmittelbar nur von mir selbst […]. Deswegen finde ich michüberhaupt als ein selbständiges Wesen. […] Ich will nach einemfrei entworfenen Zweckbegriffe mit Freiheit wollen, und dieser Wil-le, als schlechthin letzter, durch keinen möglichen höheren be-stimmter, Grund soll zunächst meinen Körper, und vermittelst des-selben, die mich umgebende Welt bewegen und bilden. […] Ichwill frei sein, auf die angegebene Weise, heißt: ich selbst will michmachen, zu dem, was ich sein werde« (Fichte 1845a: 183, 192f.). Dies ist eine Anthropologie, die nicht das Naturwesen Menschzum Gegenstand hat, obwohl sie von ihm ausgeht, sondern seineintelligible Funktion. Von ihr zur Welt zu kommen, ist der Weg,

13den die Wissenschaftslehre geht. Die Freiheit, sich selbst zuschaffen, muss jeder Bestimmung, durch die bereits etwas festge-legt ist, vorhergehen. Freiheit hat noch kein Sein, sondern erzeugtes erst, indem sie wirklich ist, das heißt etwas, nämlich sich selbst,bewirkt. Im Unterschied zu jedem schon fertig entstandenen Seinnennt Fichte dieses Entstehen die »Tathandlung« und sagt, sie seies, »welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusst-seyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehrallem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht«(ebd.: 91). In minutiösen Denkschritten, die von der Analyse desIdentitätssatzes A = A ausgehen, kommt Fichte zum Ausgangs-punkt seines Systems: »[…] das Setzen des Ich durch sich selbstist die reine Tätigkeit desselben. […] Dasjenige, dessen Seyn (We-sen) bloss darin besteht, dass es sich selbst als seyend setzt, ist dasIch, als absolutes Subject. So wie es sich setzt, ist es; und so wie esist, setzt es sich« (ebd.: 96f.). Dies wird hier nicht aus philosophiehistorischen Gründen erin-nert, sondern weil es die Voraussetzung einer möglichen philoso-phischen Anthropologie ist. Das Ich ist reines Subjekt und seineTätigkeit des Sich-selbst-Setzens ist als solche prinzipiell unbe-grenzt, unendlich. Indem sie aber ausgeübt wird, setzt sie das Ichals bestimmtes (und anders könnte sie es nicht setzen); das heißt,sie muss es in diesem Akt der Setzung und für die Dauer dieses Ak-

13 | Wir folgen hier dem Text der als Vorlesungsskript gedachten Grund-lage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, die zum Komplex des erstenEntwurfs der Wissenschaftslehre gehört (Fichte 1845a). Dass dieser Entwurfder Wissenschaftslehre in einem anthropologischem Horizont steht, wirddurch das Nachwort unterstrichen, das Fichte beim Schluss seiner Vorlesun-gen zur Wissenschaftslehre 1794 gesprochen hat und das den Titel Über dieWürde des Menschen trägt.

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Mensch – Natur tes auf eine bestimmte Weise, so und nicht anders, beschränken,eingrenzen (definieren). Das bedeutet aber, dass dem Ich jenseitsdieser seiner Selbstbegrenzung ein Anderes, ein Nicht-Ich entge-gengesetzt wird. Nun gilt zwar: »[…] alles was ist, ist nur insofern,als es im Ich gesetzt ist, und ausser dem Ich ist nichts« (ebd.: 99).Denn es ist die frei sich selbst setzende Tathandlung des Ich,durch die die Grenze und damit alles andere, was ist, gesetzt wird– also in die Bestimmung des Ich als das Bestimmende eingeht. Mit der Auseinander-Setzung von Ich und Nicht-Ich entstehtaber notwendig eine wechselseitige Begrenzung: Das Nicht-Ich be-

14grenzt nicht nur das Ich, sondern auch umgekehrt. »Sie werdensich gegenseitig einschränken« (ebd.: 108). Wir können hier den Gedankengang Fichtes abbrechen, denn erlässt uns schon jetzt, im Bereich der drei Grundsätze der erstenWissenschaftslehre, das Grundmuster einer philosophischen An-thropologie erkennen. In der Handlung, durch die sich das intelli-gible Ich bestimmt (und damit das empirische Ich hervorgehenlässt), offenbart sich das Wesen des Verhältnisses von Mensch undWelt, allerdings nur in idealistischer Verkehrung, weil vom reinenBewusstsein aus konstruiert. Das Ich konstituiert die Welt, indemes sich konstituiert. Und diese Aussage ist nur unter der Bedin-gung der ›ontologischen Differenz‹ richtig zu verstehen: Das Ichsetzt nicht das Seiende (wie Gott die Welt im Schöpfungsakt), son-dern es setzt das so und so bestimmte So-sein der anderen Seien-den, durch welches es sich (in Bezug auf sie) als das, was es selbstist, bestimmt. Die an-sich-seiende Dingwelt bleibt erhalten, indemsie in der Einheit der wechselseitigen Beschränkung von Setzen-dem und Entgegengesetztem aufgehoben wird. In dieser als Sub-jekttheorie entwickelten Ontologie rückt der Mensch (aber nichtals biologisches Gattungswesen) ins Zentrum – und zwar nicht nurals ›reines Ich‹ (= ich setze oder ich denke), sondern in der Folgedann auch als das gegenständlich handelnde Wesen, dessen histo-risch empirischer Gestalt wir nach einigen hegelisch-junghegelia-nisch-feuerbachschen Metamorphosen in den Philosophisch-öko-nomischen Manuskripten von Marx wieder begegnen.

Feuerbachs materialistische Wendung

Alle neuere Anthropologie lässt sich auf einen Ausgangspunkt zu-rückverfolgen: auf die Philosophie Ludwig Feuerbachs. Seine Kritik

14 | Plessner wird das ›das materiale Apriori‹ der Grenze nennen.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionrichtete sich gegen Hegels gewaltiges System, das die gesamte

Entwicklung der Welt mit allen ihren Inhalten – einschließlich dermenschlichen Gesellschaft und natürlich der in ihr lebenden undtätigen Individuen – als eine Selbstentfaltung und Selbstdarstel-lung des absoluten Geistes begriff und so die Vielheit der Seiendenals die reale Erscheinung einer metaphysischen Einheit konstruie-ren wollte. Die Totalität der Welt als einen bewegten Zusammen-hang zu denken, setzt – so argumentierte Feuerbach gegen Hegel– den denkenden Menschen voraus, und dieser ist und erfährt sichals ein leibliches, sinnliches, natürliches Wesen, dem das Denkenals eines seiner Merkmale, als Eigenschaft oder Prädikat zukommt.Indem Hegel das Denken unter Absehen von dieser seiner materiel-len Basis zum Prinzip der Einheit der Welt machte, konnte er dieWelt nur noch als Geist fassen, ihr Prädikat also zum Subjekt erhe-ben und das Subjekt, die materielle Basis, nur noch als Prädikatbetrachten; er musste dies, wenn er den notwendigen Zusammen-hang aller Seienden aufweisen wollte, denn das Materielle ist jagerade die kontingente Vielheit, die in der Erfahrung nie auf einenletzten Einheitsgrund reduziert werden kann und als die unendlichiterierbare Reihe von Prädikaten zu dem sie setzenden, erkennen-den, aussagenden Geist erscheint. Metaphysik ist dann nach Feu-erbach nur noch das Korrelat eines Denkens, das selber nichts an-deres als ein Bedürfnis des Menschen nach Sinn und Ordnung,

15nach Orientierung als Überlebensbedingung ausdrückt. Das Ge-heimnis der Metaphysik, die die Welt als Einheit konstruiert, seidie Theologie, die diese Einheit personal als Gott, die Vielheit inder Einheit als die Gedanken Gottes vorstellt; das Geheimnis derTheologie aber sei der Mensch, der in Gott nur sich selbst und seineigenes Denken in der Form eines Gegenstandes außer sich setzt;jede Philosophie müsse also auf den Menschen und sein natürli-ches Wesen zurückgebracht werden. Friedrich Engels hat in seiner Abhandlung Ludwig Feuerbachund der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie die Umkeh-rung der klassischen Philosophie durch Feuerbach auf eine Formelgebracht: »Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie;sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte,erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiertnichts und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie er-schuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unseres eigenen

15 | Feuerbach berührt sich hier mit Nietzsche und mit dem Pragmatis-mus; und bei Gehlen fließen diese beiden Einflüsse wiederum zusammen,sodass es bei ihm auch wieder latente Verbindungen zu Feuerbach gibt.

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Mensch – Natur Wesens« (Engels 1962b: 271). Das heißt: Von der Philosophie warnur noch ihr ideologischer Schein übrig geblieben. Was als ihreWahrheit behauptet worden war, erwies sich als die Fiktion einerIdee, die die Natur nur als einen Schein an sich trug. Dagegenblieb nun die Faktizität des Menschen als einziger wahrer Gegen-stand der Philosophie erhalten; alle Bewusstseinsinhalte waren ausihr herzuleiten. Die Materialität der Welt schien in der Anthropolo-gie wiedergewonnen als die Materialität der Menschheit des Men-schen und seiner Erfahrungen. Wer die Anstrengung des Begriffsnicht auf sich nehmen mochte (und mag), konnte (und kann) es

16nun wiederum bei der sinnlichen Anschauung genug sein lassen.Die Abdankung der Philosophie und die Verkümmerung der Dialek-tik, die sich in der anthropologischen Wende ebenso wie im Psy-chologismus und Soziologismus ausdrückt, hat bei Feuerbach ihreWurzel. Die Absage an den Hegelianismus – und das heißt an objektivePrinzipien einer Konstitution von Welt und Integration der Man-nigfaltigkeit – hat nämlich die fatale Folge einer Restitution dessubjektiven Idealismus, dessen einheitstiftendes Agens nun zwarnicht mehr, wie bei Kant, ein transzendentales Bewusstsein ist,wohl aber eben jener ›faktische Mensch‹, der das bloß noch alsideologisch zu qualifizierende System der Wirklichkeit kraft seinersinnlichen Anschauung, seines Denkens, seiner Arbeit oder seinerInteraktion hervorbringt. Welche Variante von Subjektivität ge-wählt wird, ist für die Grundstruktur dieser weltanschaulichen Ein-stellung gleichgültig. Wo sich philosophische Anthropologie alsGrund- oder Konstitutionswissenschaft etabliert, verfällt sie in die-sen, im Materialismus Feuerbachs angelegten, idealistischen Sub-jektivismus. Subjektivität als Resultat eines Vermittlungsprozesses (und ge-rade nicht als das unmittelbar Gegebene, die ›Faktizität des Men-schen‹) entspringt gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen,die nicht mehr im klassischen Bereich der Anthropologie, dasheißt in einer durch biologische oder geistige Substanzialität be-stimmten Menschennatur, gefunden werden können. In seiner Kri-tik an Feuerbach hat Marx dessen Konzeption, Geschichte auf einegleichsam eidetische Verfassung des Menschen zu gründen, in dieBewegung des Geschichtsprozesses selbst aufgelöst und so die An-thropologie in die Politische Ökonomie aufgehoben. Dort hat siejedoch ihren Gegenstandsbereich – die Subjektivität und Produkti-

16 | Alfred Schmidts Feuerbach-Adaptation (1973) ist ein guter Beleg da-für aus unserer Zeit.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionvität, die Reflexivität und Individualität – unerkannt konserviert,

sodass unerwartet in der (nach-marxschen) marxistischen Theorieselbst die anthropologische Frage unter dem Titel des ›humanenSozialismus‹ wieder aufbrechen konnte (vgl. S. 11 in diesemBand). Dies geschah nun allerdings ganz und gar unsystematisch,nämlich in einer historisch wie philologisch und philosophisch ver-fälschenden Umkehrung der marxschen Frühschriften zu einerbloßen Anthropologie, während es doch die Aufgabe wäre, den inder Kritik der politischen Ökonomie eingeschlossenen anthropologi-schen Gehalt, also die auf die Stufe der gesellschaftlichen Konsti-tutionsbedingungen gehobene Wesensbestimmung der menschli-chen Individualität aus eben der Durchdringung der PolitischenÖkonomie selbst wiederzugewinnen (vgl. Rückriem et al. 1978). Das heißt aber, dass die Anthropologie nicht neutral vor einerEntscheidung über die Lesart der Mensch-Welt-Beziehung steht.Vielmehr liegt in der Aufnahme des anthropologischen Ansatzes alsgrundlegend für das Mensch-Welt-Verhältnis bereits eine Festle-gung hinsichtlich der Grundfrage der Philosophie nach dem Ver-hältnis von Sein und Denken, von Sein und Bewusstsein. Eine ma-terialistische Philosophie kann diese die Grundfrage unterlaufendeVorentscheidung nur vermeiden, wenn sie die Anthropologie derontologischen Systematik nachordnet und in ihr ein Derivat derTheorie der materiellen Verhältnisse sieht. Am Anfang steht also die alte Frage nach dem Verhältnis vonSein und Denken. Dieses Verhältnis ist zuerst in der griechischenPhilosophie gedacht worden, als Parmenides den Satz formulierte»τ� γ�ρ α�τ� ν�ε�ιν �στ�ν τε κα� ε�ναι – dasselbige nämlichsind Denken und Sein« (Parmenides, frg. B 3). Parmenides wies ge-rade die Auffassung zurück, es könne das Sein in der Subjektivitätdes menschlichen (individuellen) Denkens, das für ihn nur einMeinen war, begründet oder auch nur ›angetroffen‹ werden. Viel-mehr war für ihn das Denken, das den Gedanken ›sein‹ und nichtsals dieses denkt, ein Denken sui generis. In ihm sollte jene Einheit,Ganzheit und Kontinuität der Welt erscheinen, die in der Mannig-faltigkeit der Einzelbeziehungen des Individuums zu den vielenSeienden in dieser Welt zerstreut ist. Ist alle innerweltliche Bezie-hung eine solche zu den Einzeldingen, die wir bei ihren Namennennen und die wir damit in ihrer Pluralität fixieren und je einzelnuns ›gegenüberstellen‹, so ist die Totalität von Welt, außer der esnichts geben kann, ganz und gar beziehungslos, es sei denn in derSelbstbezüglichkeit der reinen Identität. Nur von ihr her kann, wie Parmenides immer wieder fast be-schwörend betont, die Vielheit der Seienden überhaupt als seiend

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Mensch – Natur gedacht werden. Nicht der Mensch, sondern das Sein der Welt stehtam Anfang aller möglichen Erfahrung und Tätigkeit. Die großenSystemphilosophien seit Parmenides – Platon und Aristoteles, Spi-noza und Leibniz und Hegel – haben an dieser Konzeption festge-halten, wenn sie dies auch nur um den Preis tun konnten, dieseEinheit des Anfangs idealistisch als Geist aufzufassen. Dagegen wandte sich Feuerbachs emphatische Insistenz aufder sinnlichen Einzelheit des Menschen, die nur im Akt gegensei-tiger Zuneigung sich zum Gattungsleben zusammenschließen kön-ne. Feuerbachs Protest gegen die rigide Logizität der Metaphysik,aus dem seine Anthropologie entspringt, reproduziert allerdingsnur das Selbstbewusstsein des bürgerlichen Individuums. Das hatMarx in der 9. Feuerbachthese gerügt: »Das Höchste, wozu der an-schauende Materialismus kommt, d.h. der Materialismus, der dieSinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die An-schauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesell-schaft« (Marx 1958: 7). Diesen Standpunkt hat die Anthropologiebis heute noch nicht verlassen.

Josef Königs Rückkehr zur Ontologie

Der Rekurs auf die Ausgangsbedingungen der philosophischen An-thropologie bei Feuerbach – auf den sich die neueren Anthropolo-gen auch immer wieder ausdrücklich beziehen – hat einen seltsa-men, indessen keineswegs zufälligen Sachverhalt ans Licht ge-bracht: Der Versuch, gegenüber der strikten Idealität der metaphy-sischen Systeme die Materialität der Welt dadurch wieder zu ge-winnen, dass das Denken auf die ›faktische Wirklichkeit‹ des Men-schen, auf die condition humaine gegründet wird, führt entgegender deklarierten Absicht und sozusagen hinter dem Rücken der soverfahrenden Philosophen zu einem neuen subjektiven Idealismus,der seinen idealistischen Charakter nur dadurch notdürftig ver-birgt, dass er statt vom cogito oder vom Ich jetzt von der menschli-chen Existenz, vom Dasein oder schlechthin vom Menschenspricht. Die einzige Untersuchung aus dem hier angesprochenenUmkreis der lebensphilosophischen und phänomenologischenKonstitutionstheorien, die das Urverhältnis von Sein und Denkenmit unausgesprochener, aber deutlicher Erneuerung der parmeni-deischen Frage nach dem Wesen der Selbigkeit von Sein und Den-ken wieder zum Gegenstand gemacht hat – nämlich Josef Königsebenso fundamentales wie kaum rezipiertes Werk Sein und Denken(1937) –, hat diese terminologische Camouflage in einer fast bei-

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionläufig erscheinenden, jedoch in der Tat zentralen Passage zerrissen

(vgl. Holz 1982; Schürmann 1999). Ich rekonstruiere kurz seinenebenso rücksichtslosen wie erhellenden Gedankengang, weil darindie Aporie der ›anthropologischen Wende‹ zur Sprache kommt. Wenn ich ›sein‹ denke, so denke ich nicht einfach an etwas,das Dieses oder Jenes, beispielsweise ein Stück Kuchen oder meinFreund Karl, wäre. Denn solche Etwas sind Seiende, an die wir hin-sichtlich ihrer bestimmten Beschaffenheit denken, und der Gedan-ke ›dieses Stück Kuchen‹ oder auch allgemein ›Kuchen‹ ist ein Ge-danke, dessen Gegenstand etwas ist, dessen Bedeutung in unsererSprache durch das Wort ›Kuchen‹ ausgedrückt wird. Wenn wir all-gemein ›Kuchen‹ denken, schließt das nicht notwendig ein, dasses jetzt Kuchen gibt, dass ihm ein Sein zukommt. Vielmehr gehörtes zu der Natur des Denkens, dass es Nicht-Seiendes vorstellenkann – und Seiendes als dieses oder jenes wäre überhaupt nichtvorstellbar, denkbar, aussagbar, wenn die Möglichkeit nicht be-stünde, Nicht-Seiendes zu denken und so die Bestimmtheit einesSeienden durch Negation dessen, was es nicht ist, auszumachen. Jedes Etwas ist dadurch ausgezeichnet, dass ich es als etwasdenken kann, das ist. Kant verweist nachdrücklich darauf, dass derGedanke ›sein‹ jede unserer Vorstellungen müsse begleiten kön-nen, dass es also notwendigerweise möglich ist, jedem Bestimmtenden Index ›sein‹ zukommen zu lassen (vgl. Kant 1787: 131f.). Die-se notwendige Möglichkeit, in jedem Augenblick auch ›sein‹ den-ken zu können, erlaubt es, unter Absehen von dem Bestimmteneben auch nur ›sein‹ und nichts als dies zu denken. Tun wird diesaber – und wir tun es sicher nie in der ›natürlichen‹, sondern nurin reflektierter Einstellung –, so geraten wir auf oder vielleichtbesser in einen verwirrenden Sachverhalt: Wir denken nämlich ei-nen Gedanken, der keinen Gegenstand hat – denn der Gegenstandeines Gedankens ist ja, wie wir gesehen haben, gerade ein be-stimmtes Etwas, von dem man außerdem auch noch ›sein‹ denkenkann. Wohl aber darf man sagen, dass in dem Gedanken ›sein‹ dasSein enthalten ist; denn denke ich rein und ohne Beimischung›sein‹, so ist dies der Gedanke selbst, und er ist nichts anderes alseben dies, ›sein‹ zu denken. Sein und Denken sind im ›sein‹-Denken dasselbe und zum mindesten für diesen einen Fall desDenkens gilt die parmenideische Gleichung im formallogischenSinn. Nun aber ist es offenbar das Sein selbst, das in diesem Ge-danken ›sein‹ erscheint, und der Gedanke ist nichts anderes als,metaphorisch gesprochen, der ›Ort des Auftretens‹ oder genauerder Modus des Erscheinens von Sein. König wehrt die anthropo-morphe Vorstellung ab, als sei das Sein das Denkende, »daß also

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur das Sein sich selbst denke, Gedanke seiner selbst sei« (König 1937:90). Vielmehr offenbare sich das Sein in der Unausweichlichkeitdes Gedankens ›sein‹, und es ist, indem es sich auf diese Weisegibt. Es gibt sich, besagt aber zweifellos, dass es ist, bevor sich dasDenken, notabene das menschliche Denken, darauf richtet. Wennnun aber, wie zuvor gezeigt, es definitiv ist für jedes Gedachte,dass ihm der Index oder der Gedanke ›sein‹ notwendigerweise bei-gefügt werden kann, so gilt die von König gezogene Schlussfolge-rung: »Daß es diesen Gedanken[-des-Seins] gibt, ist die Möglich-keit davon, daß wir denken« (ebd.). Was hat das nun alles mit philosophischer Anthropologie zutun? Haben wir uns nicht zu weit weg von ihr auf das ursprüngli-che Feld der Ontologie begeben? Um dies zu beantworten, folgenwir König noch einen weiteren Gedankenschritt. Das Sein ist an je-dem bestimmten Seienden oder Etwas, aber es ist auch wesentlichaußer ihm, vor ihm, denn es kann unabhängig vom Etwas gedachtwerden. Was es ist, wird nur in der Sichselbstgleichheit des Wortes›sein‹ gefasst, dieses Wort ist gleichsam sein Name. Was mit einemNamen benannt wird, ist ein Gegenstand und kann als ein solchervorgestellt werden. Dass wir den Gedanken ›sein‹ auf einen Inhaltbeziehen, der mit dem Namen ›Sein‹ ausgedrückt wird, läuft aufdie Möglichkeit hinaus, ›sein‹ so aufzufassen, als sei es ein Gegen-stand; das zeigt sich darin, dass wir auch substantivisch von ›Sein‹sprechen und damit den bestimmten Artikel verbinden: das Sein.Diese Zweideutigkeit, dass ›sein‹ als Inhalt des Gedankens ›sein‹und Gegenstand des Denkens-an-das-Sein zu erscheinen vermag,hat König thematisiert: »Das Sein ist also erstens eben das Seinund nichts als es selbst. Es ist nichts als es selbst, ähnlich wie Karl– mein Freund – nur eben Karl ist. Es hat den Aspekt eines der Zahlnach Einen. Das Sein ist von daher wie ein Eigenname. Und in derTat: wir können es mit diesem Namen gleichsam rufen und beru-fen. Dies ist im Blick, wenn wir sagen, es sei ein Gegenstand undein Gegenstand. Das Sein ist zweitens jedoch wesentlich enthaltenin dem Gedanken ›Sein‹; es ist also in einer eigenartigen und nochproblematischen Weise Inhalt dieses Gedankens. Drittens endlichist es wesentlich beides ineins« (ebd.: 92). Die hier ins Licht gerückte Zweideutigkeit hat zweifellos etwasdamit zu tun, dass der Mensch als ein in dieser Welt Existierendessich alles andere ebenfalls in dieser Welt Existierende oder Mögli-che nur als ihm selbst entgegengesetzt, eben als das Andere oderdurch Negation (als Nicht-Ich) von ihm unterschieden Gesetztevorstellen kann. Die Spaltung in Subjekt und Objekt macht die›Lage des Menschen‹ aus – weil er nicht Gott oder das Ganze ist.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische ExpositionDaraus entspringt das uneigentliche Verständnis von ›sein‹, so als

wäre es ein Seiendes, das mit dem Namen ›Sein‹ bezeichnet werden17könnte. Dieses uneigentliche Verständnis von ›sein‹ ist eine

notwendige Möglichkeit des Denkens, gegen die ein eigentlichesVerständnis von ›sein‹ als Inhalt des Gedankens ›sein‹ immer erstin einer Anstrengung und besonderen Wendung des Denkens, daswir dann spekulativ nennen, gewonnen wird. Die anthropologische Sicht, die in der condition humaine, inder Subjekt-Objekt-Differenz anhebt, verstellt sich dagegen denBlick auf das spekulative Verhältnis von Sein und Denken, das vonKönig dahin formuliert wird, dass »Sein-Denken nur als durch dasSein erwirktes Denken Denken ist« (ebd.: 11). Also: »Es ist definitivfür das Sein-Denken, daß, was es denkt, seine Ursache ist« (ebd.).König fährt dann fort: »Da jedoch nun die Lage – wir können sa-gen: unsere faktische menschliche Lage – die ist, daß das Sein-Denken gleichsam den Zweig des Sein-Denkens hervorgetriebenhat, […] ist das Sein-Denken der Möglichkeit nach nicht mehr […]der einzig mögliche Zugang zum Sein-Denken; und es ist von dahermöglich, Sein zu denken, ohne daß dieses unser Denken ein Sein-Denken wäre« (ebd.: 113). Daraus ergibt sich die subjektiv-idea-listische Konsequenz, dass das Sein ein Gegenstand des menschli-chen Denkens ist, dessen Bestimmung als transzendentale voneben diesem Denken vorgegeben wird. Und wenn dies schon fürdas Sein selbst gelten soll, dann unausweichlich erst recht für allesSeiende. Hier haben wir jene scheinbar beiläufige Passage, von derich sagte, dass sie die terminologische Camouflage zerreißt, mitder die Anthropologie ihren subjektiv-idealistischen Charakterverdeckt.

Setzung, Selbstsetzung und das Ganze

Damit kommen wir unversehens zu Fichte zurück, der eben diesenVorgang unter der Kategorie des Setzens gefasst hat. Fichte hat diecartesische Wende ernst genommen und radikalisiert – und in die-ser Radikalisierung zugleich die Möglichkeit einer realistischenDeutung des Idealismus eröffnet. Indem das Ich das Nicht-Ichsetzt und sich selbst gegen das Nicht-Ich setzt – denn jede Set-

17 | Dann müsste es allerdings daneben auch das Nichts geben können;die Unmöglichkeit, das Nichts zu denken, weil es ja immer als etwas gedachtwerden müsste, macht auf die Uneigentlichkeit eines solchen nominalenSeinsbegriffs aufmerksam.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur zung ist nicht nur Setzung des Gesetzten, sondern auch des Set-zenden – wird die Unterscheidung von Subjekt und Objekt als Re-flexionsverhältnis erkannt (vgl. Hegel 1970: Bd. 8–10). DerMensch ist weder der Grund des Seienden, noch seiner selbst, nochsind die anderen Seienden der Grund des Menschen, sondern

18Mensch und Seiende sind Momente eines Ganzen, das ist , undan dem das Sein des Ganzen sich im Verhältnis der Momente zu-einander zeigt. Der Mensch aber – im Unterschied zu allen Seien-den, denen kein Selbstbewusstsein zukommt – benennt dieses

19Verhältnis und macht es damit für sich gegenständlich. Mit der kategorialen Handlung des ›Setzens‹ ist das transzen-dentale Verhältnis von Mensch und Welt gesetzt. Die iterative For-mulierung ›Setzen des Setzens‹ zielt auf einen Ursprung in derSelbstbezüglichkeit; dies ist dieselbe Struktur, wie sie in der ›Re-flexion der Reflexion‹ vorliegt oder wie Emil Lask (1923) sie imTerminus ›kategoriale Form‹ zu fassen versuchte. Die Welt ist ›ge-setzt‹, indem ich mich selbst als begrenzt, das heißt beschränktdurch anderes ›setze‹ – eine dialektische Grundfigur des Denkens,die schon im platonischen Parmenides ausgedacht wurde (vgl. Lieb-rucks 1949). Und alles andere, das innerhalb dieser, meiner Gren-zen Ich nicht bin – wohl aber als von mir ausgeschlossen denke –,ist die Welt. Mit dem ›materialen Apriori‹ der Grenze, ein ›diesseits‹ und ein›jenseits‹ der Grenze Liegendes zu setzen, ist der Unterschied vonTeil und Ganzem gegeben. Ich ›diesseits‹ der Grenze und alles an-dere ›jenseits‹ der Grenze sind zusammen das Ganze, von dem ichselbst ein Teil bin und als dessen Teil ich mich ›setze‹. Noch einmaldarf an Fichte erinnert werden: »So wie dem Ich ein Nicht-Ich ent-gegengesetzt wird, wird demnach das Ich, dem entgegengesetztwird, und das Nicht-Ich, das entgegengesetzt wird, theilbar ge-

18 | Deshalb ist sein-Denken notwendig und auch möglich. Diese Umkeh-rung des Fundierungsverhältnisses der Modalitäten benutzt Lensink (1994:180ff.), um das metaphysische Fragen zu erhellen; sie steht in Relation zuder Leibniz-Frage »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«.Wenn Denken etwas-Denken ist (und was sollte es sonst sein?), so ist esauch notwendig, dass es sein denkt. Wenn ein Ganzes ist, innerhalb dessender denkende Mensch als ein Moment ist und sich zu Anderem verhält, dannist es auch notwendig möglich, dass er sein denken kann und muss; denndann ist es ganz und gar unmöglich, nichts zu denken.19 | Das ist in der Tat seine ›Sonderstellung‹, die kein dominium terrae,wohl aber die cognitio essentiarum, die Erkenntnis der Wesenheiten, ein-schließt.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionsetzt« (Fichte 1845a: 109). Die humanwissenschaftliche Anthropo-

logie hat die Gebietsstruktur dieses Teils, der ich bin, und also dieGattungseigenschaften aller Menschen gemäß dem »Begriff vondenkenden Wesen meines Gleichen« (Fichte 1845b: 186) zu unter-suchen; eine philosophische Anthropologie dagegen hat es mit derFrage zu tun, wie der Teil sich als Teil konstituiert. König hat in seiner Aufhellung der Grundzüge spekulativerPhilosophie Nachdruck darauf gelegt, dass das Denken des Ganzennicht davon entbinde, »erst das Einzelne denken zu müssen« (Kö-nig 1926: 46). Der Übergang vom Einzelnen zum Ganzen werdeim »Erfassen eines Teils als Teil« vollzogen – also nicht in seinemSo-sein, sondern in seinem Beschränktsein. »Das Ganze ist dasGrenzenlose, Unendliche, das niemals anschaulich vor uns liegt«(ebd.: 80). Anschaulich ist immer nur ein endlicher Ausschnitt ausdem Unendlichen, also ein Begrenztes. Die Grenze des Begrenztenenthält dann die notwendige Möglichkeit, über sie hinauszugehen(als Potenzialität und als Tendenz); sie trägt an sich selbst zu-gleich die Indices ›dieseits‹ wie auch ›jenseits‹. Das heißt aber, siescheidet nicht nur das Eingegrenzte von anderen, sondern sie istauch der Ort ihres Zusammengehens und damit des möglichenÜbergangs vom Einen ins Andere. Sie ist kein Drittes neben Dies-seits und Jenseits, sondern die kategoriale Form, die Dieses undJenes als Dieses und Jenes konstituiert. »Wohl tritt die Grenze un-ter Umständen als prägnante Gestalt hervor, aber sie läßt sichnicht dem ihr Begrenzten oder dem, woran sie als Grenze stößt,gegenüber als Eigenes fassen. Für die bloße Anschauung mag esscheinbar gelingen, wie man beispielsweise die Konturen durcheinfache Linien zeichnerisch wiedergeben kann. Aber der Linieentspricht keine eigene Entität. Sie hält, was seinem Wesen nachpures Übergehen vom Dingkörper zu dem ihn umgebenden Mediumist, sinnlich nur durch die Heraushebung des begrenzten Raumge-bietes aus der Umgebung fest« (IV/151). Und was Plessner hiervom sinnlich gegebenen Körper im Raume sagt, gilt in strenger Me-

20taphorik (vgl. Holz 1955, 1990b, 2002; Zimmer 2003a) auch vonder Bestimmung des Begriffs, der de-finitio. Dieses Wesen der Grenze, nicht ein Seiendes zwischen A und B,sondern das reine Zwischen-Sein im Kontinuum AB zu sein, bringtes mit sich, dass die Setzung von Grenzen »die gegenseitige unend-liche Bezüglichkeit und Korrelativität der Teile« (König 1926: 80)

20 | Wir unterscheiden zwischen ›notwendigen‹ Metaphern, ohne die eineSache überhaupt nicht gesagt werden kann, und ›kontingenten‹, die nur alsrhetorischer o. poetischer Schmuck zur begrifflichen Fassung hinzukommen.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur innerhalb des grenzenlosen Kontinuums, das das Ganze ist, konsti-tuiert. Jeder Teil wird so zum Träger des Prozesses, der das Ganzeausmacht. Ein Körper ist, wenn »ihn seine Grenzen nicht nur ein-schließen, sondern ebensosehr dem Medium gegenüber aufschlie-ßen (mit ihm in Verbindung setzen), über ihm hinaus. […] Bestehtdas Wesen der Grenze aber im Unterschied zur Begrenzung darin,mehr als die bloße Gewährleistung des Übergehens zu sein, näm-lich dieses Übergehen selbst, so muß ein Ding, welchem Reich desSeins es auch zuzurechnen sei, wenn es die Grenze selbst hat, die-ses Übergehen selbst haben« (IV/182). Plessner hat daraus dieKonsequenz gezogen, dass eine apriorische Typologie des Grenz-Wesens die kategoriale Formation einer Spezifikation der Naturnach unterschiedlichen Seinsmodi liefere. Das ist ein allgemeines, ontologisches, Naturphilosophie be-gründendes Prinzip. Es ist aber, wie leicht einzusehen ist, auch dasPrinzip der philosophischen Anthropologie. Denn kein Teil erfasstsich als Teil, es sei denn, er könnte sich selbst und sein Verhält-nis zum Ganzen vor sich stellen, also von sich und seiner Situiert-heit Abstand nehmen. Diese Reflexion geschieht im Denken und istdie Bedingung der Möglichkeit, dass das denkende Wesen sich alsfrei setzt. Sich als begrenzt setzend, setzt das Ich sich selbst und

21sein Verhältnis zum Ganzen. Der Teil »steht dann anscheinendgleichberechtigt dem Ganzen gegenüber. Aber auch er enthülltseinen Ursprung in der Einheit von Ganzen und Teilen und kann ihrdeshalb nicht entfliehen. Selbständig ist daher weder das Ganzenoch der Inbegriff der Teile, sondern die Einheit ihres Ursprungs«(König 1926: 83). Der Anschein von Selbstständigkeit des Teils – des Teils zumal,der ich selbst bin und der mithin sich selbst setzt – bedingt dietranszendentalphilosophische Wende. Als sich selbst und sein Ver-hältnis zu anderen – zu allen anderen, zur Welt setzend, ist dasIch konstitutiv, und die Welt bildet sich im Prozess der Konstruk-tion durch das transzendentale Subjekt. Die Anthropologie hättedann aufzuzeigen, wie aus dem transzendentalen Akt der Setzung(des Nicht-Ich durch das Ich, oder noch präziser: der Grenze zwi-schen Ich und Nicht-Ich) die spezifischen Leistungen des empiri-schen (natürlich-gesellschaftlichen) Menschen als Konstitutionvon Welt zu begreifen sind. Die materialistische Variante wäre,›Grenze‹ nicht als gesetzt im Akt des cogito zu gründen, sondernsie als unhintergehbare Formbestimmtheit des materiellen Seien-

21 | Hier wird nun ganz deutlich, warum Fichtes Denkschritte unerlässlichfür die Exposition unseres Problems sind.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionden anzunehmen; allerdings wäre die Geltung einer solchen An-

nahme logisch doch wieder nur im Rückgang auf das cogito zu ver-ankern, wenn man sie nicht irrationalistisch-dezisionistisch ausdem Willen entspringen lassen möchte. Die philosophische Anthro-pologie scheint also auf die Option für den Idealismus festgelegt.

Der transzendentale Schein der Subjektpriorität

Es fragt sich also, ob die konstitutive Priorität des Subjekts als ein›transzendentaler Schein‹ (vgl. Holz 1990d) wenn auch vielleichtnotwendig auftretend, dargetan und so der philosophischen An-thropologie ein realistischer Sinn wiedergegeben werden kann,den sie im Verfahren ihrer Begründung verloren hatte. Zweifellosgibt es erkenntnistheoretisch unausräumbare Gründe, die Selbst-gewissheit des Subjekts und seiner kategorialen Leistungen derObjektkonstitution vorzuordnen. Das So-sein des Anderen, welchesdas Ich sich entgegensetzt, wird durch diesen Akt der Setzung be-stimmt. Die endliche Prädikatenmenge, die dem bestimmten Objektbeigelegt werden kann, ist Ergebnis eines konstitutiven konstruk-tiven Zugriffs auf das unbestimmt grenzenlose Jenseits des sichselbst innerhalb der Grenze haltenden Subjekts. Auch wenn diesesJenseits als eine Fülle von An-sich-Seienden vorausgesetzt wird –der jeweils gesetzte bestimmte Gegenstand ist in seiner Gegen-ständlichkeit ein Konstrukt der Aktivität des Subjekts. Und das giltauch dann, wenn das ›Setzen‹ nicht als eine Handlung des cogito,sondern als ›gegenständliche Tätigkeit‹ im Sinne materieller Bear-beitung oder physischen Verzehrs eines anderen an sich Seiendenaufgefasst wird. Das Konzept der materiell gegenständlichen Tätig-

22keit enthält zwar den Schlüssel zur Auflösung des transzenden-talen Scheins, aber nicht unmittelbar und nicht ohne spekulativeVermittlungsschritte (vgl. Holz 1980, 1991). Die allgemeine formalontologische Grundlage einer solchenVermittlungsstruktur liegt in der Verfassung jedes Teils, ›über ihmhinaus‹ zu sein und also aktiv ins Andere hineinzuwirken. Vomsich setzenden Begrenzten aus gesehen ist dieses Übergehen inein Anderes sein Werden; es wird dabei nicht ein ganz Anderes,Neues, sondern verändert sich auf der Grundlage dessen, was es

22 | Vgl. Holz (1983: 127ff.), wo das Konzept der ›gegenständlichen Tä-tigkeit‹ aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Marx (1968:465ff.) zu einer Ontologie ausgearbeitet wird. Siehe auch schon ebd.:S. 42ff.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur ist, indem es sich ›fortbestimmt‹. Die ›Fortbestimmung des Be-griffs‹ ist bei Hegel die Weise der Selbstbewegung des Begriffs. Inder prinzipiell unendlichen Prädizierbarkeit (Bedeutungserweite-rung oder besser: -anreicherung) eines Begriffskerns ist diese Be-wegung in der logischen Sphäre wesensmäßig angelegt. Plessnerhat dieses Bewegungsprinzip, dem kategorial das aristotelisch-leibnizsche Schema von Möglichkeit und Wirklichkeit als Realitäts-grade (vgl. Holz 1990c) zugrunde liegt, auf das Naturseiende an-gewandt (womit er die Perspektive der aristotelischen Physik ein-holte): »Insofern es übergeht, verläßt natürlich das Ding seine Be-grenzung. Setzt es gegen dieses (wesensnotwendige) Verlassenseines Bereichs nicht in irgendeinem Sinne ein Beharren, so zer-läuft es und fällt der Vernichtung anheim. […] Zum Sinn der Gren-ze gehört außer dem Moment des Übergehens das Moment desStehens. […] Grenze ist stehendes Übergehen, das Weiter als Halt,das Halt als Weiter. Infolgedessen ist das ›Produkt‹ aus beidenMomenten nicht das einfache, grenzauflösende Werden, welchesdas Jetzt nur als Limes enthält, sondern Werden eines Beharrens,Beharren eines Werdens: die ›Momente‹ des Stehens und Überge-hens vereinigen sich. […] Das Werden bestimmt sich als das Wer-den eines Etwas (eines Beharrenden) in dem Modus, daß das Be-harren das Werden ›trägt‹, oder das Beharren bestimmt sich als dasEtwas eines Werdens, wobei das Werden das Beharren trägt. JedeBestimmungsform ist ein Moment dessen, was Prozeß heißt. ImProzeß geht 1. ein Beharren in Werden über, etwas wird, ohne andiesem Werden sich aufzulösen und sein Sein ganz an dieses Wer-den zu verlieren, und in gleichem Sinne führt 2. das Werden zu ei-nem Beharren, wird etwas, ohne an diesem Etwas sich zu hemmenund sein Wesen an seinem Gegenteil einzubüßen« (IV/189). Diese Prozessualität des einen Teils entspricht nun aber derProzessualität jedes anderen Teils, weswegen – wie schon gesagtwurde und nun weiter ausgeführt werden kann – »es die gegensei-tige unendliche Bezüglichkeit und Korrelativität der Teile ist, derenAufweisung ihre Interpretation als Teile, als komplexe Gegenständ-lichkeiten von grenzenlosem Ganzen und begrenzender Bestim-mung, als Identitäten von Allgemeinheit und Besonderheit, recht-fertigt. An ihr muß daher sozusagen ein Reflex des grenzenlosenGanzen […] objektiv erfassbar werden« (König 1926: 80). Ontolo-gisch geht es um den Primat der Wechselwirkung, der die Konstitu-tion von Welt verbürgt (vgl. Holz 1987a). Welt ist gegeben als einuniversales Wechselwirkungssystem, in dem jedes sich fortbe-stimmt, indem es die im Übergehen sich verändernde Relation zuallen anderen als Wirkung des allseitigen Prozesses in sich real

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische Expositionausdrückt; dies ergibt eine universelle-multiple Reflexionsstruktur

23(vgl. Holz 1983: 17ff.). Soweit, in Andeutung, das ontologische Fundament, auf demeine philosophische Anthropologie aufruht. Ein universelles Refle-xionssystem besitzt prinzipiell die Fähigkeit zur Reflexion der Re-flexion (vgl. Holz 1983: 40ff.). Man kann sich das leicht an einemSchema klarmachen: A reflektiert B, C, D; B reflektiert A, C, D; Creflektiert A, B, D; D reflektiert A, B, C. B, C und D reflektieren alsojedes auf seine Weise (in einem anderen Kontext) A. Wenn A aberB, C, D reflektiert, so reflektiert es die Reflexion von A in B, C, Dmit. Das Denken ist nun derjenige Seinsmodus, in dem diese Refle-xion der Reflexion nicht nur stattfindet, sondern als solche aufge-fasst wird. Weil das Denken in diesem Akt der Reflexion der Refle-xion sich auf sich selbst richtet, scheint die erste, einfache setzen-de Reflexion, in welcher sich das Ich des ›ich denke‹ durch Unter-scheidung von anderen bestimmt oder setzt, als produktiver undnicht als reflexiver Akt, der das Seiende in seiner mannigfachenBestimmtheit schon voraussetzen würde. Und da die Gewissheitdes cogito einzig in ihm selbst liegen kann, entspringt hier unaus-weichlich der transzendentale Schein. Nun kann aber die Evidenz des ›ich denke‹ (= sum cogitans)zwar nicht mehr begründet, wohl aber fundiert werden. Jenes Ich,das im ›ich denke‹ erscheint, ist doch selbst schon ein Allgemei-nes, das die jeweiligen Momenterfahrungen meiner selbst in derSerie von impressions, von ›Daten‹, in die ich mein Ich-Bewusst-sein auflösen kann, in einem ihnen gemeinschaftlichen Gehalt zu-sammenfasst. Die Identität des beharrenden Ich bedeutet ein ers-tes, grundlegendes, unterstes Allgemeines, ohne das es kein Den-ken gäbe. Die Bewusstseinsmomente, die das Material für dasSelbstbewusstsein des Ich, also für die Evidenz des ›ich denke‹ ab-geben, entspringen aber in dem sinnlich-materiellen Auftreffen desnatürlichen (biologischen) Wesens Mensch auf die ihm entgegen-stehende äußere Welt. Die leiblich-materielle Gegenstandsbezie-hung ist die Voraussetzung, dass das Ich sich den anderen Seien-den entgegensetzt, das heißt sich selbst setzt. Erst dieser Akt derUnterscheidung, der die Einheit einer natürlichen, ganzheitlichenRelation in ihre Glieder zerlegt (δια�ρεσις), macht das ›ich denke‹zu einer selbstständigen Entität und lässt damit die Frage nach derGewissheit der Entsprechung von Denken und Sein aufkommen. Die ursprüngliche, leiblich-materielle Gegenstandsbeziehung

23 | Die leibnizsche Monadenlehre ist ein Modell dieser Welt konstituie-renden universellen Reflexivität der Seienden (vgl. Holz 1987b, 1992).

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur ist bei solchen Lebewesen, die in bewegter Zuwendung zur Umweltund nicht in zuständlichem Aufnehmen ihre Reproduktion betrei-ben, gegenständliche Tätigkeit. In ihr vollzieht sich der Übergangvon der Momenterfahrung des ›Dieses-da‹ (hic) zu der Allgemein-heit des ›so beschaffenen Dieses‹ (talis) oder ›Dieses als Dieses‹(vgl. König 1978: 149, 154). Hier entsteht neben dem Reich derSeienden und ihrer Realbeziehungen (der ›Welt‹) das zweite Reichder Allgemeingegenständlichkeiten, Begriffe, Wörter und ihrer lo-gischen Beziehungen – und zwar ist dieses zweite Reich der einzi-ge Inhalt des ›ich denke‹, ein Inhalt, der ungeachtet seiner relati-ven Selbstständigkeit nur einen Sinn hat, wenn er als Repräsen-tanz, als Ausdruck oder Spiegelbild des Realseienden gedeutetwird. Eine philosophische Anthropologie hat dann ihren Gegen-stand bestimmt und begriffen, wenn sie den Menschen, ausgehendvon seiner transzendentalen Subjektivität und deren Verkehrung

24wieder umwendend, als das Spiegel-Wesen begreift , das aus derVereinzelung des praktischen Dieses in der gegenständlichen Tä-tigkeit zum Bild oder Modell des Ganzen der Welt in der Bewegungdes Begriffs übergreift. Die Ausarbeitung der Merkmale gegenständ-licher Tätigkeit und ihres Aufgehobenseins in der zweckgerichte-ten, planvollen Arbeit entwirft dann das Feld der humanen Exis-tenz, in dem alle spezifischen Leistungen des Menschen sich ent-falten und das sich mit dieser Entfaltung ständig erweitert. Hiererst entspringt aus der philosophischen Anthropologie die Anthropo-logie als Grundlagentheorie der Humanwissenschaften. Wird dagegen die Anthropologie, die von der faktischen Lagedes Menschen ausgeht, zur philosophischen Grundwissenschaft er-hoben, so reproduziert sie die subjektivistische Verkehrung, derenAufhebung gerade die Aufgabe der Reflexion der Reflexion ist, alsoder spekulativen Methode der Dialektik, die Engels als den durchdie hegelsche Philosophie gewonnenen neuen Inhalt gegen diebloße Form des idealistischen Systemkonstrukts retten wollte (vgl.Holz 1997b: 328ff.), weswegen er Feuerbachs Wendung zumscheinbaren Materialismus der Anthropologie für eine Sackgassehielt: »›Der Mensch, der ursprünglich aus der Natur entsprang, warauch nur ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist einProdukt des Menschen, der Kultur, der Geschichte‹ [Feuerbach] –selbst dieser Ausspruch bleibt bei ihm durchaus unfruchtbar. […]Aber der Schritt, den Feuerbach nicht tat, mußte dennoch getanwerden; der Kultus des abstrakten Menschen, der den Kern der

24 | Die Rede vom Spiegel ist eine exakte Metapher; siehe Holz 1961,1990b,d, 2003a.

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Anthropologie zu fundierendeneiner ontologischKritische ExpositionFeuerbachschen neuen Religion bildete, mußte ersetzt werden

durch die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer ge-schichtlichen Entwicklung« (Engels 1962: 287, 290). Hegels objek-tiver Idealismus hatte wenigstens die Welt der Geschichte als einenProzess dargestellt, der zwar vermittelt durch das Handeln derMenschen geschieht, aber auf der Grundlage der Seinsbestimmun-gen, die er nur als Geist darstellen konnte. Nun kam es darauf an,die geistige Totalität als das Denken der materiellen Welt, der Ge-schichte der Natur und der daraus hervorgegangenen menschli-chen Gattung aufzufassen, die dem Denken vorausliegt und sich inihm spiegelt. So hat eine Widerspiegelungstheorie, die nicht zu eng bloß alsErkenntnistheorie, sondern als dialektisch-materialistische Ant-wort auf die Grundfrage nach der Identität von Sein und Denkenim Selbstunterschied entwickelt wird, ihren formellen Grund indem spekulativen Begriff des Sein-Denkens als des Denkens, indem das Sein als seine Ursache und sein Erwirkendes enthalten ist.Hier wird dann der Mensch im Zusammenhang einer Dialektik derNatur gesehen, die den Aufstieg vom anorganischen Stoff zu denhöchsten Differenzierungen des Geistigen als materiellen Prozessüber die ›Stufen des Organischen‹ (wie es bei Plessner heißt) dar-zustellen vermag. In diesem Zusammenhang hat eine, ihrer Wurzelin der Biologie nicht untreu werdende Anthropologie, die sichnicht als anthropozentrische Weltanschauungslehre, sondern alsTeildisziplin einer Dialektik der Natur versteht, ihren guten Sinn.Helmuth Plessners Forschungen und sein Systemansatz stehen da-für repräsentativ – weshalb wir ihn eingangs von der hier vorgetra-genen Kritik ausgenommen haben. Es ist indessen das Elend derAnthropologie, dass sie – seit Scheler und bis hin zu ihren jüngs-ten Vertretern – ihre Grenzen zu überschreiten und sich die Funk-tion einer Grundlagendisziplin anzumaßen pflegte. Der dunkleSchatten Heideggers fällt über diese Strömung, der sich selberwohl immer gegen anthropologische Deutungen seiner Existenzial-ontologie verwahrte, ihr aber doch mit seiner Verankerung derSeinswahrheit im Dasein – also in der faktischen Wirklichkeit desMenschen – die subjektivistische Wendung gab. Materialistisch wiespekulativ kann die Anthropologie nie zur Grundlagen- oder auchnur Zentraldisziplin der Philosophie werden. Der Verzicht auf dieDialektik der Natur oder zum Mindesten auf eine dialektische all-gemeine Ontologie führt in die Bodenlosigkeit des Nihilismus, denNietzsche als die Konsequenz der neuzeitlichen Denkens, das heißtder Philosophie des bürgerlichen Zeitalters seit Descartes, beschwo-ren hat (vgl. Holz 1976: 99ff.).

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Auf dem Weg zur philosophischen Anthropologie

Die Anfänge anthropologischer Fragestellungen

Die philosophische Anthropologie als die Lehre vom Wesen desMenschen ist so alt wie die Philosophie selbst. Denn natürlich hates die Philosophie immer auch mit dem Menschen als ihrem frag-würdigen Gegenstand zu tun – sei es in der erkenntnistheoreti-schen Skepsis gegenüber dem leichtgläubigen und häufigen Täu-schungen unterliegenden »Meinen der Menschen« (δ��αι �ρ�-τ�ν), dem Parmenides »der wohlgerundeten Wahrheit unerschüt-terliches Herz« ( ληθε�ης ε�κυκλ$�ς τρεµ%ς &τ�ρ) entgegen-setzt (Parmenides 28 B 1, 29f.); sei es in der Reflexion auf denSinn eines glücklichen Menschenlebens (vgl. Aristoteles 197 a34ff.); sei es in der Frage nach der Selbsterkenntnis dem »erkennedich selbst« (γν�θι σεαυτ�ν), das über dem Apollo-Tempel zuDelphi stand und dem Chilon, einem der sieben Weisen, zugeschrie-ben wurde (vgl. Snell 1948), worauf sich wohl noch Heraklit be-zog, wenn er sagte: »Ich habe mir selbst nachgeforscht« (�δι�ησµην �µεωυτ�ν – Heraklit B 101). Heraklit war es auch, der denSchein einer transzendenten Schicksalsgewalt aufzulösen unter-nahm und das Schicksal der Menschen in ihnen selbst begründetfand: »Seine Haltung ist des Menschen Dämon« ('θ�ς νθρ(πω)δα�µων – Heraklit B 119); und die richtige Haltung lässt eben dieEudämonie, das Glück oder die gelungene Lebensführung, entste-hen. Ein gerader Weg führt von diesem Heraklit-Wort zur Nikoma-chischen Ethik des Aristoteles. So früh beginnen also die Denkeinsätze, die auch in unseremJahrhundert noch anthropologisches Fragen bestimmen: So fängtHans Lipps (1941) sein Buch über Die menschliche Natur mit einerUntersuchung der »Haltung des Menschen« an und endet bei›Maß‹ und ›Echtheit‹. Herman Nohl (1947) schreibt eine »Men-schenkunde« unter dem Titel Charakter und Schicksal. Hans Pichler

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur (1947) fügt die Triade Persönlichkeit, Glück, Schicksal zusammen.Und nach einer Phase mehr naturwissenschaftlicher oder soziolo-gisch-ethnologischer Eingrenzung des Menschseins von seinenRändern her scheint im Zeichen eines säkularen Krisenbewusst-seins die Frage nach dem Sinn des Humanum, nach der Stellungdes Menschen im Kosmos, nach den Wurzeln von Verantwortlich-keit wieder in den Vordergrund zu rücken: Carl Friedrich von Weiz-säcker (1977) stellt seine Beiträge zu einer geschichtlichen Anthro-pologie in die Planskizze zu einem »Garten des Menschlichen«,wobei ebenso auf Voltaires Candide wie auf den ›Garten Epikurs‹angespielt sein mag. Hans Jonas (1981) möchte gar eine Porositätam Rande des Materiellen supponieren, durch die die nichtmate-rielle Wirklichkeit des Seienden ins Physikalische Einlass findetund umgekehrt. So scheint – gleichsam postmodernistisch – diephilosophische Anthropologie ihren Ort wieder außerhalb der Wis-senschaftsperspektive der Neuzeit zu suchen und zum Tummelplatzirrationaler ›Freischärler‹ im Reich der Philosophie zu werden. Diese Wendung konnte die Anthropologie jedoch erst nehmen,als die Berufung auf irrationale Seinsgründe zum Kern eines Welt-anschauungsprogramms wurde, das sich gegen die rationale Wis-senschaftsgesinnung der Moderne richtete (vgl. Holz 2003c). Bisins 18. Jahrhundert standen die Untersuchungen von Phänomenendes menschlichen Verhaltens, der Lebenshaltung, und von Momen-ten der Weltbeziehung, die nicht aus dem Erkenntnisverhältnis er-wachsen (Emotionalität, Wille, Lust-Unlust-Reaktionen) im Zu-sammenhang der Metaphysik und waren den Kriterien der Ver-nunftkonstruktion ausgesetzt. Systematisch gehörten sie zurPsychologia rationalis. Thesen wie die von Ludwig Klages (1929),der den Geist zum Widersacher der Seele stilisierte, wären vor dem19. Jahrhundert kaum formulierbar gewesen und wurden allerdingsdurch den Kult der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert vorberei-tet; Rousseau war ihr Impulsgeber (vgl. Holz 1998: 145ff.). Zu-nächst hatte diese Tendenz einen noch eher materialistischen Cha-rakter. Gegen die Verselbstständigung und Überbetonung des Geis-tes als Träger der Verstandestätigkeit und -funktion wurde die Ein-heit des ›ganzen Menschen‹ festgehalten – und der ›ganze Mensch‹ist eben ein zugleich biologisches und geistiges Wesen. Die Schwä-che dieser Position trat an den Extremen zutage. Ein materialisti-sches Menschenbild musste sich im 18. Jahrhundert an der Leit-wissenschaft der Mechanik orientieren, die über die am genaues-ten elaborierten wissenschaftlichen Standards verfügte. Julien Of-fray de La Mettries (1990) Programmschrift L’Homme machine istdas Manifest dieser Richtung (vgl. Holz 1998: 62ff.).

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zur »Der Mensch ist eine Maschine«, und man kann sich von ihm

nur eine Vorstellung machen, »indem man gleichsam im Durch-gang durch die Organe die Seele zu entwirren sucht« (La Mettrie1990: 27). Nahrung, Klima und Anatomie sind die Grundlage desMenschseins, aus ihnen folgt die Weise der Imagination und dergeistigen Leistungen. Bemerkenswert ist, dass schon La Mettrieden Menschen als Instinkt-Mängel-Wesen charakterisiert, das seinenatürlichen Defizite durch künstliche Bildung ausgleichen muss.»Die Natur hat uns also dazu geschaffen, unterhalb der Tiere zustehen oder wenigstens dadurch umso besser noch die Wunder derErziehung an den Tag kommen zu lassen, welche allein uns von ih-rem Niveau hinwegzieht und uns schließlich über sie erhebt«(ebd.: 71). La Mettries provokante These, »daß der Mensch eine Maschineist, und daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz –in unterschiedlicher Gestalt – gibt« (ebd.: 137), war zu allgemeingehalten und zugespitzt vorgetragen, um als allgemein anerkann-ter Ausgangspunkt einer philosophischen Anthropologie dienen zukönnen, obwohl sie nachhaltigen Einfluss auf die Zeitgenossenausgeübt hat. Jedenfalls war die Selbsterfahrung des Menschen,ein empfindendes, leidenschaftliches und denkendes Wesen zusein, stark genug, um von Materialisten eine Erklärung des Leib-Seele-Dualismus aus dem Monismus der Materie zu fordern. Den Zusammenhang der seelisch-geistigen Funktionen mit derKörperverfassung des Menschen hatte La Mettrie wohl plausibelgemacht. »Da alle Fähigkeiten der Seele so sehr von dem eigen-tümlichen Bau des Gehirns und des ganzen Körpers abhängen, dasssie offensichtlich nur dieser organische Bau selbst sind, so habenwir es mit einer gut ›erleuchteten‹ Maschine zu tun. […] Die Seeleist also nur ein leerer Begriff, von dem man keinerlei Vorstellunghat und den ein kluger Kopf nur gebrauchen darf, um den Teil zubezeichnen, der in uns denkt« (ebd.: 95, 97). Wie jedoch nun dieDifferenzierung von somatischen in psychische Phänomene vorsich gehe, wie der Übergang aus der Sphäre der Bewegungen in dieSphäre der Vorstellungen erfolge – die Frage nach dem Verhältnisder gattungsverschiedenen Modi extensio und cogitatio in der ei-nen res –, hat La Mettrie nicht erklärt. Hier setzen die nachfolgen-den Bemühungen ein, deren weltanschaulich wirkungsvollstes Er-gebnis L’Ésprit (1758) von Claude Adrien Helvétius gewesen ist. Die sensualistische Grundannahme, »daß alle unsere Erkennt-nis aus den Sinnen stamme« (Condillac 1754: 2/178) hat Helvétiusvon Condillac übernommen. Dieser hatte, ausgehend von der Fik-tion einer Statue, die nach und nach mit den fünf Sinnen ausge-

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Mensch – Natur stattet wird, eine Systematik der weiter schließenden Leistungender Sinne entworfen, also zum ersten Mal so etwas wie eine An-thropologie der Sinnlichkeit ausgearbeitet. Condillac stellt nichtwie La Mettrie die Frage nach der substanziellen Einheit von Mate-rie und Geist in der Materie selbst, sondern beschränkt sich auf dieFunktionen der Sinneswahrnehmung für die Ausbildung der geisti-gen Tätigkeiten. »Die Urteilskraft, die Reflexion, die Begierden,die Leidenschaften usw. sind nur die Sinneswahrnehmung selbst,die sich verschieden differenziert« (ebd.: 1/5). Mit dieser Annah-me kann er die Einheit des Menschen aus seiner somatischen Ver-fassung herleiten, ohne daraus ontologische Konsequenzen zu zie-hen. An dieses Argumentationsmuster schließt sich Helvétius an.»Die fundierende These für den mechanischen Materialismus istdie Empfindlichkeit des Materie. […] Helvétius geht davon aus,daß die Empfindlichkeit zwar nicht – wie Diderot annahm – zu denkonstanten Eigenschaften der Materie gerechnet werden, dass sieaber durch eine neue Gruppierung der Bestandteile der Materieentstehen könne. […] Ganz allgemein entstehen durch neue Mi-schungen in der Materie neue Substanzen« (Krauss 1968: 254f.).Mit dem Ursprung der seelisch-geistigen Tätigkeiten aus den Ei-genschaften der sensiblen Materie kann Helvétius auch die sozia-len Strukturen des Menschseins in seine Betrachtung einbeziehen.In seinem Spätwerk De l’Homme (1773) zieht er den Bogen von derursprünglichen gleichen Ausstattung der Menschen mit den durchdie Sinnlichkeit vermittelten Vermögen des Geistes über die Be-deutung der äußeren Umstände und der Erziehung für deren Aus-bildung bis zur staatlichen Ordnung, in der das Glück der Men-schen gesichert werden soll. Seine Anthropologie umfasst die bio-psycho-soziale Ganzheit des Menschen. Er resümiert: »In jedemIndividuum sind die Talente und Tugenden die Wirkung seiner Or-ganisation oder der Belehrung, die man ihm zuteil werden ließ«(Helvétius 1792: 3/11). Das 18. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Pädagogik; sei-ne Anthropologie läuft auf ein Programm der Erziehung hinaus –bei Helvétius noch gedacht als die Erziehung der Individuen (undso auch bei Joachim Heinrich Campe und Johann Heinrich Pesta-lozzi); bei Gottfried Ephraim Lessing hingegen wird die »pädago-gische Provinz« schon ins Geschichtsphilosophische zur »Erzie-hung des Menschengeschlechts« (Lessing 1979: 8/489ff.) erwei-tert. Es ist kein Zufall, dass es gerade die philosophierenden Ärztewaren, die die Paradigmen der mechanistischen Naturwissenschaft

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zuraus der Physik in die Wissenschaften vom Leben übertrugen. Noch

Melchior Adam Weickard hat sich in seinem großen Werk Der philo-sophische Arzt (1790) an das von Helvétius vorgezeichnete Schemagehalten (vgl. Holz 2003c). Das Konzept der Selbstbewegung derMaterie konnte, wie bei La Mettrie, einem allgemeinen Erklä-rungsmuster auch für die Vorgänge im tierischen und menschli-chen Körper zugrunde gelegt werden. Aus den Bewegungsformender Seienden in ihrem wechselseitigen Einfluss aufeinander ist dieEinheit der Natur abzuleiten – und sie enthält den Menschen inallen seinen körperlichen wie geistigen Daseinsmomenten. AndréRobinet hat daraus eine Systematik der Natur entwickelt, die auchdie Anthropologie einschließt. »Ich nenne Ursache, was das Prin-zip seiner Tätigkeit in sich selbst trägt und was in seiner vollstän-digen Wesenheit den nächsten und letzten Grund der Wirkung ent-hält, die es hervorruft. […] Aus der Einheit der Ursache folgt dieEinheit die Handlung, die keinem Mehr oder Minder unterliegt.Dank dieses einheitlichen Aktes wirkt alles. […] Aus allem, was ichgesagt habe, ergibt sich, daß die Natur nicht die einzige Ursache,sondern der einzige Akt dieser Ursache ist« (Robinet 1761: 12,24). Ist hier der Gesamtzusammenhang dynamisch in naturphilo-sophisch-metaphysischer Perspektive gedacht (zweifellos unterdem Einfluss von Leibniz), so spezifiziert sich diese Interaktions-beziehung der Elemente für den Arzt Charles Bonnet im Begriff desOrganismus. »Von allen Modifikationen der Materie ist die ammeisten ausgezeichnete die Organisation. Die vollkommenste Or-ganisation ist diejenige, die die meiste Wirkung mit einer gleichenoder kleineren Zahl verschiedener Teile erzeugt. Das ist, unter denirdischen Seienden, der menschliche Körper. Ein Organ ist ein Sys-tem von Materiellem, dessen Funktion, Anordnung und Spiel zumletzten Zweck eine Bewegung hat, sei es eine intestinale, eine deräußeren Gliedmaßen oder eine des Gefühls« (Bonnet 1764: 23).Sein Werk ist die systematische Darstellung der organischen Funk-tionen des Lebendigen, die in einer Interdependenz der Seienden,einer natürlichen harmonie universelle, zusammenstimmen. »DieElemente wirken wechselseitig aufeinander gemäß bestimmten Ge-setzen, die aus ihren Beziehungen herrühren, und diese Bezie-hungen verbinden sie mit den Mineralien, den Pflanzen, den Tie-ren, dem Menschen« (ebd.: 19). Mit Robinet und Bonnet stößt die mechanistische Konzeptionan Grenzen, die den Ausblick auf einen Paradigmenwechsel eröff-nen. Denn die Einseitigkeiten einer mechanistisch-materia-listischen Auffassung vom Menschen waren zu offensichtlich, alsdass sie nicht eine Perspektivenverschiebung in der Fragestellung

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Mensch – Natur hätten provozieren müssen. Die somatisch argumentierendenÄrzte-Philosophen des 18. Jahrhunderts hatten die menschlichenEigenschaften und ihre pathologischen Abweichungen aus einerQuelle abgeleitet, nämlich aus der physikalisch beschreibbarenVerfassung des Leibes. Dagegen werden nun materiell nicht nach-weisbare energetische und seelische Potenzen in Anspruch ge-nommen. Die Anthropologie muss das Wesen des Menschen vonanderen Seinsformen abheben – neuzeitlich von der Biologie wiemittelalterlich von der Angelologie (vgl. Huning 1997). Diese Un-terscheidungsfrage bestimmt die Blickrichtung, in der nach der Ei-genart des Menschlichen gesucht wird. Die ausnehmende Sonder-stellung des Menschen im Kosmos oder der Ursprung der menschli-chen Besonderheit aus der ontologischen Verfassung der Natursind die beiden gegensätzlichen Antworten auf die Unterschei-dungsfrage.

Die Geschichtlichkeit des Menschen

Noch ganz im Geiste der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hält sichHerder, der von manchen als der Vater der neueren Anthropologiein Anspruch genommen wird. Wenn sich auch dieses Erstgeburts-recht im Hinblick auf die französischen Sensualisten und Naturphi-losophen nicht einfordern lässt, so hat er doch aus dem Stufenbaudes sich differenzierenden Universums, wie er bei Robinet entwi-ckelt wird, für das Gattungswesen des Menschen eine klar natura-listische und evolutionistische Konsequenz gezogen. »Welchengroßen und reichen Anblick gibt die Aussicht über die Geschichteder uns ähnlichen und unähnlichen Wesen! Sie scheidet die Reicheder Natur und die Classen der Geschöpfe nach ihren Elementen undverbindet sie miteinander; auch in dem entferntesten wird derweitgezogene Radius aus Einem und demselben Mittelpunkt sicht-bar. […] Es ist also anatomisch und physiologisch wahr, dassdurch die ganze belebte Schöpfung unserer Erde das Analogon Ei-ner Organisation herrsche.[…] Und so können wir den Satz anneh-men: dass der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Thieren, d.i. dieausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihnher im feinsten Inbegrif sammeln« (Herder 1784: 1/106, 108, 104).Nachdrücklich wehrt Herder sich gegen Auffassungen, die denMenschen »zu einem ausgearteten Thier machen wollen, das, in-dem es höhern Vollkommenheiten nachgestrebt, ganz und gar dieEigenheit seiner Gattung verlohren« (ebd.: 177). Seine so genann-ten ›höheren‹ Fähigkeiten sind Produkte seiner Entwicklung als

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurNaturwesen. Die Naturgeschichte folgt dem Gesetz, von jeder Exis-

tenzform aus zu einer komplexeren Organisation fortzuschreiten.»Vom Stein zum Krystal, vom Krystal zu den Metallen, von diesenzur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Thier, von diesemzum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mitihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werdenund sich endlich alle, in der Gestalt des Menschen, sofern diese siefassen konnte, vereinen« (ebd.: 285). Nicht anders kann die Ei-genart des Menschen begriffen werden als durch die Rekonstruk-tion dieses Ausfaltungsprozesses der Formen. Erst so wird für Her-der eine wissenschaftliche Anthropologie möglich, indem sie dieNatur als Naturgeschichte auffasst. Herder hat den Gesichtspunktder Historizität in die Naturbeschreibung des Menschen einge-bracht und so methodologisch die Anthropologie in einem Zwi-schenfeld zwischen typologischer Naturtaxinomie und gesellschaft-lich-moralischer Normensetzung angesiedelt. Hierin ist Herders Leistung in der Tat herausragend (vgl. Holz1998: 91ff.). Im Zuge der weiteren Entwicklung des deutschenIdealismus verlagerte sich das anthropologische Interesse mehrund mehr von den Aspekten des Naturwesens Mensch zu denenseiner geschichtlichen Aktivität und ästhetischen Produktivität, indenen die Sonderstellung des Menschen deutlicher hervortritt.Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen undseine Typologie des Naiven und Sentimalischen (die eine ge-schichtsphilosophische Unterscheidung anzielt), Kleists Aufsatzüber das Marionettentheater (1810), Hegels Einbindung der An-thropologie in die ›Philosophie des Geistes‹ sind Zeugnisse dieserAkzentverschiebung. Am klarsten wird das vielleicht in den Aus-führungen der hegelschen Enzyklopädie der philosophischen Wis-senschaften (Hegel 1970). Da heißt es im Paragraf 381: »Der Geisthat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, unddamit deren absolut Erstes er ist. In dieser Wahrheit ist die Naturverschwunden […]« (ebd.: 10/17). Die Formulierung, in der Wahr-heit des Geistes sei die Natur ›verschwunden‹, ist erhellend. Hegelhätte hier doch sein eigener Terminus ›aufgehoben‹ zur Verfügunggestanden, um zu sagen, dass die Realität der Besonderheiten,die, nach einem Ausdruck Kants, die ›Spezifikation der Natur‹ausmachen, in der realen Allgemeinheit des Begriffs – dessen Trä-ger doch die menschliche Gattung ist – ebenso erhalten (aufbe-wahrt) wie eingeschmolzen (genichtet) wie auch auf ein höheresNiveau, auf das des Geistes als Inbegriff der Totalität, erhoben ist.Wenn Hegel dann im Paragraf 384 vom »Offenbaren des Geistes«als »Setzen der Natur als seiner Welt« spricht, »das als Reflexion

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist« (ebd.:29), so ließe sich das im Sinne eines komplementären Verhältnis-ses von Natur und Geist verstehen. Aber der Kontext zeigt unzwei-deutig, dass Hegel nicht an zwei Modi des Seins dachte, sonderndie Natur als unselbstständiges Moment des Geistes auffasste. »DerGeist ist als die Wahrheit der Natur geworden. […] Der gewordeneGeist hat daher den Sinn, daß die Natur an ihr selbst als das Un-wahre sich aufhebt […]« (ebd.: 10/43, § 388). Diese ontologische Priorität des Geistes prägt voll und ganz dasMenschenbild Hegels. Die Realität des Allgemeinen ist keine ma-teriell-extensive, sondern ideell-intensiv. Das bedeutet, dass diePhänomene der Körperlichkeit aus der Anthropologie herausfallen;diese hat es mit der Seele als dem ›Ort‹ des subjektiven Geistes zutun. »Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die all-gemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben.Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung undVereinzelung des Geistes, so daß er in ihr allen Stoff seiner Be-stimmung hat, und sie die durchdringende, identische Idealitätderselben bleibt« (ebd.: 10/43, § 389). Ich kann hier nicht daraufeingehen, dass Hegel damit seinen funktionalen Geistbegriff wie-der substanzialisiert (vgl. Holz 1997b: 85ff.), wohl aber muss fest-gehalten werden, dass an dieser Stelle systematisch der Umschlagzu einer idealistischen Anthropologie vollzogen wird, der bei Hegelstrenger als in den romantischen Theorien gedacht wird, aber inder Sache die gleiche Vereinseitigung des menschlichen Gattungs-

1wesens zur Folge hat. Nun wird das geschichtliche Verhältnis desMenschen zur Welt, seine produktiv-gestaltende Aneignung derNatur, von der Natürlichkeit des Menschen abgetrennt, woraus derVerlust des Maßes im Umgang mit der Natur folgt. Bei Hegel wird der Ursprung der Geschichtlichkeit des Men-schen in der Auseinandersetzung mit der Natur durchaus gesehen,wenn auch nicht in der Richtung auf die Herstellung einer Harmo-nie zwischen Geist und Natur, sondern als Überwindung der Natur,die eher als ein negatives Moment erscheint: »Der Geist lebt […] inseiner Substanz, der natürlichen Seele, das allgemeine planetari-sche Leben mit, den Unterschied der Klimate, den Wechsel der Jah-reszeiten, der Tageszeiten u. dgl. – ein Naturleben, das in ihm zumTeil nur zu trüben Stimmungen kommt« (Hegel 1970: 10/52, §392). Die natürliche Leiblichkeit wird nicht als das principium indi-viduationis begriffen, sondern als Entäußerung der Seele. »Die

1 | Feuerbach wird darauf mit einer einseitigen Resensualisierung desMenschenwesens reagieren.

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurSeele ist in ihrer durchgebildeten und sich zu eigen gemachten

Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich, und die Leiblichkeit istso die Äußerlichkeit als Prädikat, in welchem das Subjekt sich nurauf sich bezieht. Diese Äußerlichkeit stellt nicht sich vor, sonderndie Seele, und ist deren Zeichen« (ebd.: 10/192, § 411). Erst in derRückführung des seelischen Seins, das sich in der Leiblichkeit er-fährt, auf das Selbstbewusstsein als geistige Aneignung der Einheitim Unterschied hat die Anthropologie ihre ›Wahrheit‹ erreicht.»Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seinerselbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelnheit absoluteSelbständigkeit hat, aber, vermöge der Negation seiner Unmittel-barkeit oder Begierde, sich nicht vom anderen unterscheidet, all-gemeines [Selbstbewußtsein] und objektiv ist und die reelle All-gemeinheit als Gegenseitigkeit so hat, als es im freien anderensich anerkannt weiß und dies weiß, insofern es das andere aner-kennt und es frei weiß« (ebd.: 10/226, § 436). Hegel fasst dieKonstitution des Menschen als soziales Wesen unter Preisgabe sei-ner Natürlichkeit. Der bürgerliche Humanismus der Aufstiegszeit hatte sich in einhybrides Menschheitspathos hineingesteigert, in dem sich diesprunghafte Steigerung in der Beherrschung und Erweiterung derProduktivkräfte als Gefühl der Macht des Subjekts ausdrückte. Dasschöpferische Vermögen des Menschen schien unbegrenzt, derMensch konnte als Garant für die Vervollkommnung der Welt be-trachtet werden – und alle anderen Dinge und Lebewesen standenweit unter ihm. Selbst ein so besonnener und nüchterner Denkerwie Wilhelm von Humboldt orientierte seine Anthropologie an die-ser hybriden Überschätzung der menschlichen Einzigartigkeit undKraft. »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff derMenschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Le-bens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren deslebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt,als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durchdie Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, re-gesten und freiesten Wechselwirkung« (Humboldt 1903: 1/283). Esgehört zu dieser aufsteigenden Periode der bürgerlichen Gesell-schaft, dass sie das Pathos des eigenen individuellen Wertes mitdem Ethos verband, diesem Wert eine allgemeine und geschichtli-che Wirklichkeit zu verleihen. War die Anthropologie der Aufklä-rung, wie wir sagten, um einen pädagogischen Impetus zentriert,so die Anthropologie des deutschen Idealismus um einen ethi-schen Anspruch. Es verstand sich von selbst, dass dieses Ethosnicht individuell, privatistisch, sozusagen als stoischer Rückzug

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Mensch – Natur auf die eigene Ehrenhaftigkeit und in die eigene Innerlichkeitwirksam werden sollte, sondern als eine in der Öffentlichkeit sichbewährende gesellschaftliche Verpflichtung. Die Sonderstellungdes Menschen implizierte eine hohe Verantwortung. In dieser Zeitkam die Kategorie ›Volk‹ auf, die von Fichtes Reden an die deutscheNation (1808) und Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie biszu Plessners Grenzen der Gemeinschaft und Die verspätete Nationeine Determinante in der Systematik anthropologischer Konstitu-entien bildete. Hören wir noch einmal Wilhelm von Humboldt:»Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von demganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung undseine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung,Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, alsmöglich, unter ihm herrschen, dass es seinen innern Werth so hochsteigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm,als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen grossen undwürdigen Gehalt gewönne. Man begnügt sich nicht einmal damit.Man fordert auch, dass der Mensch den Verfassungen, die er bildet,selbst der leblosen Natur, die ihn umgiebt, das Gepräge seines Wer-thes sichtbar aufdrücke […]« (ebd.: 284). Humboldt hatte hervorgehoben, dass der Mensch zur Ausbil-dung seiner Vermögen der gegenständlichen Welt bedürfe: »einGegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mitseiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegen-stand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke undseiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstandschlechthin, die Welt seyn […]« (ebd.: 285). Die Hingabe an denfremden Stoff, die ›Entäußerung‹, ist in der menschlichen Naturals Kraftäußerung notwendig angelegt. Der Mensch ist beständiggedrängt, »von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzu-gehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Ent-fremdung nicht sich selbst verliere […]« (ebd.: 284). HumboldtsFormulierung lässt die innere Unstimmigkeit des Entfremdungs-theorems erkennen. Denn es wird ein Selbst als inhaltlich be-stimmtes und gefülltes vorausgesetzt, das man verlieren könneund dessen Verlust zu vermeiden sei. Was aber ist dieses Selbst,solange es nicht aus den Beziehungen zu Anderen seine Inhaltebekommt? Das Ego wäre ohne die Fremdbestimmungen leer – eskönnte sich gar nicht verlieren, weil es nichts zu verlieren gäbe.Die Substanzialisierung der Seele rächt sich, indem sie zu einemBegriffsphantom wird: Die Seele an sich als das Selbst, das sich imEinlassen auf die Welt einem Fremden ausliefert. Das ist säkulari-sierte Gnosis – und dieser sinnlose Selbstbegriff, der erst als Refle-

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurxionsbegriff einen Inhalt bekäme, beginnt nun in der Anthropolo-

gie eine hochstaplerische Karriere.

Die irrationalistische Wende

In der einen oder anderen Weise wird mit der Berufung auf dieSonderstellung des Menschen, in der er aus dem Naturzusammen-hang herausgerückt ist und sich der Welt entgegensetzt und übersie erhebt, der Mythos einer doppelten Welt, oder ›Hinterwelt‹, wieNietzsche sagte, erneuert – einer natürlichen und einer transnatu-ralen Welt von höherer Dignität. In der Reaktion auf die Naturali-sierung des Menschen in Biologie, Physiologie und Medizin bilde-te sich die romantische Naturphilosophie heraus, die zwar den em-pirischen, experimentellen Naturwissenschaften gegenüber hoff-nungslos in Rückstand geriet und nur als wirklichkeitsfremde Sek-tiererei Bestand hatte; die aber in dem Zwischenfeld der Anthropo-logie, in der die psychischen Eigenschaften des Menschen sich inmancher Hinsicht und zunächst noch sehr weitgehend der Metho-de der rationalen Wissenschaften entzogen, ein Rückzugsgebietfand, in dem die Grenzen zwischen Wissenschaft, Philosophie undReligion verschwammen und fiktive Gedankengebilde an die Stellewohl begründeter Modelle treten konnten. Dieser Übergang sollkurz an zwei Beispielen vorgeführt werden. Carl Gustav Carus, einer der führenden Köpfe der Romantik undvon universeller Bildung, erneuerte das vormechanistische Natur-verständnis. Statt in der summativen und in Quantitäten auszu-drückenden Pluralität von Elementen begründete er das Wesen derNaturseienden in ihrer Struktur, in der entelechialen Ordnung ei-nes Organismus. Diese generelle naturphilosophische Konzeptionwandte er auf die Spezifik des Menschseins an. »Wir fügen nur dieBemerkung hinzu, dass man streng daran halten möge: es sei nichtdie Erscheinung der einzelnen Naturelemente oder Substanzen inder Organisation als das Menschliche anzusehen, sondern nur dieArt ihrer Zusammenstellung, die Form, in welcher sie geordnetsind, oder mit einem Worte, das Schema der Organisation könneals das eigentlich Menschliche betrachtet werden« (Carus 1958:81). Insoweit ist dies ein Rückgriff auf den leibnizschen Gebrauchdes Begriffs der substanziellen Formen (vgl. Holz 1997a: 339ff.)und steht in der Tradition einer Naturauffassung, die von Aristote-les über Leibniz bis zu Goethe und Hegel reicht. Während jedochdie aristotelische Tradition die Wesenheit (essentia) mit der Ein-heit von Materie und Form identifizierte, macht Carus die Naturer-

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Mensch – Natur scheinung zum Sekundärphänomen einer transzendenten Idee:»Wir müssen also vielmehr sagen: man könne am Menschen unter-scheiden die innere Idee seines Wesens, und das Schema, das Ab-bild dieser Idee in der Naturerscheinung. So ist das Schema jederund so auch der menschlichen Organisation abhängig von demLichte der sein Dasein bedingenden Idee. Man würde jedoch des-halb immer sehr irrig und wieder nur sehr sinnlich von dem Orga-nismus urteilen, wenn man behauptete, dass er von der Seele ge-baut werde, da er ja doch nur das Spiegelbild derselben ist« (Carus1958: 78, 80). Damit wird die Anthropologie von einer weltlichenWissenschaft, die einen Naturgegenstand hat, zu einem Zweig ei-ner platonisierenden, quasi religiösen Hermeneutik. Die Seele wirdzum eigentlichen Mensch-Wesen, der Leib ist nur ihre virtuelle Re-produktion. Der Mensch wird in eine Sphäre des Übernatürlichenversetzt. Es sei, sagt Carus, der »Seele als einer göttlichen Ideeund Vernunfterscheinung« gegeben, dass sie »zwar mit der Natursich verbinden […], aber von der Natur als einem ihrem WesenFremden niemals befriedigt werden könne« (ebd.: 106). Sie strebedaher unablässig zurück zu Gott, ihr Ziel sei »Errechung eines demGöttlichen gemäßen Lebens« (ebd.: 87). Sowohl der ontologische Gedanke des Zurückstrebens in eineneigentlichen, von der Materie befreiten Urgrund als auch der ethi-sche Gedanke eines dem Göttlichen gemäßen Lebens folgen demMuster der gnostischen Entfremdungs- und Erlösungsideologie, diein Varianten in der christlich-europäischen Geistesgeschichte im-mer wiederkehrt (vgl. Quispel 1951; Taubes 1984). Bleibt der mystisch-religionsphilosophische Hintergrund beiCarus noch verdeckt und wird nur als eine allgemeine romantizis-tische Stimmung und Lebenshaltung wahrnehmbar, so wird beiFranz von Baader die Anthropologie explizit zum Derivat einer re-ligiösen Metaphysik. Anthropologie schlägt in Eschatologie um:»Die Urbestimmung des Menschen war nämlich, ›das Paradies zubauen und selbes erst über die Erde, sodann übers ganze Univer-sum zu verbreiten‹ – d.h. die von der höhern ewigen Natur ab- undherausgekehrten Zeitwesen (Kreaturen) mit der Krone ihres Lebenswieder in die Ewigkeit einzukehren und zu verzücken« (Baader1831: 267). Von einer solchen Einstellung muss auch der Autono-mie-Anspruch des Denkens, Erkennens und Wissens bestritten so-wie die Einheit von Wissen und Glauben postuliert werden. »Wasnämlich das Grundfassen (Sich-stützen) für das freie Bewegen ist,was das Motivieren (in einen Beweggrund Eingehen) für das Wol-len, das ist das Glauben für das Schauen und Erkennen, und wieman sich nicht frei bewegen kann, ohne Grund zu fassen, und

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurnicht Grund fassen kann ohne freies Bewegen, so kann man seine

Vernunft nicht gebrauchen, ohne frei zu glauben, und nicht glau-ben, ohne von seiner Vernunft Gebrauch zu machen. […] Das Prob-lem, welches die Philosophen und Theologen (zur Herstellung ei-ner genügenden Theorie des Glaubens und Wissens) zu lösen ha-ben, ist also kein anderes, als zu zeigen, wem oder an (in) wen derMensch jedesmal wirklich glaubt, an wen er (besonders bezüglichseines Wissens) glauben kann und nicht kann, endlich an wen er,von seiner Vernunft Gebrauch machend, glauben soll oder nichtsoll« (Baader 1954: 54, 59). Natürlich hat eine solche Einstellung im »wissenschaftlichenZeitalter« (Brecht) außer in sektiererischen Kreisen keine Nachfol-ge gefunden. Die Kriterien, denen eine wissenschaftlich akzeptableTheorie genügen muss, sind immer schärfer gefasst worden. Dochdie in der romantischen Naturphilosophie als Gegenzug gegen denEmpirismus der positiven Einzelwissenschaften hervortretende Ir-rationalität, die den Übergang von Theorie in nur noch fideistischhinzunehmende Transzendenzentwürfe legitimiert, hat in der An-thropologie nachhaltige Spuren hinterlassen. Das Verhältnis vonMensch und Natur wurde einseitig zu Gunsten einer wertprioritärenSonderstellung des Menschen zerrissen. Von dieser Überhöhungdes Menschseins ist auch noch die erste moderne Anthropologie im20. Jahrhundert, die Max Schelers, geprägt.

Max Scheler: Der Mensch als animal metaphysicum

So, wie sich die Fragestellung der philosophischen Anthropologieim Spannungsfeld von christlicher Tradition, Aufklärungsphiloso-phie und Naturwissenschaften entfaltete, musste sie sich auf dieBestimmung der Stellung des Menschen im Verhältnis zur Naturzuspitzen. Max Scheler hat dem schon im Titel seiner AbhandlungDie Stellung des Menschen im Kosmos Ausdruck gegeben, und erließ keinen Zweifel daran, dass er damit die ›Sonderstellung‹ desMenschen gegenüber allen anderen Lebewesen meinte (Scheler1947: 10). Scheler bezieht seinen Ansatz auf die drei klassischenTraditionsstränge – die christliche theologische Auffassung vonder Geschöpflichkeit des Menschen und seiner Besonderheit ge-genüber allen anderen Kreaturen Gottes als ›Gottes Ebenbild‹(imago Dei); die griechische philosophische Auffassung vom Men-schen als dem Vernunftwesen (���ν λ�γ�ν '��ν, animal rationa-le), eine Auffassung, die sich in der Philosophie seit Descartes mitdem Gedanken der Autonomie, Selbstbestimmung aus Vernunft-

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Mensch – Natur gründen und also Freiheit des Menschen verbindet; und der natur-wissenschaftlichen Auffassung, der Mensch sei die bisher letzteStufe der Evolution, also das entwickeltste Naturwesen. Diese drei›Ideenkreise‹ seien indessen nicht homogenisierbar, in den gängi-gen populären und wissenschaftlichen Vorstellungen vermischtensich Elemente aus allen drei Quellen, »eine einheitliche Idee vomMenschen aber besitzen wir nicht« (ebd.: 9). Prinzipiell unverein-bar sei insbesondere eine biologisch-morphologische Betrachtungs-weise und eine Reflexion auf den »Wesensbegriff des Menschen«.Ob überhaupt und wie ein solcher, von der Natursystematik totocoelo verschiedener Wesensbegriff gewonnen werden könne, sei dieerste Frage, die eine philosophische Anthropologie sich vorzulegenhabe. In der Tat werden wir finden, dass in der ›Gründerphase‹ derAnthropologie, also bei Scheler, Plessner und Gehlen, das Abgren-zungsproblem gleichermaßen im Mittelpunkt steht und jeweils aufandere Weise behandelt und aufgelöst wird. Für eine Untersuchung, die zunächst eine Aussonderung ihresGegenstandes, eine Abgrenzung ihres Feldes vornehmen will undmuss, bietet sich die phänomenologische Methode an, die durchUnterscheidung von charakteristischen Merkmalen von Gegen-standsregionen zu einer immer genaueren Bestimmung des Wesenseiner Sache fortschreitet. Im ursprünglichen Sinne heißt phäno-menologisches Vorgehen »einfach und schlicht das jeweils Gegebe-ne zu beschreiben, und zwar so unvoreingenommen als möglich, sogenau als möglich und so vollständig als möglich« (Diemer/Fren-zel 1958: 259). Weiter kann man sagen, dass dieses Vorgehen imtrennenden Unterscheiden (δια�ρεσις), im Herauspräparieren cha-rakteristischer Merkmale aus erscheinenden Merkmalskomplexen(Analyse) und in der genauen Beschreibung dieser Merkmale be-steht. »Vom Anfang bis zum Ende wird nun die Methode bezeich-net als Analyse und Deskription dessen, was in der reinen oder ur-sprünglichen Anschauung gegeben ist […]. Deskription steht dabeiim Gegensatz zu Konstruktion, Erklärung und Hypothesen als Aus-gangspunkt der Forschung. […] Die Deskription sollte nicht kon-struierend vorgehen« (ebd.). Max Scheler hatte diese Methode inseinem früheren Werke Wesen und Formen der Sympathie mit gro-ßer psychologischer Feinfühligkeit angewandt. Bei einer Beobachtung der uns umgebenden Welt fällt zunächsteine grobe Zweiteilung in einen anorganisch-leblosen und einenorganisch-lebendigen Bereich auf. Das eine große Problem für eineeinheitliche Konzeption des Seienden war immer der Übergang vonder anorganischen Materie zum Lebendigen. Von diesem Problemist die Anthropologie im Sinne Schelers nicht betroffen, denn der

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurMensch gehört ganz und gar zur Region des Lebens. Ob er über-

haupt wesensmäßig oder gar ausschließlich in eine Klasse mit al-lem Lebendigen gehöre, ist die Frage, die Scheler stellt. Um diese Frage zu entscheiden, betrachtet Scheler die ver-schiedenen Aspekte oder Modi des Lebendigseins, die auch als›Schichten‹ im Aufbau der lebendigen Substanzen oder als Ent-wicklungsstufen des Lebens beschrieben werden können. Um zuvermeiden, dass in die Beschreibung schon Interpretationsschema-ta oder Erklärungsmuster eingehen, will er sich auf das beschrän-ken, was ›voraussetzungslos‹ beobachtet werden kann: das Verhal-ten. »Das ›Verhalten‹ eines Lebewesens ist immer Gegenstand äu-ßerer Beobachtung und möglicher Beschreibung. […] Jedes Ver-halten ist immer auch Ausdruck von Innenzuständen. […] Das›Verhalten‹ ist das deskriptiv ›mittlere‹ Beobachtungsfeld, von demwir auszugehen haben« (Scheler 1947: 17). Verhalten nennt Sche-ler ganz allgemein die durch Veränderung in der Lebensaktivitäteines Lebewesens sich äußernde ›Antwort‹ auf äußere (und beihöheren Lebewesen damit verbunden auch ›innere‹, ›motivische‹)Einflüsse. In diesem Sinne ›verhält sich‹ alles Lebendige zu seinerUmwelt. Scheler macht dabei die Annahme, dass »Verhalten« im-mer auch eine – allerdings keineswegs immer bewusste – Selbstbe-züglichkeit des sich verhaltenden Wesens einschließt, dass »Lebe-wesen […] ein Fürsich- und Innesein besitzen, in dem sie sich sel-

2ber innewerden« (ebd.: 11). Jedenfalls gewinnt Scheler seine Wesensanalyse des Lebendi-gen aus der Beschreibung von Verhaltenstypen, deren vier er anden Erscheinungsformen des Lebendigen unterscheidet: Erstens: Allem Lebendigen eignet eine unspezifische Gerichtet-heit auf die äußere Welt, die Scheler Gefühlsdrang nennt; dieserGefühlsdrang ist die Seinsweise des Lebewesens, die dem ent-spricht, dass es als Lebewesen für die Erhaltung seiner individuel-len Existenz und für seine Fortpflanzung darauf angewiesen ist,Stoffe aus der äußeren Welt aufzunehmen, zu assimilieren, zu ver-brauchen. Der ›Stoffwechsel‹ unterscheidet die lebendige von dertoten Materie, die nur mechanischer Einwirkung und Wechselwir-kung unterliegt. Die Spezifik des Stoffwechsels hat zur Folge, dassdas Lebewesen auf bestimmte Außenweltgegebenheiten ›hingeord-net‹ ist und andere ›vermeiden‹ muss. Die Offenheit für das Andere

2 | Hier schleicht sich in die Beschreibung dann doch eine Deutungska-tegorie ein und man mag sich fragen, ob theoretisches Beschreiben je ganzauf Interpretationen, sei es auch nur in der Form von Metaphern, verzichtenkann.

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Mensch – Natur wird als ›Reiz‹ erfahren, der Reiz ist die Form der Einwirkung aufder höheren Stufe der spezifischen Betreffbarkeit durch die Au-ßenwelt im eigenen Daseinsverlauf. Reiz und Gefühlsdrang sindKorrelate. Der Gefühlsdrang ist undifferenziert, »ein bloßes ›Hin-zu‹, zum Beispiel zum Licht, und ›Von-weg‹, eine objektlose Lustund ein objektloses Leiden sind seine zwei einzigen Zuständlich-keiten. […] Zwar ist der Gefühlsdrang der Pflanze bereits auf ihrMedium, auf ein Hineinwachsen in es nach den Grundrichtungen›oben‹ und ›unten‹, dem Lichte und der Erde zu, hingeordnet, aberdoch nur auf das unspezifizierte Ganze dieser medialen Richtun-gen, auf mögliche Widerstände und Wirklichkeiten in ihnen« (ebd.:12). Die Umwelt ist das Medium, in dem die lebendige Substanzsich verausgabt, reproduziert, fortpflanzt – aber dieses Medium istfür den Gefühlsdrang noch nicht nach bestimmten Umweltbestand-teilen, »denen besondere Sinnesqualitäten oder Bildelemente ent-sprächen« –, gegliedert. Sie ist eine Melange von Stoffen, aus derdas Lebensnotwendige herausgezogen wird. Die Reaktion des Le-bewesens auf die Gunst oder Ungunst dieses Mediums ist ein vege-tatives Gedeihen oder Verkümmern, und die Grade der Ausprägungder Artmerkmale, von üppig bis kärglich, kann man dann auch alsdie einfachsten (vorbewussten) Formen des Ausdrucks, als einegewisse »Physiognomie der Innenstände« auffassen, als eine Art›Selbstdarstellung‹, die der Biologe Adolf Portmann neben Wachs-tum und Fortpflanzung für das dritte Wesensmerkmal alles Leben-digen gehalten hat. Ob die vegetative Reaktion auf die Förderlich-keit der Umweltumstände schon als Lust, auf die Widrigkeiten alsUnlust bezeichnet werden darf und damit Lust und Unlust zu ele-mentaren Bewegungsprinzipien des Lebendigen gemacht werdenkönnen, ist wohl eher eine terminologische Frage. Wohl aber mussder Übergang von mechanischer Wechselwirkung zu einem Rück-kopplungssystem von Reiz und Reaktion im Dienste von Lebens-vollzügen als die Ursprungsstelle teleologischer Beziehungen an-gesehen werden. Zweitens: Die nächst höhere oder komplexere Stufe der Au-ßenweltbeziehung ist der Instinkt. Instinkte nennen wir »ein Ver-halten, das folgende Merkmale besitzt: Es muß erstens sinngemäßsein, das heißt[,] es muß so sein, daß es für das Ganze des Le-bensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder dasGanze anderer Lebensträger teleoklin, das heißt eigendienlich oderfremddienlich ist. Und es muss nach einem festen, unveränderli-chen Rhythmus ablaufen. […] Der Instinkt ist stets artdienlich, seies der eigenen, sei es der fremden Art, mit der die eigene Art ineiner wichtigen Lebensbeziehung steht. […] Das instinktive Ver-

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurhalten ist daher niemals eine Reaktion auf die von Individuum zu

Individuum wechselnden speziellen Inhalte der Umwelt, sondern jenur auf eine ganz besondere Struktur, eine arttypische Anordnungder möglichen Umweltteile« (ebd.: 17f.). Instinkte sind genetischfestgelegte Verhaltensprogramme, die wesentliche Züge der Um-weltbeziehung des Lebewesens unabhängig von individuellen Er-fahrungen und deren Verarbeitung regeln. Instinktives Verhaltenist reaktiv auf streng selegierte Eindrücke, die als ›Auslöser‹ fun-gieren. Die Verhaltensweisen eines Lebewesens auf dem Niveau ei-ner durch Instinkte geprägten Organisation seiner (quasi) psychi-schen Prozesse sind nur in einem sehr engen Rahmen modifika-tionsfähig, wodurch der Lernfähigkeit und Ausbildung der Intelli-genz deutlich Schranken gesetzt sind. Lernen findet sozusagen in

3den vom Instinkt nicht besetzten Räumen statt. Drittens: In solchen Freiräumen der Instinktprägung entwickeltsich das ›gewohnheitsmäßige Verhalten‹, das die Assoziation ähnli-cher Situationen (und mithin Gedächtnis) voraussetzt und die Re-produktion von gleichen Reaktionen einschließt. Der ›bedingte Re-flex‹ – den Iwan Petrowitsch Pawlow als die unterste Stufe des Ler-nens untersucht hat und der, den abstraktiven Fähigkeiten vor-ausgehend, Dressurakte ermöglicht – ist eine Erscheinung auf die-sem Niveau des Verhaltens. Den ›Wiederholungstrieb‹ betrachtetScheler als angeboren, die Ausbildung von Gewohnheiten in derFolge von trial and error als Ableitung davon. Immerhin kann soaus Wiederholung eigenen und Nachahmung fremden Verhaltensschon auf früher Stufe so etwas wie Tradition entstehen (natürlichnicht bewusst und reflektiert), eher ein Konservativismus derTriebstruktur, der die individuelle Orientierung im eigenen Le-

4bensbereich ermöglicht. Viertens: Die höchste Stufe, die der lebendige Organismus er-reicht, ist »die vierte Wesensform des psychischen Lebens«, die»prinzipiell noch organisch gebundene praktische Intelligenz«, diesich durch »Wahlfähigkeit und Wahlhandlung, Vorzugsfähigkeitzwischen Gütern und […] zwischen den Artgenossen im Prozeß derFortpflanzung (Anfänge des Eros)« (ebd.: 29f.) auszeichnet. Sinn-volles Verhalten in neuen Situationen, die weder artspezifisch, alsoinstinktgeregelt, noch individual typisch, also durch Gedächtnisund Gewöhnung programmiert, sind, erfordert »Einsicht in einenzusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt,

3 | Arnold Gehlen wird seine Theorie von diesem Befund her entwickeln.4 | Auch Lukács hat nachdrücklich auf die Lebensdienlichkeit von repro-duktiven Akten hingewiesen.

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Mensch – Natur der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorherwahrgenommen wurde, das heißt reproduktiv verfügbar wäre. […]Für dieses nicht reproduktive, sondern produktive Denken ist alsokennzeichnend immer die Antizipation, das Vorher-Haben einesneuen, nie erlebten Tatbestandes« (ebd.: 30). Das Lebewesen musslernen zu unterscheiden und Abstraktionen vorzunehmen; es kanndabei auch schon die Möglichkeit entdecken, Mittel für die Trieb-zielbefriedigung einzusetzen. Wir sehen, dass Scheler hier dasÜbergangsfeld zwischen Tier und Mensch beschreibt, dass er diefrühmenschliche Intelligenz, ihre praktische Ausrichtung auf einZiel, die abstrakte Strukturierung der Umwelt nach Zweckbezügen,die »Vergegenständlichung der erlebten Triebhandlungskausali-tät«, schon bei den höheren Tieren findet und also durch die Be-schreibung der Phänomene eigentlich auf die evolutionäre Einheitder Natur einschließlich des Menschen geführt werden müsste. Um-so zentraler ist für seine These von der absoluten Sonderstellungdes Menschen die Behauptung, die eben beschriebene Intelligenzsei prinzipiell noch organisch gebunden – eine Behauptung, dienicht mehr deskriptiv, sondern interpretativ ist; denn damit wirdeinerseits die Einheit aller vier Stufen des lebendigen Fürsichseinsbestätigt (samt einer möglichen evolutionären Interpretation), undandererseits eine davon essenziell verschiedene Seinsstufe antizi-piert, die der organischen Bindung entbehrt. Durch eine verhaltensdeskriptiv verfahrende Stufentheorie desLebendigen vorbereitet, erschleicht sich Scheler so den Anscheineines durch reine Phänomenbeschreibung legitimierten Übergangszu einer neuen, ganz anderen Seinsart, obwohl er die Annahme derAndersheit tatsächlich vorausschickt und also in Wirklichkeit eineµετ�ασις ε*ς λλ� γ$ν�ς auf der Ebene der Methode – von derdeskriptiven zur eidetischen, von der Empirie zur Konstruktion –vollzieht. Der ›Wesensunterschied‹ des Menschen gegenüber allenanderen Lebewesen wird nun metaphysisch formuliert. »Das, wasden Menschen allein zum ›Menschen‹ macht, ist nicht eine neueStufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der einen Mani-festationsform dieses Lebens, der ›Psyche‹ –, sondern es ist ein al-lem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschenentgegengesetztes Prinzip, eine echte neue Wesenstatsache, dieals solche überhaupt nicht auf die ›natürliche Lebensevolution‹ zu-rückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf denobersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselbenGrund, dessen eine große Manifestation das Leben ist« (ebd.: 35). Scheler weist zwei Deutungen des Menschseins zurück: einmaldie sozusagen human-biologische, dass allein der Mensch Intelli-

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurgenz und Wahlfähigkeit besitze und darin seine Eigenart gegen-

über den Tieren bestehe (denn dann bliebe der Mensch doch nochein, wenn auch ganz besonderes, Naturwesen); zum anderen dieevolutionsbiologische, dass zwischen Mensch und Tier nur eingradueller, kein prinzipieller Unterschied bestehe. Scheler postu-liert eine innerweltlich nicht ableitbare Seinssphäre, die des Geistesund seiner anthropologischen Realität als Person. Er muss dieseHypothese – nach seiner eigenen methodologischen Vorentschei-dung – so rechtfertigen, dass er die Wesenseigentümlichkeiten desGeistigen als inkommensurabel mit allen Ausdrucksformen der Vi-talsphäre beschreibt. Er tut dies wieder in vier Schritten. Erstens: Vom Tier, das in einem geschlossenen System mit sei-ner Umwelt lebt, unterscheidet sich die menschlich-geistige Persondurch die Weltoffenheit, die sich herstellt, wenn die Elemente desBezugssystems Umwelt in ihrem besonderen Ansichsein als Gegen-stände oder Sachen herausgehoben und in ihrem So-sein erfasst wer-den. Vergegenständlichung und Erkenntnis der Sachen an sich selbst(statt nur als Korrelate des Handelns des Lebewesens) bewirken, dassdie Umwelt sich zu einer Welt ausweitet, in der wir von einem Gegen-stand zum anderen weiter gehen – und immer weiter, prinzipiell bisins Unendliche. Zweitens: Der Mensch ist nicht nur für sich, sondern er ist sichseines Fürsichseins bewusst. Das heißt, er kann nicht nur die Ele-mente seiner Umwelt vergegenständlichen, sondern auch sichselbst. Selbstbewusstsein und Selbstvergegenständlichung sind Re-sultate der Vergegenständlichung der Elemente der Umwelt. Indemich diese aus dem Bezugssystem herauslöse und aus sich selbst er-fasse, löse ich auch mich selbst aus der Eingebundenheit in dasBezugssystem und stelle mich den Gegenständen gegenüber (vis-á-vis des objets). Das bedeutet aber zugleich, dass ich mich als dasden Gegenständen Entgegengesetzte selbst erfasse, also Gegen-stand meiner selbst sein kann. Selbstbezüglichkeit oder Reflexivitätfolgt aus der Auflösung der animalischen Umwelt-Einheit in diehumane Subjekt-Objekt-Dualität. Drittens: Im geschlossenen System der Umwelt des Tieres sinddie Antriebe des Handelns auf eine beschränkte Zahl von lebens-und arterhaltenden Funktionen zugespitzt. Das Handlungssystemweist nicht über sich hinaus, Trieb und Triebbefriedigung haltensich im Gleichgewicht. Im offenen System einer unendlichen Weltist das anders. Jeder Zustand ist nur ein Zwischenzustand im Blickauf eine über ihn hinausreichende Wirklichkeit, die sich hinterdem hier und jetzt Erreichten öffnet. Die Seinsweise eines weltof-fenen Wesens ist das Überschreiten, im Wollen ebenso wie im Er-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur kennen. Auf der Ebene des Vitalen bedeutet dies, dass das Gleich-gewicht von Trieb und Triebbefriedigung aufgehoben ist, es gibteinen Triebüberschuss, der den Menschen dahin führt, seine Be-dürfnisse immer mehr auszuweiten, immer neue Ziele in sein Stre-ben aufzunehmen und bei keinem erreichten Ziel stehen zu blei-ben. Sich im erfüllten Augenblick nicht abschließen zu können, isteine Eigenschaft, die nicht mehr in die Sphäre des Lebens einge-passt werden kann, sie ist »nur einem (geistigen) Wesen möglich,dessen Triebunbefriedigung stets überschüssig ist über seine Be-friedigung« (ebd.: 42). Bis hierhin wird deutlich, dass der Übergang von der Vitalsphä-re zur Geistsphäre sich zwar als Übergang zu etwas qualitativ Neu-em darstellt, aber eben doch so, dass die neuen WesensmerkmaleWeltoffenheit, Selbstbewusstsein, Triebüberschuss auch als Resul-tat von Entwicklungen innerhalb des Tierreichs zu immer komple-xeren und differenzierteren Verhaltensweisen gegenüber der Ding-welt begriffen werden können. Wenn Scheler zum Beispiel auch beihöheren Tieren schon einfache Zweck-Mittel-Konstruktionen er-kennt, dann hindert ihn nichts, eine allmähliche Iteration dieserBeziehungskette als Anfang des Konstitutionsprozesses der neuenSphäre zu denken. Die Behauptung, deren Rückführung auf natür-liche Lebensevolutionen sei unmöglich, ist weder berechtigt, nochtheorieintern nötig. So läuft für die Befestigung der unvergleich-baren ›Sonderstellung des Menschen‹ alles auf den vierten Ge-sichtspunkt in Schelers Analyse hinaus, der nun allerdings eindurchaus metaphysischer ist. Viertens: Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist seingeistiges Verhalten zur Welt, wie es in Weltoffenheit, Vergegen-ständlichung und Sachlichkeit, Reflexivität und permanentemÜberschreiten begründet ist. Alle materiellen Prozesse, auch dieorganischen und sogar die psychischen, können an einem ›Träger‹festgemacht werden, an dem sie sich vollziehen oder vollziehenkönnen (Potenzialität!), der die Bedingung der Möglichkeit ist,dass sie wirklich werden, und dessen Seinsmöglichkeiten sie sind.Demgegenüber ist der Geist, nach Scheler, etwas ganz anderes. Erist nicht eine natürliche, organische Möglichkeit des Lebewesens,das dann Mensch wird, wenn er sich ausbildet; sondern er kommt –sozusagen von außen – zur animalischen Substanz hinzu, sobaldein Mensch entsteht. Was Geist ist, können wir nur beschreiben,indem wir geistig tätig sind (also Geist ›haben‹), der Geist ist au-ßerhalb des Vollzugs der geistigen Tätigkeit nicht zu erfassen. Erist nichts anderes als der unaufhörliche Prozess seiner Selbstre-produktion. Darum kann er auch nicht zum Gegenstand seiner

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AnthropologiephilosophischenAuf dem Weg zurselbst werden. »Der Geist ist das einzige Sein, das selbst gegen-

standsunfähig ist, – er ist reine, pure Aktualität, hat sein Sein nurim freien Vollzug seiner Akte. Das Zentrum des Geistes, die ›Per-son‹, ist weder gegenständlich noch dingliches Sein, sondern nurein stetig selbst sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ord-nungsgefüge von Akten. […] Die Ideen sind nicht ›vor‹, nicht ›in‹und nicht ›nach‹ den Dingen, sondern ›mit‹ ihnen und werden nurim Akte der stetigen Weltrealisierung (creatio continua) im ewigenGeiste erzeugt« (ebd.: 44f.). Der Geist ist, in Anlehnung an denphilosophischen Sprachgebrauch der mittelalterlichen Scholastik,actus purus, und weil der Mensch als Person actus purus ist, erhebter sich prinzipiell und unüberbrückbar über alle Lebewesen. SeinLeib mit allen seinen Funktionen gehört zur animalischen Vital-sphäre, nur als Geist-Person, die sich welt- und wertschaffend ver-wirklicht, ist der Mensch. Der mythologische Dualismus der Gnosis kehrt in dieser Lehrewieder – die Vorstellung, der Geist sei im Menschen in die mindereStofflichkeit des Leibes, in die Materie verbannt, stecke darin wiein einem Gefängnis und sei eigentlich erst vom Körper abgelöst inseiner wahren Existenzform. »Das Zentrum, von dem aus derMensch die Akte vollzieht, durch welche er seinen Leib und seinePsyche vergegenständlicht, die Welt in ihrer räumlichen und zeitli-chen Fülle gegenständlich macht – es kann nicht selbst ein ›Teil‹eben dieser Welt sein, kann also auch kein bestimmtes Irgendwound Irgendwann besitzen – es kann nur im obersten Seinsgrundeselbst gelegen sein« (ebd.: 44). Das ›wahre Selbst‹ des Menschen ist also für Scheler nicht welt-lich. Indessen liegt in der Wiederaufnahme des Konzepts actus pu-rus eine nicht nur philosophische, sondern auch theologischeSchwierigkeit. Die christliche Philosophie des Mittelalters bestimm-te das Wesen Gottes als actus purus. Dem Personsein des Menschenden gleichen Seinsmodus zuzusprechen, heißt dann, ihn in dieSphäre des Göttlichen zu heben. Der actus purus kann nicht nocheinmal gestuft sein – ein gleichsam minderer Akt des Menschseinsund ein höherer, vollkommener Akt des Gottseins; denn ein reinerAkt ist eben in seiner Reinheit nicht mehr graduell zu steigern,›reiner als rein‹ geht nicht. Die Geistperson ist Gott qualitativ äqui-valent – ein Gedanke, der theologisch nur als äußerste Häresiebetrachtet werden kann. In der Tat muss Scheler konsequenterwei-se die Vorstellung von Gott auflösen: Gott ist nur der Vollzug allergeistigen Akte und Prozesse der Weltgeschichte, er ist also nicht,sondern er wird, und der Mensch hat teil an seinem Werden, ist alsgeistig Tätiger ein Moment Gottes, »ein wahrer Teil dieses trans-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur zendenten Prozesses selbst«, es sind »Mensch und Gottwerdunggegenseitig aufeinander angewiesen« (ebd.: 84). Scheler nähertsich damit gewissen mystischen Lehren, die den Menschen und dasGöttliche im ›werdenden Gott‹ integrierten – und seine religions-philosophische Auslegung von Anthropologie und Metaphysik kannebenso wenig wie die der Mystiker vor einer strengen Theologie be-stehen – schon darum nicht, weil, wie Scheler sagt, »wir die theis-tische Voraussetzung leugnen: einen geistigen, in seiner Geistig-keit allmächtigen persönlichen Gott. Für uns liegt das Grundver-hältnis des Menschen zum Weltgrund darin, dass dieser Grund sichim Menschen […] selbst unmittelbar erfasst und verwirklicht«(ebd.). Was Scheler hier macht, ist die Umkehrung von FeuerbachsAnthropologisierung der Theologie. Hatte dieser die Vorstellungvon Gott als Projektion der Erfahrungsgehalte des Menschseinsentlarvt, so leitet Scheler die Vorstellungen vom Menschen aus derIdee eines rein geistigen Ens a se, eines absoluten Seins als Ge-schehen her. Der Boden einer wissenschaftlich verantwortbaren, rationalen,phänomenologischen Anthropologie ist damit längst verlassen, derPunkt, an dem die scheinbar exakte Deskription der biologischenWesensgestalten des organischen in weltanschauliche Fiktion um-schlägt, haben wir bestimmen können. Die Aufhebung der Biologiein Mystik bereitet aber, wie wir später sehen werden, die Mystifika-tion der Biologie vor.

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Helmuth Plessner: Von der deskriptiv- zurtranszendental-phänomenologischen Methode

Scheler hatte den Versuch unternommen, den Aufstieg von denSeinsweisen des Lebendigen zur metaphysischen Besonderheit desGeistigen auf einem durch das Verfahren phänomenologischer De-skription vorgezeichneten Weg zu vollziehen. Er versuchte so, demAbsprung in eine theologische Metaphysik in der Empirie sozusa-gen eine Sprungschanze zu verschaffen, deren Bahn seinem Ge-dankenflug schon im Bereich der Erfahrung so viel Kraft und einesolche Richtung gewährleisten sollte, dass er über den Boden desverhaltenstheoretisch Beschreibbaren hinausgetragen würde. Dassin die ›Wesensanalyse‹ der Seinsweisen und in ihre typologischeKlassifikation schon implizite metaphysische Strukturierungsprin-zipien und auch ungeklärte methodologische Vorannahmen ein-gegangen sind, hat Scheler nicht gesehen oder nicht sehen wol-len. Dem Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, war eshingegen schon im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Ideenzu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo-sophie klar geworden, dass der Übergang von der Phänomenbe-schreibung zur Wesensanalyse Reduktionen einschließt, die inner-halb der Deskription selbst nicht mehr begründet werden können,dass vielmehr dann nach den Bedingungen der Möglichkeit einer

1Wesensform gefragt werden muss. Eine Wesensform, die das logi-

1 | »Jede theoretische Wissenschaft verknüpft eine ideell geschloßeneGesamtheit durch Beziehung auf ein Erkenntnisgebiet, das seinerseits be-stimmt ist durch eine oberste Gattung. Eine radikale Einheit gewinnen wirerst durch Rückgang auf die schlechthin oberste Gattung, also auf die jewei-lige Region und die regionalen Gattungskomponenten, d.i. auf die in einerregionalen Gattung sich einigenden und sich eventuell aufeinander grün-denden obersten Gattungen. Der Bau der obersten konkreten Gattung (der

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur sche Zentrum bildet, auf das hin alle beschriebenen Merkmale sichordnen und dem sie als Akzidenzien beigefügt werden, kann nichtin der Beschreibung gefunden werden, sondern wird bei der in je-der Beschreibung eingeschlossenen Auswahl und Deutung der Da-ten schon vorausgesetzt. Beschreibungen geschehen im Rahmeneines ihnen vorgeordneten Auffassungshorizonts. Die deskriptivePhänomenologie erfordert daher nach Husserls späterem Verständ-nis eine transzendentale Begründung, und eben darum hat Husserl

2den Schritt zu einer transzendentalen Phänomenologie getan. Helmuth Plessner, der vor 1933 gleichzeitig und in geistigemAustausch und Widerstreit mit Scheler an der Universität Kölnlehrte, hat die Schwäche der Methode Schelers von Anfang an er-kannt und sie durch eine entschlossene Rückwendung von einernur scheinbar grundlegenden Bestimmung des Gegenstands derAnthropologie durch die Resultate der Erfahrungswissenschaften(Biologie, Psychologie, Soziologie) zu einer philosophischen Un-tersuchung der objektiven Konstitutionsfaktoren und -prozesse zubeheben versucht. Plessner gehört in jene Generation deutscher Philosophen, diezwischen den beiden Weltkriegen ihre Hauptwerke schrieben, dannvon den Nazis vertrieben und unterdrückt und um ihre Wirkunggebracht wurden und erst in höherem Alter nach dem Zweiten Welt-krieg in ihrer Heimat wieder Resonanz gefunden haben. Plessner,der nach dem Studium der Biologie sich erst der Philosophie zu-

Region) aus teils disjunkten, teils ineinander fundierten (und in dieser Wei-se einander umschließenden) obersten Gattungen entspricht dem Bau derzugehörigen Konkreta aus teils disjunkten, teil ineinander fundierten nie-dersten Differenzen; z.B. bei dem Dinge zeitliche, räumliche und materielleBestimmtheit. Jeder Region entspricht eine regionale Ontologie mit einerReihe selbständig geschlossener, eventuell aufeinander ruhender regionalerWissenschaften, eben den obersten Gattungen entsprechend, die in der Re-gion ihre Einheit haben. […] Die Wesensbeziehung aller abstrakten Gattun-gen auf konkrete und zuletzt auf regionale gibt allen abstrakten Disziplinenund vollen Wissenschaften Wesensbeziehung zu konkreten, den regionalen«(Husserl 1950: 165f.). In diesem Sinne entwirft Plessner eine Regionalonto-logie des Seinsgebiet ›lebendige Natur‹ bzw. ›organische Natur‹.2 | »Wenn wir in der Deskription irgend eines Aktes aussagen, er seiBewußtsein von einem Haus, einem Menschen, einem Kunstwerk usw., somuß doch die Geltung der Beschreibung davon abhängig sein, ob der Be-griff Haus etc. wirklich auf das im Akt Vermeinte paßt. Aber wie kann mandas wissen, wenn man gar nicht weiß, was diese Worte ›eigentlich besagen‹,und das ist doch wohl, was sie im Wesen besagen« (Husserl 1952: 86 f.).

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:wandte und dann im Kreis der Göttinger Dilthey-Schule um Georg

Misch seinen eigenen Weg fand, emigrierte zunächst 1933 in dieTürkei, lehrte von 1936-1951 in Groningen und kehrte mit knappsechzig Jahren nach Deutschland auf den neu eingerichteten Lehr-stuhl für Soziologie und Philosophie an der Universität Göttingenzurück, wo er auch zum Rektor gewählt wurde (vgl. X/302ff.). Plessners große Leistung ist die philosophische Begründungeiner von den Erkenntnissen der Biologie zur Besonderheit desMenschen aufsteigenden philosophischen Anthropologie. Er zeich-net einerseits die Kontinuität in der Entwicklung des Lebens aufder Erde nach, spürt aber andererseits die Nahtstellen auf, an de-nen in der Kontinuität des Evolutionsprozesses der Umschlag ineine neue Qualität des natürlichen Seins stattfindet, die weder mitden für die vorhergehenden Stufen entwickelten Kategorien mehrangemessen gefasst werden kann, noch in deren Systematik unter-zubringen ist. Ihm geht es darum, die Besonderheit des Menschenaus seinen natürlichen Bedingungen herzuleiten und sie zugleichals etwas ganz und gar Neues kenntlich zu machen. Es wäre allerdings ein Missverständnis, Plessner, etwa im Hin-blick auf seine Fachkompetenz als Biologe, im Zusammenhang ei-nes Naturalismus zu sehen, der sich von den empirischen Befun-den der Disziplinen leiten lässt, die die Phänomene des Lebendi-gen erforschen. Natürlich müssen die Erkenntnisse aus empirischerForschung mit der Wesensanalyse konvergieren (sonst wäre bei derWesensanalyse etwas falsch gemacht worden). »Dass eine philoso-phische Anthropologie im Kontakt mit den Wissenschaften stehenmuss, daran halte ich fest«, schreibt Plessner später in seinerSelbstdarstellung (X/318). Aber die Systematisierung und Integra-tion der Daten beruht auf vor-empirischen ontologischen Verfasst-heiten, auf dem »apriorischen Charakter der natürlichen Umwelthinsichtlich ihrer materialen Modi« (IV/73). Die »Durchführungder Anthropologie aufgrund einer Philosophie des lebendigen Da-seins und seiner natürlichen Horizonte« (IV/69) erfordert einetranszendentale Fundierung. Dieser Fundierung gilt schon Plessners wenig beachtete Früh-schrift Die Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918),in der er den philosophischen Rahmen absteckt, innerhalb dessensich seine anthropologische Arbeiten halten. Darin geht er von derDifferenz zwischen der immer gegebenen gegenständlichen Erfül-lung unseres Denkens (seinen Inhalten) und der Reflexion der Be-dingungen und Formbestimmtheiten dieses Denkens (als Denken,und das heißt: als so bestimmtes Denken) aus, »weil der Gegen-stand des Denkens nicht das Prinzip für die Besinnung über ein

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur ihn betreffendes Denken, nicht den Anweis zur Reflexion auf seinBedachtwerden enthält« (I/156). Das soll jedoch nicht die Ablö-sung von der Gegenständlichkeit bedeuten, sondern vielmehr dieFeststellung der Bedingungen für das Erscheinen oder sozusagender Bühne für das »Auftreten« des Gegenstandes, »welche nichtaußerhalb der Sache in den Schichten des Bewußtseins gesuchtwerden dürfen« (I/158). Einen Bewusstseinsidealismus will Pless-ner fernhalten, seine Kritik am Neukantianismus und Positivismus,aber auch an der Phänomenologie, ist ein Plädoyer für den er-kenntnistheoretischen Realismus. Dieser Realismus soll aber Ge-genständlichkeit nicht von der gegenständlichen Sache, sondernvom gegenständlichen Verhältnis her bestimmen, und dies schließteinen Rückgriff auf das Problem der Transzendentalität ein. Plessner macht dabei auf eine zirkelhafte Antinomie aufmerk-sam: »Daß der bewußte Gehalt gegenständlich sein muß, und zwarvon vornherein in seiner inneren Bestimmtheit, das läßt sich nurdann behaupten, wenn man die Tatsache seines Bewußtseinsschon hinzugezogen hat. […] Genau in der gleichen Weise kannman natürlich auch mit der ›anderen Seite‹ der Relation verfahrenund ebenso analytisch zeigen, daß das (bestimmte) Erleben immerund wesentlich ein Erleben von Etwas sein muß, woraus dannfolgt, daß Bewußtsein unbedingt auf den Gegenstand angewiesenist, notwendig ohne ihn keinen aktuellen Bestand haben kann«(I/162f.). Diese Antinomie ist unaufhebbar, wenn die Zweipolig-keit des Verhältnisses von Gegenstand und Bewusstsein nicht auf-gelöst wird, »weil die bloße Korrelation von Erleben und Gegen-stand nicht die innerliche Verschmelzung der entgegengesetztbleibenden Momente von Subjekt und Objekt herbeiführt, so daßdas reine Subjekt aus sich selbst allein das Objekt und umgekehrtdas Objekt das Subjekt mitsetzte« (I/164). Die Einheit dieses »un-getrennten aktuellen Beziehens, das im Ganzen genommen, diegegebene Tatsache des Erlebens ausmacht« (ebd.) und in der sicherst wirklich das ›gegenständliche Wesen‹ jedes Seienden konsti-tuiert (vgl. Holz 1983: 128ff.), setzt jedoch bereits eine Vermitt-lung der Pole voraus, die in der Praxis schon geleistet worden istund in der Theorie als Konstruktion eines Reflexionsverhältnissesnachvollzogen werden muss. »Erkennen bedeutet, ein Etwas inVerhältnisse bringen und dieses Etwas als Inbegriff von Funktionendarzustellen« (I/168). Diese Konstruktion kann nicht anders be-ginnen als mit der Setzung eines Apriori, das die Konstitutionsbe-dingungen dieses Verhältnisses evident formuliert. Als eine solcheapriorische Kategorie, die eine Wesensform der bestimmten res ex-tensa darstellt und die auf den verschiedenen Stufen der Aktuali-

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:sierung der Materialität spezifische Seinsweisen bedingt, erkennt

Plessner die Grenze; sie ist als solche eine transzendentale Bedin-gung der Möglichkeit jeder Gegenstandsgegebenheit. Es ist nicht die systematische Ordnung des empirisch gegebe-nen Stoffes einer Disziplin, um die es Plessner in seinen beiden an-thropologischen Hauptwerken, Die Einheit der Sinne (1923) undDie Stufen des Organischen und der Mensch (1928), geht; sondernes ist die Begriffsform einer Wissenschaft und deren Verhältnis zuder von ihr abgebildeten Realität, die er nachvollziehen will. Dasschließt dreierlei ein: die genaue Beschreibung des logischen (for-malen) Gehalts der Kategorien, die für eine Wissenschaft konstitu-tiv sind; den Aufweis, dass diese Begrifflichkeit den Sachen selbstentspricht, die zu der betrachteten Seinsregion gehören; undschließlich die Deduktion, dass in der Begriffsstruktur vor jederinhaltlichen Erfüllung durch Erfahrung die notwendige Formbe-stimmtheit der wissenschaftlichen Abbildung dieser Gegenstands-region präjudiziert ist. Genau darauf zielt das oben zitierte Wortvon dem »apriorischen Charakter der natürlichen Umwelt hinsicht-lich ihrer materialen Modi« (IV/73). Material sind diese Modi (oderSeinsweisen) der Naturgegenstände als von außen gegebene Inhal-te der Erfahrung und Gegenstände des Wissens; a priori aber sindsie, weil sie gar nicht anders als in der bestimmten Begriffsformgegeben sein können, in der sie gewusst werden. Ihre Materialitätist die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, die Apriorität ih-rer Form ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer Erscheinungswei-se, ihres Sich-Zeigens als das, was sie ihrem Wesen nach sind. Diese philosophische Wesensfrage, die eine zugleich ontologi-sche und erkenntnistheoretische ist, leitet die anthropologischenSystemschriften von Plessner. Darum konnte er auch die frühe, ausder Dissertation hervorgegangene Schrift Die Krisis der transzen-dentalen Wahrheit im Anfang, die ohne Bezug auf die FachdisziplinBiologie oder Anthropologie als streng erkenntniskritische ge-schrieben ist, immer als die methodisch wissenschaftstheoretischePropädeutik und Grundlage seines weiteren Werks betrachten. Gegenüber einer Auffassung, die die Wirklichkeit als eine blo-ße Menge, eine Ansammlung von lauter disparaten Einzelheitenhinnimmt, wie sie in momentanen Anschauungen gegeben ist, undihre Einheit nach Art eines Katalogs zusammenstellt, hält Plessnerfest, dass wir überhaupt nur eine Pluralität von Einzelnen erken-nen können, wenn wir auch eine qualitative Verknüpfung, eineSynthesis der einzelnen Tatsachen herzustellen vermögen. ReineAnalyse, die die komplexen Ganzheitseindrücke in ihre Elementezerlegt, ist ein zwar für die Erkenntnis notwendiges, aber stets ar-

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur tifizielles Verfahren. Analysis ist nur im Verein mit »dialektischerKonstruktion als synthetisches Denken« (I/212) aufschlussreich. Objektive Synthesis hat zwei Aspekte. »Die unendliche Diskre-tion mannigfaltiger Inhalte zeigt einerseits in sich ein vollkomme-nes Beieinander- und Ineinandersein der Anschauungen; die In-halte sind funktional koordiniert. Andererseits setzt sich die an-schauliche Mannigfaltigkeit als unabhängige Transzendenz gegenein mögliches Subjekt seiner Erkenntnis; das Anschauliche istfunktional subordiniert unter den Begriff« (I/213). Beide Synthe-sen, die anschaulich koordinierende und die begrifflich subor-dinierende, verweisen auf eine synthetisierende Instanz, ein Sub-jekt der Synthesis, an dessen Gegenstandsverhältnis die Sinnein-heit eines materiell erfüllten Handlungsraums erscheint. Die regu-lative Idee, die jeden möglichen Handlungsraum umfasst (also je-den aktuellen Handlungsraum, in dem das synthetisierende Sub-jekt ›sich setzt‹, in infinitum transzendiert), ist die Idee von Welt.Jede bestimmte und konkrete Umwelt verweist in ihrer begriffli-chen Verfassung a priori auf Welt. Im Übergang vom existenzialenSituiertsein zur Reflexion dieses Situiertseins, also im Übergangvom Stehen-in-einer-Situation zum Haben-dieser-Situation ent-springt aus dem bloßen Sich-Verhalten die Frage nach dem Verhält-nis der Elemente einer Situation, in der diese Elemente eine syn-thetische Einheit bilden. Und das reflektierende, fragende Subjektist nicht ein ›Gegenüber‹, sondern selbst ein Teil der Situation, einGlied des Verhältnisses. Die dem klassischen Erkenntnismodell zugrunde liegende Sub-jekt-Objekt-Dualität »genügt nicht, weil bloße Korrelation von Er-leben und Gegenstand nicht die innerliche Verschmelzung der ent-gegengesetzt bleibenden Momente von Subjekt und Objekt herbei-führt, so daß das reine Subjekt aus sich selbst allein das Objektund umgekehrt das Objekt das Subjekt mitsetzte. […] Denn Ichund Gegenstand sind nur die (asymptotisch zu setzenden) Grenzenjenes ungetrennten aktuellen Beziehens, das, im Ganzen genom-men, die gegebene Tatsache des Erlebens ausmacht« (I/164). EineAnthropologie, die den Menschen aus dem Gegensatz zur Welt derGegenstände begreift, verfehlt die innere Einheit der Welt, zu derder Mensch auch gehört. Sie wird eine Kluft zwischen Natur undGeist aufreißen und die spezifisch menschliche Weise des In-Seins,die sich in der Sinngebung als synthetischer Leistung bekundet,subjektivieren. Das ist die falsche Pointierung, die Kants Konzep-

3tion von Transzendentalität dem Problem gibt. Transzendentali-

3 | Kant definiert seinen Gebrauch des Wortes ›transzendental‹ derge-

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:tät wird zum Index einer subjektiv-idealistischen Ontologie, die

sich auf den Primat der Erkenntnistheorie stützt und sich letztlichin diese auflöst. Ein Weltbegriff, der je schon eine Leistung reflektierender Syn-thesis ist, kann als solcher nicht gebildet und vergegenwärtigtwerden, ohne dass die konstitutive Funktion des Subjekts im ge-genständlichen Verhältnis mitgedacht wird. In Die Stufen des Orga-nischen und der Mensch wird Plessner das unter dem Titel der »ex-zentrischen Positionalität« thematisieren. In Die Krisis der trans-zendentalen Wahrheit im Anfang erscheint das Problem in der Ge-stalt einer Reformulierung des Transzendentalitätsbegriffs, der nunnicht mehr subjektiv-idealistisch, sondern als eine »objektive

4Transzendentalität« gefasst wird. Plessner nimmt mithin als ers-ter eine entscheidende Verschiebung des Begriffs der Transzenden-talität vor, durch die ein systematischer Stellenwechsel der An-thropologie möglich wird. Der Anspruch einer subjekttheoretisch

5angelegten Anthropologie, an die Stelle der Ontologie zu treten ,wird zurückgenommen und die Anthropologie wird zum Zweig ei-ner umfassenden Dialektik der Natur. Transzendentalität bedeutetbei Plessner wohl die Fundierung eines Sachverhalts in den vor-empirischen – das heißt, nun aber auch in einem bedeutungsver-schobenen Sinn, ›apriorischen‹ – Bedingungen seiner Möglichkeit,aber er sucht diese Bedingungen der Möglichkeit nicht erkenntnis-theoretisch in den Formbestimmtheiten der Verstandestätigkeit,sondern ontologisch in den jede Erkenntnismöglichkeit schon be-dingenden allgemeinsten Formbestimmtheiten der Sache selbst:»Auf jeden Fall brauchen Bedingungen der Möglichkeit der Erfah-rung nicht Erkenntnisbedingungen zu sein. Es kann auch um dieMöglichkeit von Gegenständen und Substraten, an denen die Er-

stalt, dass es »bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge,sondern nur aufs Erkenntnisvermögen bedeutet« (Kant 1783: 71).4 | Das Konzept einer ›objektiven Transzendentalität‹ wird widerspiege-lungstheoretisch weiterentwickelt bei Holz 2003a: 63ff.; Zimmer 2003b:32ff.).5 | Martin Heideggers ›Fundamentalontologie‹ hält sich noch in dieserZweideutigkeit, die aus einer Ontologisierung anthropologischer Kategorienentspringt und die ebenso sehr eine Anthropologisierung ontologischerStrukturen ist. In dem Versuch, sich dieser Zweideutigkeit zu entziehen,geht Heidegger dann zu einer Theologisierung der Ontologie über, die nunaber wiederum, gemäß dem feuerbachschen Entlarvungsverfahren, als einehypostasierte Anthropologie interpretiert werden kann: »Das Geheimnis derTheologie ist die Anthropologie […]« (Feuerbach 1970: 243).

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur fahrung ansetzt, gestritten werden« (IV/121). Eine apriorischeFormbestimmtheit des Substrats der Erfahrung nennt er, weil sie inder Materialität des Naturgegenstandes gegeben ist, ein ›materia-les Apriori‹. Dass eine solche Theorie »mehr Verwandtschaft mit ei-ner Dialektik als mit einer Phänomenologie« hat, deutet Plessnerselbst an (IV/267). Es geht in Die Stufen des Organischen und der Mensch um eineTheorie, die die Wesensformen oder ›Strukturen‹ des Lebendigennicht zufällig ›aufliest‹, sondern sie als die Besonderheit eines or-ganischen Seienden aus der allgemeinen Verfassung von Seiendenselbst ableitet. »Wir fordern eine Entwicklung der Wesensmerkmaledes Organischen und anstelle der bisherigen Aufzählung, die reininduktiv vorging, wenigstens den Versuch einer strengen Begrün-dung. Unsere Aufgabe ist eine apriorische Theorie der organischenWesensmerkmale oder […] eine Theorie der ›organischen Modale‹,wobei unter Modal im Sinne von Helmholtz eine solche qualitativeLetztheit zu verstehen ist, die nicht durch Reduktion auf andereQualitäten weiter analysiert werden kann« (IV/158). Als Qualitätendes Seienden sind Modale immer durch die Sinne gegeben, eineTheorie der Modale ist eine Theorie der Erscheinungsweisen desWirklichen in ihrer Vermitteltheit durch die spezifischen Leistun-gen der Sinne, die verschiedene Wahrnehmungsregionen konstitu-ieren. »Anorganische Modale sind z.B. die Farbqualitäten. IhreQualität kann nie elektromagnetisch definiert werden. Das Qualesetzt der Physiker in eindeutige Beziehung zu einer bestimmtenWellenlänge und Geschwindigkeit, ohne auch nur im mindesten dieAbsicht zu haben, damit das spezifische Farbquale in seinem Für-sichsein, in diesem seinem besonderen Grün etwa zu erklären. Ertrifft eine reine Zuordnung zwischen dieser Farbe und quantitativfaßbaren Grundlagen ihres Seins« (IV/159). Die für eine Theorieder Modale in Anspruch genommene Apriorität ist nicht eine sol-che der Deduzierbarkeit aus rein logischen Formen (wie Kants Ka-tegorien aus den Formen des Urteils deduziert werden und darumeben auch formal bleiben), sondern eine Apriorität der letzten,nicht mehr weiter reduzierbaren Sachbedingungen eines Phäno-mens. Dabei wird die generische Andersheit von Bewusstseinsin-halten und Materialformen phänomenologisch festgehalten: »Waswir von der Welt wissen, haben wir aus Empfindungen unserer Sin-ne […]. Und Tatsache ist es, daß Naturwissenschaft und Psycholo-gie uns nicht eine Spur die Erscheinungsweise dieser Welt erklärenkönnen. Warum elektromagnetische Wellen von einer bestimmtenLänge und Schwingungszahl das qualitative Aussehen von Zinno-berrot, andere wieder vom Marineblau haben, sagt sie uns nicht

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:und will sie uns auch gar nicht sagen« (IV/23). Die mögliche Be-

gründung des Materialismus liegt nicht in der Reduzierbarkeit derQualitäten auf gemessene materielle Prozesse, sondern in ihrerUnablösbarkeit davon. Dagegen ist der ›Sprung‹ von einem Modal-bereich in einen anderen eine dialektische Kategorie der Naturphi-losophie. So wie Farben, Töne, Tastwahrnehmungen, Geruchs- und Ge-schmacksempfindungen jeweils einem bestimmten Sinn und seinenphysiologischen Korrelaten zugeordnet sind, ohne den sie nichterscheinen würden, so sind auch Weltverhältnisse lebender Körperan gewisse Formbestimmungen des Körpers gebunden; und ebendiese müssen als ›organische Modale‹ herausgearbeitet werden,wenn eine Theorie und nicht nur eine Beschreibung des Seinsbe-reichs ›Leben‹ gegeben werden soll. Von einer ›Anthropologie derSinne‹, die die Gegebenheitsweisen der anorganischen Aspekte derWelt außer uns (also auch der anorganischen Aspekte der organi-schen Natur) untersucht, geht Plessner in einem zweiten Schrittzur Analyse der apriorischen Formbestimmtheiten des Organischenüber, kraft deren ein Seiendes sich in der Einheit seines so und sobestimmten Daseinsvollzugs konstituiert. Dieser Schritt kann nicht mehr im analytischen Verfahren ge-tan werden. »Weil Erkennen bedeutet, ein Etwas in Verhältnissebringen und dieses Etwas als Inbegriff von Funktionen darzustel-len, so vermag die Analyse darin überhaupt nichts. […] So zerlegtsie wohl das Gegebene in alle möglichen Elemente und macht esauf diese Weise deutlich, wobei ihr die Elemente genau so faktischgegeben sind, wie ihr vor ihrer destruktiven Arbeit das Ganze derElemente gegenwärtig war« (I/168f.). Die ursprüngliche Erfahrung,die das Lebewesen, im Hinblick auf seine Lebenstätigkeit undÜberlebenstendenz auffasst und auslegt, ist nicht eine Erfahrungisolierter Eindrücke, sondern der ganzheitliche Auslöser eines Re-aktionsschemas, aufgrund dessen sich das Lebewesen in die Um-welt einbindet oder, wie Scheler mit einer schönen Metapher sagte,›verschränkt‹. Eine Situation besteht nicht aus einem Aggregateinzelner semantischer Atome, sondern stellt eine Sinneinheit derSinnesdaten dar. »Sinneseinheiten sind nicht natürlich, lassensich nicht ursprünglich im aktuellen Bewußtsein vorfinden, beste-hen nicht für sich kraft der unvermeidlichen Intentionalität derAktmeinungen, sondern gelten nur vermöge einer hergestellten Be-ziehung auf den Wert der Erkenntnis. Diese Beziehung bestehtnicht in dem absoluten Sein des reinen Bewußtseins, sondern giltals Ausdruck einer methodischen Komposition. Die Idee diesesAufbaus bedeutet das Prinzip, welches einen jeden Denkgebrauch

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur zum Denkgebrauch macht und ihn im Sinne seiner ursprünglichenZielsetzung regelt« (I/168). Dies ist der objektive, in der Funktio-nalität der Lebensbeziehungen begründete materiale Charakter derWahrnehmungsinhalte; die Rückbeziehung auf die Überlebens-funktionen und damit die Orientierung der Wahrnehmungsinhalteauf die Bedürfnisse, ›Interessen‹ und immanenten Zwecke der Le-bewesen ist die transzendentale Seite dieser Objektivität. Plessners Deutung des Organischen und, auf dessen am meis-ten ausgebildeter Stufe, des Menschen läuft nun darauf hinaus, inden genetisch primären Organen der Weltgegebenheit, den Sinnes-organen, die konstitutiven Prinzipien und Regeln aufzuzeigen,denen gemäß die Welt sich in qualitativen Erscheinungsbildernzeigt. Anders gesagt: Die Modalitäten der sinnlichen Rezeptivitätbestimmen den Modus des ›geistigen‹ Sinns, der die wirklicheMannigfaltigkeit zu einem perspektivischen Zusammenhang glie-dert. »Die Mannigfaltigkeit der Anschauung behält eine nicht mehrweiter zurückführbare, absolut unbegreifliche Ordnung an sich,welche die empirischen Wissenschaften in ihren Fragen begrenzt.Urtatsachen eines selbständigen, dem Bewußtsein sich aufdrän-genden Werdens offenbaren qualitativ nicht ineinander überzufüh-rende Ordnungsbeziehungen, wie Raum, Zeit, Zahl, primäre undsekundäre Qualitäten, kausale Veränderungen, physische Assozia-tion, organische Entwicklung. […] Das Resultat der Reflexion er-zeugt geradezu das Verlangen nach einem Unterbau dieser offen-bar synthetischen Verhältnisse« (I/224f.). Im Gegensatz zu einer subjektiv-idealistischen Fundamentie-rung dieses ›Unterbaus‹ in der Spezifik des geistigen Vermögensdes Menschen, dem für die moderne Anthropologie kennzeichnen-den Verfahren, sucht Plessner den Grund in der Form des gegen-ständlichen Verhältnisses, in dem sich das Lebewesen befindet. Fürdie Lehre vom Menschen bedeutet dies: »Nachdem die unbedingteSelbständigkeit des Angeschauten innerhalb der theoretischenEinstellung als für deren Möglichkeit unerläßlich erkannt ist, wirddas unendliche Streben, die Masse des begriffslosen Stoffs im Pro-zeß der Forschung zu überwinden, gerechtfertigt. […] Jede wis-senschaftliche Operation und Verknüpfung getrennter Einheiten zuneuen Einheiten ist dann nur vollziehbar, weil die Ordnung einmalnicht anders vorliegt, und jede Erkenntnis bedeutet daher Abbil-dung des Vorhandenen« (I/267, 227f.). Die Organisation des ›be-griffslosen Stoffs‹ zu einem materialisierten Sinn erfolgt nichtdurch eine kategoriale Verstandesprägung, sondern durch die In-teraktion und Interdependenz der Sinne, die sich lebensfunktionalausgebildet haben. Der Geist kommt nicht zum Leib des Menschen

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:als eine ›Sondergabe‹ hinzu, sondern erwächst aus der natürlichen

Entwicklung der Leibtätigkeiten. Die Welt ist die Welt unserer Sin-ne, aber diese sind das natürliche Medium der natürlichen Welthaf-tigkeit jedes Sinneswesens. Die transzendental auf das Subjekt alsMoment und Glied natürlicher gegenständlicher Verhältnisse ge-richtete Beschreibung des In-Seins führt auf die gründende (undbegründende) Rolle der Sinne in einer Ontologie des Lebendigen. Es ist ebenso trivial wahr wie irreführend, mit dem englischenSkeptiker David Hume zu sagen, »daß nichts je dem Geiste gegen-wärtig sein kann als nur ein Bild oder eine Perzeption« (Hume1955: 160) und auch die gleich lautende Formulierung des Physi-kers und positivistischen Philosophen Ernst Mach, »daß die Weltnur aus unseren Empfindungen besteht« und dass die Annahmeeiner ihnen korrelierenden Realität »sich als gänzlich müßig undüberflüssig erweist« (Mach 1897: 10) bleibt dem verwirrenden Wi-derspruch verhaftet, den Hume auf die Formel gebracht hat: »DemGeist ist nie etwas anderes gegenwärtig als Perzeptionen und erkann unmöglich eine Erfahrung über ihre Verknüpfung mit Gegen-ständen gewinnen« (Hume 1955: 162), denn die Erzeugung einesimmateriellen Bewusstseinsinhalts durch eine materielle Ursachesei unmöglich. Auch Engels und Lenin haben sich über die Vorstel-lung lustig gemacht, dass »unser Gehirn die Gedanken ebenso ab-sondere wie die Leber die Galle« (Lenin 1962: 39). Die auf unsereSinnesorgane einwirkenden Reize und die in den Sinnesorganenausgelösten physiologischen Prozesse sind ihrer Gattung nachstreng von den Bewusstseinsbildern zu unterscheiden, die als de-ren Äquivalente auftreten. Nur wenn es uns gelingt, die sinnlichenElemente unserer Erkenntnis von deren ideeller Repräsentationsauber getrennt zu halten, kann überhaupt der eigentümliche Cha-rakter des Erkenntnisprozesses bestimmt werden. Dies ist die Vor-aussetzung einer »Anthropologie der Sinne«, wie Plessners späteAbhandlung heißt, in der er seine Einsichten zusammenfasst (vgl.III/317ff.), oder einer »Aesthesiologie des Geistes«, wie der Unter-titel von Die Einheit der Sinne heißt. Wenn es die Sinne sind, denen wir die primären Kenntnisse vonder Welt verdanken, so sind es also die sinnlichen Qualitäten, Far-ben, Töne, Eindrücke von weich und hart, süß und sauer usw., diedie Grundlagen der Erfahrung abgeben. Plessner stellt die Fragenach der objektiven Verfassung dieser von einer quantifizierendverfahrenden Wissenschaft als subjektiv eliminierten Erfahrungen.Er entwirft eine »Theorie der Qualitäten oder Modalitäten, nachdenen sich die Sinne voneinander unterscheiden« (III/29f.), undbegründet diesen Unterschied in den »gegenständlichen Funktio-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur nen«, nach denen sich die »Leibsinne differenzieren müssen, umihrer praktisch-biologischen Nützlichkeitsfunktion allgemein zugenügen« (III/38). Er fundiert also die elementare Erscheinungs-weise der Welt, ihre unterste Sinnschicht, in der naturhaft-mate-riellen Verfassung der Lebewesen. Die erste biologische Ebene despraktischen Verhaltens ist die Wahrnehmung der in der Umwelt ge-gebenen Lebens- und Überlebensbedingungen. Auf sie sind dieLeistungen der Sinne orientiert, an der Erfüllung dieser Funktionerweist sich die Angemessenheit der sinnlichen Abbildung derWelt: »Irgendeine wirklichkeitskündende Bedeutung muß denSinnesdaten unseres Bewußtseins innewohnen, eine Beziehungauf den Gegenstand muß für jeden einzelnen Sinn gewahrt sein,wenn die Sinne über die wirkliche Lage orientieren sollen. DasPrinzip der biologischen Nutzeinheit der Sinne […] setzt vorausdas Prinzip der gegenständlichen Funktion« (III/51). In gewisser Weise ist dieser Ansatz, ungeachtet seiner metho-dologischen Vorkehrungen zur Bestimmung der Transzendentali-tät, naiv realistisch. Er stellt die Wirklichkeit der eigenen Leiber-fahrung und der in der Intentionalität der Sinneswahrnehmungengegebenen Objekte nicht in Frage. Dennoch ist diese Naivität nurscheinbar, denn sie kann sich ihrer Legitimierung in der Reflexionvergewissern, dass die Annullierung des Realitätsindexes der Sin-neserfahrung in die zwar unwiderlegbare, aber absurde und prak-tisch bedeutungslose Position des Solipsismus führen würde –praktisch bedeutungslos, denn ich muss mich auch als Solipsist soverhalten, als ob meine Bewusstseinsinhalte eine an sich seiendeAußenwelt repräsentierten. Unter der Voraussetzung der gegenständlichen Funktion derSinne erweist sich nun deren Zusammenspiel als der leibliche Re-flex der objektiven Einheit der in den verschiedenen Wahrneh-mungsregionen gegebenen Eindrücke also als die konstitutive Be-dingung für die Erfahrung von Welt als einer Sinneinheit, die sichdann auch im Repräsentationssystem der Sprache wiedergebenlässt und so auf die Ebene der Begrifflichkeit des Allgemeinen ge-hoben wird. In der Rekonstruktion dieses Übergangs gelingt es,die Seinsweise des Geistigen aus der Sinnlichkeit hervorgehen zulassen. Die Einheit aller Bewusstseinsleistungen baut sich vom Zu-sammenwirken der Sinnesbereiche aus auf. Wie die Einheit der Sinne der gegenständliche Grund des Be-wusstseins ist, so ist sie auch das materielle Äquivalent der ideel-len Repräsentationen. Das Modell, nach dem wir diese Äquivalenzvorzustellen haben, ist nicht das eines Förderbandes, als welchesdie Sinnesorgane die materiellen Einwirkungen oder Reize in die

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Methodephänomenologischenzur transzendental-Von der deskriptiv-Helmuth Plessner:Immaterialität des Bewusstseins transportieren würden, sondern

das einer Spiegelebene, an der die reellen Gegenstände sich als vir-tuelle Abbilder widerspiegeln (vgl. Holz 2003a). »Die gesamteMannigfaltigkeit des überhaupt Möglichen bildet ein System, dassich mit dem System der Sinnesmodalitäten deckt« (III/302). Dasheißt: Das Bewusstsein ist die Seinsweise der leiblichen Materieunter den Bedingungen der Sinnlichkeit. Die Anthropologie derSinne mündet in die Metaphysik der Erkenntnis, und als solchemacht sie das materielle Substrat kenntlich, in dem sich die Wirk-lichkeit in der Form ihrer sinnlichen Abbildung spiegelt. Um diesesWiderspiegelungsverhältnis als »Bildungsprinzip transzendentalerWahrheit« (I/246ff.) darzustellen, bedarf es einer Systematik derSinne.

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1Das System der Sinnlichkeit

Das Leib-Seele-Problem

Helmuth Plessners Entwurf einer philosophischen Anthropologiezielt auf die Überwindung des Dualismus von natürlich-leiblichemund seelisch-geistigem Menschsein aus einem fundierenden, im-manent-weltlichen natürlichen Prinzip der Daseinsform. Die seitDescartes ontologisch gedeutete Verschiedenheit von Körper (resextensa) und Geist (res cogitans) soll aus einem umfassenden, dia-lektischen Naturkonzept als Selbstdifferenzierung des einen Seinshergeleitet werden. Das bedeutet die Aufgabe der Vorstellung vonphysischer ›Äußerlichkeit‹ und psychischer ›Innerlichkeit‹: »Nie-mand bezweifelt die außerordentliche Zweckmäßigkeit und An-schaulichkeit der Unterscheidung von physisch und psychisch. Sietrifft sicher wesentliche Differenzen im Sein der Wirklichkeit. […]Ursprünglich zwar ist die Scheidung allen Seins in res extensa undres cogitans ontologisch gemeint. Sie erhält jedoch von selbst einemethodologisch fortwirkende Bedeutung, die sie in gewissem Sin-ne der ontologischen Kritik entzieht. […] Besteht das Wesen derKörperlichkeit in Ausdehnung (wofür also Quantität bzw. Messbar-keit eintreten kann), so dürfen die messfremden, qualitativen Ei-genschaften der Körper nicht zum Wesen der Körperlichkeit gehö-ren. […] So werden um der restlosen Quantifizierung der Körperwillen alle Qualitäten subjektiviert und zu Nur-Erscheinungen,weiterhin zu Empfindungen umgedeutet. Über Locke führt da ein

1 | Das folgende Kapitel ist die erweiterte Fassung eines Beitrags, deran der Konferenz Grenzen und Spielräume des Menschen in der anthropologi-schen Diskussion aus Anlass des 100. Geburtstags von Helmuth Plessner imMax-Planck-Institut für Bildungsforschung zu Berlin (4.–6. September 1992)vorgelegt wurde. Diese kürzere Fassung erschien unter dem Titel Die Syste-matik der Sinne in: Friedrich/Westermann 1995, S. 117–127.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur direkter Weg zu Mach, den jeder Naturforscher noch heute geht«(IV/79, 83). Eine philosophische Anthropologie hat dagegen denGegensatz von materieller Körperlichkeit und geistigem Selbstseindes Menschen zu beheben, ohne deren Differenz reduktionistischzu nivellieren. Die traditionelle Leib-Seele-Problematik ist als einScheinproblem zu erweisen: »Es liegt im Wesen undisziplinierterErfahrung, etwas so lange für fundamental zu nehmen, als es ihremFortgang die größten Sicherheiten und ihren Zusammenhängenden besten Anschauungshintergrund verschafft. Für den wissen-schaftlichen Ausbau der Erfahrung reichen allerdings diese Vorzü-ge nicht aus« (IV/78). Man sollte meinen, dass nach Plessners Einspruch gegen einenfortgeschleppten Cartesianismus in den Wissenschaften vom Men-schen die traditionelle Rede vom Ich und Selbst hätte verstummenmüssen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Selbst ein so versierterPsychologe wie Douglas R. Hofstadter, der die Vexierbildhaftigkeitdes Abbildverhältnisses äußerer Realität im Bewusstsein wahrge-nommen hat (vgl. Hofstadter 1979), konnte sich dem Leib-Seele-Paradigma nicht entziehen (vgl. Hofstadter/Dennet 1986). Es isteben eine alte Erfahrung in der Geschichte der Philosophie und derWissenschaften, dass hartnäckig sich reproduzierende Problemedann entstehen, wenn man die Frage nach dem Gegenstand desProblems falsch gestellt hat. Gilbert Ryle (1969) hat dafür denAusdruck »Kategorienverwechslung« gebraucht – und dieser logi-sche Fehler ist nicht immer so leicht zu durchschauen wie in demvon ihm gegebenen Beispiel des Besuchers einer Universität, dernach der Besichtigung von Instituten, Laboratorien, Bibliothekenund Verwaltung schließlich ungeduldig fragte: »Ja, wo ist dennnun aber die Universität?« Das so genannte Leib-Seele-Problem (oder mind body problem,um es im anglisierenden Jargon unserer philosophischen Mode zusagen) ist seit dem frühgeschichtlichen Animismus eine solchezwar harte, aber taube Nuss. Wir sind unserer selbst als etwas be-wusst, das nicht einfach nur die Summe unserer Körperteile undgeistig-seelischen Akte ist; und dieses seltsame Mehr nennen wirunser Ich. Descartes hat die Erfahrung von diesem Ich an die Ge-wissheit des Denkens (oder allgemeiner der Bewusstseinsakte) ge-knüpft: »Ich denke, also bin ich«; und er hat daraus eine eigene,von Körper verschiedene Substanz gemacht. Ist so zwischen Leibund Seele, zwischen Denken und Materie erst einmal ein Grabenaufgerissen, auf dessen beiden Seiten einander unvergleichbareWesenheiten hausen, dann wird die Frage nach den Bedingungender Möglichkeit ihres Aufeinander-abgestimmt-Seins zu einem

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der SinnlichkeitDas Systemheiklen und wohl unlösbaren Problem. Was bin ich? Wie kommt das

Bild der Welt in mich hinein? Ryle, um ihn ein zweites Mal zu zitieren, nennt diese Auffas-sung vom Ich ironisch das »Dogma, vom Gespenst in der Maschine«(Ryle 1969: 13). Dass sie wenigstens diese ihre angelsächsischeTradition kennen, hätte man von Hofstadter und Dennet erwartensollen, wenn schon der unbedarfte Hochmut des common sense ih-nen verbietet, von Konzepten und Problemlösungen Gebrauch zumachen, die eine zweieinhalbtausendjährige ›kontinentale‹ Philo-sophiegeschichte in ihren Vorratshäusern bereithält. Doch sieschreiben: »Wenn ich diesen Körper habe, dann bin ich doch wohletwas anderes als dieser Körper. […] Jedenfalls scheinen ich undmein Körper beides zu sein: aufs engste verknüpft und doch zu-gleich verschieden« (Hofstadter/Dennett 1986: 13). So wärmen die Autoren den cartesischen Substanzendualismuswieder auf, um dann unbefangen zu behaupten: »Was ist der Geist?Wer bin ich? Kann bloße Materie denken oder empfinden? Wo istdie Seele? Jeder, der sich diese Fragen stellt, stürzt kopfüber indie größten Wirrnisse. […] Wir glauben, daß es gegenwärtig keineeinfache Antwort auf die großen Fragen gibt. Dieses Buch soll da-her seine Leser provozieren, in Unruhe versetzen, in Verwirrungstürzen« (ebd.: 9). Nun ist die Verwirrung aber nur dann groß, wenn man von derAnnahme ausgeht, die Wirklichkeit bestehe aus jeweils homogenen– und dann eben prinzipiell von einander verschiedenen – Substra-ten, deren Zusammenhang und Korrespondenz erklärungsbedürftigseien. Beschränken wir uns nur auf die Neuzeit, so haben wir im-merhin seit Spinoza und Leibniz alternative Weltmodelle, in denendiese Schwierigkeit nicht auftaucht. Die Einheit der Welt wird alsein naturgeschichtlicher Prozess der Differenzierung begriffen, indem der Übergang zu komplexeren Organisationsstrukturen neueEigenschaften (Qualitäten) entstehen lässt: so z.B. beim Übergangvon anorganischer zu organischer Materie die Reagibilität undEmpfindung, bei der Ausbildung körpereigener informationsleiten-der und -speichernder Systeme das Bewusstsein, bei der Arbeit dasSelbstbewusstsein und die Reflexion der Reflexion. Unter diesemevolutionären Aspekt, der qualitative Sprünge einschließt, hatPlessner in den Stufen des Organischen und der Mensch ein theore-tisches Modell der ›Spezifikation der Natur‹ ausgearbeitet – auchdas scheinen diese Autoren nicht zu kennen. Friedrich Engels sahdie Einheit der Welt in ihrer Materialität begründet und leitete dieMannigfaltigkeit der Phänomene aus immer komplexer werdenden›Bewegungsformen der Materie‹ ab. Leib und Seele, Welt und Ich

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur (Selbst) brauchen dann nicht als Verschiedenes, sondern könnenals Selbstunterschied der Materie erklärt werden – also in Anwen-dung einer Denkfigur der dialektischen Logik, die seit Platon undAristoteles, seit Leibniz und Hegel als methodisches Instrumentfür die Auflösung eben jener Paradoxien entwickelt wurde, derenReproduktion Hofstadter und Dennet solch sichtbares, indessenwissenschaftlich nutzloses Vergnügen bereitet. Die Fragestellung von Hofstadter/Dennet und die Entfaltungder von ihnen als Paradoxien und Aporien präsentierten Erschei-nungen laufen letztlich darauf hinaus, dass die konstitutiven Pro-zesse der Sinnlichkeit und ihre Repräsentation als Bewusstseins-gestalten auseinander gerissen werden. So entstehen im theoreti-schen Modell zwei Wirklichkeiten. Eine philosophische Anthropo-logie, die nicht hinter Plessner zurückfallen will, nimmt dagegeneine Stelle in einem ontologischen System ein, das die Wirklichkeitals eine Einheit darstellt. Als System der Sinnlichkeit, als Einheitder Sinne lässt sich die gegenständliche Beziehung als weltkonsti-tuierend, das heißt als Erzeugung einer Sinnganzheit begreifen,also der Übergang von Reiz in Bedeutung als ein und dasselbePhänomen fassen. Mit dem Entwurf einer Systematik der Sinnlich-keit hat Plessner die natürlichen, also die materiellen Bedingun-gen freigelegt, unter denen eine doch immer nur vom Menschenher zu konstruierende dialektische Einheit von Subjekt und Objekt,von Erleben und Gegenstandswelt, von Denken und Sein als Weltbegriffen werden kann.

Gegenstand und Inhalt der Sinneswahrnehmung

So gut wie eine transzendentale Phänomenologie die Prägung un-serer Gegenstands- und Welterfassung durch die Formbestimmtheitunserer noetischen Leistungen geltend macht, kann ein konse-quenter Sensualismus die Grenzen unserer Rezeptivität in der Leis-tungsfähigkeit unserer Sinne ausmachen, die selegieren, was wirerfassen, und determinieren, in welcher neurophysiologischen Re-präsentationsweise wir es erfassen. Diese Feststellung ist trivial,nicht aber das sich daraus ergebende erkenntnistheoretische Prob-lem, wie die Beziehung dieser logisch und/oder sinnlich präfor-mierten Gegenstandswelt zu der Welt der Seienden zu denken sei,um deren wie auch immer gefilterte oder gestanzte Repräsentationes in allen Erkenntnisvorgängen, von der Empfindung und sinnli-chen Wahrnehmung bis zur begrifflichen Dihairesis und Synthesis,doch eigentlich geht. Dass die Antworten der klassischen philoso-

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der SinnlichkeitDas Systemphischen Systemtypen auf diese Frage unbefriedigend sind, hat

Plessner am Anfang seines aesthesiologischen Entwurfs Die Einheitder Sinne gezeigt und aus dieser unbefriedigenden Theorielage dieKonsequenz gezogen, das Problem anders als im Modell der Kor-respondenz von Innen- und Außenwelt zu formulieren. Es wäre ein philosophisches Missverständnis zu meinen, diefortschreitende Aufklärung der neurophysiologischen Prozesse, indenen sich unsere Vorstellungen von der Welt auf der Ebene desOrganismus bilden, könne die erkenntnistheoretische Frage nachder Realität der Außenwelt und nach der Beziehung unserer Vor-stellungen zu ihren Gegenständen obsolet machen. Erkenntnis-theorie kann nicht durch Neurophysiologie ersetzt werden. Wennsich als ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Forschung fürkognitive Systeme feststellen lässt, »Wahrnehmungen sind daherimmer Konstruktionen von selbstreferenziell tätigen Nervensyste-men« (Weingarten 1992: 5), dann folgt daraus keineswegs, dass eskeine Repräsentation von Außenwelt im Bewusstsein gäbe, son-dern nur, dass die Repräsentationsbeziehung anders gefasst wer-den muss als in einem einfachen Abbildungsmodell, das so etwaswie Gestaltähnlichkeit stipuliert. Der Widerstreit ›Abbildung oder Konstruktion‹ kann allerdingsnur aufkommen, wenn das erkenntnistheoretische Schema einerSubjekt-Objekt-Dualität als unhintergehbar jeder transzendentalenFrage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu-grunde gelegt wird. Demgegenüber könnte es sich als sinnvoll he-rausstellen, dieses Schema selbst als eine sekundäre Ableitung voneiner vorgängig ontologisch zu klärenden Frage nach dem Sein vonBewusstsein aufzufassen. Plessner gibt sich mit der »Schwäche undUngeklärtheit der Zweiweltensituation […] und der fundamentalenUnmöglichkeit, von einer Erfahrungsstellung in die andere ohneBruch zu gelangen« (IV/103) nicht zufrieden; »nicht ist das Be-wußtsein in uns, sondern wir sind ›im‹ Bewußtsein. […] Das Be-wußtsein […] ist immer da gewährleistet, wo die einheitliche Be-ziehung zwischen Lebenssubjekt und Umwelt in doppelter Rich-tung, rezeptiv und motorisch, durch den Leib besteht« (IV/111).Diese doppelte Gerichtetheit des Leibes, sensuell im Transport äu-ßerer Reize nach innen und motorisch in der Überführung innererAntriebsmomente in nach außen wirkende Handlungen, macht dasWesen des Lebendigen aus und manifestiert sich an der Grenzezwischen dem Leib und seiner äußeren Umwelt. Bewusstsein ist die Weise, in der sich die Welt für uns so struk-turiert, dass sie sich als Feld unserer Tätigkeiten, unseres Verhal-tens, unserer Erfahrung gibt. Dieses Feld ist an sich selbst eine To-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur talität (wenn auch sicher nicht die ganze Totalität möglicher Weltoder gar möglicher Welten), und der Organismus ist ein Momentdieser Totalität und verhält sich selbst als Totalität aller ihm mög-lichen leiblichen Verhaltensweisen zu ihr. Genau diese Einheitmeint das Wort ›Feld‹. »Ein Organismus bietet sich nun einmal alseine Planeinheit an. Dies kommt nicht nur als anatomischer Bau-plan, als System von Funktionen, sondern in seinem Verhalten zuseiner Umwelt zum Ausdruck. Bauplan, Funktionsplan und Umweltpassen zueinander, d.h. sie legen einen gewissen Rahmen fest, inden sich die Sinnesorgane einfügen« (III/326). Es erhellt, dass dieSinne nach dieser Auffassung Plessners konstitutiv für die Einheitdieses organischen Feldes sind. Darum kann das Wort ›Welt‹ einezweifache Bedeutung annehmen: metaphysisch als Terminus fürdie Ganzheit alles möglichen Seienden; hermeneutisch als ›dieWelt des Menschen‹, ›die Welt des Seeigels‹ usw. für das Feld oderdie Region, in der sich ein Lebewesen einer bestimmten Art zu sei-nen spezifischen Reizgegenständen verhält (vgl. III/57). »Ein Prinzip, das uns die spezielle Ausbildung der Sinnesorga-ne als optische, taktile, chemische, akustische, geotaktische be-greiflich macht, gewinnen wir an ihrer praktischen Bedeutung erstdann, wenn wir die gegenständliche Funktion, die adäquaten Reizeder einzelnen Sinne mit einbeziehen. Nur weil es Licht, Schwer-kraft, Schall, Gerüche, Druck gibt, und zwar als verschiedene Modi-fikationen des Seienden in seiner Einwirkung auf den Organismus,hat es dieser nötig, entsprechende Organe für sie auszubilden«(III/38). Je nach Art und Weise, wie ein Organismus Reizempfind-lichkeit für Umweltgegenstände entwickelt und dafür Organe oderRezeptoren und ›Verarbeiter‹ ausbildet, ist ihm seine Umwelt er-schlossen und stellt sich ihm als ›seine‹ Welt dar. Reizempfindlich-keit und Umwelterschlossenheit definieren seine Lebensfunktio-nen (und Überlebensmöglichkeiten). Demgemäß kann die Heraus-bildung zusätzlicher Reizempfindlichkeiten als ein Faktor der Evo-lution eben dann und immer nur dann betrachtet werden, wenndie Erweiterung des Sinnesfeldes in einem Zusammenhang mit dertatsächlichen Beschaffenheit der Umwelt steht. Die Sinnlichkeitmuss ein Reflexionsmedium der in ihr signalisierten, bedeutetenGegenständlichkeiten sein. Eine prinzipielle Skepsis gegen die Sinne ist eine lebenswirk-liche Unmöglichkeit, und darin beruht die vortheoretische Stärkedes Sensualismus. »Was wir von der Welt wissen, haben wir ausEmpfindungen unserer Sinne« (III/25). Ausführlicher hat der Phy-siologe Herbert Hensel in seiner Marburger Rektoratsrede Sinneser-fahrung und Wissenschaft diese Priorität der Sinne für unsere Welt-

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der SinnlichkeitDas Systemerfahrung hervorgehoben – ein Votum, an dem keine Erkenntnis-

theorie wird vorbeigehen können: »In der Tat erweist sich die Sin-neserfahrung als eine spezifische, unabdingbare und durch keineandere Instanz zu ersetzende Grundlage unseres Wissens von derrealen Welt. Das gilt nicht nur für unser alltägliches und naivesWeltbild, sondern vor allem auch für jene Wissenschaften, derenTätigkeit auf die Erforschung der Sinnenwelt gerichtet ist, vor al-lem die Naturwissenschaften in weitestem Umfang und die natur-wissenschaftlich orientierte Medizin. Ja, selbst die sinnenfernstenund abstraktesten unter den empirischen Disziplinen, wie etwa diePhysik, können nicht umhin, sich auf die Sinneserfahrung als letz-ten Kronzeugen zu berufen, wie weit sie auch immer mit ihren ge-danklichen Konstruktionen die naive Wahrnehmungswelt über-schreiten mögen. Insofern müssen auch alle skeptischen Versuchephilosophischer oder naturwissenschaftlicher Art, die Sinnesphä-nomene zu verleugnen, umzudeuten oder zu verfälschen, sie alsTäuschung, Trug, Illusion oder subjektiven Schein zu bestimmen,immer wieder vor der Einsicht scheitern, daß der Bereich des Phä-nomenalen als solcher von nicht ableitbarer Gewißheit und Unbe-zweifelbarkeit ist« (Hensel 1965: 1). Die Erscheinung der Welt kann nicht als eine bloße Funktionunserer konstitutiven Bewusstseinsleistungen verstanden werden,wenn wir uns nicht auf einen ganz und gar unsinnigen transzen-dentalen Solipsismus zurückziehen wollen (vgl. Husserl 1962). Fürein Lebewesen in einer natürlichen Umwelt sind seine Sinnesorga-ne Mittel der verhaltensorientierenden Steuerung der Lebenspro-zesse und das gilt auch für den Menschen. Angemessenes Verhal-ten ist zum Mindesten ein im Erleben fundiertes Indiz für die prin-zipielle operationale Zuverlässigkeit der Sinne. »Wir nehmen nurdas wahr, was wir im Lebenskampf brauchen, was ein Wesen vonGeist, Fleisch und Blut auf dieser Erde nötig hat, um nicht unter-zugehen. Differenzierung und einheitliches Zusammenspiel derSinne gibt es nur mit Rücksicht auf den obersten Zweck der Anpas-sung im Sinne der Lebensförderung. Wie groß die Abweichungenunserer sinnlichen Eindrücke von der Wirklichkeit an sich sein mö-gen, darüber gibt dieses Prinzip der Nutzeinheit der Sinne keineAuskunft. Es bestimmt gewissermaßen nur eine untere Schwellemöglicher Abweichungen, unter welche nicht gegangen werdenkann, wenn aus der Diskrepanz zwischen Eindruck und Wirklich-keit dem Organismus keine Schädigungen erwachsen sollen. Immerbleibt dem Sinnenleben eine gegenständliche, eine wirklichkeits-kündende Funktion gewahrt, die der Organismus zur Anpassung ansein Lebensmedium braucht« (III/39f.).

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Die ›wirklichkeitskündende‹ Funktion der Sinne wird nun al-lerdings heute von den Theoretikern der Selbstreferenzialität desGehirns bestritten. So schreibt Maturana: »Es gibt außerdem keineInformationsverarbeitung, keine Errechnung des Verhaltens nachden Bedingungen einer Außenwelt, keine zielgerichteten Prozesseim Arbeiten des Organismus, es gibt lediglich Zustandsverände-rungen des Organismus im Prozeß der Verwirklichung seiner Auto-poiese« (Maturana 1992: 109). In dieser Formulierung wäre die In-tersubjektivität der Inhalte von kognitiven Prozessen, die doch dieVoraussetzung für kollektives Handeln (nicht erst von Menschen,sondern auch von Tierrudeln, -herden, -schwärmen) ist, nicht be-gründbar; auch Entscheidungen über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Sin-neseindrücke ließen sich nicht begründen. Wenn Weingarten alsodie Konsequenz zieht – »unsere menschlichen Wahrnehmungenvon Welt sind keine Abbilder der Welt außerhalb von uns, sondernwir konstruieren uns ein Weltbild aus den durch unser Handelnausgelösten, intern induzierten Zustandsveränderungen unseresNervensystems, und die Erfahrung oder das Erlebnis einer solchenZustandsveränderung bezeichnen wir dann als Wahrnehmung«(Weingarten 1992: 5f.) –, dann geht er über das hinaus, was ausder Beschreibung des Gehirns als eines selbstreferenziellen Sys-tems abgeleitet werden kann. Roth hat die Frage nach der philosophischen Deutung der neu-rophysiologischen Forschungsergebnisse vorsichtiger formuliert:»Natürlich gibt es eine reale Welt, in der ein realer Organismus miteinem realen Gehirn existiert und die über die Sinnesrezeptorenauf das Gehirn einwirkt. Dies ist jedoch nicht die Welt, in der daskognitive und kommunikative Ich existiert. Das Gehirn erzeugt aufder Grundlage der Interaktion der Rezeptoren mit der Welt selbst-referentiell eine kognitive Welt, eine ›Wirklichkeit‹ […]. Das Ge-hirn hat keinen direkten Zugang zur Welt, es ist in sich kognitivund semantisch abgeschlossen. Es ist natürlich nicht von der Um-welt isoliert: es erhält Erregungen von den Sinnesorganen, die es,da die Erregungen unspezifisch sind, aufgrund interner Kriteriendeuten muß. Diese Kriterien sind teils topologischer Natur, teilsKriterien der Konsistenz, der Übereinstimmung mit früherer Erfah-rung, der Ganzheit usw. Wir nennen das Gehirn deshalb selbstrefe-rentiell. Selbstreferentialität bedeutet, daß das Gehirn die Bewer-tungs- und Deutungskriterien aus sich selbst heraus entwickelnmuß« (Roth 1986: 210, 209). Dass die Welt der neuronalen Erregungsmuster – was übrigensnicht dasselbe ist wie die Welt unserer Vorstellungen – jedenfallsnicht abbildgleich mit der Welt der Gegenstände ist und ihr schon

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der SinnlichkeitDas Systemgar nicht an Umfang entspricht, ist unbestritten und würde nur für

einen idolatrischen Sensualismus unannehmbar sein. Unbestreit-bar ist aber auch, daß die in bestimmten Hirnabschnitten lokali-sierten Sinnesqualitäten im Normalfall (von krankhaften Abwei-chungen oder Experimentalsituationen abgesehen) nicht unspezi-fisch erzeugt werden; denn die vom Auge aufgenommenen Reizekommen eben im Hinterhauptscortex an, die vom Ohr aufgenom-menen im oberen temporalen Cortex usw. Das topologische Systemder Reizinterpretation gemäß Sinnesmodalen setzt also die Funk-tion der Sinne als Rezeptoren nicht außer Kraft, sondern »über-setzt« sie nur (wie Roth auch sagt); und eine Übersetzung folgt injedem Falle Zuordnungskriterien, denengemäß wir mit der vonLeibniz geforderten Strenge sagen dürfen, »die eine Sache drückeeine andere aus« (Leibniz 1879: 112; vgl. Kursch 1988). Plessner hat sich, lange bevor die Theorie der Selbstreferenzi-alität zum Thema der Biologie wurde, mit dem philosophischenProblem der Deutung eines geschlossenen Bewusstseinssystemsauseinandergesetzt. Er stellt fest: »Das Guckkastenprinzip des Be-wußtseins macht einem anderen Platz, dem Gedanken der Selbst-enthaltenheit des Bewußtseinssubjektes im Bewußtsein. […] DerMensch empfängt nicht von seinen durch das Sein gereizten Sin-nesflächen […] Bilder, sondern Erregungen, und ihm […] bleibt nurdie Verarbeitung dieser zentralen Erregtheit in der Art, daß er da-bei strenge Übereinstimmung mit der Natur der reizgebenden Ge-genstände wahrt. Da er von ihnen jedoch keine Kenntnis hat alseben durch Reiz und Erregung, so bleibt die nervöse Erregung nurein Zeichen von der Wirklichkeit und für sie, für das objektive Rot,für den Ton c. Die Erregungen sind chemische Prozesse von Eiweiß,Zucker und Lipoiden in Ganglienzellen, aber bedeuten Farbe undForm, Größe und Tiefe der Welt« (III/58, 61f.). Dann aber fügt erhinzu: »Der Sensualismus des Abbilds versagt. Der Sensualismusdes Zeichens versagt zwar nicht aus inneren logischen Gründen,doch gibt er statt einer Lösung ein neues Rätsel. Denn, muß mansich fragen, wie kommt das Bewußtsein dazu, in dem Zustand vonSelbsterregungen ursprünglich eine Welt zu sehen, zu hören, zufühlen, da ihm doch nicht irgendwo eine Lücke gelassen, durch diees sich von der Welt an sich überzeugen könnte, nicht ein Mentorgegeben ist, der es darüber belehrte. […] Sind auch die Organekeine einfachen Übertragungs- und Abbildapparate, sollen siedoch ihre gegenstandskündende Funktion (in Einheit mit dem ner-vösen Zentralorgan) dem Sein entsprechend versehen« (III/64, 62). Diese Fragen beantwortet auch die Theorie der Selbstreferenzi-alität des Gehirns nicht, weil es Fragen sind, die eo ipso nicht

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur durch eine naturwissenschaftliche, experimentelle Untersuchung,sondern nur durch ein Modell beantwortet werden können; und einsolches Modell hat nur dann mehr als fiktiven Gehalt, wenn min-destens seine Anfangssetzung apriorische Gewissheit beanspru-chen darf. »Es ist ein Zirkel, auf dem das empiristische Verfahrenin der Erkenntnistheorie ruht, da es außerstande ist, andere zwin-gende Gründe dafür beizubringen, als welche durch den Gebrauchdes Verfahrens zum Vorschein kommen« (III/68). Die konstitutiveFunktion der Sinne wird in einem zweigliedrigen Modell von Urbildund Abbild nicht plausibel darstellbar. »Das Problem der Gegen-ständlichkeit des sinnlichen Bewußtseins« darf nicht »als eineTransportfrage« behandelt werden (ebd.).

Doppelaspektivität: aktiv – passiv; innen – außen

Anthropologisch sind unsere Erkenntnisleistungen auf eine vor-gängige Einheit des Subjekt-Objekt-Felds gegründet, auf eine Ver-mitteltheit des wahrnehmenden Menschen mit der wahrgenomme-nen Gegenstandswelt. Schon Marx hat diesen Gedanken scharf he-rausgearbeitet (vgl. Marx 1968: 578ff.). Die Wesenheit des Men-schen als eines gegenständlichen Wesens ist grundlegendes Mo-ment einer dialektischen Ontologie (vgl. Holz 1983: 33ff., 128ff.).Die Evidenz der Gegenständlichkeit, die Marx aus der Selbsterfah-rung des Menschen in der Tätigkeit, phänomenologisch gespro-chen: aus der Selbstgegebenheit des Gegenstandes, in dem Inhaltder Tätigkeitsintention, des Zwecks gewinnt, hat ihre Vorausset-zung in der Doppelstruktur jeder Beziehung: Aktiv auf den Gegen-stand einwirkend, als gegenständlich tätig, ist das Lebewesen zu-gleich passiv den Gegenstand auffassend, also gegenständlichsinnlich. »Sinnlich sein, d.h. wirklich sein, ist Gegenstand desSinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenständeaußer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlichsein ist leidend sein« (Marx 1968: 579). Appetitus und perceptiosind korrelative Kategorien des In-der-Welt-Seins. Plessner hatsich nicht auf den jungen Marx bezogen, aber seine Fragestellunghält sich im Horizont des von Feuerbach angesprochenen und vonMarx genauer bestimmten Problems der Subjekt-Objekt-Verschrän-kung, der Welthaftigkeit als Ausdruck eines einheitlichen Feldesvon Subjekt und Objekt. Gegen die auf Kant zurückführende Be-

2gründung der Seinsweise des Menschen in diesem selbst schlägt

2 | Ein solches Vorgehen führt immer zu einer subjektiv-idealistischen

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der SinnlichkeitDas SystemPlessner, quasi materialistisch, die philosophische Reflexion des

natürlichen Begründungszusammenhangs der Lebensformen, der›Stufen des Organischen‹ vor. Gegen den kantianischen Grundzugder fundamentalontologischen Vorgaben für jede Anthropologie

3bei Heidegger macht er geltend: »Existieren kann nur, wer lebt,auf welchem Niveau immer. Sich dagegen zu sperren und Leben aufeiner seiner Möglichkeiten, nämlich existieren, zu fundieren,heißt den Einsatz der Frage des Menschen nach sich selber um die-ser Selbstbezüglichkeit willen als die einzig legitime Direktive füreine Anthropologie in philosophischer Absicht gelten zu lassen.Man kann aber auch bei den Wesenskriterien der Lebendigkeit ein-setzen und nicht wie Heidegger die Frage vom Frager her, sondernim Gesichtskreis des Lebens, gewissermaßen von unten her aufrol-len« (VIII/388f.). Plessner hat diese wenn man will ›realphiloso-phische‹ Wendung methodologisch in dem Aufweis begründet, dassder cartesische Dualismus von Ausdehnung und Innerlichkeit un-zureichend ist, um die Phänomene der Leiblichkeit des Lebendi-gen angemessen zu beschreiben (oder gar zu erklären). Die nach-cartesianische Philosophie hatte diese Unzulänglichkeit auch er-kannt, und die transzendentale (kopernikanische) Wendung warnichts anderes als der Versuch, sie durch Rückführung der Dualitätauf eine Priorität der Innerlichkeit zu beheben (nachdem der um-gekehrte Versuch der französischen Materialisten, La Mettries»homme machine« und Helvétius’ »ésprit comme sensibilité phy-sique«, offenkundig gescheitert war). Die unaufhebbare Schwierig-keit eines an der Außen-Innen-Dualität orientierten Ich- und Er-kenntnisbegriffs hat Plessner kritisch notiert: »Offenbar muß dieVerbundenheit des Ichs mit dem eigenen Körper den Sinn haben,dem Ich Kunde von einer außer ihm existierenden Welt zu vermit-teln […]. Der Körper als ausgedehntes Ding gehört dann allerdingsschon zum Selbstbewusstsein, und zwar zur Sphäre der äußerenWahrnehmung, vermittelt aber offenbar doch dem Ich, der Sphäreinnerer Wahrnehmung, Materialien zum Aufbau seiner Vorstellun-gen. In diesem Doppelaspekt präsentiert sich, idealistisch odernichtidealistisch angesehen, das psychophysische Gesamtselbst,dessen äußerste Zone seiner eigenen Organe das reine Hier desIchs in beständiger Bindung umschließt. Einmal bildet der eigeneKörper die Peripherie der Immanenzsphäre, weil er sowohl Teil an

Beantwortung der ›Grundfrage der Philosophie‹ nach dem Verhältnis vonSein und Bewusstsein (vgl. Holz 1990a).3 | Zu den kantianischen Wurzeln Heideggers, neben den neuthomisti-schen, vgl. Gudopp 1983.

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Mensch – Natur der Außenwelt als auch Teil an der Innenwelt hat. Dann wiederumschließt die Innenwelt, als Selbstbewußtsein die Gebiete inne-rer und äußerer Wahrnehmung enthaltend, im Schatz ihrer Vorstel-lungen die Außenwelt. Wie soll aber eine Sphäre zugleich mit ihrenGrenzen in der Außenwelt geborgen sein und die Außenwelt insich bergen?« (IV/100f.) Plessners Gegenthese ist es, »daß es wirklich Gesetze des Zu-sammenhangs zwischen Lebewesen und Welt […] gibt, die in derWasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind« (IV/109). Alles Lebendige ist dadurch charakterisiert, dass es auf seineUmwelt mit eigenem Verhalten reagiert. »Leben im Sinne von Be-lebtsein besagt Eigenständigkeit im Verhältnis zu dem Milieu, demder belebte Körper angehört. Ein unbelebter Körper erleidet zwarEinwirkungen des Milieus, reagiert aber nicht auf sie, indem ersich eigenständig zu ihm verhält. Dieser Positionscharakter des be-lebten Körpers besagt Positionalität« (VIII/390f.). Man muss im Terminus ›Positionalität‹, der an das lateinischeponere = ›setzen‹, positum = ›gesetzt‹ anknüpft, die seit Fichte inder deutschen Philosophie eingebürgerte Begrifflichkeit mitden-ken. Positionalität meint nicht nur den Ort in Bezug auf eine Um-welt (wie im englischen oder französischen position). Im deut-schen ›setzen‹ ist die Aktivität eines Sich-entgegen-Setzens (ichsetze mich der Welt entgegen als von ihr unterschieden) oder einesEtwas-entgegen-Setzen (ich setze einen Gegenstand mir entgegen,z.B. Fichte: Das Ich setzt das Nicht-Ich) enthalten. Positionalitätsagt also, dass ein Seiendes durch die Weise seines Daseins sichzur Umwelt verhält. Dieses Verhältnis hat zwei Richtungen: DieUmwelt wirkt auf das Selende ein, und das Seiende wirkt auf dieUmwelt ein. Man kann diese Doppeltgerichtetheit als challenge-response beschreiben: Die Blume hat eine leuchtende Farbe, einenbesonderen Duft und erregt damit Bienen und Schmetterlinge, sichauf sie zu setzen und ihr Nahrung zu entnehmen; andererseits fälltder Regen auf die Erde und die Blume saugt mit ihren Wurzeln dasWasser, die Sonne scheint und die Blume wendet sich ihr zu. Das Beispiel zeigt, dass Positionalität wesentlich nicht einezweigliedrige Beziehung ist, sondern einen Reaktionenkomplexumfasst, durch den ein Seiendes in eine multiple Struktur von Sei-enden eingebettet ist. Als dieses eine bestimmte Seiende setzt essich und seine Umwelt, aber von jedem anderen einzelnen Seien-den wird es als Teilmoment von dessen Umwelt gesetzt. Eine Sphärevon Lebensbeziehungen entsteht in den Wechselwirkungen undÜberschneidungen von Setzungen, sie ist selbst durch diesen Ge-samtprozess gesetzt. »Ein Lebewesen erscheint gegen seine Umge-

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der SinnlichkeitDas Systembung gestellt. Von ihm aus geht die Beziehung auf das Feld, in

dem es ist, und im Gegensinne die Beziehung zu ihm zurück […]Wie geschildert, bestimmen die Momente des ›über ihm Hinaus‹und des ›ihm Entgegen, in ihn Hinein‹ ein spezifisches Sein desbelebten Körpers« (IV/186, 184). Das bedeutet, dass das Lebewe-sen nicht nur, wie der Körper anorganischer Materie, ›an einer Stel-le‹ ist, sondern das außer ihm Seiende in sein eigenes Sein hinein-zieht (vgl. IV/186f.). Hegel hat dieses Verhältnis formal als Einheitvon setzender, äußerer und bestimmender Reflexion beschrieben(vgl. Hegel 1970: 6/24ff.). A setzt sich durch seine Begrenzung;A setzt B, C, D… als ihm äußere Andere sich entgegen; A bestimmtsich, indem es sich als so und so begrenzt durch Andere begreift. Diese Positionalität besagt, dass allem Lebendigen die Doppel-aspektivität zukommt, an sich fremde Tätigkeit zu erleiden undaus sich eigene Tätigkeit auszuüben; der Antagonismus dieser bei-den Wirkungen lässt sich als die den Lebewesen äußerliche und dieihnen innerliche Seite ihrer Weltbeziehung fassen. Ihre ›Organe‹sind die Träger dieser Beziehung, der ›Organismus‹ ist die Ganzheitdieser Organfunktionen, die Organspezifik macht die Spezifik derWelthaftigkeit jedes Lebewesens aus. Plessner hat drei hauptsächliche Formtypen dieser funktionalvermittelten Welthaftigkeit herausgearbeitet: Die Positionalität deroffenen Form der Pflanze, die Positionalität der geschlossenenForm des Tieres und die Positionalität der exzentrischen Form desMenschen: »Offen ist diejenige Form, welche den Organismus inallen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung ein-gliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entspre-chenden Lebenskreises macht […]. Geschlossen ist diejenige Form,welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittel-bar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Ab-schnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht« (IV/284,291). Demgegenüber ist jene Position exzentrisch, in der das Lebe-wesen sich selbst noch zum Gegenstand machen, also in Reflexionzu sich treten (sich im Spiegel erkennen) kann, also zugleich insich und außer sich (sich gegenüber und damit für sich) ist. »Wennder Charakter des Außersichseins das Tier zum Menschen macht, soist es, da mit Exzentrizität keine neue Organisationsforrn ermög-licht wird, klar, daß er körperlich Tier bleiben muß. […] Als ex-zentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er schonist, erst machen« (IV/365, 383).

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Positionalität und Grenze

Mit der Kategorie ›Positionalität‹ hat Plessner den Schlüssel ge-funden, der ihm die Konstruktion einer einheitlichen Theorie derNatur ermöglicht, die unabhängig von den wechselnden Hypothe-sen der empirischen Naturwissenschaften ein ontologisches Modellvon Formtypen des materiellen Seins entwirft. Jedes körperlicheSeiende ist in seiner Einzelheit gegenüber seinem Umfeld begrenzt.Grenze ist eine materiale Bestimmtheit, weil in der Extensionalitätdes Körperseins begründet; und sie ist eine apriorische Bestimmt-heit, weil sie ein logisches Erfordernis oder die Bedingung derMöglichkeit der Gegebenheit von körperlichen Seienden ist. Mehrals dieses eine ›materiale Apriori‹ braucht Plessner nicht, um die›Spezifikation der Natur‹ abzuleiten. Denn sobald ich die Körper-lichkeit des Körpers a priori durch seine Begrenztheit konstituiertsein lasse, ergeben sich von selbst mehrere Wesensmöglichkeiten,wie diese Grenze beschaffen sein kann. »Die Grenze des Dinges istsein Rand, mit dem es an etwas Anderes, als es selbst ist, stößt.Zugleich bestimmt dieses sein Anfangen oder Aufhören die Gestaltdes Dinges oder den Kontur, dessen Verlauf man mit den Sinnenverfolgen kann. In den Konturen, innerhalb seiner Ränder[,] istder Dingkörper beschlossen und als dieser bestimmt, oder, washier dasselbe heißt, mit den Konturen, an seinen Rändern ist dasDing als dieses bestimmt« (IV/151). Der Kontur ist kontingent,wenn seine beliebige Veränderung das Wesen des Körpers nicht be-einträchtigt. Ein Stein bleibt ein Stein, auch wenn ich irgendeinStück davon abschlage. Die Grenze gehört zwar zu einem sol-chen Seienden, aber sie ist ihm äußerlich als bloß die Zone, wo esan anderes anstößt. In der Grenze vollzieht sich nicht das Sein ei-nes solchen Seienden. Demgegenüber ist die Grenze ein Teil des Körpers selbst undals diese bestimmte Grenze ihm notwendig zugehörig, wenn er anihr und mit ihr den Übergang zum Umfeld vollzieht. »Besteht dasWesen der Grenze aber im Unterschied zur Begrenzung darin, mehrals die bloße Gewährleistung des Übergehens zu sein, nämlich die-ses Übergehen selbst, so muß ein Ding, welchem Reich des Seinses auch zuzurechnen sei, wenn es die Grenze selbst hat, diesesÜbergehen selbst haben. […] Das Reellsein der Grenze an einer dereinander begrenzenden Größen drückt sich für diese aus als dieWeise des Über ihr hinaus Seins« (IV/182). Zuvor heißt es beiPlessner: »Die Grenze gehört dem Körper selbst an, der Körper istdie Grenze seiner selbst und des Anderen und insofern sowohl ihmals dem Anderen entgegen« (IV/181). Das aber ist genau die Seins-

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der SinnlichkeitDas Systemweise des Organischen, und das Über-sich-hinaus-Sein ist es, das

sich als Sinnlichkeit – auf der einfachsten Stufe als pure Reiz-Rezeptivität und -Reaktivität, auf der höchsten Stufe als Synästhe-sie alles Sinnesorgane – manifestiert. Die wesensnotwendigen Varianzmöglichkeiten, die dem Grenz-verhältnis zukommen können und den jeweils bestimmten Modusseiner Wirklichkeit ausmachen, nennt Plessner, »um einen von A.Meyer in Anlehnung an Helmholtz geprägten Ausdruck zu benut-zen« Modale, »wobei unter Modal im Sinne von Helmholtz eine sol-che qualitative Letztheit zu verstehen ist, die nicht durch Reduk-tion auf andere Qualitäten weiter analysiert werden kann« (IV/158). Eine ›materialistische‹ Position nimmt Plessner ein, wenn er»die restlose Zurückführbarkeit aller organischen Modale auf phy-sikalisch-chemische Bedingungen für nicht nur theoretisch mög-lich und praktisch durchführbar, sondern geradezu für wesensnot-wendig erklär[t]« (IV/159). Aber er macht zugleich dagegen imSinne einer phänomenologischen Einstellung geltend, dass die Be-gründung eines Phänomens in seinen materiellen Bedingungennichts über die qualitative Besonderheit des Phänomens aussagt,dass also z.B. die Entstehung von psychischen Zuständen in bio-chemischen (etwa hormonalen) Lebensprozessen eine Theorie desPsychischen nicht überflüssig macht, die eben die besondere Da-seins- und Erscheinungsweise einer neuen Stufe des Lebendigenzum Gegenstand hat. Also muss man das Modal »in seiner Qualitätfür unbedingt unauflösbar und irreduzibel halten und damit sagen,daß es als solches nie aufhört, auch wenn seine physikalisch-che-

4mischen Bedingungen exakt angegeben worden sind« (ebd.). Modale sind also qualitative Bestimmtheiten des Verhältnisseseines Seienden von einer bestimmten Seinsart zu seinem Umfeld,

5das heißt Modi materieller Reflexion. Die Reflexionsweisen von

4 | Vgl. auch »Anorganische Modale sind z.B. die Farbqualitäten. IhreQualität kann nie elektromagnetisch definiert werden. Das Quale setzt derPhysiker in eindeutige Beziehung zu einer bestimmten Wellenlänge und Ge-schwindigkeit, ohne auch nur im Mindesten die Absicht zu haben, damit dasspezifische Farbquale in seinem Fürsichsein, in diesem seinem besonderenGrün etwa zu erklären. Er trifft eine reine Zuordnung zwischen dieser Farbeund quantitativ fassbaren Grundlagen ihres Seins. Die auf solche rechneri-sche Weise feststellungsfähigen Schichten der Farbwirklichkeit erschöpfensie durchaus nicht. Sie hat eben darüber hinaus die nur anschauungsfähigeSchicht der spezifischen Qualität, des ›So Aussehens‹ […]« (IV/159).5 | Dass es nicht einfach Seinsmodi, sondern Reflexionsmodi sind, geht

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Organismen, mithin auf der Stufe des Lebens, sind durch die bei-den Wesensmöglichkeiten der offenen und der geschlossenen Formder Positionalität angegeben (welch letztere dann in die exzentri-sche Form übergehen und damit eine qualitativ neue Stufe des Or-ganischen konstituieren kann). Von der Reizbarkeit, die schondem Protoplasma eignet, bis zur ästhetischen Sensibilität desKünstlers und Kunstliebhabers gibt es einen durchgängigen, mehroder weniger differenzierten, mehr oder weniger komplexen Seins-habitus des ›Über-hinaus-Seins‹ oder der ›Verschränktheit‹ des In-dividuums mit seinem Umfeld; die Funktionen insgesamt diesesHabitus können als ›Sinnesempfindung‹ (sensation) bezeichnetwerden. Jeder neue Typus des organischen Seienden hat an denFunktionen des früheren teil und geht über sie hinaus. Das Tierhat die Reizbarkeit der Pflanze, aber es ist aktiv bei der Befriedi-gung seiner Bedürfnisse. Der Mensch hat Reizbarkeit und Aktivi-tät, aber auch noch die Fähigkeit, sich selbst zu vergegenständli-chen, also gleichsam außer sich treten zu können. Jede dieser Hal-tungen setzt die ›niederen‹ voraus, stößt sich von ihnen ab undnimmt sie mit, nicht ohne sie dabei in das neue Haltungsschemazu integrieren und zu transformieren. Das Modell eines ›Stufen-baus des Organischen‹ drückt das aus.

Ontologische Grundfragen

Plessner hat sich durchaus dazu bekannt, mit seiner Fragestellungden Bereich der Naturwissenschaften zu überschreiten und die seitder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verpönte Naturphilosophiewieder aufzunehmen. »Niemals steht der Naturphilosophie eineEntscheidung darüber zu, welche Faktoren eine Naturerscheinunghervorrufen können, sondern nur darüber, welche Begriffe, Ideen,Prinzipien geeignet sind, ein Verständnis von der Notwendigkeitihres Daseins als Erscheinungen zu ermöglichen« (III/73). Dass Naturphilosophie nolens volens ein Stück Metaphysik ist,hat er (zumindest in der Entstehungszeit der großen anthropologi-schen Entwürfe) nicht zugeben wollen. Der Philosophie des Leben-digen, die die Stufen systematisch entwickeln, glaubte er in derAisthesiologie der Einheit der Sinne noch eine erkenntnistheoreti-sche Grundlegung geben zu können, die den Widerstreit von Rea-

aus dem Hinweis auf Farbqualitäten als anorganische Modale hervor (siehevorhergehende Fußnote). Was das ontologisch für eine Theorie der Materia-lität besagt, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

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der SinnlichkeitDas Systemlismus und Transzendentalismus überwindet. Und doch ist die

Antwort, die die Theorie vom »Wahrheitswert sinnlichen Bewußt-seins« (III/74) gibt, selbst schon eine Regionalontologie des Be-wusstseins, in der nicht nur die Konstitution von Bewusstsein,sondern auch die apriorischen Voraussetzungen bzw. Prinzipiendes Bewusstseinsfeldes als Bewusstseinsfeld angegeben werden. Plessner unternimmt es, den ›Wahrheitswert‹ der natürlichenWelteinstellung nicht gegen die transzendentale Wende zu vertei-digen, sondern ihn auf dem Boden der transzendentalen Fragenach den Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständlichkeitund Erkenntnis wieder zu gewinnen. ›Natürlich‹, im doppeltenSinne von ›selbstverständlich‹ und ›naturgemäß‹, führt der Wegüber die dem Ich (Bewusstsein) evidente Beschaffenheit seinerselbst, und Plessner nimmt einen durchaus materialistischen Aus-gangspunkt ein, wenn er diese Beschaffenheit von der Leiblichkeitdes Menschen her zu fassen versucht. Die Sinne sind das Medium,in dem die ›präsentischen Gehalte‹ (also die ›Gegenstände‹) er-scheinen und durch deren physiologische Leistung sich das spezi-

6fische ›gegenständliche Wesen‹ des Menschen konstituiert. Hiervollzieht sich die »Berührung mit der Wirklichkeit« als »Grundaktjeder Erkenntnis« (III/63). Plessner hat später resigniert notiert, dass Die Einheit der Sinnenie eine ernsthafte Rezension bekommen habe (vgl. X/319). Dieeinzige Reaktion von Rang war Josef Königs 85 Druckseiten langerBrief (vgl. König/Plessner 1994), der in keinem Sinne eine Rezen-sion war, aber als Replik eines Freundes Plessner auch tief enttäu-schen musste; denn Königs Einwände gehen an Plessners Intention

7völlig vorbei.

6 | Darin möchten wir eine Nähe zu den anthropologischen Aspekten inden Schriften des jungen Marx sehen; vgl. Holz 1997: 3/284ff.7 | Dass Plessner auf diesen Brief nie antwortete und auch im späterenBriefwechsel nie darauf zurückkam, ist ein Indiz dieser Enttäuschung. Nachsieben Monaten erst dankt er lakonisch dafür, und dieser Dank aus dem zeit-lichen Abstand klingt wie ein Wiederanknüpfen nach einer Periode der Ent-fremdung: »Ihr großer Brief, Ihre Karten – seien Sie von Herzen bedanktdafür. Wir sind diesmal beide, d.h. ich weit, weit mehr wie Sie, wortkargerals früher. Ich fühle mich tief in Ihrer Schuld. Immer noch habe ich dengroßen Brief über die ›Einheit der Sinne‹ nicht beantwortet, eine Zeit langhemmte mich das ordentlich; aber eine richtige Beantwortung zu finden, istschwer. Ich muß die Dinge erst von Neuem zusammenstellen, sie aus demAbfluß Ihrer Gedanken systematisch gruppieren; und dann am besten münd-lich replizieren« (König/Plessner 1994: 172). Auf die systematischen Gründe

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur König bestreitet nämlich genau jenen Ansatz, dass der Grund-8akt jeder Erkenntnis die Berührung mit der Wirklichkeit sei.

Plessners Herleitung der Konstitution von Sinn (Sinn gegenständ-licher Verhältnisse, Sinn von Wahrnehmungsgehalten als dingli-cher oder eigenschaftlicher Gegebenheiten usw.) aus der Formbe-stimmtheit der Sinnlichkeit und die damit verbundene Zusammen-führung von äußerlich auf den Menschen einwirkenden Materienund durch die Leibverfassung des Menschen bedingte Formbe-stimmtheit der Gegebenheitsweise vermittelt Materie und Formdurch die Entsprechung von ›Modi des gegenständlichen Daseins‹und ›Modalitäten‹ des sinnlichen Affiziertseins. Dagegen erhebtKönig den Einwand, dies sei »viel zu viel Metaphysik« (ebd.: 229),und er selbst scheint trotz aller vorsichtigen Zurückhaltung letzt-lich darauf zu insistieren, dass eine strenge philosophische Kon-struktion nur transzendental verfahren, sich also nur innerhalb derGrenzen des selbst gegebenen Bereichs des Bewusstseins bewegendürfe. Plessner kam es darauf an, die Einheit des objektiv Gegebenenund der subjektiven Repräsentation im konstitutiven Bereich derSinnlichkeit darzustellen. König verkannte die daraus resultieren-de Doppelaspektivität des Bewusstseins und behandelt sie auseiner von der Priorität der Erkenntnistheorie bestimmten Einstel-lung als eine begriffliche Unschärfe: Die Gegebenheitsweisen desrepräsentativen Bewusstseins seien »doch unsere Erzeugnisse, un-sere ›Schöpfungen‹ (›Schöpfung‹ in einem ganz präzisen originä-

von Königs Unverständnis kann ich hier nicht eingehen. Plessner hatte in-zwischen Die Stufen des Organischen und der Mensch abgeschlossen und inDruck gegeben, die eine weitere Ausgestaltung seines naturphilosophischenAnsatzes darstellen. Einige der speziellen Einwände Königs sind durch dieStufen sicher ausgeräumt, die prinzipielle Differenz in der Hauptsache, derFrage nach der Möglichkeit einer realistischen Ontologie, bleibt bestehen, javerschärft sich. Plessner, der König ein Leben lang freundschaftlich verbun-den blieb, hat die andere Ausrichtung von dessen philosophischem Fragenrespektiert.8 | König/Plessner 1994: 227: »Es betrifft […] den Sinn Ihrer Fragenach dem ›Wahrheitswert‹ der Sinne oder nach ›der Gegenständlichkeit‹ derSinne – den Sinn dieses Problems – schon als Problem. Und korrelativ dazuden Interpretationssinn Ihrer Antwort: ›Objektivität der Sinnesqualitäten‹.[…] Ich glaube nicht, daß Ihnen der Nachweis der ›Einheit des Sinnes‹ indem von Ihnen intendierten Sinn gelungen ist. […] ›Denn die Berührungmit der Wirklichkeit, wird […] den Grundakt jeder Erkenntnis bilden‹. Ichglaube, diesen Satz bestreiten zu müssen.«

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der SinnlichkeitDas System9ren Sinn)« (ebd.: 243). Königs Behauptung, es sei die Sinnkons-

titution durch die Sinne »eine Sphäre, in der das ›Produzieren‹ ge-nau so wichtig ist wie das Erfassen« (ebd.), geht in der Dualitätvon Erfassen und Produzieren gerade an dem vorbei, was Plessnermit der Theorie der Modale zeigen wollte: dass nämlich im sinnli-chen Akt jedes Produzieren ein Erfassen und jedes Erfassen einProduzieren ist, so wie der Spiegel das Bespiegelte erfasst, indemer es re-produziert, und das Gespiegelte (das Spiegelbild) produ-

10ziert, indem er das Bespiegelte erfasst. Geist muss König, seinem Ansatz nach, als eine aktive Instanz(also quasi substanzialisiert) fassen, während für Plessner Geisteher der Titel für die strukturelle Einheit von Sein und Bewusstseinin den repräsentativen Funktionen ist, deren Ursprung er in denpräsentativen Funktionen der Sinne aufzeigen will – also geradeden Nachweis zu führen unternimmt, den nicht geführt zu haben

11König ihm vorwirft (vgl. ebd.: 244).

Die Leistung der Sinne

Plessners Formulierung, dass der Bewusstseinsträger im Bewusst-sein enthalten, aber eben als Träger des Bewusstseins diesem dochvorausgesetzt ist, deutet den Weg von einer transzendentalen Phä-

12 13nomenologie zu einer dialektischen Ontologie an. Eine solche

9 | Vgl. hierzu die folgenden Sätze (ebd.): »Sie reflektieren daraufnicht. Nur so kann ich es verstehen, daß Sie einer Sphäre, in der das ›Pro-duzieren‹ genau so wichtig ist, wie das Erfassen und beides wesentlichgleich wichtig ist, den einseitigen Titel des ›Verstehens‹ geben.«10 | Man darf hier auch an die Einheit von appetitus und perceptio in derrepraesentatio mundi bei Leibniz denken.11 | Königs weitere kritische Ausführungen verwickeln sich in verschie-dene und verschiedenartige Teilfragen. Wir gehen darauf nicht weiter ein,weil es hier nur darauf ankommt, an dem Kontrast der beiden Freunde diegrundsätzlich andere Problemstellung und Lösungsrichtung Plessners kennt-lich zu machen. König bekennt in dem Brief vielfach, dass er hinsichtlichseines eigenen Ansatzes noch unsicher sei. Wir meinen, es lässt sich zeigen,dass die entwickelte Fassung von Sein und Denken durch weitergehende Re-flexionen über Plessners Entwurf beeinflusst wurde und dass diese Wendungin der Rezeption die intensive Beschäftigung Königs mit Hegel zur Voraus-setzung hatte.12 | Man vergleiche dazu Husserls Vorgaben über das methodologischeVorgehen einer transzendentalen Phänomenologie (Husserl 1950) und dazu

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Mensch – Natur fordert indessen die Begründung des Selbstverhältnisses der ex-zentrischen Positionalität in einer Leistung des Bewusstseinsträ-gers, des Leibs, ›über sich hinaus‹ zu sein; und eben diese Leis-tung wird in dem Entwurf eines Systems der Sinnlichkeit expliziert.Die Einheit der Sinne ist die Grundlage für die Stufen des Organi-schen – so wie Hegels Phänomenologie des Geistes die Grundlagefür die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ist. DieAisthesiologie macht es systematisch möglich, die Spezifik desmenschlichen Selbstverhältnisses (als Selbstbewusstsein) und da-mit die konstitutive Funktion von Arbeit und Sprache für die An-thropologie in der Dialektik der Natur zu begründen. Plessnerbuchstabiert sozusagen den Weg von Feuerbach über Marx zu En-gels (vgl. Holz 1997: 3/209ff.) noch einmal zurück, um anstelleder gescheiterten feuerbachschen Grundlegung einen soliderenBoden zu gewinnen. Der Umriss einer Theorie, die die Dialektik derNatur, oder in Plessners Sprache: die Naturphilosophie, in der Na-tur selbst würde fundieren können, schwebte Plessner schon inseinem ersten Werk, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang(vgl. I/143ff.) vor. Die Einheit der Sinne sollte die Ursprünge auf-zeigen, aus denen ein System der Natur (als die lebensweltlicheBedingung des Menschseins) hervorgeht. Der Aufbau einer Theorie des Menschen ›von unten her‹, alsoausgehend von seiner anatomischen und physiologischen ›Bio-Verfassung‹, muss das Auftreten der spezifisch menschlichen Ei-genschaften erklären, also im Ganzen seinen Übergang zur Exzent-rizität darlegen, dergemäß der Mensch sich zu sich selbst gegen-ständlich, das heißt reflexiv verhält. »Aufrechter Gang, Großhir-nentwicklung, Sprache, Hand, Werkzeugherstellung, Abstraktions-vermögen. Offensichtlich besteht zwischen allen diesen Gaben undFunktionen eines zoologisch zu den Primaten gehörenden Wirbel-tieres […] ein rein körperliche und unkörperliche Merkmale umfas-sender Zusammenhang. Dieser Zusammenhang kann nicht in dereinen oder anderen Merkmalsgruppe gefaßt werden, auch wennman sicher zu Recht dem Großhirn die Führungsrolle unter ihnenzuspricht. Die Bezeichnung ›exzentrisch‹ wahrt den Zusammen-hang mit der bei den Wirbeltieren in steigendem Maße zum Aus-druck kommenden zentrischen Lebensform und unterstreicht die

Plessners Position, z.B. in II/316, über die Position des kritischen Rationa-lismus.13 | Ich sehe eine angemessene Formulierung dieses Verhältnisses in derAnwendung der Spiegelmetapher auf die exzentrische Positionalität imRahmen einer ausgearbeiteten Theorie der Reflexion.

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der SinnlichkeitDas Systemim zoologischen Rahmen verbleibende und ihn sprengende Dop-

pelnatur des Menschen« (VIII/396). Der junge Plessner, der geradedreißigjährig den ersten Schritt zur philosophischen Anthropologietat und damit die transzendentalphilosophische Fragestellung derphänomenologischen Schule, aus der er als Philosoph herkam, mitden biologischen Problemen verband, denen er sein Fachstudiumgewidmet hatte, sah in der Systematik der Sinneswahrnehmung denBereich, in dem physiologische und psychologische Prozesse in-einander verschränkt sind und zur Konstitution einer semanti-schen Repräsentation zusammenwirken. »Ich stehe mit den Dingender Umwelt mittels meines Leibes in einem unmittelbaren und alsunmittelbar erlebten Kontakt. Sehen, Hören, Tasten, jedes Empfin-den, Anschauen, Wahrnehmen hat den Sinn, sich in einer unmit-telbaren Vergegenwärtigung der Farben und Formen, des Schalls,der Oberflächenbeschaffenheit und Härte der Dinge selbst zu erfül-len. Die Beachtung der Tatsache, daß hierfür vermittelnde Prozes-se in den Sinnesorganen, Nerven und Zentralnervensystem nötigsind, kompliziert zwar die Begründung dieser Wahrheit, hebt sieaber als solche nicht auf« (VII/246). Weder der neurophysiologische Prozess, der heute als selbstre-ferenzielles System dargestellt wird, noch die Wahrnehmungspsy-chologie, zu deren Elementaria die Gestalttheoretiker so viel beige-tragen haben, geben uns ein Modell der Zuordnung der beidenselbstständigen Funktionskreise und schon gar nicht eine Erklä-rung der Konstitution von Bedeutung. Sie gelangen bestenfalls zu

14einer deskriptiven Theorie des psychophysischen Parallelismus. Plessner wirft die Konkordanzproblematik zweier Funktions-kreise über Bord. Wenn die Welt aus einer Mannigfaltigkeit vonverschiedenen Seienden besteht, die aufeinander einwirken, danngibt es mögliche differente Modi, wie diese Einwirkungen aufge-nommen werden können. Ein einfaches Beispiel aus dem Bereichder offenen Positionalität ist die Heliotropie von Pflanzen, aus demBereich der geschlossenen Positionalität das Flucht- oder Aggres-sionsverhalten von Tieren. Welt artikuliert sich für das einzelneLebewesen aufgrund der Modalitäten, die das Verknüpfungsmuster

14 | Schon Friedrich Paulsen hat die selbstreferenzielle Geschlossenheitder Systeme der Physiologie und der Psychologie und ihre Parallelität als ei-ne mögliche Interpretation der Entsprechung von Außen- und Innenweltformuliert (vgl. Paulsen 1892: 87ff.). Allerdings führt der Parallelismus zuweit hergeholten Fiktionen wie der des Okkasionalismus oder der einer All-beseelung im Sinne Gustav Theodor Fechners, zu welcher Position Paulsenneigt.

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Mensch – Natur von Reiz und Reaktion bestimmen. Was in dieses Muster eingeht,ist ›seine‹ Welt, nicht die ganze Welt, aber ein Segment der Real-welt und nicht irgendeine Fiktion; sonst würde die Reaktion aufden Reiz nicht ›passen‹, sondern das Verhalten falsch steuern.»Überall in der Tierwelt gilt der Satz: Reiz und Reaktion entspre-chen einander. Umfang und Art der Reizbarkeit korrespondierenUmfang und Art der Beantwortung. Eine festsitzende Seerose mußihre Nahrung herbeistrudeln. Sie spricht deshalb auf andere Reizean als ein frei beweglicher Seestern, der übrigens im gleichen Mi-lieu lebt wie sie. Sie reagiert auf Strömung im wesentlichen tak-tisch und chemisch, während der Seestern suchen kann und überzwei Lichtsinne verfügt, einen Richtungssinn und einen Haut-lichtsinn, der ihm Beschattung durch größere Objekte anzeigt, dieihm gefährlich werden können« (III/325). So hat jedes Lebewesenseine spezifische ›Umwelt‹, auf die es bezogen ist und deren Ver-knüpfung zu einem Lebenszusammenhang sich in verschiedenen,jeweils spezifisch hervortretenden Wirkungslinien manifestiert;seine Umwelt bilden also die Strukturelemente des Gesamtzusam-menhangs, auf die es bevorzugt oder ausschließlich hingeordnetist und reagiert; und es selbst bildet ein Moment solcher Struktu-ren, Teilstrukturen, ist also in den Gesamtzusammenhang auf einebesondere Weise eingebettet – wie die Differenz von Seerose undSeestern im gleichen Milieu zeigt. Dieser selektive Weltbegriff be-sagt für jede Art: »Die gesamte Mannigfaltigkeit des überhauptMöglichen, das heißt Sinnvollen, bildet ein System, das sich mitdem System der Sinnesmodalitäten in der bestimmt angegebenenArt deckt« (III/302). Sinnlichkeit ist also der Modus, in dem die Weltbeziehung desLebewesens sich realisiert. Sie ist nicht ein ›Vermögen‹ des Sub-jekts, unabhängig von dem Sein der Dinge und zu diesem hinzu-kommend, sondern die Seinsweise des Lebendseins, dessen essen-zielle Bestimmtheit durch das wechselseitige Einander-gegen-

15ständlich-Sein von Lebewesen und Umwelt. Als eine zoologische Art ist der Mensch in seiner ›Bio-Verfas-sung‹ nicht anders angelegt als Seerose oder Seestern – nur we-sentlich komplexer. Und zu diesem Komplexionsgrad gibt es eineevolutionstheoretisch zu beschreibende Differenzierungslinie (vgl.Mayr 1991). Unter dieser Perspektive lässt sich die Dialektik derNatur in der Diachronie der Anthropogenese aufzeigen, deren letz-

15 | Die Reflexionsstruktur alles Seienden, zuerst von Leibniz in einemmetaphysischen Modell ausgearbeitet, ist die dialektische ontische Verfasst-heit von Welt (vgl. Holz 1983: 40ff.).

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der SinnlichkeitDas System16te Stufe dann der Übergang zu Arbeit und Sprache darstellt. Das

ist jedoch nicht Plessners Problem. Er will die in der Spezifik derSinneswahrnehmung liegenden Bedingungen der Möglichkeit einer

17Menschenwelt – unterschieden von einer tierischen Umwelt –eruieren, also eine transzendentale Frage auf dem Boden einer ob-jektiven natürlichen Gegebenheit (als Vorgegebenheit für die de-finitive Beschreibung eines Seinsbereichs), der Sinnlichkeit allesLebendigen, stellen und beantworten. An die Stelle des formallogi-schen (oder auch formalontologischen) Apriori der Transzendental-philosophie (vgl. Husserl 1929) tritt nun das ›materiale Apriori‹einer Seinsregion, die Sinnlichkeit allgemein für die Region desLebendigen, die spezifische Modalität menschlicher Sinnlichkeitfür die Region des Menschseins (als eine Subregion des Lebendi-gen, aber auch als eine Region einer ganz anderen Positionalität,der exzentrischen). Was Plessner damit leistet, ist »eine nicht for-male Ontologie […], eine Ontologie hinsichtlich ihres gegenständ-lichen Gebietes, als eines besonderen Gebietes von möglichen Ge-genständlichkeiten« (ebd.: 128). Diese Regionalontologie ist diephilosophische Grundlage jeder möglichen empirischen Anthropo-logie.

Regionalontologie der organischen Natur

Was unter einer ›Regionalontologie‹ zu verstehen sei, hat Husserlgenauer angegeben; und Plessners enge Beziehungen zu Husserlund zur phänomenologischen Schule gestatten es, Husserls Über-legungen zu formalen und regionalen Ontologien für Plessners An-satz fruchtbar zu machen. Eben zur gleichen Zeit, als Plessner Die Stufen des Organischenund der Mensch schrieb, hat Husserl an dem Werk gearbeitet, dasden Übergang zu seiner Spätphilosophie vollzieht: Formale undtranszendentale Logik (1929, vgl. Husserl 1948). Hier versuchtHusserl, das Verhältnis von Logik als Urteilslehre (apophantischeLogik) zur Ontologie zu klären. Phänomenologisch evident ist dieTatsache, »daß, wenn wir urteilen, in diesem Urteilen selbst sichdie Beziehung auf den Gegenstand herstellt« (Husserl 1929: 99).

16 | Hier behält Engels’ Konzept vom Anteil der Arbeit an der Mensch-werdung des Affen seine tendenzielle Gültigkeit.17 | Zum Gegensatz von Welt und Umwelt vgl. die Arbeiten von Jakobvon Uexküll, insbesondere Umwelt und Innenleben der Tiere (1921); dazuPlessner VIII/164, 180ff.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Diese gegenständliche Gerichtetheit kann im Absehen von allenbesonderen Inhalten auf den unbestimmten Gegenstand über-haupt, ein Etwas-Überhaupt (ens qua ens), reduziert werden, so-dass als kategoriale Bestimmungen nur noch die formalen »Modides Etwas-Überhaupt […] Eigenschaft, Relation, Sachverhalt, Viel-heit, Einzelheit, Reihe, Ordnung usw.« (ebd.: 101) übrig bleiben.Dann haben wir es mit einer formalen Ontologie zu tun, derenÄquivalent die formale Logik ist, sodass »beide Disziplinen, undbis ins einzelne, in durchgängiger Korrelation stehen und darum

18als eine einzige Wissenschaft zu gelten haben«. Der formale Charakter dieser Ontologie der obersten Allge-meinheiten schließt ein, dass diese in der Spezifikation der Gegen-ständlichkeit, die in jedem besonderen Urteil vorgenommen wird,enthalten sind. »Nennen wir formale Ontologie eine apriorischeWissenschaft von Gegenständen überhaupt, so heißt das also ohneweiteres, von möglichen Gegenständen rein als solchen. Natürlichgehören in ihren thematischen Bereich alle als möglich erdenkli-chen kategorialen Abwandlungen von ›Gegenständen überhaupt‹.Eine nicht formale Ontologie wäre dann irgendeine apriorischeWissenschaft sonst, sie wäre eine Ontologie hinsichtlich ihres ge-genständlichen Gebietes, als eines besonderen Gebietes von mögli-chen Gegenständlichkeiten« (ebd.: 128). Um sich als Ontologie eines Gegenstandsgebietes, das heißt alseine Regionalontologie zu erweisen, müssen die Spezifikationendes obersten Allgemeinbegriffs ›Etwas-Überhaupt‹ als Formbe-stimmtheiten jedes möglichen Gegenstandes der Region apriorischkonstitutiv für die Region sein. Nun ist eine innerweltliche, empi-risch gegebene Region gerade nicht nur durch formale Allgemein-bestimmungem definierbar, sonst wäre jede Ontologie eine formaleund würde mit der apophantischen Logik koinzidieren; sondern siemuss durch materiale Bestimmungen, Besonderungen sich gegendas Etwas-Überhaupt abheben. So gelangt Plessner, in der Elabo-rierung des Konzepts der Regionalontologien für den Gegenstands-bereich des Organischen, zur Fundierung ihrer Wesensbestimmt-heit in einem materialen Apriori und damit erst zu dem Kriterium,das es erlaubt, regionale Ontologien als solche (gegenüber denWissenschaftsdisziplinen, deren Seinsverfassung sie reflektieren)auszuzeichnen.

18 | Dies entspricht genau dem Ontologie-Verständnis Christian Wolffs:»Die Ontologie oder erste Philosophie ist die Wissenschaft vom Seienden inseiner Gattungsallgemeinheit, das heißt insofern es seiend ist« (Wolff 1728:§ 1).

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der SinnlichkeitDas System Als das materiale Apriori des Organischen hat Plessner die Zu-

gehörigkeit der Grenze zum Leib als dessen Medium des Über-ihn-hinaus-Seins erkannt. Als dieses Medium ist die Grenze desLeibs ebenso empfänglich für die Eindrücke von außen – sie ›fängtsie auf‹ und nimmt sie in den Leib hinein – wie sie Organ für dieWirkung von innen nach außen ist, für die Tätigkeit des Lebendi-

19gen. Sie drückt sie in Motorik als ›Gestus‹ aus , worunter regio-nal-allgemein die Öffnung einer Blüte ebenso verstanden werdensoll wie der Zugriff des Arbeiters auf den Arbeitsgegenstand imUmgang mit dem Material. Die zweifache Funktion der Leibgrenzekonstituiert die ›Doppelaspektivität‹ (vgl. IV/127ff.) des Lebendi-gen, die wesenhafte Einheit von perceptio und appetitus, von Re-

20zeptivität und Intentionalität. Das rein rezeptive Moment lässtsich mit dem klassischen Terminus ›Anschauung‹ fassen, das aktiveSich-zur-Umwelt-Stellen bezeichnet Plessner als Haltung in Ent-

21sprechung zur aristotelischen Kategorie der hexis. Haltungensind Grundformen der Weltzugewandtheit des Leibes. Die Doppelaspektivität setzt sich aber nochmals in jedem Be-

19 | »Die ausdrückenden Gesten sind noch frei von jeder Zielbestimmt-heit. Signalisierende Bewegungen sind, abgesehen vom allgemeinen Zweckder Kundgabe und des Verstandenseinwollens, auf Bedeutungen als ihre Zie-le gerichtet. In der echten Zweckhandlung schließlich ist der höchste Gradvon eindeutiger Gerichtetheit erreicht« (III/212). Hier ist an Brechts Refle-xionen über das Theater zu erinnern, die wesentlich vom Begriff des Gestusbestimmt sind: »Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinandereinnehmen, nennen wir den gestischen Bereich. Körperhaltung, Tonfall undGesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen ›Gestus‹ bestimmt. […]Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehörenselbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichenSchmerzes in der Krankheit oder die religiösen« (Brecht 1949: § 61). Im §65 wird dann die ›Fabel‹ eines Stücks als »die Gesamtkomposition aller ge-stischen Vorgänge« bezeichnet, in § 66 heißt es: »Jedes Einzelgeschehnishat einen Grundgestus.«20 | Dass Leibniz die Identität beider Aspekte in ihrer Unterschiedenheitmit dem Übergreifen des Tätigseins über das Leiden, das eine Art Tätigkeitist, erkannte, hätte Plessner zur ontologischen Fundierung seines Modellsheranziehen können. Doch hat diese Struktur der leibnizschen Metaphysikerst König aufgedeckt (vgl. König 1978; Holz 1992: 99ff.).21 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik V, 20, 1022 b 4ff. Da heißt es: »Haltungnennt man (1.) in der einen Bedeutung z.B. eine Tätigkeit (Wirklichkeit) desHaltenden und des Gehaltenen. […] (2.) In einem anderen Sinne abernennt man Haltung die Disposition […].«

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Mensch – Natur reich für sich durch: Die perzeptische Anschauung hat die Aspektevon Anschauung (die sich mit einer Empfindung füllt, ihrer als Er-lebnis innewird, ihren Gegenstand in einer Gestalt antrifft [vgl.IV/189]) und Auffassung (die einen Sinn formt, eine Bedeutunggliedert, einen Begriff konstruiert [vgl. ebd.]). Es ist deutlich, dassim perzeptiven Bereich die reinen Anschauungsfunktionen die pas-sive, aufnehmende Seite ausmachen und die Auffassungsfunktio-nen die aktive, Konfigurationen schaffende. Nicht anders ist es im intentionalen Bereich der Haltung, inder sich das Innen nach außen darstellt, verkörpert (vgl. Plessner1976: 61ff.). Auch das geschieht auf zweifache Weise als Ausdruckund Handlung, jener »frei von jeder Zielbestimmtheit«, diese »voneindeutiger Gerichtetheit« (III/212), also das Erscheinen des In-sich-Seins und das Erscheinen des Außer-sich-Gehens. Aber auchdie Rezeptivität selbst ist eine Haltung, und so kann Plessner sa-gen: »Anschauung und Auffassung bilden die beiden Grundhaltun-gen des Bewußtseins« (III/204). Das Übergreifen des aktivenSich-Verhaltens über die passive Einstellung, die nur eine andereArt Aktivität, die der Aktivität entgegengesetzte ist, tritt als einWesensmoment des Lebendigen zutage. Hier wird das dialektischeMoment von Plessners Ontologie deutlich. Sind nun die Sinne die Modale der Grenzbeziehung des Leibes,»über ihn hinaus zu sein«, so müssen sie offenbar zu den Manifes-tationen der Aspektivität in einem logisch-systematischen Zuord-nungsverhältnis stehen. Dass dies für die Funktionsreihe der An-schauung, Empfindung, Erlebnis, Gestaltwahrnehmung zutrifft, istnicht schwer einzusehen und entspricht dem rezeptiven Charakterder Sinnesleistung. Bei Haltungen, die doch schon die Reaktionauf den empfangenen Eindruck darstellen und die Einbeziehungdes Lebewesens in die Funktionsganzheit eines Feldes anzeigen,kann die Übereinstimmung mit den Sinnen nicht auf einer unmit-telbaren Parallelität von sinnlicher Präsentation und Bewusstsein-srepräsentation beruhen. Für die Rückwirkung einer Sinnesfunk-tion auf einen Haltungsmodus, also die Übertragung vom Innena-spekt auf den Außenaspekt, hat Plessner darum den Terminus ›Ak-kordanz‹ (im Unterschied zu ›Konkordanz‹) gewählt, der die »Zu-sammenstimmung (einer Sinnesgegebenheit) mit der Leibeshal-tung bezeichnet« (III/243). Der Tanz ist zum Beispiel eine solche Akkordanz zwischenakustischem Empfinden und Leibeshaltung. Was Goethe in der Far-benlehre unter dem Titel »sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe«abgehandelt hat, ist gleichfalls ein Akkordanzphänomen (vgl. Goe-

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der SinnlichkeitDas System22the 1953). Plessner, der vor allem auf Bewegungsabläufe, das

heißt die Motorik von Haltungen, achtete, hat diesen Zusammen-hang nicht gesehen. Er meint: »Damit eine Abfolge von Sinnesda-ten motiviert ist, muß eine Folge in ihr zum Ausdruck kommen.[…] Deshalb ist jede Bewegung, jede Abfolge Farbdaten gegenüberäußerlich und im Wesen des optischen Stoffs nicht motiviert« (III/254). Erst in der Richtung der vom Sehstrahl abgeleiteten geome-trischen Figur, dem »Apriori geometrischen Sinnverständnisses«(III/258), will er »eine mittelbare Akkordanz zur Handlung« (ebd.:262) erkennen. Dann allerdings, in der distanzierten Vergegen-ständlichung durch das Sehen, ist auch die unmittelbare Akkor-danz des Gesichtssinnes zur höchsten Entwicklungsstufe der Hand-lung, der ›gegenständlichen Tätigkeit‹ gegeben. »Nur im Sehstrahlist reine Erfassung der Dinglichkeit einer Inhaltsfülle, die griffigunserem Handeln Ansatzpunkte bietet, möglich […]. Jeder andereals der optische Sinn gibt Dinge primär zuständlich. Allein im Ge-sichtssinn eilt, sozusagen, der Blickstrahl zu dem Dinge hin, um-faßt es wie eine menschliche Hand und gibt mit diesem Griff demOrganismus den Radius seines Spielraums« (III/264). Damit ist der Rahmen einer Ontologie der Lebenswelt als der inder sinnlichen Gegenständlichkeit gegebenen Region abgesteckt.Das Fundament dieses ontologischen Konzepts wird nun allerdingsin der Durchführung der Theorie von der Einheit der Sinne nochnicht freigelegt. Die Dreiteilung der Sinnlichkeit in die drei ›Sin-neskreise‹ Gehör, Gesicht und Zustandsmodalitäten scheint zu-nächst eher empirisch aufgelesen und klassifikatorisch willkürlich,weil unter dem dritten Kreis so mannigfache wie durchaus ver-schiedenartige Modi wie »Geschmack und Geruch, Getast undSchmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust« (III/267f.) verrechnet werden. Die Zustandsmodalitäten heben sich vonder Systematik, die in Die Einheit der Sinne über der Akkordanzvon Sinnen und Haltungen entwickelt wird, auch disparat ab; denn»die Sinne des zuständlichen Funktionskreises entbehren der Ak-kordanz zur Haltung und damit zu irgendeiner der Ordnungsfunk-tionen, nach denen Sinngebung allein möglich ist« (III/269). In reiner Realisierung, ohne Beimischung fremder Momente,ist der Ausdruck dem Sinneskreis des Gehörs (und der ihm adäqua-ten Leibbewegung) zugeordnet. Plessner nennt als »besonderenFall« dieser idealen Reinheit die »Adäquation der Ausdrucksbewe-gung zum Ausdruckssinn: im Tanz zur Musik« (III/222); und gene-

22 | Bei Farbtheorien von Künstlern wird oft von Akkordanzen Gebrauchgemacht; vgl. z.B. Itten 1961, 1988; Holz 1971).

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur rell konstatiert er »die Akkordanz des akustischen Stoffs zur Hal-tung des Leibes«, aber die »Tonwelt bezieht sich weder auf Örterund Richtungen des Raumes noch auch auf die phänomenaleRäumlichkeit des Leibes« (III/238f.); so bleibt der den Tönen ent-sprechende Bewegungstyp in sich zurückgebogen, selbstbezüglichund ohne Tendenz zum Ausgreifen auf Äußeres, Anderes. Anders der Sinneskreis des Gesichts. Die Sehfunktion steht inAkkordanz »zum Element aller Figur, der Richtung, oder, schärfergesagt, des Strahls. Damit eine Reihe von Punkten anschaulich ge-ordnet ist, müssen die Urbeziehungen des Neben, Zwischen, Ge-genüber Anwendung gefunden haben« (III/258). Das führt zu derKonsequenz, dass der optische Sinn das Paradigma der Gegen-ständlichkeit schlechthin, der distanzierten Welthabe und damitdie sinnliche Voraussetzung gegenständlichen Handelns wird. ImTon dagegen sind Anfang und Ende nicht ›auseinander‹ (partes ex-tra partes); wohl aber sind zwei gleichzeitig gesehene Punkte oderFiguren von einander getrennt und jede Linie ist visuell in Ab-schnitte zerlegbar, teilbar. So gibt uns der Gesichtssinn die Bezie-hung von Einem zum Anderen, das heißt die (wechselseitige) Ge-richtetheit des Einen auf das Andere. Damit ordnet sich der Sin-neskreis des Gesichts der Struktur der Handlung zu, so wie der des

23Gehörs der Struktur des Ausdrucks. Beide Sinne ›überbrücken‹ den Raum. Was gesehen und gehörtwird, artikuliert sich nach Nähe und Ferne nicht erst beim Men-schen, sondern schon beim Tier. Um aber Distanzen und nicht nurverschiedene Grade von Betroffenheit durch die Auslöser- und Sig-nalfunktionen der Wahrnehmung zu erfahren, bedarf es noch einerDifferenz der Sinnesmodale, die uns den Wahrnehmungsgegens-tand vermitteln. Der Tastsinn mit dem aktiven Zugreifen der Hand,was erst ›Handlung‹ ausmacht, ist in doppeltem Sinne primär: DieBerührung, der Körperkontakt ist die ursprüngliche Funktion derGrenze, die Seinsweise, in der das bloße Aneinanderstoßen anor-ganischer Materien in die Positionalität des Lebendigen umschlägt;und physiko-chemische Kontaktwirkungen treten schon auf der›niederen‹ Stufe der offenen Positionalität (die doch auch evoluti-onär die früheren sind) auf. Die passive Berührungsempfindung

23 | Zwischen Ausdruck und Handlung gibt es noch eine Zwischenstufedes Zeichengebens, also der Setzung von Bedeutungen, in denen gleichsameine Mittellage zwischen Selbstsein und Entäußerung eingenommen wird.Auf die herausragende Rolle, die der Verselbstständigung dieser Mittellagebei der Konstitution dessen, was man ›Geist‹ nennt, zukommt, können wiran dieser Stelle nicht eingehen.

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der SinnlichkeitDas Systemmuss aber in aktives Zugreifen übergegangen sein, um mit Sehen

(und Hören) die sinnliche Spezifik der Räumlichkeit entstehen zulassen. »Sehen als Präsentation der Ferne und Tasten als die derNähe sind Gegenpole, phänomenologisch nach ihrer Erlebnisquali-tät wie in ihrer Rollenverteilung für das Verstehen und Erkennen«(III/335). Plessner spricht von der »Dominanz des Auge-Hand-Feldes«(III/169ff.) und warnt davor, einem der Sinne gegenüber den an-deren den Vorrang zu geben oder ihm begründende Funktion zu-

24zuweisen. Vielmehr gilt der Systemzusammenhang von Sinnesbe-reichen für die besondere Form der menschlichen Weltauffassung:»Wir können nur die Korrespondenz zwischen aufrechter Haltung,Auge und Handgebrauch zum Ausgangspunkt nehmen. […] Diepsycho-physische Verbindung verwirklicht sich nur im Vollzug derExistenz. Im Vollzug wird unser Körper leibhafte Mitte unseresVerhaltens und vom Verhalten aus als ein skizzenhafter Entwurfunserer Art, in der Welt zu sein, verständlich. […] Durch die Do-minanz des Auge-Hand-Feldes liegt der Werkzeuggebrauch demMenschen ›auf der Hand‹. Sie ist als vom Auge geführtes, und, weilin seinem Sichtfeld liegendes, bevorzugtes Greiforgan, das ihm an-gewachsene Werkzeug par excellence. […] Aufrechte Haltung undWerkzeug›erfindung‹ bilden einen Strukturzusammenhang« (III/333). Das Hören kommt hinzu und erweitert den Raum um einennicht sichtbaren Bereich, wodurch er eigentlich erst universell wird. Sinnkonstitution und damit Welthabe geschieht also in derSynergie von taktiler, akustischer und optischer Rezeptivität undihrem Umschlag zur Handlung. Durch sie wird Welt im Modus eines»bestimmten Eindrucks« (König 1937) und zugleich im Modus derbestimmbaren Gegenständlichkeit erfahren. Es liegt auf der Hand,dass eine solche Gegebenheitsweise von Welt als eine Entgegenset-zung des sinnlich wahrnehmenden Wesens und der wahrgenomme-nen Entitäten erscheint. Das wahrnehmende Wesen behauptet sich

24 | Plessner dazu: »Melchior Palagyi lehrt den Primat des Tastens als deseigentlichen Vollsinnes. Ihm kommt solche exzeptionelle Stellung zu, weilin ihm allein Fremd- und Selbstempfindung sich gegenseitig bedingen, sodaß dieser Modus für sich allein bereits die vitale Grundlage für ein Wahr-nehmen bilden kann. Eine sehr problematische These, weil die Einbettungder beiden Sinnessektoren in das propriozeptive System der Muskel- undKraftempfindungen hineinspielt. Dieses System wird für den Menschen vonseinem Verhältnis zu ›sich‹ beherrscht und korrelativ dazu vom Außen- undFremdcharakter seiner ›Gegenstände‹. Die Komplikationen hat Palagyi über-sehen« (III/336f.; vgl. Palagyi 1924: 154ff., besonders 162ff.).

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur aus eigener Mitte selbstständig gegen die Umwelt. Das ist die Posi-tionalität der geschlossenen Form, die durch Zentralität und Fron-talität gekennzeichnet ist, wie Plessner das fünf Jahre nach DieEinheit der Sinne in Die Stufen des Organischen und der Mensch he-rausgearbeitet hat. »Jedes Tier ist der Möglichkeit nach ein Zent-rum, für welches (in einem wie wechselnden Umfang immer) eige-ner Leib und fremde Inhalte gegeben sind. Es lebt körperlichsich gegenwärtig in einem von ihm abgehobenen Umfeld oder inder Relation des Gegenüber« (IV/306). Aisthesiologisch ist derMensch, in der Positionalität der exzentrischen Form, nur ein Son-derfall der zentrischen und hat an allen ihren Bestimmungen teil. Jetzt wird es deutlich, daß die Systematik der Sinne, wiePlessner sie in dem früheren Werk darstellt, schon auf die allge-meine Theorie des Organischen bezogen ist, die das spätere Werkentwickelt. Und so erklärt sich auch der dritte Sinneskreis der Zu-standsmodalitäten. Denn diese, in denen nur Erregtheit »an denSinnesflächen des eigenen Leibes« (III/273) und noch keine be-stimmbare Gegenständlichkeit erfahren wird, entsprechen der mor-phologisch früheren Organisation der Positionalität der offenenForm, wie sie die Pflanze kennzeichnet. Plessner zitiert HedwigConrad-Martius: »[…] alle Bewegungen gehen an der Pflanze vorsich, nie ›von‹ der Pflanze ›aus‹« (IV/288). Zustandsmodalitäten geben die Einwirkung der Welt auf denOrganismus ganz ungeformt wieder: die Wärme der Sonne, denDuft der Blume, den Geschmack der Beere, das Wohlgefühl oderden Kitzel einer Berührung, den Schmerz der Verletzung, die Be-klemmung der Atemnot. »Da liegt das Material gewissermaßen fürsich da und dient als bloßes Substrat in einfacher Gegebenheit«(III/273). Diese Empfindungen lassen den Organismus einfach seinIn-Sein spüren, Welt als etwas, das einwirkt und sich in der eige-nen Zuständlichkeit ausdrückt, indem der Organismus darauf sich

25öffnend oder sich in sich zurückziehend reagiert. Die Zustandssinne haben noch keine ›Gegenstände‹. »Ihr Feldist das körperliche Sein des eigenen Leibes und der fremden Dinge.Ihre Weise ist die Vergegenwärtigung des Seins im Erleben […].Eine zentrale Stellung nimmt in dieser Vergegenwärtigung der Leibdes Individuums, der ›eigene‹ Körper ein. Denn er ist Reizfeld,

25 | Die Mimose kann als Paradigma für solche reizempfindliche Zuständ-lichkeit gelten. Beim Menschen bilden die ›Stimmungen‹ diesen Unterbau,wie die Beschreibung von Bollnow (1943: 19ff.) klar herausarbeitet, oft mitgenauen Parallelen zu Plessners Formulierungen, ohne dass je auf Plessnerhingewiesen würde.

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der SinnlichkeitDas SystemAusdrucksfeld, Reaktionsschema und Ansatzgebiet beziehungswei-

se Instrument der Impulse und des Willens, die konkrete Figur, inder die seelische Wirklichkeit ihre Vertretung […] besitzt« (III/

26285). Ohne Definiertheit von Gegenständen, auf die sich die Sensibi-lität der offenen Position beziehen könnte, bleibt auch die Reiz-antwort, die Reaktion unbestimmt. Der Organismus ist in dieserModalität ›in der Welt‹, aber noch nicht ›zu der Welt‹ und schongar nicht ihr ›gegenüber‹. Das heißt: Welt hat noch keine Struktur,sie ist einfaches ›Umsein‹. »Die Sinne des zuständlichen Funk-tionskreises entbehren der Akkordanz zur Haltung und damit zuirgendeiner der Ordnungsfunktionen, nach denen Sinngebung al-lein möglich ist« (III/269). Sinn ist eine Beziehungsqualität, die erst auf der Stufe der Re-flexion der Reflexion ausgesagt oder ›gegeben‹ werden kann (vgl.Holz 1983: 45ff.). Diese Stufe aber erreicht typologisch scharf ab-gegrenzt, aber mit evolutionären Zwischenstufen erst der Menschals das Lebewesen in exzentrischer Positionalität, die ihrerseits diezentrische Positionalität voraussetzt, auf ihr aufbaut und sie insich einbezieht. Erst auf dieser Stufe kann von ›Geist‹ gesprochenwerden, der der vollen Entwickeltheit der Sinnesmodale bedarf, umsich konstituieren zu können. Nun wird deutlich, warum Plessner sagen kann, daß es nur die-se drei Sinnesmodale, Zustandssinne, Gehör, Gesicht, als materia-les Apriori des Lebendigen geben kann. Denn als Stellungen desLebewesens zur Welt sind wesensmäßig nur die drei Formen der of-fenen, der geschlossen-zentrischen und der exzentrischen Positio-nalität möglich. jede entwickelte, ›höhere‹ Form hat aber an denkategorialen Bestimmtheiten der ›niederen‹ noch teil, weil sie sichaus dieser herausbildet. So ist der Mensch, wesentlich als Menschin exzentrischer Positionalität, immer noch gebunden an die Ge-staltqualitäten der ihn bio-genetisch fundierenden Organisations-formen der offenen und geschlossenen Positionalität, also an ent-wicklungsgeschichtlich ererbte Sinnesmodale. In seinem komple-xen durchgeformten Organismus erhält er sie und integriert sie zu-gleich in höhere Funktionszusammenhänge, hebt sie also auch inihrer Leistung auf eine höhere Stufe.

26 | Die letztere Bemerkung bezieht sich natürlich erst auf die Zustands-modalitäten in höheren Formen des Organischen, bei denen sie mit den an-deren Sinnesmodalen eine Strukturganzheit bilden; auf der Stufe der offe-nen Positionalität ist ihre Leistung rein die des Innewerdens von Weltmo-menten im eigenen Sein.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Dialektische Einheit der Natur

Damit hat Plessner ein Modell der Einheit der organischen Natur,vom reizempfindlichen Einzeller bis zum Menschen, skizziert, indem die qualitativen Unterschiede der Seinsstufen irreduzibel ge-geneinander stehen bleiben und doch als Manifestationen der Ent-faltung ein und desselben Prinzips, des materialen Apriori derGrenze und der daraus entspringenden apriorisch möglichen Wei-sen von Positionalität, begriffen werden können. Anthropologiewird so in eine umfassende Naturphilosophie integriert, ohne dassdie Besonderheit des Menschen nivelliert würde. Die Theorie derEinheit der Sinne (als den Weisen der Positionalität entsprechendeModale) lässt die neue Qualität des Geistes verstehen, ohne dassdieser von seiner natürlichen Grundlage abgetrennt werden müssteund als eine metaphysische Entität erschiene. »Die Sinnesqualitä-ten sind die Verbindungsarten, die Brücken zwischen Geist undKörperleib, und damit zwischen Geist und körperlicher Welt […].Ein wirkliches Verständnis der Wahrnehmung ist […] erst dann zuerreichen, wenn man […] den Träger der Wahrnehmung scharf vomGeist als der ideellen Einheit der Sinngebung trennt« (III/300). Geist entspringt in exzentrischer Positionalität als deren spezi-fische Seinsweise der Reflexion der Reflexion. Exzentrische Posi-tionalität ist durch die Vergegenständlichung von Weltinhalten imZusammenwirken der Sinnesmodale fundiert. »Jeder Modus gestat-tet einer besonderen geistigen Funktion Anwendung in einem be-sonderen Sinn. […] Körper und Geist sind auf dreifach verschiede-ne Weise miteinander verbunden, optisch, akustisch und zuständ-lich. […] Optischer, akustischer und zuständlicher Modalitätskreissind die möglichen Modi gegenständlichen Daseins. […] Die ge-samte Mannigfaltigkeit des überhaupt Möglichen, das heißt Sinn-vollen, bildet ein System, das sich mit dem System der Sinnesmo-dalitäten in der bestimmt angegeben Art deckt« (III/296, 298,302). In der exzentrischen Positionalität erreicht die organische Na-tur ihre volle Entfaltung; damit sind ihre apriorischen Möglichkei-ten ausgeschöpft. In diesem typologischen Rahmen müssen sichdie Realisationen von Leben halten; er ist a priori, wesensgesetz-lich. »Dagegen ist a posteriori der Inhalt […], soweit er als Gestalt

27und Menge in Frage kommt« (III/310).

27 | Plessner sagt das hier von der Wahrnehmung, aber dasselbe giltprinzipiell für das Verhältnis von materialer Apriorität und kontingentenAusprägungen.

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der SinnlichkeitDas System Erst die Projektion der Theorie der Sinne auf das Modell des

Organischen macht die philosophische Spannweite der plessner-schen Anthropologie erkennbar. Es geht hier in der Tat um nichtweniger als eine Regionalontologie des Lebendigen. Wird die Er-scheinung der Welt in der Gegebenheitsweise durch Sinnesmodalefundiert und sind die Sinnesmodale selbst material apriorischeFormen des Weltverhältnisses jedes möglichen Lebewesens, außer-halb deren es keine anderen Welteinstellungen geben kann, dannsind die Strukturen der Sinneserfahrung und die Strukturen dergegenständlichen Welt aufeinander abbildbar und die Abbildungkann nach Adäquationskriterien beurteilt werden. Damit ist daserkenntnistheoretische Recht (und auch die Priorität) der natürli-chen Welteinstellung in transzendentaler Reflexion begründet. Soist Plessners Anthropologie weit mehr als Anthropologie; sie ist einGegenentwurf zur Fundamentalontologie Heideggers, der auch dieAuflösung der husserlschen Aporie von lebensweltlicher und trans-

28zendentaler Einstellung einschließt.

28 | So hat Plessner selbst auch die Perspektiven seines Entwurfs ver-standen (vgl. VIII/390f.).

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Die dialektische Natürlichkeit des Menschen

Das Problem einer Dialektik der Natur

Das Konzept einer Dialektik der Natur, durch Engels’ Nachlass-fragment (1962) unter diesem Titel zu einem Programmpunkt desdialektischen Materialismus geworden, reicht in der Tat viel weiterin die Geschichte der neueren Philosophie zurück. Hegel konstru-iert die dialektische Form in den drei ›Elementen‹ des reinen Den-kens, der Natur und des Geistes (vgl. Hegel 1970: Bd. 8–10), derjunge Schelling denkt die Natur als das System einer sich selbst er-zeugenden reflexiven Wirklichkeit und knüpft dabei an das leibniz-sche Weltmodell an (vgl. Holz 1998: 311ff.), Herder konzipiert(gleichzeitig mit Kants Kritiken!) einen Begriff von Weltgeschich-te, der die Naturgeschichte einschließt (vgl. Herder 1784ff.), undAlexander von Humboldts Kosmos (1845ff.), das Lebenswerk desgroßen Naturforschers, das der Erschließung durch eine philoso-phische Wissenschaftsgeschichte noch harrt, entwirft das Bild ei-nes Gesamtzusammenhangs, das die Einheit der materiellen Naturals Prozess darstellt. Doch kein Konzept einer Naturdialektikkommt an der Frage vorbei, wie denn die Dialektik als die Form-

1bestimmtheit der Reflexionsbegriffe , die das Verhältnis des Men-schen zur Welt ausdrücken, schon in der Welt selbst, also vormen-schlich, angetroffen werden könne. In der Dialektikdiskussion derletzten vierzig Jahre hat wahrscheinlich Jean Paul Sartre ( 1967:27ff.) diesen Gesichtspunkt am nachdrücklichsten als Desideratgeltend gemacht (und aus subjektiv-idealistischen Gründen zu-rückgewiesen). Im Zentrum dieser Frage steht das Problem der Natürlichkeitdes Menschen. Die Kritiker einer Naturdialektik, Kantianer aller

1 | Kant (1787: 316ff.) spricht von der »Amphibolie« der Reflexionsbe-griffe; vgl. auch in Hegels Wissenschaft der Logik das Kapitel Reflexion(1970: 5/24ff.)

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Art, Existenzialisten, die Anhänger und Abkömmlinge der Frank-2furter Schule, Praxis-Philosophen, Neo-Gramscianer stimmen da-

rin überein, dass der Mensch sich selbst als Mensch oder zum Men-schen gegen die Natur erschaffe, dass seine Leibnatur, deren phy-sikalisch-anatomische und chemisch-physiologische Beschaffen-heit ja nicht zu leugnen ist, etwas seinem menschlichen SelbstÄußerliches und Fremdes darstelle, von dem er sich als handeln-

3des, intelligibles, setzendes, freies Wesen gerade unterscheide.Allerdings bleiben diese Philosophen des subjektiven Idealismusder Freiheit uns die Erklärung schuldig, woher dies Andere, dastranszendentale Ich oder die zwecksetzende Vernunft, komme undwie und warum es sich mit dem biologischen Substrat des Men-schen verbinde bzw. verbunden habe. Kants Dichotomie von reinerund praktischer Vernunft, bei der ihm selbst schon nicht ganz ge-heuer war und die Hegels vehementen Widerspruch herausgefor-dert hat, reproduziert sich hier jeweils in einer neuen Form. Den Biologen stellt sich indessen die Verbindung von natürli-chem und transzendentalem Ich in derselben Person nicht so un-versöhnbar dualistisch dar, wie sie den Philosophen von Kant bisSartre erscheint. Es ist ihnen kein unannehmbarer Gedanke, dassin der Natur qualitativ verschiedene Seinsbereiche bestehen, dieauseinander hervorgehen und zwischen denen es auch Übergangs-formen gibt. Anorganische Materie, Pflanzen, Tiere unterscheidensich nicht nur hinsichtlich ihrer Daseinsform, sondern sind zwei-fellos auch Entwicklungsstufen im Verlauf einer Naturgeschichteunseres Planeten, in deren für uns letzter Phase der homo sapiens

4sapiens aus Vorformen hervorgegangen ist. Nehmen wir den evo-

2 | Ich nehme Antonio Gramsci hier aus, weil er die Naturproblematik inseinen Notizen überhaupt nicht angesprochen hat; er war mit anderen Ge-genständen befasst; daraus den Schluss zu ziehen, er habe eine Naturdia-lektik verneint, ist inkorrekt.3 | Der geheime Manichäismus, der dieser Leib-Selbst-Dualität inne-wohnt, bleibt den Autoren dieser Auffassung meist verborgen. Vgl. dazu dieDiskussionen des Symposions Gnosis und Politik der Werner-Reimers-Stiftungin Taubes (1984). Plessner wendet sich gegen den Dualismus im 2. Kapitelvon Die Stufen des Organischen und der Mensch.4 | Die Natur unter der Kategorie der Geschichtszeit zu begreifen, ist einKonzept, das eng mit evolutionstheoretischen Modellen verknüpft ist (vgl.Prigogine 1982). Prigogine deutet Geschichte als Strukturbildungsprozesse,die selbstverständlich auch in der Natur stattfinden. Er betont, auch in dernichtlebendigen Natur sei »Platz für Selbstorganisation, für das Entstehenanderer Arten von Prozessen« (ebd.: 123).

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischelutionstheoretischen Ansatz ernst – und das ist doch wohl eine

nicht aufzugebende Komponente unserer wissenschaftsgeschicht-lichen Situation –, so ist der Mensch samt seinen unterscheidendenQualitäten als ein Moment des naturgeschichtlichen Prozesses zubegreifen, das heißt als eine Stufe des Organischen, und es kommtdarauf an, die besondere Bestimmtheit der jeweils neuen Stufe, ihrAnderssein gegenüber der vorhergehenden, aus einem Prinzip ab-zuleiten, also, hegelisch gesprochen, das Prinzip der bestimmtenNegation zu begreifen. Gerade dies leistet Plessners Werk Die Stufen des Organischenund der Mensch, von dem er sagt, er habe darin »den Versuch un-ternommen, die Stufung der organischen Welt unter einem Ge-sichtspunkt zu begreifen. Wohlgemerkt in der Absicht, unter Ver-meidung eben jener geschichtlich belasteten Bestimmungen wieGefühle, Drang, Trieb und Geist einen Leitfaden zu finden und zuerproben, der die Charakterisierung spezieller Erscheinungsweisenbelebter Körper möglich macht« (IV/19). Deskriptiv lassen sichdeutliche Gattungsunterschiede zwischen den Seinssphären vonPflanze, Tier und Mensch ausmachen, die auch durch Übergangs-formen nicht dementiert werden, da ein Übergang ja gerade ›zwi-schen‹ zwei deutlich gegeneinander abgesetzten Bereichen erfolgt. In der Abhebung der Typen offener (pflanzlicher), geschlosse-ner (tierischer) und exzentrischer (menschlicher) Positionalitätverfährt Plessner zunächst deskriptiv. Differente Sachverhalte wer-den von ihren Wesenskernen her dargestellt und unterschieden.Indem jedoch Seinsarten in ihrem Wesen gefasst werden, lässt derPhänomenologe die Kontingenz des je einzelnen Beschreibungs-gegenstandes bereits hinter sich. ›Wesen‹ sagt ja doch, dass es sound nicht anders sein muss; was als Wesen begriffen wird, ist einenotwendige Möglichkeit, die in der Sache liegt. Positionalität istder Titel eines Verhältnisses in der Extensionalität, eine ontologi-sche Kategorie der res extensa oder der Materie. Darum benenntPlessner nun auch die Positionalitätsmöglichkeiten nicht nach denGattungsbereichen der Lebewesen, in deren Beschreibung sie dar-gestellt werden, sondern nach der Formbestimmtheit, die exten-sionale Verhältnisse alternativ annehmen können. Diese Formbe-stimmtheiten sind nun nicht mehr kontingente Ergebnisse der Evo-lution, was sie in ihrer naturhistorischen Verwirklichung sind,sondern apriorische Wesensmöglichkeiten der Endlichkeit des be-stimmten Seienden in der Ausdehnung. Als Typen der Positionali-tät sind sie notwendig. Damit vollzieht Plessner den Übergang vonder deskriptiven zur typologischen Methode, von einer evolutionis-tischen Theorie der Biologie zu einer ontologischen Analyse des

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Seinsbereichs ›organische Natur‹, von einer einzelwissenschaftli-chen zu einer philosophischen Grundlegung. Die Gewordenheit derSeienden erweist sich als Ausdruck der notwendigen Form ihresSeins – und beide Aspekte stehen in genauer Entsprechung zuein-ander. Theoretisch sind die Besonderheiten, die in den verschiedenenSphären charakteristisch auftreten, jeweils auf ihr gemeinsamesAllgemeines zu bringen; dann kann gefragt werden, aus welcherkonstitutiven Bestimmung des Gegenstandes das Gattungsallge-meine jeder Sphäre und die spezifische Differenz jener sphärischenGattungsallgemeinheiten hergeleitet werden kann. Damit diesnicht nur einen klassifikatorischen, sondern einen naturphiloso-

5phischen Sinn ergibt , ist es allerdings nötig, dass das hier ange-sprochene Allgemeine nicht nominalistisch festgesetzt wird, son-dern als Ausdruck notwendiger Formbestimmtheiten der Einzelneneingesehen werden kann.

Die typlogische Deutung deskriptivgewonnener Befunde

Was heißt notwendig? Notwendig nennen wir eine Bestimmung,die in der Definition des Bestimmten eingeschlossen ist oder ausihr ohne Zuhilfenahme äußerer Bestimmungsgründe abgeleitetwerden kann; notwendig ist also, dass ein Dreieck auch drei Seitenhat und dass die Summe der von ihnen eingeschlossenen Winkel180 Grad beträgt; nicht notwendig ist hingegen, dass das Dreieckeine bestimmte Basislänge hat. In diesem Sinne notwendig ist es,dass ein einzelnes, endliches Seiendes eine Grenze besitzt; dennim Begriff der Endlichkeit liegt die Grenze eingeschlossen. Alles,was endlich ist, hat eine Grenze, und das heißt: Es ist, was es ist,innerhalb dieser Grenze, und außerhalb ihrer ist das Andere; dieGrenze eines endlichen Seienden scheidet ein Innen von einemAußen. Man könnte diesen Sachverhalt ein ›formales Apriori‹ nen-nen, das mit der Identität von verschiedenen Ausgedehnten ge-

5 | Plessner programmatisch: »Die Theorie der Geisteswissenschaftenbraucht Naturphilosophie[,] d.h. eine nicht empirisch restringierte Betrach-tung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nuneinmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zu-rückwirkt« (IV/26). Intendiert sind Aussagen über die ›Natur der Sache‹,hier spezifisch über die ›Natur des Menschen‹; vgl. dazu die Beiträge vonPape (1986) und Pleger (1986).

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischesetzt ist, die gegeneinander nicht identisch sind; hier gilt die lex

identitatis indiscernibilium, die Grenze bestimmt die Diszernibilität6der verschiedenen Ausgedehnten. Durch dieses formale Apriori

ist die res extensa gekennzeichnet, welche folglich auch nicht eineSubstanz, sondern der Inbegriff einer Vielheit von Substanzen in

7Bezug aufeinander ist. In formaler Hinsicht bleibt der Verlaufder Grenze für den begrenzten Körper beliebig. Es muss ein organi-sierendes Moment im Körper hinzukommen, ein in der Materieselbst liegendes Formprinzip, um die Gestalt des Körpers, die To-pografie des Konturs als notwendig (will sagen, durch eine deter-minatio intrinseca begründet) zu erweisen. Dann ist die Grenze alssolche immer noch ein Apriori, aber sie ist in ihrer Bestimmtheitdurch die Materiatur des Begrenzten bestimmt. In einem solchenFalle würden wir von einem ›materialen Apriori‹ sprechen, und die-sen Terminus hat Plessner konstituierend in die Anthropologieeingeführt. Man sieht leicht, dass damit nicht nur für die Anthro-pologie, sondern für die ontologische Grundlegung jeder Wissen-schaft von materiellen Seienden und materiellen Verhältnissen einprimordiales Konstruktionsprinzip angegeben wird. Es geht um den Modus der Bedingungen der Möglichkeit derErfahrung, anders gesagt: der Bedingungen der Möglichkeit vonErfahrungsinhalten. Auf sie fällt in ›natürlicher Einstellung‹ zu-nächst unser Blick nicht. »Erfahrung gibt viel, aber nicht ihre ei-gene Grundlegung; nicht ihre Ansatzpunkte. Wie es gar nicht an-ders sein kann, müssen die Gegebenheiten, an welchen und mitwelchen Erfahrung gemacht wird, im Erfahrungsbild verschwinden.Das Resultat hat die Bedingungen seiner selbst nicht als ablösbareMomente an sich, sie sind in ihm verschwunden, weil es ›durch‹ siebesteht« (IV/121). Wonach gefragt wird, ist der Modus, in dem Ge-genstände da sein müssen, damit wir sie so erfahren können, wiewir sie erfahren. Ist das formale Apriori des Körpers seine Begren-zung überhaupt, so muss der Modus der Begrenztheit als sein ma-teriales Apriori gelten. Das ist keine gnoseologische Frage, wennauch die Formulierung, es handele sich um die Bedingung derMöglichkeit von Erfahrungsinhalten, so erscheinen könnte. Pless-ner wehrt den gnoseologischen Aspekt des Apriori für den von ihmgemeinten Sachverhalt ausdrücklich ab: »Auf jeden Fall brauchen

6 | Leibniz glaubte mit den beiden Axiomen identica sunt vera und variaa me percipiuntur als einzige Voraussetzungen für eine logisch einwandfreiesSystems von Welt auskommen zu können (vgl. Holz 1975).7 | Diese Einsicht geht in Leibniz’ Argument gegen Newtons Idee desabsoluten Raumes ein.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht Erkenntnisbe-dingungen zu sein« (ebd.). Es können Bedingungen sein, die inder Seinsweise der Sache selbst liegen, also ontologische. Für diemateriale Apriorität der Begrenzung bedeutet das: »Auf das Ver-hältnis des begrenzten Körpers zu seiner Grenze kommt es an. ZweiFälle sind hier möglich: 1. Die Grenze ist nur das virtuelle Zwischendem Körper und den anstoßenden Medien, das Worin er anfängt(aufhört), insofern ein Anderes in ihm aufhört (anfängt). Dann ge-hört die Grenze weder dem Körper noch den anstoßenden Medienallein an, sondern beiden, insofern das Zu-Ende-Sein des Einen derAnfang des Andern ist. […] 2. Die Grenze gehört reell dem Körperan, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen denÜbergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern inseiner Begrenzung selbst vollzieht und dieser Übergang selbst ist.[…] Nicht insofern das anstoßende Medium aufhört, fängt derKörper an (und umgekehrt), sondern sein Anfangen bzw. Aufhörenist unabhängig von außer ihm Seiendem […]« (IV/154f.). Im ersten Fall ist die Grenze beliebig; ein Teich kann größeroder kleiner, tiefer oder flacher, so oder anders geformt sein, under kann sich dementsprechend beliebig verändern, sei es durch na-türliche Einwirkung, sei es durch technische Regulierung. DieserFall entspricht dem, was Leibniz ein ens per aggregatum nannte.Im zweiten Fall geht die Grenze eines Körpers aus einem Organisa-tionsprogramm hervor, das den Zusammenhang seiner Teile be-stimmt, und die Grenze ist die Ebene, in der die Ausdehnung desKörpers nach innen zurückgelenkt (reflektiert) wird; sie gehörtzum substanziellen Verhältnis der Teile (Partikel) des Körpers, derungeachtet der formellen Teilbarkeit seiner Ausdehnung eine un-teilbare Einheit (unum, ens, individuum) ist. Die Grenze (der Kon-tur) ist dann nicht einfach die Ebene, in der ein Körper und seinNachbar oder das Medium, in dem er sich befindet, sich berühren,die Kontinguitätsebene, sondern sie ist ein Teil des Körpers selbstund bildet »die ausschlaggebende seiner Eigenschaften« (IV/153);sie ist die notwendige Bestimmtheit seiner Extension, die notwen-dige Qualität seiner Quantität. Wir sprechen in einem solchen Fall

8 9von einem Organismus und konstatieren hier ein über bloße

8 | Die Grenze ist die formelle Bestimmung des ausgedehnten Seienden;der Modus ist dann die materielle Bestimmtheit der Bestimmtheit. Das ent-spricht der Charakterisierung des Modus in Hegels Wissenschaft der Logik:»Ein Bestimmen, aber nicht wodurch es ein Anderes würde, sondern nur des-sen, was es schon ist« (1970: 6/194).9 | Für eine Theorie der bildenden Künste, also der Plastik vor allem

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischeWechselwirkung hinausgehendes Reflexionsverhältnis. Gelingt

es, eine aus dem Wesen der organischen (= in sich, nach innen re-flektierenden) Grenze deduzierbare Spezifikation der Formen desOrganischen zu entwickeln, so stellt ein solches System der Reicheoder Regionen der Natur eine »Axiomatik des Organischen« (IV/160) dar, die als »apriorische Theorie des Organischen […] mehrVerwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie[hat]. […] Die Wesensbestimmungen ergeben sich aus einander,ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammen-hang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhaltsbegriffen wird« (IV/167). Der Gedanke muss ferngehalten werden, als gehe es bei demmaterialen Apriori, das eine Axiomatik des Organischen fundiert,um eine nicht-empirische Theorie von Naturgegenständen. Die Be-stimmungen des Naturseienden, die als formales und materialesApriori Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsinhalte seinsollen, gehen der Gegebenheit der Gegenstände nicht als transzen-dentale Verfassung des cogito vorher, sondern setzen sie voraus –so wie Hegels Konstruktion des Begriffs die Gegebenheit der Ge-genstände in den Elementen der Anschauung, Vorstellung usw.voraussetzt (vgl. Hegel 1970: 8/78). »Apriorisch darf eine solcheTheorie nur in dem Sinne heißen, daß sie den Bedingungen derMöglichkeit nachgeht, die erfüllt sein müssen, damit ein bestimm-ter Sachverhalt unserer Erfahrung stattfinden kann. Apriorisch istdie Theorie also nicht kraft ihres Ausgangspunktes, als wolle sieaus reinen Begriffen unter Beziehung von Axiomen ein deduktivesSystem entwickeln, sondern nur kraft ihrer regressiven Methode,zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zufinden« (IV/29f.). Wir müssen die unterscheidende Wahrnehmungvon Steinen und Wasser, von Pflanzen und Tieren, und selbstver-ständlich von Menschen und von uns selbst bereits gehabt haben,damit wir nach den Bedingungen fragen können, die diese Er-scheinungen in unserer Wahrnehmung ermöglichen. Dabei wird amRealitätsgehalt der Wahrnehmungen nicht gezweifelt: quod varia ame percipiantur, braucht nicht bewiesen zu werden (vgl. Leibniz

101903: 183). Die Frage ist vielmehr, welche elementare Beschaf-

(aber auch der Architektur), scheint es mir wesentlich, dass ihre Werke alsunbelebte Körper demselben Prinzip der organischen Körpergrenze wenigs-tens virtuell folgen. – Ob es auch schon in der anorganischen Natur, z.B. beider Kristallbildung, Vorformen einer organischen Grenzbildung gibt, könnenwir hier ununtersucht lassen.10 | Leibniz sagt von diesem ›Prinzip der Erfahrung‹, »ut […] demonstra-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur fenheit der Materie sich in der Varietät ihrer konstitutionell unter-schiedenen Ausprägungen, ihrer Seinsstufen, spezifiziert und obwir hier das Spezifikationssystem einer materiellen Natur gemäßder Logik der Sache selbst oder nur eine kontingente Vielheit vondisparaten Materien vorfinden. ›Logik der Sache selbst‹ kann wie-derum nicht heißen, dass die einzelnen Arten notwendig so undnur so entstehen mussten. Die Fülle an Hervorbringungen in derNatur liegt uns vor Augen und ist ebenso ein Moment der Evolutionwie die Selektion. Vielmehr meint ›Logik der Sache‹, dass aus derallgemeinsten Grundbestimmung des Seienden die besonderenBestimmtheiten der höchsten Gattungen auf dem Wege der »bes-timmten Negation« (Hegel 1970: 5/49) – also mit dialektischerNotwendigkeit – als apriorische Möglichkeiten abgeleitet werdenkönnen und in diesem Sinne universalia ante rem sind, weil aus ih-rer apriorischen Möglichkeit noch nicht hervorgeht, dass sie auchfaktisch existieren (und schon gar nicht, dass sie existieren müs-sen); wenn aber eine Gattung in der Naturgeschichte realisiertwird, so nur in der geordneten Sequenz der Modale, die ihrerseitsdem Prinzip der bestimmten Negation folgt, wenn sie von derwechselseitigen Begrenzung zur einseitigen Selbstbegrenzung undinnerhalb dieser von der offenen zur geschlossenen zur exzentri-schen Form übergeht. Diese Typologie des Grenzverhältnisses darf nicht als klassifi-katorisch verstanden werden. Wohl gewinnen wir einen Blick aufdie Modi von Begrenzungen immer nur anhand von Einzelnen, diein der einen oder anderen Weise in Beziehung zu dem von ihnen

11verschiedenen Umseienden stehen. Aber die wesentlichen Be-stimmungen des Typus dieser Beziehung, z.B. für das Lebendigeeben offen, geschlossen, exzentrisch, müssen nicht aus der ver-gleichenden Zusammenstellung vieler solcher Einzelner gewonnenwerden, sondern sind bereits an einem einzigen Einzelnen alleinals logische Notwendigkeit seiner besonderen Gestaltqualität ab-lesbar und sind reale, am Einzelnen wirkliche Allgemeine (univer-

12sale in re). Diese Wesenserkenntnis hat die einfache sinnliche

ri possit, demonstrationem […] impossibilem esse – Es kann bewiesen wer-den, dass ein Beweis unmöglich ist« (Leibniz 1903: 183).11 | Wir vermeiden den Terminus ›Umwelt‹ an dieser Stelle, um missver-ständliche Anklänge an die Welt-Umwelt-Dichotomie im Sinne von Uexküllzu vermeiden, die hier nicht gemeint ist.12 | Dass sich für den Gegebenheitsmodus solcher universalia in re derhusserlsche Terminus der ›Wesensschau‹ aufdrängt, hat Plessner erkannt. Erunterscheidet unmittelbare Gegebenheit in Empfindungen und die intuitive

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischeAnschauung zum realen und unmittelbaren Ausgangspunkt. Es ist

immer im Sinn zu behalten, »daß das Wort Begrenzung eines phy-sischen Körpers nicht in irgend einem abgeleiteten Sinn, sondernin seiner visuellen und taktilen Anschaulichkeit zu nehmen ist«(IV/30). Das ist sozusagen das Ursprungsphänomen, im Abtasten(mit der Hand, mit dem Auge) bestätigt sich die Begrenztheit desendlichen Körpers, weil sie uns als das Widerständige unmittelbarerscheint. Allerdings, »Umrandung und Konturierung indizierenden Sachverhalt, sind aber nicht mit ihm identisch« (ebd.), dennnun erst muss ich die nicht mehr auflösbaren Qualitäten des ›we-sentlichen Verhältnisses‹, das die Grenze ist, auffassen. Die wechselseitige Begrenzung von Seienden, also die in einfa-cher Wechselwirkung von einander berührenden Verschiedenensich herstellende Grenze ist die apriorische Urform der Bestimmt-heit einer res extensa in einer pluralen Welt. Sie ist die Konkretionder Extensionalität des materiell Seienden und zugleich die ele-mentare Form des materiellen Verhältnisses. Auf dieser kategoria-len Stufe sind die Verschiedenen als Verschiedene durch die zwi-schen ihnen bestehende Grenze gesetzt; man könnte auch, in ei-nem nivellierenden Verständnis von ›Setzen‹, sagen: Das Eine unddas Andere setzen sich gegenseitig. Wir brauchen an dieser Stellenicht zu erörtern, ob es ein absolut gleichrangiges Wechselwir-kungsverhältnis überhaupt gibt und ob nicht vielmehr, wie Leibnizund Hegel dargetan haben, das Aktive immer schon das Passiveübergreift (vgl. König 1978: 33ff.; Hegel 1970: 6/233ff.). Denn beiPlessner geht es ausschließlich um die nächst höhere kategorialeStufe, auf der die Grenzfunktion eine genau unterschiedene Formhat: Der Körper wird nicht gesetzt dadurch, dass er an einem ande-ren Widerstand findet und so auf sich zurückgeworfen wird; son-dern er wendet sich an einer von ihm selbst programmierten Grenzein sich selbst zurück. Diese Rückwendung ist die Sinnlichkeit unddiese ist darum, als ein besonderes Reflexionsverhältnis, konstitu-tiv für den lebendigen, organischen Körper. Er nimmt eine durchdie Prozesse in seinem Inneren, das natürlich durch die Grenzset-zung erst als Inneres konstituiert wird, bedingte Gestalt an; seineäußerste Erstreckung, seine Extension wird von einem organisie-renden Zentrum her bestimmt. Die Grenze ist dann ein Moment desKörpers selbst, der sich also selbst ›in Grenzen hält‹. Zugleich istdie Grenze aber immer auch noch die Kontinguitätsebene, an derder Körper den anderen Körper abstößt und sich selbst vom Ande-

Evidenz der Wahrnehmungen (vgl. IV/98ff.). Welche Widerspiegelungsver-hältnisse hier vorliegen, bedarf noch genauerer Untersuchung.

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur ren abhebt. Die Grenze ist also zugleich ein ›Zwischen‹ den Ver-schiedenen wie auch etwas, das am Einen dessen bestimmtes Seinund dessen Identität definiert. Plessner sagt das mit einem Satz,den wir schon oben zitiert haben und von dem wir nun begreifenkönnen, warum er die klassische dialektische Form des Übergrei-fens hat: »Die Grenze gehört dem Körper selbst an, der Körper istdie Grenze seiner selbst und des Anderen […]« (IV/181). Und erweist darauf hin, dass diese dialektische Funktion der Grenze nichtunmittelbar einsichtig ist, denn der Grenze als Grenze ist nicht an-zusehen, ob sie durch wechselseitige Abstoßung der sich Berüh-renden oder durch ein In-sich-Zurückgehen des einen Körpers ge-setzt ist. Die Selbstreflexivität des lebendigen Körpers erfahrenwir, »obwohl die sinnliche Feststellung nicht in der Lage ist, die Un-abhängigkeit an sinnlichen Merkmalen direkt aufzuzeigen« (IV/155). Per analogiam erfahren wir sie natürlich immer vermittels derErfahrung unseres eigenen Leibes, theoretisch konstruieren wirdieses Verhältnis von Zentrum und Grenze eines lebendigen Kör-pers aus der Rekonstruktion seiner funktionalen Struktur.

Positionalität

Jene Verfassung des Körpers, durch die er sich selbst in Grenzenhält, nennt Plessner ›Positionalität‹. Darin steckt zugleich der ver-bale Sinn von ›Setzung‹ und der topologische von ›Ortsbestimmungim Raum‹. Gemeint ist damit, dass sich das Lebewesen im Gegen-satz zum Anorganischen dadurch definiert, dass seine Grenze zurUmwelt nicht zufällig und daher auch nicht beliebig verschiebbarist. Dem Stein kann ein Stück abgeschlagen werden, ohne dass erin seinem Steinsein beeinträchtigt würde. Für das Lebewesen be-deutet die Verletzung seiner Körpergrenze einen, vielleicht gartödlichen, Eingriff. Das heißt: Das Lebewesen setzt seinen Körperals eine Ganzheit, an dieser Grenze behauptet es sich als Individu-um, an ihr vollzieht sich seine Begegnung mit der Umwelt als Ab-wehr und Rezeption, als Austausch in Aktivität und Passivität –welch letztere dann selber eine Art von Aktivität des Organischen,nämlich Perzeptivität ist. Indem die von außen kommenden Ein-drücke von der Körpergrenze aufgefangen und ins Innere des Le-bewesens übergeleitet werden, und indem die Impulse von innensich an der Körpergrenze auf die äußere Umwelt übertragen, ent-steht durch die Begrenzung eine doppelte Gerichtetheit nach in-nen und außen. »Als physischer Körper ›ist‹ das Ding schon vonsich aus, das Sein tritt ihm in keinem Sinne gegenüber oder hebt

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischesich von ihm als Seiendem ab. […] Ein Lebewesen erscheint gegen

seine Umgebung gestellt. Von ihm aus geht die Beziehung auf dasFeld, in dem es ist, und im Gegensinne die Beziehung zu ihm zu-rück. […] In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der orga-nische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Cha-rakter oder seine Positionalität. Hierunter sei derjenige Grundzugseines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zueinem gesetzten macht« (IV/184, 186, 184). Aus Gründen, die wir

13andernorts dargelegt haben , möchten wir lieber zwei Stufen von›Setzen‹ bei anorganischem und lebendem Seienden unterschei-den: Jedes physische Ding als ein endliches Einzelnes setzt etwasals von sich unterschieden, indem es eine Grenze gegen das Ande-re hat und an dieser Grenze auf das Andere einwirkt, wie zum Bei-spiel ein Stein, der den Berg herunterrollend auf andere Steineoder sonstige physische Dinge prallt, vielleicht sogar eine Steinla-wine auslöst; lebendige Körper indessen setzen sich selbst, indemsie sich durch die Rückwendung ihrer Aktivitäten auf sich selbstals Individuen organisieren. Die allgemeine Form des Setzens, de-ren Prinzip darin liegt, dass ein Bestimmtes gegen ein anderes Be-stimmtes in dessen Andersheit begrenzt ist und von dem anderenBestimmten begrenzt wird, ist in dem zweiten Sinne, dem des Or-ganischen, in die besondere Form des Sich-Setzens übergegangen,deren Prinzip darin liegt, dass sein Sein nicht nur für andere, son-dern für es selbst ein einzelnes ist, also nicht von anderen ver-schieden ist, sondern sich von ihnen unterscheidet. »In solchemFürsichsein liegt die Abgehobenheit gegen das Feld seines Da-seins« (IV/186). Hier sprechen wir dann also von ›Positionalität‹,und dieses Verhältnis ist eine apriorische Möglichkeit, die jedembegrenzten Seienden zukommt, die sich aber empirisch in der Na-turgeschichte als Prozess des Aufbaus immer komplexerer Struktu-ren der Materie verwirklicht, das heißt als eine Differenzierung derBewegungsformen der Materie verwirklicht. Die apriorische Form-bestimmtheit des Begrenzten, die die Logizität oder, hegelisch ge-sprochen, die Begriffsform der Natur ausmacht, manifestiert sichals rational rekonstruierbarer, wenn auch kontingenter Entfal-tungsprozess der Seinsformen (Stufen) der Natur. Positionalität istdie Kategorie, die die konstitutive Bedingung der Regionalontolo-gie des Materiellen ausdrückt. Die Positionalität des Lebewesens verwirklicht sich bei derPflanze in »offener Form«, »welche den Organismus in allen seinen

13 | Vgl. Holz 1983: 40ff., wo die ontologische Universalität des Refle-xionsverhältnisses entwickelt wird.

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Mensch – Natur Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert« (IV/284); beim Tier hingegen liegt eine »geschlossene Form« vor, diesich darin ausdrückt, dass es sich selbst empfindet und als eineEinheit gegen die Umwelt abhebt. Doch dieses Sich-Abheben von der Welt geschieht beim Tierunbewusst. Der Mensch hingegen steht in der bewussten Erfahrungseiner selbst auch in Distanz zu sich selbst; er kann sich zum Ge-genstand werden. »Die Schranke der tierischen Organisation liegtdarin, dass dem Individuum sein selber Sein verborgen ist. Ist dasLeben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohnedie Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus,exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristi-sche Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld. Er lebtund erlebt sich nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben« (IV/364). Exzentrische Positionalität ist die Eigenart des menschlichenSeins, durch die es sich prinzipiell von allem anderen Organischenunterscheidet. Dass diese seine ›Stellung zur Objektivität‹ nichtunvorbereitet kommt, sondern in der Biosphäre begründet ist,macht die Kontinuität unterhalb des Umschlags aus: Die Sinnlich-keit bekommt mit der Frontalität des Gesichtsfeldes einen neuenModus der Entgegensetzung schon im Tierreich, der aufrechteGang mit der Freisetzung der Hand zur Bearbeitung der Gegen-stände kommt hinzu. Das gesamte Sinnessystem begründet dieModalitäten, in denen sich uns die Welt darstellt. Die Sinnesphy-siologie wird zum Boden, auf dem sich die erkenntnistheoreti-schen Fragen entfalten. Vom Boden der in Die Einheit der Sinneausgearbeiteten Aisthesiologie aus kann Plessner den Übergang zueiner Dialektik der Natur vollziehen, die die Einheit des Unter-schiedenen in materialer Apriorität konstruiert. Plessner klammert die Frage nach der Seinsweise der anorgani-schen Natur in ihrer Verschiedenheit von der Organischen aus undbehandelt diese nur als Hintergrundsfolie zur Analyse des Organi-schen. Das ist im Hinblick auf die Grundlegung der Anthropologielegitim und enthebt ihn der Aufgabe, die Ontologie der Seinsre-gion ›Lebewesen‹ in einer allgemeinen Ontologie des materiellenSeienden zu verankern. Die Kategorie der Grenze wäre in dieserHinsicht ausbaufähig. Möglicherweise lassen sich ja auch im Anor-ganischen Wesensstufen oder Typen unterscheiden, die durch dieSpezifik gegenständlicher Verhältnisse, in die sie eingehen könnenzu unterscheiden sind. Plessner konzentriert sich jedoch auf die Modi des Grenzver-hältnisses in den Großbereichen Pflanze, Tier, Mensch. Er tut diesausdrücklich nicht in evolutionstheoretischer Fragestellung, son-

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischedern im Hinblick auf Wesensgesetzlichkeiten, denen gemäß sich

Seinsweisen spezifizieren. Eine naturgeschichtliche Interpretationder eidetisch-phänomenologischen Typologie wäre sicher nichtunmöglich, müsste aber die methodisch reflektierte Transformationder statischen Formbestimmungen von Regionalontologien (Stu-fen) zu prozessualen Fortbestimmungen in Übergangsfeldern voll-ziehen. Es zeichnet die Fruchtbarkeit des plessnerschen Ansatzesaus, dass solche interdisziplinären Weiterentwicklungen aus den inihrem Konzept liegenden theoretischen Möglichkeiten herausge-sponnen werden können, wenn dies auch bisher noch nicht in An-griff genommen wurde. Plessner selbst bezieht sich nur auf den Bereich dessen, was inklassischem Verständnis das ›Lebendige‹ genannt wird. Lebendigesist auch schon in seinen einfachsten Formen an Rezeptivität ge-bunden, an Reizbarkeit und Reaktionsfähigkeit, die sich auf höhe-ren Stufen dann in der Spezifik der Sinnlichkeit ausprägt und dif-ferenziert.

Der Leib als Sinnganzheit

Was der Sinn der Sinne sei, gilt es in einer ›Hermeneutik der Sinn-lichkeit‹ zu bedenken; und dabei gerät primär die materielle, dasheißt leibliche Verfassung des Menschen in den Blick, und es zeigtsich, dass die Region des Geistigen in ihr fundiert ist und durch siekonstituiert wird. Auf die Gefahr hin, dass Plessner sich missver-standen gefühlt haben würde (mit berechtigter Vorsicht einer sobrutalen Eindeutigkeit der Formulierung misstrauend), wage ichdie Behauptung, dass Plessners Analyse der Sinneswahrnehmun-gen den Schlüssel zu einer naturalistisch-materialistischen Inter-pretation des geistigen Seins liefert, über Husserl hinausgehend,der das geistige nur auf dem leiblichen Sein aufruhen lässt, wäh-rend Plessner, die phänomenologische Beschreibung zu einer The-orie ausbauend, die Verknüpfungen und Verknotungen freilegt, diedie geistigen Funktionen an die Leibhaftigkeit fesseln und an de-nen kenntlich wird, wie sie aus ihr entspringen. Die aristotelische Einsicht, dass das Ganze mehr ist als dieSumme seiner Teile, ist vorzüglich aus der Kenntnis des Organis-mus gewonnen. Der lebendige Leib ist etwas anderes als eine An-häufung von Molekülen. Davon hat die Sinnes-Anthropologie aus-zugehen. »Ein Organismus bietet sich nun einmal als eine Planein-heit an. Dies kommt nicht nur als anatomischer Bauplan, als Sys-tem von Funktionen, sondern in seinem Verhalten zu seiner Um-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur welt zum Ausdruck. Bauplan, Funktionsplan und Umwelt passenzueinander, d.h. sie legen einen gewissen Rahmen fest, in den sichdie Sinnesorgane einfügen« (III/326). Integrationsfaktor dieser Einheit ist der Leib, auf ihn als Ganz-heit beziehen sich die einzelnen Sinnesdaten, seiner werde ichgewahr, wenn ich mich bewege, oder wenn ich Eindrücke von au-ßen aufnehme. Aber ich werde seiner nicht nur gewahr, sondernich nehme ihn auch wahr, er kann für mich ein Körper in dieserWelt sein, wenn ich ihn an mir herunterschauend, mich abtastendals Objekt empfinde oder ihn im Spiegel betrachte. Der aufrechteGang ermöglicht diese Selbstobjektivierung. »Wir können nur dieKorrespondenz zwischen aufrechter Haltung, Auge und Handge-brauch zum Ausgangspunkt nehmen. […] Das zweibeinige Gehenerlaubt Variationen in Tempo, Schrittlänge, Rhythmus, ›Versfüßen‹vergleichbar. Mit der Abhebung werden die Arme frei, die Handselbständig, Sinnesorgan, Arbeitshand, Organ des Kontakts. […]Dass damit nicht der Akt der Vergegenständlichung vertuscht wer-den soll, ist deutlich. Dass aber mit der Abhebung vom Bodennicht nur ein Risiko für die Motorik, ein Zwang zur permanentenBalance, sondern eine Distanz erworben wird, die der Vergegen-ständlichung entgegenkommt, läßt sich auch nicht bestreiten«(III/333ff.). Wo aber Distanz erlebbar wird, indem man zu sich selbst Ab-stand nehmen, seinen eigenen Leib wie ein Nicht-Ich fühlen kann,da entsteht aus der Einheit von Lebewesen und Umwelt die Zwei-heit von Subjekt und Objekt. Als Korrelat der Erfahrung eines Au-ßen entdecken wir Menschen ein Innen in uns. Die in der Tierweltunumschränkt geltende Regel, dass Reiz und Reaktion einanderentsprechen, kann nun durchbrochen werden: Eine Reaktion kanngehemmt, ein Reiz gespeichert werden, der Übergang zu höherengeistigen Leistungen deutet sich an, Sprache fixiert den gespei-cherten Reiz und macht ihn reproduzierbar und mitteilbar. Damitaber ist der Mensch ein für allemal aus dem Tierreich herausgetre-ten, er steht unter dem Zwang, für jene Welt, die er nicht mehr istund die er nun hat, ohne sie sich anzueignen, einverleiben zukönnen, in sich Zeichen zu setzen. Sein und Bedeutung entzweiensich, der Prozess der Ausbildung und Verfeinerung des Geisteskann statthaben. Die Tragfähigkeit des plessnerschen Ansatzes erweist sich inseiner Anwendung auf Bereiche, die über die Region der bloßenLeiblichkeit hinausgehen. Schon vor Heideggers berühmter Ausle-gung des Schematismus-Kapitels in Kants Kritik der reinen Vernunft(vgl. Heidegger 1951: 85ff.) hat Plessner die Vermittlung zwischen

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischeEmpfindungsdatum und Verstandesbegriff in den spezifischen

konstitutiven Leistungen der Sinne aufgespürt, die ihre Gegen-stände als Bilder festhalten, wobei es kein Zufall ist, dass das Mo-ment von Identität, von Sich-selbst-gleich-Bleiben, das die Vor-aussetzung von Abstraktion und Erkenntnis ist, gerade mit derVorstellung des Gesichtssinnes verbunden wird, wenn wir ›Bild‹ sa-gen. Der Fernsinn schafft Vergegenständlichung, so wie der Nah-sinn, das Tasten (und in schwächerem Maße auch das Schmecken),Realitätsbewusstsein begründet, weil er die Widerständigkeit undmithin die Selbstständigkeit des Anderen, des Nicht-Ich erlebenlässt. So kommt der optisch-haptischen Synthesis eine bevorzugteRolle bei der Fremderkenntnis zu. Gegenstände, die durch sie ge-setzt werden, lassen sich durch Zeichen darstellen, also auch inSprache abbilden. Nach ihrem Beispiel wird alles, was nicht Kör-pergestalt hat, metaphorisch oder analog ausgesprochen. Sehen wir diesen Zusammenhang von Sinnes-Anthropologie,Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie, so erhellt auch, dass derKunst, als der paradigmatischen Darstellung von Bewusstseinsin-halten in sinnlicher Gestalt, ein bevorzugter ontologischer Rangzukommt: Sie zeigt uns, wie Sein als Seiendes erscheint. DasKunstwerk gibt uns den Modus der Dinge, nicht ihre bloßen Ob-jektmerkmale. Und diese Weise modaler Gegebenheit gründet inder Rezeption von Welt durch die Sinne. Aesthesiologie (Lehre vonder Sinneswahrnehmung) fundiert Aesthetik; und in der Ausarbei-tung der Strukturgesetzlichkeiten der Kunstgattungen gewinnenwir zugleich ein Strukturmodell für die Erscheinungsweise vonWelt, für das phaenomenon bene fundatum (vgl. Holz 1996b). Anthropologie, betrieben als Hermeneutik der Sinne und alsapriorische Konstitutionstheorie der organischen Individualität,führt mithin nicht nur auf die Einheit der Sinne, sondern auch aufdie Einheit der Welt; sie führt auf die Materialität der scheinbarimmateriellen Erscheinungsweisen des Lebendigen und Geistigen.Und der darin liegende logische Zirkel ist nur einer, wenn wir dienaive Narrenfrage nach dem Warum der Isomorphie von Sinnesge-genständen und Weltwirklichkeit stellen, während doch die einzigzulässige Frage die wäre, wie diese Isomorphie theoretisch im Mo-dell konstruiert werden kann.

Logische Stationen der Dialektik

Wir haben schon früher gehört, dass Plessner auf die Nähe seinesAnsatzes zur Dialektik hingewiesen hat (vgl. IV/167). Vordergrün-

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur dig gilt das zunächst einmal für die Auffassung von der Prozessua-lität des Seins: »Ein Ding positionalen Charakters kann nur sein,indem es wird; der Prozeß ist die Weise seines Seins« (IV/187).Vordergründig ist es auch noch, dass die Bestimmungsformenselbst, also die Wesenseigentümlichkeiten der Stufen, prozessual,naturgeschichtlich gedacht werden: »Jede Bestimmungsform istein Moment dessen, was Prozess heißt« (IV/189). Dialektisch istalso die Methode der Entwicklung der Formbestimmtheiten des Or-ganischen auseinander in einem Stufenbau, dessen jeweils neuesRealisationsniveau – offene, geschlossene, exzentrische Form – ei-nen qualitativen Sprung aus dem vorhergehenden heraus bedeu-tet. Die formale Parallele zu den Stufen in Hegels Phänomenologie

14des Geistes – Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Geist – liegt aufder Hand. Tiefer in die Dialektik führt hinein, dass jede der Stufendie bestimmte Negation der vorhergehenden ist und nicht einfachetwas beliebig anderes. Die offene Form besteht ohne »Zentralor-gane, in denen der ganze Körper gebunden bzw. repräsentiert wä-re« (IV/284); daraus resultieren die von Plessner herausgestelltenMerkmale des Pflanzlichen (vgl. IV/284ff.). Nicht anders, sonderndas genaue Gegenteil und zugleich eine ›höhere‹ (= komplexer or-ganisierte) Daseinsweise ist die geschlossene Form des Tieres, diesich in der Zentrierung der Lebensfunktionen in Zentralorganenausdrückt (vgl. IV/291ff.). Auf der neuen Stufe der in sich selbstgeschlossenen Form ist das Heraustreten aus sich unter Beibehal-tung der Bestimmungsmomente des Tierischen, die exzentrischeForm, wiederum das genaue Gegenteil. So geht aus jeder neuenStufe ihre Entgegensetzung hervor, und der Formtypus, dem dieseEntgegensetzung angehört, ist notwendig. Damit sind wir nun beim eigentlichen Sinn der plessnerschenDialektikkonzeption. Diese meint nicht einfach die Regel oder dasSchema einer empirischen Verlaufsform der Naturgeschichte. Siegibt vielmehr das Konstruktionsprinzip dieser Verlaufsform an, dasaus der elementaren materiellen Konstitution des Seienden ge-wonnen werden kann. Darum ist der Schlüssel zu dieser Konzep-tion der Begriff des ›materialen Apriori‹, der auf eine, im Empiri-schen durch mancherlei Übergänge, die gerade die Prozessualitätund Geschichtlichkeit der Natur verbürgen, verwischte realallge-meine Typologie der Naturregionen führt: »Pflanze und Tier lassensich nicht nach empirischen Merkmalen wesensmäßig unterschei-den. Ihre Differenz ist in voller Realität ideell. Offene Form und ge-schlossene Form sind Ideen, nach denen die wirklichen lebendigen

14 | Von Stufen der Phänomenologie des Geistes spricht Bloch 1962: 79ff.

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischeKörper organisch sein müssen; unter welche Lebendiges tritt, wenn

es den Weg des Organischen geht. Im Empirischen kann man dieGrenzlinie zwischen dem pflanzlichen und dem tierischen Reichnicht finden; hier gibt es Übergänge neben den ausgesprochenenFormen« (IV/301). Immer nur in einer ersten Verständnisebene kann die Dialektikder Natur empirisch-deskriptiv verfahren, indem sie Erscheinungennamhaft macht, an denen die Konstruktionsmerkmale des Systemsder Natur eingesehen werden können. Im Grunde aber ist sie eine(durch die Erscheinungen vermittelte) Theorie über das Wesen derhistorischen Spezifikation der materiellen Einheit der Welt, dieTheorie des Gesamtzusammenhangs der mannigfaltigen Individua-litäten und Formen. Es ist das Verdienst Plessners, dies in denZielpunkt seiner Anthropologie gerückt und den theoretischen Sta-tus einer solchen Dialektik bestimmt zu haben.

Von der Anthropologie zur Soziologie

Es ist nicht nur eine Begleiterscheinung der durch die Emigrationunterbrochenen akademischen Laufbahn Plessners, dass er, derphilosophische Anthropologe, in Groningen zunächst einen vakan-ten Lehrstuhl für Soziologie erhielt, ehe er die Professur für Philo-sophie übernehmen konnte; und dann, nach dem Zweiten Welt-krieg nach Deutschland zurückkehrend, in Göttingen wiederum aufdas Ordinariat für Soziologie berufen wurde. Die Dialektik in DieStufen des Organischen und der Mensch, die die biologische Beson-derheit des Menschen in einer qualitativ neuen, andersartigen Po-sitionalität, eben der exzentrischen, ausarbeitete, musste denÜbergang von der Biologie des Lebendigen zur Soziologie der inkommunikativer Reflexivität stehenden Menschen aus sich hervor-treiben. Dass der Mensch außer seine Leiblichkeit tritt und sich zusich als einem sich als Selbst erfahrenden Wesen verhält, verknüpftsich damit, dass er auch andere als Selbst-Wesen verstehen kann.Es ist die besondere Leistung Plessners, dass er die soziale Naturdes Menschen seiner biologischen nicht entgegensetzt, sondern sieals eine in der Ontologie des Organischen (wie überhaupt des Ma-teriellen) liegende notwendige (apriorische) Möglichkeit ableitetund sie damit in den einheitlichen Zusammenhang eines sich dia-lektisch entfaltenden Naturgeschehens einfügt. Damit führt er An-thropologie und Soziologie über die Beschränkung auf jeweils ei-nen Teilaspekt des Weltseins hinaus und kann ihre Grundlegungaus einem universalen ontologischen Entwurf vornehmen. In der

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Mensch – Natur übergreifenden Einheit eines Anthropologie und Soziologie zu-sammenführenden Naturverständnisses löst Plessner die Intentionein, die ihn zur Wendung von der deskriptiven zur transzenden-tal-phänomenologischen Methode bewogen hatte. Seine soziologi-sche Thematik bleibt dabei eine betont philosophische und unter-scheidet sich so sehr wesentlich von der Soziologie, die sich alsdeskriptiv-empirische Partikularwissenschaft versteht. In einem(nur niederländisch gedruckten) Vortrag hat Plessner darüber Re-chenschaft abgelegt: »Vom kantianischen Standpunkt aus gibt eskeinen Ort für eine nicht-empirische, für eine eidetische Anthropo-logie, für eine Analyse der Wesensmerkmale, der für das Mensch-sein, das Menschenartige konstitutiven und verantwortlichenMerkmale des Menschen.« Die Anthropologie sei von allem betrof-fen, was über den Menschen gesagt werde. »Das macht eine regio-nale Abgrenzung völlig unmöglich. Eine funktionale Abgrenzungtritt an ihre Stelle. In jeder auf den Menschen bezüglichen Erfah-rung ist das Material, besser gesagt: die Materie enthalten, dersich auch die philosophische Anthropologie widmen muss« (X/126f.). Allerdings stößt eine philosophische Anthropologie, die dasSozialwesen Mensch auf die naturdialektische Besonderheit derexzentrischen Positionalität zurückführt, sehr schnell an eineGrenze, die sich an Plessners Œuvre deutlich aufzeigen lässt. Dassdie aus einem materialen Apriori zu begründende Naturform derexzentrischen Positionalität die in der typologischen (und evolu-tionären) Gliederung des materiellen Seienden vorgegebene Struk-tur allgemein weltlicher Art für die Wesensmöglichkeit des Human-sozialen als ihrer Besonderung ist, hat Plessner unwiderleglich ge-zeigt. Dass diese Möglichkeit eine Wirklichkeit geworden ist, an-ders gesagt: dass die Essenz existent geworden ist, lässt sich je-doch nicht nur als ein Resultat der biologischen Evolution, desaufrechten Ganges, der Freisetzung der Hand, der Frontalität desGesichtsfeldes, der Entwicklung des Gehirns erklären. Schon dasZusammenkommen dieser anatomisch-physiologischen Merkmalebildet sich in interdependenten Entwicklungsprozessen aus, diesich nicht nur gegenseitig steuern und vorantreiben, sondern indenen auch ganz neue Modalitäten des Umweltverhaltens ent-springen, z.B. das Bearbeiten von Naturgegenständen mit Hilfeselbst verfertigter Instrumente, die sprachliche Kommunikationauf dem Niveau von Begriffen, die situationsunabhängige Verge-genständlichung von Zwecken. Das ist der Umschlag des natürli-chen Seins in eine neue Seinsqualität, selbstverständlich auf derGrundlage des natürlichen Seins, aber mit der anderen kategoria-

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischelen Bestimmung der Artifizialität. Wenn Plessner in den Stufen des

Organischen und der Mensch als erstes anthropologisches Grundge-setz das der »natürlichen Künstlichkeit« auszeichnet (vgl. IV/383ff.), dann hat er genau diesen Qualitätssprung benannt. Für dieanthropologische Eidetik der Struktur reicht das. Aber als Soziolo-ge müsste er dann die faktische Eigenart, die historischen Entste-hungs- und Differenzierungsprozesse dieser Qualität in ihrer spezi-fischen Wesensgesetzlichkeit kenntlich machen, um den Übergangder Naturgeschichte in die Menschheitsgeschichte zu begreifen. Dass Plessner hier seinen eigenen Ansatz nicht zu Ende führt,lässt sich an dem Aufsatz aus der Festschrift für Gerhard Leibholzzeigen, den er dem kantischen Begriff der »ungeselligen Gesellig-keit« gewidmet hat (vgl. VIII/294ff.). Bei Kant heißt es als vierterSatz der Abhandlung Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in welt-bürgerlicher Absicht: »Ich verstehe hier unter dem Antagonism dieungesellige Geselligkeit der Menschen; d.i. den Hang derselben, inGesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Wider-stande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht,verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichenNatur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weiler in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Ent-wicklung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großenHang, sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich dieungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne rich-ten zu wollen« (Kant 1784: 392). Kant gibt hier präzis das Thema an, das Plessner als das derphilosophischen Anthropologie behandelt: Die Besonderheit desmenschlichen (geschichtlichen) Seins als Ausdruck seiner Naturan-lage. Plessner akzeptiert den kantischen Antagonismus, dass derMensch zugleich die Tendenzen zur Vergesellschaftung und zurVereinzelung in sich trage. Dass Kant diesen Widerspruch nichtweiter begründet, stößt sein eigenes Weiterdenken an: »Kant hatan der Verankerung seines Entwurfs […] offenbar wenig gelegen.Denn worauf dieses listige Mittel der Natur, die ungesellige Ge-selligkeit, beruht und wie mit ihr die Antriebe des Ehrgeizes, derHerrsch- und Habsucht zusammenhängen, sagt er nicht« (VIII/295). Die anthropologische Analyse der ›Sphäre Mensch‹, die Pless-ner in Die Stufen des Organischen und der Mensch vorgenommenhat, liefert ihm den Schlüssel (vgl. IV/360ff.). Schon auf der Stufe der geschlossenen Positionalität des Tieresbildet sich das heraus, was man Individualität nennen kann. »Zu-sammenleben von Individuen ohne Personalität zeigen uns die so-zialen Verbände der Tiere, zumal der Wirbeltiere. Die Skala der Ge-

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Mensch – Natur sellungsformen ist überraschend groß« (VIII/298). Hier kommt esauf ein Wort an, das die Andersartigkeit der menschlichen Positio-nalität bezeichnet: Personalität. Plessner macht einen Gattungsun-terschied zwischen Individualität und Personalität. Ein Individuumist ein in seiner Identität durch ein Repertoire von Eigenschaften,Verhaltensweisen bestimmtes, körperlich begrenztes Lebewesen,das aber zu sich selbst nicht in einem Vergegenständlichungsver-hältnis steht. Eine Person hingegen ist nicht nur sie selbst, son-dern hat sich als Ich, das sie sich vergegenständlicht; sie steht so-

15zusagen immer zugleich neben sich, wenn sie »in sich« ist. »Einderartiges Geschöpf ist eine Person, welche in ihrer Vorstellung dasIch haben kann, womit sich der Mensch unendlich über alle ande-ren auf Erden lebenden Wesen erhebt. Mit ›Ich‹ wird ein ausge-zeichneter Bereich gemeint, den ich mit meinem Körper einnehme,von dem aus ich sehe und agiere« (VIII/295). Das ist zweifellos diematerielle Ausgangslage. Unser Körper ist der Träger des Ich, inihm verkörpert es sich, »in ihm steckt es wie in einem Futteral«(VIII/297). Weil es für den anderen nie unmittelbar, sondern im-mer nur vermittelt durch die Erscheinungsformen, in denen es sichäußert, erfahrbar wird, und selbst auch die anderen immer nurvermittelt erfährt, bleibt es in »letzthinniger Unterschiedenheit«(Aristoteles: teleuteia diaphora) vereinzelt, isoliert, auf sich selbstbezogen. Einerseits geht ihm in dieser Gegenstellung zur Welt der»Sinn für den Eigenwert der Dinge auf« (VIII/298). »Nur ein Sub-jekt kann Objekte haben und objektiv sein. […] Jeder könnte derandere sein, aber er kann es nicht. Damit tut sich ein Widerspruchzwischen Struktur und Faktizität auf, der dem Antagonismus, wieihn Kant schildert, wenn nicht direkt zu Grunde, so doch sichervoraus liegt und in welchem sich das Phänomen der ungeselligenGeselligkeit spiegelt« (VIII/298). Andererseits wird das Individu-um »im Lichte seiner Personalität zu einem primär undurchdringli-chen und vieldeutigen Bereich, der in sich und mit sich allein ist.Wenn Personalität Öffnung nach innen heißt, wird man sagen dür-fen, daß die Haltbarkeit im Zusammenleben von Personen ihnenselber anvertraut sein muß« (VIII/299). Die Person ist als solchenicht in den Gesellungsverband geboren, sondern sie muss ihn sicherst schaffen. Aber sie kann auch nicht anders, als ihn sich zuschaffen, weil sie in der Gegenstellung zur Welt die anderen als ih-resgleichen erlebt. »Wo immer eine Person ist, d.h. welche Stellesie im sozialen Gefüge auch einnimmt, kann eine andere sein, weil

15 | Sartre hat dies die Differenz von ›En-soi‹ und ›Pour-soi‹ genannt(Sartre 1967: 711ff.).

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischesie einander spiegelbildlich reziprok sind. […] Entscheidend ist

vorläufig nur die in der Personalität als solcher gründende Einan-derstruktur, die dem einen den anderen streng koordiniert, ohneRücksicht auf das, was er ist oder hat« (VIII/296). Geselligkeitwird aus der räumlichen Verfassung des körperlichen Menschenabgeleitet, aber dieses räumliche, äußerliche Beieinandersein undFüreinandereintretenkönnen scheitert an der ideellen, innerlichenSelbstgewissheit, unverwechselbar zu sein. Plessner lässt es dabei bewenden, das widersprüchliche Verge-sellschaftungsverhältnis als Ausdruck der naturontologischen Ver-fasstheit des Menschen, als deren Formbestimmtheit zu verstehen.»Personalität und Individualität bezeichnen Positionscharakte-re im Verhältnis zum eigenen Körper und damit zur Umgebung«(VIII/302f.). Das ist von der Biologie her gedacht, wenn auchnicht empirisch, sondern transzendental-strukturell. Die vorange-hende Frage »Warum nicht beim Menschen als Lebewesen anset-zen?« (VIII/302) macht das deutlich. Insoweit ist das auch richtig.Nur reicht es für die Grundlegung einer Soziologie nicht aus. Dieseweiß nun zwar, dass ihre Probleme einem dialektischen Wider-spruch im natürlichen, biologischen Weltverhältnis entspringenund dass die Besonderheit dieses Reflexionsverhältnisses am An-fang einer »Ontologie des gesellschaftlichen Seins« (vgl. Lukács1971) stehen muss. Das ist nicht wenig und legt die Gelenkstellefrei, an der sich die historische Übertragung des materiellen Seinsins gesellschaftliche vollzieht und theoretisch reflektiert werdenmuss. Um daraus aber die ganze gesellschaftliche Sphäre des Men-schen zu entwickeln, bedürfte es einer ausgearbeiteten Regional-ontologie der Gesellschaft als Basis für die Wissenschaftsdisziplinder Soziologie. Der späte Aufsatz von 1966 lässt eine Schranke erkennen, andie Plessner schon in seinen frühen Arbeiten Grenzen der Gemein-schaft (V/11ff.) aus dem Jahr 1924 und Macht und menschliche Na-tur (V/139ff.) aus dem Jahr 1931 gestoßen ist. Immerhin belegtgerade das zweite dieser Bücher, dass Plessner sich der Notwen-digkeit bewusst war, eine naturphilosophische Anthropologie ineine Sozialphilosophie verlängern zu müssen. »Als Lehre vom We-sen des Menschen im ausdrücklichen Hinblick auf alle Seinsweisenund Darstellungsformen kann sie den zu engen Rahmen einer bio-logischen Disziplin unmöglich ertragen. Sie umfasst das Psychischeebenso wie das Geistige, das Individuelle ebenso wie das Kollekti-ve, das in einem beliebigen Zeitquerschnitt Koexistierende ebensowie das Geschichtliche« (V/147). Wenn aber dann eine solche We-sensbestimmung dahingehend bestimmt wird, »das eigentlich

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Mensch – Natur Menschliche mit einer Struktur zu decken, die formal und dyna-misch genug sein muss, um die in der ganzen Breite ethnologi-scher und historischer Erfahrung ausgelegte Mannigfaltigkeit alsmögliche Modi des Faktisch-werdens dieser Struktur sichtbar zumachen« (V/155), dann zieht sich Plessner auf einen vor-soziolo-gischen Formalismus zurück, den er zwar klassisch-transzenden-talphilosophisch legitimieren, aber nicht mehr mit seinem eigenenKonzept eines materialen Apriori erfüllen kann. Und die als eineGrenzkategorie des Verstehens nützliche (vielleicht unentbehrli-che) Kategorie der »Unergründlichkeit des Menschen« (V/160ff.)gerät dann in die Gefahr, in einen Irrationalismus abzugleiten, denPlessner mit Gewissheit nicht im Sinn gehabt hat und strikt abge-lehnt hätte (vgl. Schürmann 1997a). Die exzentrische Positionalität, die den Menschen in die Lageversetzt, frei und zwecksetzend sein Verhalten zu steuern, bleibtder zentrale theoretische Bezugspunkt Plessners auch da, wo ersich auf die Ebene der Faktizität begibt. Wohl ist das reflexiveSelbstverhältnis des Menschen konstitutiv für sein Menschsein,nicht aber kausal für die Ereignisse, die insgesamt seine faktischeLage in der Welt ausmachen. Wie die transzendental konstitutiveVerhältnisstruktur sich in der geschichtlichen Bedingungsstrukturdes Eintretens von Ereignissen ausdrückt, ist eine Frage, die au-ßerhalb von Plessners Blickrichtung liegt. Wo er darauf zu spre-chen kommt, und das ist in Macht und menschliche Natur ein zen-trales Thema, bleiben seine Ausführungen beliebig, ohne die zwin-gende Kraft der anthropologischen Systematik. Auffällig wird dasan der Übernahme der Freund-Feind-Schematik, die uneingestan-denermaßen auf Carl Schmitt zurückgeht, an der eher aperçuhaf-ten Bezugnahme auf Nietzsche, an der später als irreführend er-kannten Analogie zu Hackordnungen im Tierreich. Diese Schwä-chen haben einen systematischen Grund. Als Lebewesen im biolo-gischen Bereich des Organischen ist der Mensch ein Individuumund als Individuum beschreibbar; die exzentrische Positionalitätbezeichnet den Ort, an dem die Individualität in Personalität um-schlägt. Damit entsteht ein neuer Modus des Inseins, der nichtmehr unter der Perspektive des Einzelwesens angemessen erfasstwerden kann, wenn auch die in diesem Modus stehenden Katego-rien immer noch menschliche Individuen determinieren, jedoch inanderer Färbung und mit anderen Implikationen. So ist z.B. dasWesen des Politischen in der bürgerlichen Gesellschaft durchausdurch die hobbessche Sozialanthropologie zu fassen, nicht jedochallgemein in jeder Gesellschaftsformation. Die Fixierung auf die am Einzelwesen abgelesene Struktur der

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des MenschenNatürlichkeitDie dialektischeexzentrischen Positionalität, die sich in der kategorialen Unter-

scheidung von Individualität und Personalität reproduziert, ver-stellt Plessner den Blick auf die genuin an Kollektivität gebunde-nen Konstitutionsprozesse des ›Menschenartigen‹, Sprache undArbeit. Diese gehen nicht als Ergebnis aus einem Miteinander-in-Beziehung-Treten von Individuen hervor, in dem dann die Einzel-nen einander ›vergegenständlichen‹. Sie sind vielmehr der Vor-gang, in dem die vergegenständlichende Beziehung entsteht undsich artikuliert. Der qualitative Sprung in eine neue Seinsqualitätvollzieht sich in gleitenden Übergängen. Ich glaube nicht, dassPlessner dieser Auffassung widersprochen hätte, aber sie gehtnicht in sein sozio-anthropologisches Konzept ein, sodass in derKonsequenz die Soziologie auf dem Standpunkt des bürgerlichenIndividuums verharrt. Nur darum kann die auf individual-perso-nale Beziehungen abzielende Freund-Feind-Einstellung als Aus-druck der ›Wesensverfassung des Menschen‹ gelten, »und zwar ge-rade dadurch, daß eine konkrete Wesensbestimmung von ihm ab-gehalten, er als offene Frage oder Macht behandelt wird. In seinerUnbestimmtheit zu sich gestaltet sich ihm der merkwürdige Hori-zont, innerhalb dessen ihm alles bekannt, vertraut und natürlich,seinem Wesen gemäß und notwendig, außerhalb dessen ihm allesunbekannt, fremdartig und unnatürlich, seinem Wesen widrig undunverständlich erscheint. […] Jede wie immer geartete Art von Ge-sellung und Vergemeinschaftung zu Zwecken des Wohnens, Wirt-schaftens, Liebens, der religiösen Betätigung, der Nachkommen-schaft ist durch diese Freund-Feind-Relation bestimmt. Ein ver-trauter Kreis setzt sich gegen eine unvertraute Fremde ab« (V/192). Dass in der von Sprache und Arbeit geprägten Gemeinsamkeitgerade eine Überwindung der Abgrenzung des Individuums ge-schieht, sich eine natürliche Solidarität herstellt, muss zu einerneuen Verhaltensweise, einem neuen Weltverhältnis des Menschenführen, worin die Offenheit und Unbestimmtheit des So-seins einesIndividuums nicht als Gefährdung und Unsicherheit erscheint,sondern als Bedingung der Möglichkeit kollektiver Zwecke, alsoder Verwirklichung des Allgemeinen im Einzelnen. Das erst wäredie condition humaine, in welcher das Individuum seines Gat-tungswesens innewird.

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Nach Plessner hinter Plessner zurück

Eine Anthropologie, die nicht von der Anmaßung ausgeht, die Weltvom Menschen her zu konstruieren, sondern sich bewusst bleibt,dass der Mensch ein Moment im Ganzen der ihn umfassenden Weltist, wird von der Besonderheit der Stellung des Menschen in derWelt und folglich vom Verhältnis des Menschen zur Welt auszuge-hen haben. Die Frage, in deren Beantwortung sich die Grundlegungder Anthropologie vollzieht, ist nicht die Frage: »Was ist derMensch?«. Ihr Gegenstand wäre letztlich in der Wesensschau einergegebenen Entität zu erfassen, in der Idee, an der alle Exemplareteilhaben, die zu deren Gattung gehören. Dieser platonisierendeSubstanzialismus führte zwangsläufig zu einer Hypostasierung desMenschseins. Eine Anthropologie indessen, die den Hervorgang des Men-schen aus dem Prozess der Naturgeschichte als ein historisch kon-tingentes, der Form nach aber notwendiges Auftreten einer aprio-rischen Möglichkeit des Verhältnisses des Endlichen zum Ganzenbegreift, kann von der Besonderheit der Gattung homo sapiens sa-piens ohne Hypertrophierung reden. Diese sozusagen kosmologi-sche Einbettung hat Plessner vorgenommen. Er hat die Besonder-heit des Menschen, sich ›Welt‹ (und also auch die Idee der Weltim Ganzen) vergegenständlichen zu können, nicht aus einer Ge-genstellung zur Welt, sondern aus der exzentrischen Position inder Welt hergeleitet. Er hat die Kontingenz der Naturgeschichte(aufrechter Gang, Frontalität, Freisetzung der Hand, Vergrößerungdes Gehirns usw.) und die Apriorität der möglichen Stellungen desEinzelseienden in und zum Ganzen in einen systematischen Zu-sammenhang gebracht. Das war ein neues Paradigma der Anthropo-logie. Jede weitere philosophische Anthropologie hätte im Rahmendieses Paradigmawechsels ausgearbeitet werden müssen, um ›aufder Höhe der Zeit‹ zu sein. Stattdessen ist die Anthropologie auf die Position des Sub-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur jekt-Objekt-Dualismus und der Subjekt-Zentriertheit zurückge-kehrt und hat, gleichsam in einer Umkehrung des Programms von

1Hegels Phänomenologie des Geistes nun wieder das Subjekt zurSubstanz gemacht. Was nach Plessners Die Stufen des Organischenund der Mensch an philosophischen (also nicht bloß einzelwissen-schaftlich orientierten, empiristischen) Anthropologiemodellenvorgelegt wurde, fällt hinter den Paradigmenbruch zurück, der mitdiesem Werk vollzogen worden war. Das Signal zu diesem Rückzuggab Martin Heidegger.

Begründung der Anthropologie in Daseinsontologie

Es ist wohl kaum zufällig (wenn auch im Hinblick auf die herauf-ziehende rassistische Ideologie des Nationalsozialismus pikant),dass Heidegger, der Barde des ›Dritten Reichs‹, sein 1929 – einJahr nach den Stufen des Organischen und der Mensch – erschiene-nes Buch Kant und das Problem der Metaphysik dem HalbjudenScheler zum Gedächtnis widmete. Scheler hatte ja die Sonderstel-lung des Menschen im Kosmos metaphysisch überhöht und denMenschen essenziell von der Natur abgeschnitten. Dass Heideggernun in der Kant-Interpretation, auf Scheler in der Sache positivBezug nehmend und ihn als Person durch die Widmung heraushe-bend, am Schluss die kantische Transformation der Metaphysik inTranszendentalphilosophie als Grundlegung der Metaphysik in derAnthropologie (Heidegger 1951/1929: 185ff.) auslegt, ist der Ver-such, die Geltung des kantischen Erbes für die Existenzialontolo-gie von Sein und Zeit zu nutzen, und richtet sich direkt gegen dieden subjektiven Idealismus aushebelnde objektive NaturontologiePlessners: »Gewiß kann eine Anthropologie philosophisch genanntwerden, sofern ihre Methode eine philosophische ist, etwa im Sin-ne einer Wesensbetrachtung des Menschen. Diese zielt dann daraufab, das Seiende, das wir Mensch nennen, gegen Pflanze und Tierund die übrigen Bezirke des Seienden zu unterscheiden und da-durch die spezifische Wesensverfassung dieser bestimmten Regiondes Seienden herauszuarbeiten. Philosophische Anthropologie wird

1 | Hegel 1970: 3/22f.: »Es kommt nach meiner Einsicht […] alles da-rauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt auf-zufassen und auszudrücken.« Und weiter: »Die lebendige Substanz ist alsSubjekt das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweckvoraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und seinEnde wirklich ist.«

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zurückhinter PlessnerNach Plessnerdann zu einer regionalen Ontologie des Menschen und bleibt als

solche den übrigen Ontologien, die sich mit ihr auf den Gesamtbe-reich des Seienden verteilen, nebengeordnet. Die so verstandeneAnthropologie ist nicht ohne weiteres und vor allem nicht aufGrund der inneren Struktur ihrer Problematik Zentrum der Philoso-phie« (ebd.: 190f.). Es wirkt wie eine Schützenhilfe für Scheler, wenn Heideggerdann seine eigene Auffassung dagegen stellt: »Liegt das Ziel derPhilosophie in der Ausarbeitung einer Weltanschauung, dann wirdeine Anthropologie die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ zu um-grenzen haben. Und gilt der Mensch als dasjenige Seiende, das inder Ordnung der Begründung einer absolut gewissen Erkenntnisdas schlechthin Erstgegebene und Gewisseste ist, dann muß der sogeplante Aufbau der Philosophie die menschliche Subjektivität inden zentralen Ansatz bringen« (ebd.: 191). Herablassend wirddann zugestanden, dass diese subjektzentrierte Weltanschauungs-anthropologie »sich der Methode und der Ergebnisse einer regio-nalen Ontologie des Menschen bedienen« könne (ebd.). Die Nut-zung der Kompetenz des Biologen-Philosophen Plessner ist aller-dings genau das Gegenteil dessen, was die Systematik seines Werkszulässt; erst muss man sich mit seinem »naturphilosophischen«Grundriss auseinandersetzen, um dann die einzelwissenschaftli-chen Bausteine der Systemarchitektur ins Auge zu fassen, dennder Grundriss weist den Bausteinen ihre Stellung und Funktion zu. Nun ist allerdings Heideggers Grundriss eben ein ganz anderer.Es geht ihm nicht um den Menschen als einen in seinem So-sein zubestimmenden Teil der natürlichen Welt, die der Bedingungsgrundseines Seins ist. Ihm geht es vielmehr um »eine Enthüllung […]der Subjektivität des menschlichen Subjekts« (ebd. 186), die ermit »Transzendenz« gleichsetzt (das Wort steht an der hier im Zitatausgelassenen Stelle). Transzendenz heißt für Heidegger »das Of-fenhalten des Horizontes« (ebd.: 117). Dies vollzieht sich in der»Einbildungskraft«, die wiederum durch »eine eigentümlicheNichtgebundenheit an das Seiende« (ebd.: 119) gekennzeichnetist. Positiv gewendet besagt das, dass in der Einbildungskraft derMensch die Welt »entspringen lassen« kann, zwar nicht ihre Mate-rialität, wohl aber die Ordnung des Materiellen, die er sich als sooder so mögliche vorstellt und dann herstellt. Es ist die einseitigeBetonung des »Machens«, der homo faber oder homo technicus, diehier in Entsprechung zu Kants erkenntnistheoretischem Subjekti-vismus handlungstheoretisch gewendet wird. Von da ist der Weg zuder Deutung des Menschen als Gewalttäter in der Metaphysik-Vor-

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur 2lesung von 1935 nicht mehr weit ; in der Umdeutung des sopho-kleischen Chorliedes »Vieles ist schrecklich (π�λλ� τ δειν« be-deutet für Heidegger »δειν�ν das Gewaltige im Sinne dessen, derdie Gewalt braucht, nicht nur über Gewalt verfügt, sondern gewalt-tätig ist, insofern ihm das Gewaltbrauchen der Grundzug seinesTuns nicht, sondern seines Daseins ist« (Heidegger 1953: 115). Das Chorlied der Antigone (Vers 331ff.) fährt fort: »Nichts istschrecklicher als der Mensch« (��δ%ν νθρ(π�υ δειν�τερ�υ FürHeidegger besagt das: »Der Mensch ist der Gewalt-Tätige nichtaußer und neben anderem, sondern allein in dem Sinne, daß erauf Grund und in seiner Gewalt-tätigkeit gegen das Überwältigende(= das Seiende im Ganzen) Gewalt braucht. […] Diese Erschlossen-heit des Seienden ist jene Gewalt, die der Mensch zu bewältigenhat, um in Gewalt-tätigkeit allererst inmitten des Seienden erselbst, d.h. geschichtlich zu sein. […] Er fand sich in das Überwäl-tigende und fand erst darin sich selbst: die Gewalt des also Täti-gen. Das ›sich selbst‹ bedeutet nach dem Vorangegangenen zu-gleich Jenen, der ausbricht und umbricht, einfängt und nieder-zwingt« (ebd.: 115, 120). Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass des Menschen Sub-jektsein sich nicht nur außer der Natur, sondern gegen die Naturstellt, dass der Mensch ein widernatürliches Wesen ist. »Die Ge-walt, das Gewaltige, worin sich das Tun des Gewalt-tätigen bewegt,ist der ganze Umkreis der ihm überantworteten Machenschaft. […]Denn die Gewalt-tätigkeit ist das Gewalt-brauchen gegen dasÜberwältigende: das wissende Erkämpfen des vordem verschlosse-nen Seins in das Erscheinende als das Seiende« (ebd.: 121f.). Dasist keine Anthropologie, die sich dann auch noch der wissenschaft-lichen Kompetenz Plessners bedienen könnte, sondern der (reak-tionäre) Gegenentwurf zu ihr, der den Herrschaftsanspruch des

2 | Zur Einführung in die Metaphysik von Heidegger vgl. auch Hans HeinzHolz, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. II, Heft 3, S. 740–746. Die fürdie Anthropologie maßgebliche Schlüsselstelle ist die Interpretation desChorliedes Vers 331ff. aus der Antigone des Sophokles. Es geht um die Deu-tung des Wortes deinon (δειν�ν). Dieses heißt in der Kernbedeutung: dasin Schrecken Versetzende, gemildert auch: das in Staunen Versetzende; da-raus abgeleitet auch: etwas, das durch sein Ausmaß erstaunlich oder er-schreckend ist, daher das Gewaltige, zum Beispiel ein gewaltiges Vermögen,Können, Macht (Fundstellen bei Passow 1970). Die von Heidegger vorge-nommene Übertragung ins Aktive, Gewalt-tätige (zur Hervorhebung des Ak-tiven bei Heidegger immer mit Bindestrich) verschiebt den Bedeutungsspiel-raum in unzulässiger Weise.

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zurückhinter PlessnerNach PlessnerMenschen über die Natur (und über die anderen, zu unterwerfen-

den Menschen) der Natürlichkeit des Menschen entgegensetzt unddie metaphysische Idee einer harmonia mundi oder harmonia uni-

3versalis ausschließt. Das ist eine Anthropologie aus dem Geistevon Nietzsches »Wille zur Macht« in der Intention einer über Nietz-

4sche noch hinausgehenden Radikalität. In diesem Denken hatPlessner keinen Ort, und dass die nachfolgende Anthropologie inDeutschland – gewiss unter dem Einfluss der faschistischen Ideo-logie (vgl. Lukács 1982) – auf der durch Heideggers Ontologie an-gelegten Linie weitergeführt wurde, bedeutete die Abwendung vonPlessner im Grundsatz und im Ganzen (auch wenn nach 1945 derenProtagonisten, auf gemeinsame Göttinger Ursprünge zurückgrei-fend, dies in anderem Lichte erscheinen lassen wollten).

Gehlens Deutung der Menschen als Mängelwesen

Hatte Plessner die Einheit der biologischen und geistigen Naturdes Menschen aus einem Naturprinzip begründen können und soden metaphysischen Dualismus Schelers überwunden, so rissen dieAnthropologen nach ihm die Kluft wieder auf, indem sie die Son-derstellung des Menschen unter Vernachlässigung seiner biologi-schen Daseinsvoraussetzungen ins Zentrum ihrer Untersuchungen

5rückten. So unterschiedlich auch die Fragestellungen und me-

3 | Dies ist das metaphysische Konzept der chinesischen Philosophie, indem Leibniz seinen eigenen Weltbegriff wiedererkennen wollte; vgl. Holz1994b, 2000.4 | Vgl. Heidegger 1953: 152. Dort heißt es mit Bezug auf den »Willenzur Macht« als »Versuch einer neuen Wertsetzung«: »Die Verstrickung in dieWirrnis der Wertvorstellung, das Nichtverstehen ihrer fragwürdigen Herkunftist der Grund, weshalb Nietzsche die eigentliche Mitte der Philosophie nichterreichte.« Heidegger will noch vor jeder Wertung die Gewalt-tätigkeit imSein verankern und sagt dazu: »Wir Heutigen können dem nur vorarbeiten.«5 | Im Folgenden beziehen wir uns auf die in Deutschland sich entwi-ckelnde Linie der philosophischen Anthropologie, die an die Namen ArnoldGehlen, Hans Lipps und Otto Friedrich Bollnow geknüpft ist. Auch diese Na-men stehen selektiv für viele andere verwandte theoretische Ansätze. Dieanders verlaufende Entwicklung in Frankreich – mit dem phänomenologi-schen Existenzialismus von Maurice Merleau-Ponty, dem Strukturalismus vonClaude Lévy-Strauss und Michel Foucault, der Orientierung an den Ideolo-gemen der alltäglichen Lebenswelt bei Roland Barthes – und die amerikani-sche cultural anthropology lassen wir beiseite, da es uns nur um die beispiel-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur thodischen Vorgehensweisen dieser Autoren sind – sie alle lassendie Naturseite des Menschen hinter seiner seelischen, geistigenund Willensverfassung zurücktreten. Es ist kein Zufall, dass siezwar in einer psychologischen, nicht aber in einer medizinischenAnthropologie Widerhall gefunden haben. Einzig Arnold Gehlenversucht über die Verhaltensforschung wenigstens einen mittelba-ren Anschluss an die Biologie zu finden, allerdings um den Preis,gerade die biologische Ausstattung des Menschen als defizitär undverkürzt aufzufassen. Im Gegensatz zur anorganischen und weithin auch zur pflanz-lichen Daseinsform, in der die Einwirkungen der einzelnen Seien-den aufeinander kontingent sind, beziehen sich die Bewegungs-formen von Tieren und in höherem Maße von Menschen auf le-bensdienliche Ziele und äußern sich als festgelegte Prägungen

6oder als variable Reaktionsweisen. Beim Tier erklären wir dieseimmanenten causas finales als instinktgesteuert. Instinkte sindangeborene Reaktionsweisen auf Reize (Instinktauslöser); sie re-geln das Eingreifen des einzelnen Lebewesens in seine Umweltnach dem Muster von challenge und response. Indem Gehlen die Programmierung zum instinktiv gelenktenVerhalten als Ausgangspunkt nimmt und daran seine Deutungs-muster der Tier-Mensch-Welt entwickelt, kann er einem Trend der

7Zeit folgend – die Einheit der menschlichen Person durch denModus der Handlungsantriebe konstituiert sehen. »Man muß daherin den Mittelpunkt aller weiteren Probleme und Fragen die Hand-lung stellen und den Menschen als ein handelndes Wesen definie-ren – oder als ein voraussehendes oder kulturschaffendes, was al-les dasselbe meint« (Gehlen 1961: 49). Auch beim Tier sprechen

hafte Freilegung bestimmter theoretischer Strukturen geht, die der Wesens-verfassung der philosophischen Anthropologie zugrunde liegen. Dass insbe-sondere aus Merleau-Pontys Arbeiten wesentliche Erkenntnisse zu gewinnensind, möchtne wir in Übereinstimmung mit Plessner nachdrücklich hervorhe-ben (vgl. Holz 1965).6 | Nietzsche 1958: 2/623: »Der Mensch ist das noch nicht festgestellteTier.«7 | Den Aktionismus als geschichtsphilosophisch das Menschsein be-gründende Einstellung entwickelte Giovanni Gentile (1916), als politischeLeitvorstellung Georges Sorel (1908). Martin Heidegger (1927) stellt die Ka-tegorie der Entschlossenheit ins Zentrum des existenzial ›eigentlichen‹ Um-gangs mit Welt. Die aktionistischen Philosophien haben ihren Ursprung beiNietzsche und der Nietzsche-Nachfolge, die auf den ›Willen zur Macht‹ setz-te.

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zurückhinter PlessnerNach Plessnerwir von ›Instinkthandlungen‹, die aber gerade ohne bewusste Er-

wägung der Verknüpfung von Handlungsverlauf und Zielerfüllungablaufen. Der Reiz löst die Reaktion aus. Aus den Beobachtungen vonKonrad Lorenz (1965) zieht Gehlen den Schluss, »daß Instinkt-handlungen zentral gesteuerte Automatismen sind, die sich mitTaxien verschränken können, d.h. mit Formen des Reagierens aufAußenreize. Die Reaktionen können durch ›Schemata‹ ausgelöstwerden. […] Diese Instinkthandlungen sind eben selbst Einpas-sungen, sie sind organisch festgelegte, spezialisierte Verhaltens-weisen auf bestimmte Umweltkonfigurationen« (Gehlen 1963: 27).Beim Menschen hingegen sind »die voraussehende, planende Ver-änderung vorgefundener Sachverhalte ins Lebensdienliche, Lei-tungen der Weltorientierung und Weltdeutung sowie Akte der Stel-lungnahme gegenüber den eigenen Antrieben« handlungsleitend(ebd.: 26). Diese Lebensvollzüge müssen erkannt und eingeübt,die variable Reaktion auf äußere Umstände muss durch Abstrak-tionsleistungen ermöglicht werden. Daraus folgt: »In einer Formel:der Mensch ist das handelnde Wesen und damit das Wesen derZucht« (ebd.: 24). Dass der Mensch lernfähig ist und also erzogen werden kann,ist die Konsequenz einer Evolution, in deren Verlauf die fest ge-prägten Verhaltensmuster, die für das Tier charakteristisch sind,abgebaut werden. »Ohne starre Strukturen ist kein organischesSystem von höherer Integrationsstufe möglich, stets aber müssendie Strukturen des bestehenden Systems zerbrochen werden, sollein solches von noch höherer Stufe der Integration und Harmonieerreicht werden« (Lorenz 1965: 2/185). Der Mensch ist jedem Tierunterlegen, wenn es um biologisch artgerechtes Verhalten geht.Heinrich von Kleist hat in Über das Marionettentheater (1961) denNachteil artifiziellen Verhaltens gegenüber der natürlichen Reakti-onsfähigkeit eindrucksvoll geschildert. Künstlichkeit geht einhermit einem Verlust an Natürlichkeit. Daraus leitet Gehlen ab, dassdie Verfassung der Menschen durch Mängel bestimmt ist. Das giltschon für die anatomische Ausstattung des Menschen: »Er ist or-ganisch mittellos, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oderSchutz oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeu-tender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den›Spezialisten‹ im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleidund ohne Anpassung an die Witterung« (Gehlen 1961: 46; ausführ-licher in Gehlen 1962: 86ff.). Weil Gehlen sich der Theorie von Bolkanschließt, der diese Ausstattungsschwächen als Primitivismengegenüber der weiter entwickelten Organspezialisierung der aus

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur dem Hominidenstamm hervorgegangenen Affen betrachtet, bleibtdie These von der Instinktreduktion allerdings widersprüchlich:Wie sollten Instinkte ausgebildet gewesen sein (die dann verküm-merten), wenn es ja noch gar keine Organe gab, die die angenom-menen Instinktleistungen hätten erbringen können? Dieser Wider-spruch ist jedoch nicht als Einwand durchschlagend, denn es lie-ßen sich im Rahmen der gehlenschen Hypothese die natürlichenDefizite des Menschen auch aus anderen evolutiven Prozessen er-klären. Jedenfalls charakterisiert Gehlen den Menschen als »Mängel-wesen« (Gehlen 1961: 46), das will sagen: »Wenn man den Men-schen morphologisch betrachtet, so fehlt ihm die spezialisierte Or-ganausstattung, welche das Subjekt der Einpassung, das Korrelatder Umwelt ist. Der Mensch ist also das unspezialisierte und in die-sem Sinne primitive Wesen […] – das bedeutet auch einen lebens-gefährlichen Mangel an echten Instinkten, d.h. von angeborenenerfolgssicheren und auf Auslöseschemata abgestimmten Bewe-gungsfiguren« (Gehlen 1963: 34f.). Die spezifisch menschlichenEinstellungen zur Welt sind Kompensationen der biologischen Un-terdeterminiertheit: »Theoretische Praxis«, »Offenheit der Wahr-nehmung für die Reizüberflutung«, Kombination der Bewegungendes Leibes, dessen ganze Oberfläche zum Sinnesorgan wird und der

8sich dadurch selbst erfahren kann , instinktneutrale Wahrneh-mung und mithin »Objektivität« der Außenwelt, die in dieser Ent-gegenstellung variabel »verfügbar« wird (ebd.: 38ff.). Zunächstbedeuten diese Einstellungen ein Risiko in Situationen, auf die dasLebewesen reagieren muss und an die der Mensch nicht durch ei-nen genetischen Habitus angepasst ist. Um zu überleben, muss erVerfahren ausbilden, die Schwäche in einen Nutzen zu verwandeln,das heißt aus der Unangepasstheit an typische Situationen dieFreiheit zielgerichteten Handelns zu machen: »Aus eigenen Mittelnund eigentätig muss der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbe-dingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfris-

9tung umarbeiten« (Gehlen 1962: 36).

8 | Die Oberfläche des Leibes ist jedoch auch bei Tieren als ganze sinn-lich rezeptiv. Zur Selbsterfahrung braucht es mehr als dies.9 | Lorenz distanziert sich von der Mängelwesen- und Kompensationsthe-orie Gehlens und fasst die Eigenart des Menschen positiv: »Während Gehlenden Menschen das ›Mängelwesen‹ nennt, weil er aller besonderen Spezial-anpassungen entbehrt, möchte ich den Kernpunkt derselben Erscheinung inder Vielseitigkeit derartiger unspezialisierter Wesen sehen, zumal man jaauch das gewaltige Menschen-Hirn als somatisches Organ durchaus nicht

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zurückhinter PlessnerNach Plessner Während die Lebenstätigkeit des Tieres sich in Kongruenz mit

der Umwelt befindet, erzeugt der handelnde Mensch ein asymme-trisches Verhältnis: Seine Lebenstätigkeit beschränkt sich nichtnur auf die Herstellung eines Gleichgewichts in der Bedürfnisbe-friedigung, sondern bewirkt eine Veränderung der Umweltbedin-gungen zur eigenen Entlastung. Das beginnt mit der Entlastungvom Druck der Unangepasstheit und endet bei den höchsten zivili-satorischen Leistungen und Errungenschaften. »Die biologischenSonderbedingungen des Menschen machen es notwendig, die Be-ziehungen zur Welt von der bloßen Gegenwart zu entbinden, unddeswegen muss der Mensch seine Erfahrungen mühsam und tätigselbst vollziehen, damit sie ihm verfügbar werden, und dies in ei-nem hochgezüchteten, auf bloße Andeutungen hin variablen Kön-nen. […] In diesem Sinne bedeutet Entlastung: dass die Schwer-punktbildung im menschlichen Verhalten zunehmend in die›höchsten‹, nämlich die mühelosesten, nur andeutenden Funktio-nen fällt« (ebd.: 62, 65). Diese indirekte Bewältigung der Bedürf-nisbefriedigung erfordert die Einbindung in die Gemeinschaft, er-fordert Sprache als Mittel der Kommunikation über nicht präsenti-sche Gegenstände und Handlungen, erfordert Zucht im doppeltenSinne der Einübung kollektiven Handelns und der gegenseitigenRücksichtnahme, erfordert abstraktives Denken und die Vergegen-ständlichung des Allgemeinen. Indem dieser multilaterale Prozesszum Aufbau eines Systems der Mängelkompensation führt, und da-hin gesteuert werden kann, lässt sich aus den anthropologischenFakten eine normative Handlungstheorie ableiten, in deren Zent-rum die Zucht steht und die sich ihre inhaltlichen Rahmenbedin-gungen von einer deskriptiven Soziologie vorgeben lässt.

außer acht lassen darf. […] Der Spezialist auf Nichtspezialisiertsein bautsich seine Umwelt aktiv auf, während sie ein Tier mit weitergehenden Spezi-alanpassungen der körperlichen Organe und des angeborenen Verhaltensgroßenteils mit auf die Welt bringt. […] Selbstverständlich läßt sich dieScheidung in ›Spezialisten‹ und ›Spezialisten auf Nichtspezialisiertsein‹ imTierreiche nur an extremen Typen scharf durchführen. Es gibt alle nur denk-baren Übergänge zwischen beiden. […] Dennoch ist die Weltoffenheit desMenschen nicht nur graduell-quantitativ, sondern auch qualitativ von derje-nigen tierischer Spezialisten auf Nichtspezialisiertsein verschieden. […] Esgibt nur wenige philosophische Lehrsätze, die so gründlich das Gegenteilder Wahrheit behaupten wie der alte Satz Natura non facit saltum! Vom Ge-schehen im Atom bis zu demjenigen in der Menschheitsgeschichte bewegtsich die anorganische und die organische Entwicklung in Sprüngen« (Lorenz1965: 2/177ff.). Hier wird Lorenz zum Zeugen für die Dialektik der Natur!

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur Gehlen hat zweifellos eine kohärente und plausible Theorie desMenschen vorgelegt, die ungeachtet seines methodologischen

10(vielleicht nur scheinbar) radikalen Empirismus den Ansprucherheben kann, eine philosophische Anthropologie zu sein. Aller-dings tritt der ideologische Charakter der Anthropologie gerade inder Nutzung der Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften überausdeutlich zutage, denn im Überschneidungsfeld der Disziplinen be-kommt deren Integration einen allgemein fundierenden, weltan-schaulichen Charakter. Gehlen weiß das auch: »Im Falle der philo-sophischen Anthropologie nun ist es selbstverständlich, daß eine›Modellvorstellung‹ vom Menschen imstande sein muß, die Diszi-plinen der Morphologie, Physiologie, Psychologie, Sprachwissen-schaft usw. wenigstens so weit zu überdecken, dass zwar nicht de-ren gebietseigene Begriffe und besonderen Gesetze, wohl aberdoch einige fundamentale Kategorien in ihr in Zusammenhang ge-bracht werden« (Gehlen 1961: 142). Diese Integrationswissen-schaft Anthropologie ist nun nicht mehr eine Wissenschaft unterund neben anderen, sondern Fundamentalontologie: »Eine Lehrevom menschlichen Handeln als das Kernstück einer philosophi-schen Anthropologie, welche selbst wieder als prima philosophiaoder philosophische Grundwissenschaft erscheint« (Gehlen 1965:252). Die Priorität der Anthropologie wird hier proklamiert. In diesem Satz aus einer Abhandlung von 1935 legt Gehlensein Programm offen. Der handelnde Mensch rückt ins Zentrum ei-nes philosophischen Weltentwurfs, in dem die äußere Wirklichkeitnur als objektivierte Bedingung menschlichen Aktionismus ›be-handelt‹ wird. Unter dem Anschein eines erkenntnistheoretischenRealismus wird ontologisch eine extreme subjektiv-idealistischePosition bezogen. Der ganze Aufwand empirisch zu belegender Aussagen – Or-ganmängel, Sinnesschwäche, Instinktreduktion usw. – dient letzt-lich nur der Unterfütterung der These, dass der Mensch ein ›Zucht-wesen‹ sei. »Die mit dem Dasein des Menschen chronisch und injeder Generation neu gesetzte Aufgabe der Formierung des An-triebslebens wird von der Erziehung, nach ihr von der Selbstzucht

10 | Gehlen sieht sich selbst als Überwinder der Metaphysik in der An-thropologie. So schreibt er über die bisherige Anthropologie: »Alles das warMetaphysik und entsprach durchaus der Wahrheit, daß der Mensch nur einTeil des Weltganzen ist, so daß man in der Frage nach ihm notwendig überihn hinauszufragen sich genötigt fand. Andererseits aber haben alle diese›Groß-Informationen‹ eine im wesentlichen doch nur dichterische Evidenz«(Gehlen 1961: 141).

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zurückhinter PlessnerNach Plessnerdes Menschen unter immer neuen Bedingungen notwendig immer

neu angefasst« (Gehlen 1962: 362). Um diesem Gedanken Durch-schlagskraft zu verleihen, muss Gehlen die in der bisherigen An-thropologie und Psychologie prominente Rolle des Willens elimi-nieren. Er halte, sagt er, »so paradox dies klingen mag, ein beson-deres ›Willensvermögen‹ für gar nicht vorhanden. […] ›Willens-kraft‹ ist durchaus Resultat der Zucht, der Herrschaftsgeschichteder Leistungen und Antriebe im Menschen« (ebd.: 362, 366). Soentfällt der dialektische Gegenpol zur Erziehung und zur Subsum-tion unter die Institutionen, weder Eigensinn noch eigener Willesind relevant, das Individuum fügt sich in eine institutionelle Herr-schaftsstruktur. »So kann gesagt werden, dass sich die Schöpfer-kraft desselben in der Gründung von Institutionen ausweist, die we-sensmäßig in einer idée directrice, einer Führungsidee zentrieren«(ebd.: 394). Im Umfeld der Jahre 1933-1945 konnte es scheinen, als meineGehlen damit den Mythos des Führerstaats; und er wählte seineTerminologie auch so zweideutig, dass sie diese Vermutung stützenkonnte. Aber Gehlen war zu klug und soziologisch zu scharfsichtig,als dass er diese primitive Variante des Herrschaftsverhältnisses imSinn gehabt hätte. Vielmehr ist Herrschaft durch Institutionenvermittelt und hat ihren personalen Aspekt nur in der Hierarchieder Leitungsfunktionen, deren Träger ausgewechselt werden kön-nen. Was Gehlen entwirft, ist die anthropologische Legitimation fürden abstrakt und impersonal gewordenen Machtapparat des spätenKapitalismus, der als die logische und gattungsgeschichtlich not-wendige Folge der biologischen Defizite des ›Mängelwesens‹Mensch und als Vollzugsorgan der ›Entlastung‹ vom Kampf ums Da-

11sein gedeutet wird. Gehlens These ist, »daß das Umschlagen so-zialer Handlungsgefüge in die Eigengesetzlichkeit und ihre ›un-vorhergesehenen Resultate‹ und damit die Erscheinung von Herr-schaft überhaupt zu den Wesensmerkmalen menschlicher Gesell-schaften gehört« (Gehlen 1963: 209). Auf raffinierte Weise macht Gehlen Gebrauch von den Grundpo-

12sitonen, die Plessner erarbeitet hat, indem er sie umkehrt. Die

11 | Eine Theorie des Faschismus wird diese Theorie eines spätkapitalisti-schen Modells des Menschseins zu berücksichtigen haben, die weitreichen-der ist als die vordergründige der existenziellen Entschlossenheit und poli-tisch handhabbarer als die des ›wesenden Seins‹. Zu Gehlens Einbettung indie nazistische Ideologiepolitik vgl. Rügemer 1979; Rügemer/Holz 1993.12 | Indessen würde ein genauer Vergleich der Theorien von Plessner undGehlen zeigen, dass Gehlen sich die Struktur der plessnerschen Theorie zu

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur exzentrische Positionalität des Menschen wird in das defizitäreMängelwesen gegenüber der geschlossenen Positionalität des Tie-res umgeschrieben. Die gattungsgeschichtlich positive Funktiondes frontalen Gesichtsfeldes, der Freisetzung der Hand und derZunahme des Großhirns wird zur bloßen Kompensation. Die onto-logische Kategorie der Grenze als Berührungszone der Wechselwir-kungen vom Einen zum Anderen wird durch die einseitige Rich-tung der Kategorie ›Handlung‹ ersetzt, sodass die Illusion des in-dividuell autonomen Handelns genährt werden kann, die jedochsogleich wieder in die Abhängigkeit vom System der Institutionenzurückgenommen wird. Weil er nicht vom Aufklärungsideal derFreiheit als Selbstbestimmung durch Vernunftgründe berührt ist(das er im Gegenteil als ›ästhetischen Idealismus‹ verwirft [vgl.Gehlen 1965: 233ff.]), kommt Gehlen in der Beschreibung der re-pressiv-erzieherischen Aufgabe der gesellschaftlichen Machtappa-rate der Wirklichkeit allerdings näher als Plessner in Grenzen derGemeinschaft.

Die existenzphilosophische Wende

An das aktionistische Konzept anknüpfend, parallel zu und teilwei-se abhängig von Gehlen, aber primär den kategorialen ApparatHeideggers nutzend, hat die Anthropologie ihre subjektiv-idealis-tischen Voraussetzungen auf dem Weg über die Existenzphiloso-phie wieder eingeholt. Erste und führende Vertreter dieser Rich-tung waren seit Anfang der vierziger Jahre des vergangenen Jahr-hunderts Lipps und Bollnow. Lipps, obwohl vor seinem Übergang zur Philosophie als Arzt tä-tig, hat wohl am konsequentesten die ›menschliche Natur‹ vom na-türlichen Lebewesen Mensch und seinen somatischen Seiten abge-trennt und ganz auf die Äußerungen des psychisch-geistigen Ver-haltens und der Modi der Handlungen eingeschränkt. Charaktero-logische Eigenschaften wie Pedanterie und Geiz, Verhaltensweisenwie Verlegenheit, Scham, Platzangst, Eifersucht, Handlungseinstel-lungen wie Abenteurertum und die Denkfähigkeit des cogito sinddie Einsatzpunkte, von denen aus Lipps das spezifisch Menschlicheeinkreist. Kernphänomen des Personseins ist die Haltung. »Daß

eigen macht, sie jedoch mit einem gegenteiligen Sinn erfüllt. – Dass einanaloges Verhältnis von Verkehrungsstrukturen im Denken Blochs und Hei-deggers nachzuweisen ist, deutet auf einen theorie-theoretischen Sachver-halt hin, dem auf die Spur zu kommen sich lohnen würde.

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zurückhinter PlessnerNach Plessnerdas Tier ›sich verhält‹, ›sich bewegt‹ – darin drückt sich keine

Freiheit zu etwas aus. […] Der Mensch ›benimmt sich‹ aber immerirgendwie, sofern er sich in Lagen auf sich selbst hin beanspruchtfindet. […] Durch die Haltung, zu der ich mich zwinge, kann ichauf mich selbst einwirken: der Unentschlossene bringt sich zurEntschlossenheit dadurch, dass er zunächst einmal deren Haltungeinnimmt – durch festes Auftreten z.B. […] ›Haltung haben‹ be-deutet überlegene Distanz; sich selbst wahrt man darin in Unter-schied zu der sich in der äußeren Haltung zeigenden Disziplin, dieeinem beigebracht werden kann. […] Eingenommene Haltungensind aber auch die gesellschaftlichen Formen, die es einfach zulernen und zu können gilt, in denen sich der Stil dieses Verkehrszeigt. […] Denn durch die Haltung verbindet man sich dem ande-ren, sein Raum wird dadurch mitgestaltet; Haltungen verlangenrespektiert zu werden« (Lipps 1941: 19–24). Das alles führt vonder »Natur des Menschen« weg; nicht eine Wesenskonstanz, son-dern die Einstellung auf eine Situation wird zum bestimmendenMoment des Menschseins. »Durch die Umstände kann einer werdenzu dem oder jenem. Rollen werden einem zugespielt. Die Stundeverlangt es […]. Unter anderen Verhältnissen wäre Robespierrez.B. ein friedfertiger Notar und braver Bürger geblieben« (ebd.:139). Dafür wird dann die Kategorie Schicksal in Anspruch ge-nommen. Der Mensch ist zwar schuldig dessen, was er tat, aber esgibt kein objektives Maß der Ordnung, an dem seine Verantwort-lichkeit zu messen wäre. Seine Entscheidungsmotive bleiben sub-jektiv, aber diese Subjektivität ist durch die Verhältnisse gelenkt,deren Konstitutionsbedingungen anonym bleiben. So machenletztlich die Verhältnisse, in denen er steht, den Menschen aus.»Die Mittel des Selbstseins sind zunächst seine Verhältnisse. […]Sicherlich – man selbst ist es, der…, – aber doch nur insofern, alsman aus seinen Verhältnissen auf sich selbst als deren Prinzip zu-rückgenommen werden kann« (ebd.: 139f.). Die Entschlossenheit,in der sich der Mensch als Handelnder bewährt, ist dann nichtsanderes als die Festigkeit, mit der er das ausübt, wozu er sich, derSituation gemäß, angepasst hat. Nicht das selbstbestimmte Indivi-duum, sondern der geführte Mensch, der sich einer Situation über-lässt und sich in ihr zurecht findet, erscheint hier als Bild des Gat-tungswesens. »Situation ist immer: je eines Situation; sie kannnicht in Formen des Allgemeinen entwickelt werden. Sicherlich: esgibt typische Situationen. Als typisch sind sie aber ausdrücklichbezogen auf typische Lebensverhältnisse, Schicksale usw. Die mirgegebene Situation wird von mir aufgenommen. Schon darin, dassich daran ändere, anderes lasse, verhalte ich mich zu ihr als Sub-

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Mensch – Natur jekt dieser Situation. Noch mehr – und das ist entscheidend: nurals je meine oder je eines ist die Situation diese Situation« (Lipps1938: 23f.). Die Entscheidungswillkür, die darin liegt, dass die Si-tuation je meine und darum singulär ist, entbindet mich von derReflexion logischer und ethischer Normen, denn »die Situationentsteht in der Auswirkung von Zufällen. […] Nur im Licht meinerEntscheidung zeigt sich die Situation« (ebd.: 27, 25). Im Horizont der gleichen Erwägungen unterscheidet Carl Au-gust Emge in einer 1944 abgeschlossenen Untersuchung das tu-gendhafte, das fortschrittliche und das situationsgemäße Denken(Emge 1950). Nur das letztere wird als sinnvoll anerkannt, weil esnicht ein Allgemeines, sondern das »ontisch Belangvolle«, die»pragmatisch richtige Konkretisierung« sich vornimmt (Emge1950: 31f.). Anpassung hier und jetzt wird dem Veränderungswil-len des fortschrittlichen Denkens entgegengesetzt. »Es ist ein Feh-ler des fortschrittlichen Denkens, dass sein Ziel trotz aller etwai-gen anschaulichen Fülle gar nicht in der Reihe liegt, die mit derSituation anhebt, worin sich der ›lebende Mensch von Fleisch undBlut‹ befindet. […] So gesehen, macht das fortschrittliche Denkeneinen völlig abtrennenden Schnitt, eine unausfüllbare Lücke zwi-schen dem terminus a quo, dem wirklichen Ich und seiner von ihmunablösbaren Situation, und dem terminus ad quem, dem erstreb-ten oder besser gedanklich antizipierten Ziel« (ebd.: 34). Emgespricht die Beziehung zu Nietzsche offen an; er zitiert diesen – Wil-len zur Macht Nr. 293 –: »Nichts von allem, was überhaupt ge-schieht, kann an sich verwerflich sein« (Emge 1950: 51). Bei Lipps wird die Wende der Anthropologie zur Existenzphilo-sophie ausdrücklich benannt. Was den Menschen zu einem ganzAnderen gegenüber der Natur macht, ist »sein existentielles Ver-hältnis zu den Dingen« (Lipps 1941: 53). Die mannigfachen Kon-notationen dieses damals zum Modewort avancierten Ausdrucks›existenziell‹ können bei Bollnow (1942) nachgelesen werden. Essind nicht mehr Denkgebilde, die in logischen und dialektischenStrukturen ihre Gestalt haben, sondern Verhaltensweisen, in denensich Bedeutungen bilden und lebensrelevant werden. Nicht die ob-jektive äußere Wirklichkeit, in die der Mensch eingelassen ist undin deren Kontexten er handelt, ist für ihn in seinem Weltverhältniskonstitutiv, sondern die subjektiven Parameter des Verhaltens. BeiLipps wird allerdings nicht deutlich, wie diese vom Individuum herbegriffene Subjektivität sich mit dem Anpassungspragmatismus andie doch ihrerseits objektive Situation verbindet – auch Emges ›Si-tuationsphilosophie‹ erklärt dies nicht. Hier füllt Gehlen eine Lü-cke, insofern er die aus der Subjektivität des Handelns hervorge-

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zurückhinter PlessnerNach Plessnergangenen Institutionen als die eigentlichen Subjekte der Gattung

Mensch zu anonymen Mächten hypostasiert, die durch die Führer-persönlichkeiten hindurch bestimmend werden. Während Gehlen jedoch die Sonderstellung der Gattung noch inder Natur begründet, vollzieht die existenzialistische Wende dieAbkehr von einer naturbezogenen Anthropologie und isoliert diepsychische Verfassung des Menschen als dessen ›eigentliches‹Sein, das sich im Verhalten, in der Aktion ausdrückt. In der Analy-se der Gemütszustände und deren lebensphilosophischer Deutunghat Bollnow diese Perspektive am konsequentesten ausgezeichnet. Wie sehr sich die Anthropologie von einer Begründung desMenschseins im Zusammenhang der Welt entfernt hat und denMenschen stattdessen aus der Welt herausnimmt und ihr gegenüberstellt, ist aus Bollnows Betonung der subjektiven Sinnhaftigkeitder Existenz, die in den Gefühlen gefunden wird, gegenüber dersachlichen Gegenständlichkeit der Weltbeziehungen des Menschenzu entnehmen. Von den Gefühlen sagt er: »Die Scheidung zwischenseelischer Leistung und erfaßtem gegenständlichen Gehalt verlierthier ihre Gültigkeit. […] Vor allen Fragen ihrer Entstehung und ih-res Verlaufs […] handelt es sich um die Aufhellung des in ihnenangelegten Sinngehalt selber« (Bollnow 1947: 9). Mit der Hinein-nahme des gegenständlichen Gehalts in das Gefühl selbst als des-sen Besonderheit entfällt eine äußere Instanz, an deren Beschaf-fenheit die Wahrheit der eigenen Einstellung zum Gegenstandüberprüft werden könnte. Das Gefühl ist als Wirklichkeit des füh-lenden Subjekts natürlich immer ›wahr‹, aber eben nur in einemselbstbezüglichen Sinn; denn es ist ja zugleich immer unent-scheidbar, ob dem Inhalt des Gefühls ein äußerer Sachverhalt ent-spricht. Liebe und Hass, Eifersucht und Mitleid, Verehrung undNeid können, wie man sagt, ›blind‹ sein, ohne dass die Stärke undEchtheit dadurch beeinträchtigt würde. Dennoch verfehlt das wirk-lichkeitsblinde echte Gefühl seinen Sinn. Es führt in eine leere Zir-kularität, den Sinngehalt des Gefühls im Gefühl selbst suchen zuwollen und nicht in der Beziehung, deren Ausdruck im einen Be-ziehungsglied, dem Menschen, das Gefühl ist. Die Labilität der Gefühlsinhalte, wenn sie aus dem Gefühl selbstbegründet werden, hat uns Bollnow in seiner eigenen Theorieent-wicklung vorgeführt. In den Jahren des ›nationalen Heroismus‹während des Krieges wurden die sinngebenden und handlungslei-tenden Stimmungen ganz aktivistisch gedeutet. Sie zeigen, inBollnows Perspektive, dem Menschen »die eigene Vollkommenheitund zugleich die Vollkommenheit und Beständigkeit der ihn um-gebenden Welt. […] Das gesteigerte Bewußtsein der Kraft und des

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Mensch – Natur eigenen Werts […] verlangt von sich aus nach einer Auswirkungund Bewährung. Aus dem Untergrund einer stimmungsmäßigenGehobenheit erwächst notwendig eine neue Aktivität, […] die inden Zustand einer neuen Entschlossenheit und einer neuen Tätig-keit im zeitlich-geschichtlichen Leben hinüberführt« (Bollnow1942: 226, 228, 227). Das ist der Ton der Kriegspropaganda, derAufrufe zur Anstrengung für den ›Endsieg‹, später dann der Durch-halteparolen. Nach der katastrophalen Niederlage Deutschlands ändert sichdie Akzentuierung. In einer, wie ich meine, einseitigen, Auslegungdes französischen Existenzialismus wird die Verzweiflung, die Er-fahrung des Scheiterns, die Negativität des Daseins zur Grund-stimmung. In Aufnahme der Gedanken von Albert Camus heißt es:»Die Lage des Menschen ist so auswegslos, daß der Selbstmord dieeinzige Antwort zu sein scheint und wir es als widersinnig be-zeichnen müssen, wenn er trotzdem weiterlebt. Aber der Menschist ein solches Wesen, das diesen Widersinn bewußt auf sich nimmtund in der subjektiv sinnlos scheinenden Lage der Anstrengungseines Lebens selbst einen Sinn gibt. […] Es gibt keine Möglichkeitmehr, über den gegenwärtigen Augenblick hinaus zu planen, unddarum verliert die Zukunft ihren Sinn. […] Damit ist die Lehre klarausgesprochen: daß wohl in friedlicheren Zeiten der Charakter derGrenzsituationen weniger scharf hervortreten mag, die unheimli-che Bedrohtheit aber unaufhebbar zum Wesen des Lebens gehört«(Bollnow 1947/48: 660, 104, 112). Zugleich konnte damit der Ak-tivismus des ›nationalen Aufbruchs‹ in Hilflosigkeit uminterpre-tiert werden: »Aber auch im unmittelbaren menschlichen Lebengibt es qualvolle Lagen, die man mit allem Willen zur Entscheidungnicht zwingen kann. Ich denke dabei vor allem an die bedrängen-den Erfahrungen aus der Zeit des letzten Krieges, in denen dieseSchwierigkeit eindrucksvoll hervortrat: In der verzweifelten Notsehnte man sich nach einer klaren Entscheidung, aber das Schreck-liche war gerade, dass dieser Wille zur Entscheidung im Leeren ver-laufen mußte, weil man einem äußeren Schicksal ausgeliefert war,das so quälend langsam seinen Gang ging und auf das man mit al-ler Entscheidungsbereitschaft keinen Einfluß nehmen konnte. […]Was man lernen muß, ist etwas ganz andres: das ist die Kunst, ge-duldig abwarten zu können« (Bollnow 1955: 46f.) Dass es einenpolitischen Widerstand gegen den Faschismus in Deutschland gab,wenigstens eine Verweigerung, hat der Autor einer Publikationüber den erzieherischen Wert der SA so wenig wahrgenommen,dass er es nicht einmal deskriptiv in seiner Analyse berücksichtigt! Aber das rasch einsetzende deutsche ›Wirtschaftswunder‹ bot

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zurückhinter PlessnerNach Plessnerdem empfindsamen Mitfühlen des Zeitgeists die Chance, sich zum

Positiven zu läutern. In der ›neuen Geborgenheit‹ kann der Menschsich denen anvertrauen, die die Ordnung der Welt gestalten –wenn man sie jetzt auch nicht mehr ›Führer‹ nennt –, und er kannsich quietistisch ins Private zurückziehen. »Getrost ist der Mensch– und grade hier ist er es in der reinsten Form – wo er, nachdem erdas, was in seiner Macht stand, nach besten Kräften getan hat,jetzt die Dinge auf sich beruhn läßt, überzeugt, daß sein Beginnenirgendwie doch von einer tragenden Welt aufgenommen wird, daßer, nachdem er von sich aus das Seinige getan hat, jetzt auch dieDinge ihren Lauf nehmen lassen darf« (ebd.: 58). Wie viel Anlasszur Kritik die Welt auch der Vernunft bieten mag, im Gefühl, dassschon alles in Ordnung sei, verliert diese kritische Einstellung ih-ren existenziellen Boden und wird zurückgeleitet in die zufriedeneAngepasstheit an den gegenwärtigen Zustand. »Es ist also auchhier das Vertrauen zu den verborgenen Kräften der Tiefe. […] DieseGeborgenheit bezieht sich nur auf einen inhaltlich unbestimmba-ren Grund und ist mit der Angreifbarkeit eines jeden konkret an-gebbaren Bestands durchaus vereinbar, ja hebt sich vor diesemHintergrund überhaupt erst in ihrer ganzen Tiefe ab« (ebd.: 158).Bollnow scheut sich nicht, vom »Heil-sein« der Welt mit geradezureligiösem Pathos zu sprechen. Aber ›situationsgemäß‹ bleibt keinWort das letzte (und schon keines das wahre!). Die heile Welt er-weist sich ein halbes Jahrzehnt später als die maßlose (vgl. Boll-now 1962: 36ff.), und pauschal werden Technik, Gesellschaft, Poli-tik und Wissenschaft als »Bedrohung der Menschlichkeit« darge-

13stellt (ebd.: 57ff.). Es ist nicht zufällig, dass diese Art ideologischer Untermalun-gen wechselnder Zeitströmungen sich als philosophische Anthro-pologie gerieren konnten. Wenn man die Frage nach dem Wesendes Menschen von der Frage nach seinem Ursprung in der Naturund Naturgeschichte ablöst, wenn man sie stellt, ohne die ontolo-gische Frage nach dem Verhältnis der Welt im Ganzen zum Subjektals Teil der Welt zu klären, wenn man sie stellt, ohne dass die Ge-schichtlichkeit des Menschseins in sie einbezogen wird, dann mussphilosophische Anthropologie zum homiletischen Bereden der je-weiligen Zeiterscheinungen verkommen. Dann sind die Kategorien,die das Gerüst anthropologischer Aussagen bilden würden, schonzuvor im Nebel der Gefühle verschwunden.

13 | Dieser Rundumschlag gegen die heutige Lebensform – ohne Analyseder Gründe, die zu ihr führten – ist nur eine mäßige Reprise der doch durchinnerliche Betroffenheit bewegenden Zeitkritik von Karl Jaspers (1931).

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Ausblick

So musste ernsthaftes anthropologisches Fragen zu Plessner zu-rückführen, nachdem dessen Konzepte über Jahrzehnte fast unbe-achtet geblieben waren, und die Beziehung zur Person dieses vor-nehmen Gelehrten gleichsam ein Alibi dafür abgab, sich mit ihmtheoretisch nicht befassen zu müssen. Erst in seinen letzten Le-bensjahren wurden seine anthropologischen Hauptwerke aus denzwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder zum In-halt einer Rezeptionsgeschichte, die man nun fast ein epochaleEntdeckung nennen könnte. Zu Ehren des 90. Geburtstags von Plessner fand am 6. und 7.Mai 1983 ein Symposion der »Centralen Interfaculteit« der »Rijks-universiteit Groningen« statt, in dem in überraschender Breite dieunterschiedlichen, ja gegensätzlichen Deutungsmöglichkeiten der

1plessnerschen Anthropologie hervortraten. Liegt die Begrün-dung einer dialektischen Anthropologie in Plessners Horizont?Oder muss er doch letztlich als ein essenzialistischer Phänomeno-logie gesehen werden? Die weltanschaulichen und methodologi-schen Grundfragen, die sich mit Plessners Werk verbinden, sindspäter vielleicht nie mehr so prägnant gegeneinander gestellt wor-den wie bei dieser Gelegenheit, und sicher nie wieder mit solcherAuthentizität, waren es doch zum größeren Teil noch Freunde undSchüler Plessners (oder auch deren Schüler), die hier aus eigenerErfahrung und Prägung sprachen. Plessners eindrucksvoller Sys-temansatz lässt so viele neue Fragen auftauchen, wie er alte beant-wortet (oder ausräumt). Es scheint mir darum sinnvoll, den Aus-blick auf die Perspektiven einer dialektischen Anthropologie mit

1 | Die Referate des Symposions sind abgedruckt und die Diskussion istreferiert in Delfgaauw et al. 1986. Auf diesen Band beziehen sich die imFolgenden genannten Namen derer, die sich an der Plessner-Rezeption be-teiligten.

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Anthropologieeiner dialektischen

und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur dem Rückblick auf diese problemorientierte Diskussion beginnenzu lassen. Plessner macht, im 2. Kapitel von Die Stufen des Organischenund der Mensch die Überwindung des cartesischen Dualismus vonres cogitans und res extensa zu seinem Programm. Nicht, dass erden ›Doppelaspekt‹, unter dem der Mensch sich selbst erscheint,geleugnet hätte; er fragt nur, ob diese Zweiheit fundamental seiund nicht etwa aus einem Prinzip abgeleitet werden könne. DieRekonstruktion der Seinsweisen des lebendig Seienden in den we-sensmäßig verschiedenen Formen der Positionalität (als offene derPflanze, als geschlossene zentrische des Tieres, als exzentrischedes Menschen) führt dazu, den ›Doppelaspekt‹ des Organischen alseine notwendige Erscheinungsform zu begreifen, die aus dem Kon-stitutionsprinzip des Sich-Setzens abgeleitet und als Einheit begrif-fen werden kann. Ist nun die Konstruktion des Stufenbaus der or-ganischen Welt das theoretische Abbild eines dialektischen Prozes-ses (mit Umschlag von einer Formbestimmtheit in die ihr jeweilsals bestimmte Negation entgegengesetzte), ist sie das Resultat ei-ner ausgearbeiteten phänomenologischen Konstitution oder fälltsie gar in dem Bemühen, einen metaphysischen Monismus zu ver-meiden, wieder in den Dualismus zurück, zu dessen Überwindungsie angetreten war? Jede dieser Deutungsmöglichkeiten wird vertreten. Der Be-hauptung, Plessner habe eine dialektische Interpretation seinesAnsatzes zurückgewiesen, lässt sich mit Hinweis auf jene Stellenwidersprechen, in denen er sich auf die Verwandtschaft mit Hegelberuft oder unmittelbar den dialektischen Bestimmungscharakterseines Denkens ausspricht (wenn er auch zugegebenermaßen spar-sam mit dem Terminus ›Dialektik‹ umgeht). Immerhin enthaltePlessner »mehr Hegel als er zu erkennen gibt, mehr Dialektik als erentfaltet«, sagte Hermann Ulrich Asemissen. Auch die auf die zen-tralen Begriffe »natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbar-keit, utopischer Standort« bezogene Bemerkung von L. J. Engels,dass die Stilfigur des Oxymoron für Plessners Gedanken vielleichtwesentlich sei, könnte auf eine dialektische Verfassung seiner Ar-gumentation hinweisen. – Gegen die dialektische Interpretationspreche indessen, so wurde von einigen entgegnet, dass die Stufendes Organischen als Konstitutionsebenen dargestellt werden, zwi-schen denen, weil sie wesensverschieden sind, keine logischenoder ontologischen Übergänge statthaben; so gebe es bei Plessnereben doch keine Entwicklungstheorie, keine Teleologie, keinen ge-schichtsphilosophischen Naturbegriff. Stellt man dann aber in der exzentrischen Positionalität deren

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Ausblickparadoxe Struktur – und als deren Folge die ›Gebrochenheit‹ desMenschen – in den Vordergrund, so mag dies als ein RückfallPlessners in den Dualismus angesehen werden. Hiergegen führtnun allerdings eine dialektische Interpretation an, dass im Kon-zept der ›Gebrochenheit‹ eine methodische Anweisung liege, beidem Gegensatz nicht zu verharren, sondern seine Einheit im »Zu-gleich der Gegensätze« zu denken; und die Formulierungen, in de-nen die ›Gebrochenheit‹ ausgesagt wird, lassen in der Tat eineAuslegung nach der dialektischen Figur des ›übergreifenden All-gemeinen‹ zu (das als Gattung seiner selbst und seines Gegenteilsdefiniert ist). Eine Schlüsselfunktion für die Auflösung dieses Trilemmas vondialektischer, konstitutionstheoretischer und dualistischer Inter-pretation kommt der Kategorie ›Exzentrizität‹ zu. Nur vorsichtigklang die Frage an, ob zur Klärung des Wesens der Exzentrizitätnicht auf den fundamentalen Sachverhalt der Positionalität zu-rückgegangen werden müsse, die ihren Charakter jeweils dem Ver-hältnis des ›Innen‹ und ›Außen‹ zum materialen Apriori der Grenzeverdankt. Plessners später Aufsatz Der Aussagewert einer philoso-phischen Anthropologie (1973, VIII/380ff.) könnte einem solchenRückbezug der Exzentrizität auf die grundlegendere Kategorie derPositionalität recht geben und möchte sich auf die Exposition des›Fundamentalen‹ in Die Stufen des Organischen und der Mensch be-ziehen lassen. Die im Zusammenhang mit der Kennzeichnung desMenschen als eines Wesens, das mehr ist, als es ist, und zugleichdahinter zurückbleibt, aufgetauchte Frage nach dem anthropologi-schen Status der Kategorie ›Möglichkeit‹ macht auf qualitative Ab-stufungen der Modalität aufmerksam: Möglichkeit in offener, ge-schlossener und exzentrischer Positionalität sind verschiedene Ar-ten von Möglichkeit (wohl auch verschiedene Arten von Zeitlich-keit). Die Qualität menschlicher Möglichkeiten in der Reflexivität derexzentrischen Positionalität impliziert das Problem der Setzungvon Normen. Das Bild des Menschen von sich als Menschen ist nichtrein deskriptiv – der Gattungsbegriff umfasst ein normatives oder›appellatives‹ Moment. Wie aber kann man von der Interaktion undReflexion zu Normen überleiten, ohne einen spekulativen Begriffvon Menschheit einführen zu müssen? Woher gewinnt eine politi-sche Ethik ihre Normativität, fragte Bettina Wahrig. Wird Exzentri-zität als Reflexion auf die Unbegrenztheit menschlicher Möglich-keiten oder die Unergründlichkeit des Menschen bestimmt, Ver-nunft als Wesensmerkmal von Exzentrizität, dann sind Normenpraktische Begriffe der theoretischen Vernunft und als solche von

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur verbindlicher Gattungsallgemeinheit. Gegen diese ›ontologische‹Interpretation wurde jedoch – vor allem von Glastra van Loon – einKonzept ins Spiel gebracht, das die volonté générale als einen ver-hängnisvollen Irrtum der Aufklärung destruieren und auf der irre-duziblen Pluralität der Individuen bestehen möchte. Dann aller-dings scheint kein Weg mehr zu einer normativen Ethik gangbar,und die Frage erhebt sich, ob es eine nichtnormative Ethik gebenkann oder ob dann – nach einer Formulierung von Henk van Luijk– das Prinzip der Exzentrizität nicht durch das der Handlungsra-tionalität ersetzt werden sollte. Die aktuelle politische Bedeutungder Kontroverse um eine Vernunftnatur des Menschen (und alsodie Deduzierbarkeit von Normen) wird schnell deutlich, wenn diePerversion des Menschlichen im KZ-Wächter und Folterer oder inder realen Kalkulation der Vernichtung der Menschengattungdurch nukleare oder biologische Kriegsführung als Beispiel für dennormativen Charakter des Gattungsbegriffs angeführt wird. Wasbedeutet es jedoch für eine politische Ethik, dass »die Verkörpe-rung des Menschseins Unmenschlichkeit einschließt« (Asemissen)?Und mit welchem Grund wird dann von Unmenschlichkeit gespro-chen, wenn diese gerade eine notwendige Möglichkeit des Mensch-seins ist? Ist auf diese Fragen eine anthropologische Antwort zugeben, oder verweisen sie nicht vielmehr auf einen metaphysi-schen Grund, der als die Identität der menschlichen Natur – der›Sache‹, die die Einheit von res cogitans und res extensa ist – ein›archimedischer Punkt‹ bleibt, auf welchen der wesentliche Singu-lar ›der Mensch‹ (im Unterschied zu ›den Menschen‹) bezogen ist,fragte Reinout Bakker. Doch ist zu erwägen, ob es historische Vari-ationen der Exzentrizität gibt und ob die singularische Identitätder menschlichen Natur sich nicht historisch in Nicht–Identitätauflöst; meint der Wesensbegriff ›Mensch‹ nach Hiroshima dasgleiche Wesen wie vorher? Ungeachtet alter historischer Wandlun-gen des Menschseins, meinte Asemissen, sei Exzentrizität eine ›an-thropologische Konstante‹ – wenn auch kein Erfahrungsinhalt,sondern ein konstitutives Prinzip. Und pointiert formulierte dannIngetrud Pape: Wenn Plessner der philosophischen Anthropologiedie Aufgabe zuweise, die Bedingungen der Möglichkeit des Mensch-seins aufzuweisen, so seien das eben auch die Bedingungen derZumutung, an der Würde der Vernunft festzuhalten. Dass diese Be-dingungen (im einen wie im anderen Sinne) mit der Sprache – demLogos als dem Allgemeinen – zusammenhängen, war schon früherangeklungen in der Antithese: Exzentrizität ist fundamentaler alsSprache, versus: Sprache ist wie Arbeit und Erkenntnis eine Be-stimmung der Exzentrizität.

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Ausblick Es liegt auf der Hand, dass sowohl die dialektische wie die kons-titutionstheoretische wie die dualistische Deutung der von Die Stu-fen des Organischen und der Mensch stets zu einer strukturalen,nicht zu einer historischen Anthropologie führen. Die (logischen,ontologischen, transzendentalen) Bedingungen der Möglichkeitdes Menschseins sagen nichts über die realen Entstehungs- und,Verwirklichungsprozesse aus, die in Prähistorie, Ethnologie, Psy-chologie, Medizin erforscht werden. Wie verhält sich die synchroneTypologie der Stufen des Organischen zur Diachronie der naturge-schichtlichen Entwicklung? Ist in eine apriorische dialektischeKonstitutionstheorie die empirische evolutive Dialektik einzubrin-gen oder bleiben beide einander disparat? Über den Hinweis aufIlya Prigogines Theorie der dissipativen Strukturen wurde der Ver-such unternommen, den Gegensatz von strukturaler und histori-scher Betrachtungsweise in einer wechselseitigen Verschränkungaufzuheben – in jedem Fall führen sowohl strukturalistische wienaturgeschichtliche Verlängerungen des Konzepts von Die Stufendes Organischen und der Mensch über Plessner hinaus in Bereiche,in denen nur unter Abwandlung seiner Fragestellung von seinemEntwurf Gebrauch gemacht werden kann. Die Kontroversen über dialektische und nichtdialektische Kon-struktion von Naturphilosophie, über synchrone und diachroneSystematisierung der ›Spezifikation der Natur‹, über deskriptivenund normativen Charakter der Anthropologie führen auf die Fragenach dem Plessners Konzeption zugrunde liegenden Verständnisdes Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft. Plessner warjedenfalls kein ›philosophierender Wissenschaftler‹, sondern ein›wissenschaftlicher Philosoph‹, hob Gerard Corver hervor, wennauch gerade in der Zusammenarbeit mit Buytendijk die empirischeVerhaltensforschung im Vordergrund stand. Der Brief Plessners anBuytendijk vom 1. Dezember 1933 wegen einer Arbeitsmöglichkeitin den Niederlanden hebt auf die experimentelle biologische For-schung ab. Dennoch ist Plessners philosophisches Interesse genuinphilosophisch – und das Verhältnis von wissenschaftlicher und phi-losophischer Einstellung der Erkenntnis wird als Differenz im Er-kenntnisverhalten selbst erfahren (intentio recta und intentio obli-qua). Die hermeneutische Frage nach dem Sinn stellt sich nur in-nerhalb der Struktur der Exzentrizität als Konsequenz der Subjek-tivität, die das Verhältnis eines Wesens in exzentrischer Positiona-lität zur Welt außer ihm als Moment seines Verhältnisses zu sichselbst darstellt. Erkenntnis ist immer mit Selbsterkenntnis vermit-telt (Bettina Wahrig), und anthropologisches Verstehen ist nichtnur diskursiv, sondern auch in Kompassion gegründet (Petran Ko-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur kelkoren). Insofern ist Objektivität wie in der Philosophie so auchin den Wissenschaften vom Bewusstsein etwas anderes als in ande-ren empirischen Wissenschaften; hier kommt das Problem einertranszendentalen Grundlegung der Wissenschaften auf und mitdiesem Problem die Frage Jürgen Rittbergs, welchen wissenschafts-theoretischen Nutzen es bringen kann, das Paradigma der Bewusst-seinsphilosophie mit dem ihm immanenten Dualismus aufzugeben.In dieser Frage reproduziert sich wissenschaftstheoretisch das er-kenntnistheoretische Trilemma von natürlicher, transzendentalerund dialektischer Weltauffassung. Es kann nicht unbeachtet bleiben, dass es zu den hier ange-deuteten kontroversen Positionen in Grundlegungsfragen der Phi-losophie und der philosophischen Anthropologie unterschiedlicheÄußerungen Plessners gibt, und dass an ihn anzuknüpfen die einewie die andere Position mit Recht behaupten darf. Vielleicht gibtes in der Tat eine Unentschiedenheit Plessners in solchen Grund-fragen, ein Operieren mit Perspektiven als Modellvorstellungen, diedie Sache jeweils auf die eine oder andere Weise, nie aber in ihrerTotalität sichtbar machen. Vielleicht gibt es im opaken Gegenstandselbst einen Konvergenzpunkt der Perspektiven, von dem aus siesich als ›Ansichten‹ erweisen, wie sie im leibnizschen Gleichnis derWanderer hat, der eine Stadt umwandert und von verschiedenenPunkten aus in den Blick nimmt. Vielleicht ist die exzentrische Po-sition des Menschen die des Stadtbürgers, der als Wanderer seineHeimatstadt umkreist und dann wieder in sie zurückkehrt: ganzhat er sie immer nur von außen und in verschiedenen Perspektivengesehen, deren jede ›wahr‹, aber nicht ›absolut wahr‹ ist. Lebenmuss er aber in ihr, und die Unmittelbarkeit des gelebten augen-blicks ist immer für sich selbst absolut, aber unkommunizierbar,

2inkommensurabel und »dunkel«.

Dialektisch-materialistische Anthropologie

Und die dialektisch-materialistische Philosophie? Sie verfügt dochüber das methodische Instrumentarium, Natur und Geschichte inihrem Zusammenhang zu begreifen und der Anthropologie ein on-tologisches Fundament zu geben (vgl. Holz 1997: 3/284ff.). Das istaus verschiedenen Gründen nicht oder nur sehr unvollkommen ge-schehen. Zum einen führte die berechtigte Abwehr eines Biologis-mus in der Lehre vom Menschen zu einer einseitigen Betonung der

2 | Ernst Bloch 1969: 80 spricht vom »Dunkel des gelebten Augenblicks«.

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Ausblickökonomischen Bedingungen menschlicher Existenz – und die inder politischen Zielstellung des Marxismus als Möglichkeit ange-legte und immer wieder hervorgetretene Aberration des Ökono-mismus hat kräftig zu dieser Einseitigkeit beigetragen. Zum ande-ren ist aus der Aktualität der ideologischen Auseinandersetzungenheraus in den 1950er Jahren eine antidialektische Front errichtetworden, an der unter Berufung auf eine angebliche philosophischeAnthropologie des jungen Marx die politische Ökonomie des reifenMarx abgewertet und in ihren politischen Konsequenzen neutrali-

3siert werden sollte ; in der Abwehr dieser auf eine Kastration derpolitischen Bewegung hinauslaufenden Verkürzung der Theorie ge-riet die Anthropologie in den Verdacht, ein Instrument bürgerli-cher Ideologie zu sein – wozu sie auch, wie jede weltanschaulichrelevante Wissenschaftsdisziplin, gemacht werden konnte. Wolf-gang Harichs Vorschlag, die gehlenschen Konzeptionen in ein er-weitertes Corpus der marxistischen Philosophie zu integrieren, hat

4nicht gerade dazu beigetragen, diese Aversion zu überwinden.Erst spät ist von der Psychologie her in der Diskussion der biopsy-chosozialen Einheit des Menschen ein Vorstoß in Richtung eineranthropologischen Sicht unternommen worden, dessen Ausgestal-tung durch die Liquidation der sozialistischen Wissenschaftsinsti-

3 | Zu Beginn der ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krie-ges waren es die von Evangelischen Akademien angeregten und herausge-gebenen Marxismus-Studien die die Entgegensetzung des philosophisch-an-thropologischen jungen Marx und des polit-ökonomischen reifen Marx ein-leiteten. In diesem Zusammenhang wurde dann der Rückgriff auf eine reli-gionsphilosophische Entfremdungstheorie, die ihren Ursprung in der spät-antiken Gnosis hat, zum Mittel, den präzisen gesellschaftstheoretischen Ent-fremdungsbegriff des Marxismus zu unterlaufen und damit auch den histo-risch-anthropologischen Gehalt der marxistischen Ökonomie in eine ehermetaphysische Anthropologie des menschlichen Wesens umzuinterpretieren.Siehe dazu Wildermuth 1970; Meszaros 1972; Thier 1957, Beyer 1968.4 | Ein Rückzugsgebiet, in das unter speziellen gesellschaftstheoreti-schen Fragestellungen die Probleme der Anthropologie eingebracht werdenkonnten, war die Persönlichkeitstheorie. Hier waren die Publikationen vonSève (1972) und Kon (1971) einflussreich. Allgemein hat sich die Psycholo-gie in Anknüpfung an Leontjew des Problemfelds angenommen. In Deutsch-land waren es Klaus Holzkamp und seine Schule einerseits und WolfgangJantzen andererseits, die diesen Forschungsstrang aufnahmen. 1986 legtedas Institut für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt/Main Zeug-nis von diesen Diskussionen ab. Doch erfassen die Aspekte, die in diesemRahmen angeschnitten wurden, immer nur Teilbereiche der Anthropologie.

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Mensch – Natur tutionen und Forschungsprojekte nach 1990 abgebrochen wurde(vgl. Brenner 2002). Den Versuch einer ersten Skizze zum Aufriss einer systematischangelegten dialektisch-materialistischen Anthropologie hat Fried-rich Tomberg (1978) in drei Thesen vorgelegt. Die erste These be-handelt den Menschen als ›Naturmacht‹. Im Menschen als Naturwe-sen tritt die Natur sich selbst entgegen, insofern er seiner natürli-chen Beschaffenheit zufolge das die Natur bearbeitende, sie ver-ändernde Wesen ist. Die Natur wird in einer ihrer Hervorbringun-gen, dem Menschen, also sich selbst zum Objekt. Philosophisch ge-sprochen bedeutet das: Der Mensch ist die Natur in ihrem Selbst-unterschied. »Die Menschen haben sich, von der Notwendigkeitder Natur getrieben, innerhalb dieser Natur als besonders gearteteLebewesen formiert, indem sie die Mittel zur Erhaltung ihres Le-bens durch Arbeit selbst produzierten. […] Der Mensch ist die Na-tur in einer spezifischen, im Begriff der Arbeit ausgedrückten Ent-gegensetzung zu sich selbst. Mit der Hervorbringung des Menschenhat sich die Natur von sich selbst als menschliche Natur unter-schieden« (ebd.: 44f.). Das so entstehende Reflexionsverhältnis –die Widerspiegelung des Naturverhältnisses im Bewusstsein (Refle-xion der Reflexion) – ist die Vernunft. Die Vernunft ist die Natur-form des Selbstverhältnisses der Natur – und sie schließt den Be-griff des Ganzen der Natur ein. Das Verhalten zu sich selbst (Selbst-bestimmung aus Vernunftgründen) ist Freiheit. In der Reflexionder Reflexion entspringt die Freiheit. »Indem der Mensch sich ent-gegen den Bestimmungen der Natur selbst bestimmt, kommt ihmFreiheit zu. Sein Vermögen der Selbstbestimmung kann in Anknüp-fung an die philosophische Tradition Vernunft genannt werden. Inder Entgegensetzung zur Natur, der sie insgesamt zugehört, be-stimmt sich die menschliche Natur demgemäß als Vernunft-Natur«(ebd.: 47). Weil nur durch Arbeit vermittelt, ist die Vernunft-Frei-heit nicht eine solche des Individuums an sich, sondern des sichim Vergesellschaftungsprozess bestimmenden Menschen. »Die sichin der Arbeit vollziehende geschichtlich fortschreitende Naturan-eignung kann nicht das Werk eines vereinzelten Individuums sein.Die Menschen produzieren ihre Wirklichkeit von vornherein in Ge-sellschaft, ihre Arbeit ist gesellschaftliche Kooperation in bestimm-ten, den gegebenen Bedingungen angemessenen Verhältnissen.Der Mensch existiert daher nur in einer Vielzahl miteinander ver-bundener Menschen. Der Mensch – das sind die wirklichen Indivi-duen in den Verhältnissen der Produktion ihres Lebens« (ebd.: 52).Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Menschen sind in diesenEntwicklungsschritten fest ineinander verschränkt.

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Ausblick Die zweite These Tombergs betrachtet den Prozess, in dem derMensch sich der Natur entgegensetzt. Dieser Prozess wird durchden Widerspruch vorangetrieben, dass der Mensch als Naturwesen,und damit der allgemeinen Naturordnung unterworfen, die Über-windung der Naturzwänge anstrebt und bewirkt. Tomberg nenntdas den ›phylogenetischen Widerspruch‹. Die Überwindung der Na-tur ist ein ›naturgeschichtlicher Prozess‹ und zugleich das Gegen-teil von Naturgeschichte, nämlich Geschichte als Kulturprozess. Indiesem Prozess entfremdet sich der Mensch von sich selbst alsselbst bestimmendem Wesen, indem er sich den Zwängen gesell-schaftlicher Produktion in Arbeitsteilung unterwirft. WachsendeNaturbeherrschung schlägt in der Organisation der Arbeit um inwachsende Herrschaft von Menschen über Menschen. Medium die-ses Herrschaftsverhältnisses ist das Eigentum an den Produktions-mitteln. Doch mit der Zurückdrängung der Naturschranke unterfortschreitend sich ausdehnenden Herrschaftsverhältnissen wirdauch der Freiheitsspielraum der Menschen größer. Sie können sichgegen die ›naturwüchsigen‹ Herrschaften wenden und kooperie-rend die Produktion in die eigene Hand nehmen, sobald sie dasHerrschaftsmittel, das private Eigentum an den Produktionsmit-teln, abschaffen. Der Widerspruch zwischen dem auf Totalität der Gegenstands-welt gerichteten ›Vernunfttrieb‹ und den notwendigerweise in derarbeitsteiligen Gesellschaft aufgesplitterten und damit Partialitäterzeugenden Funktionen, ›ontogenetischer Widerspruch‹ genannt,bleibt erhalten. So Tombergs dritte These. Diesem in der produk-tiven Reproduktion des menschlichen Lebens spontan entsprin-genden Widerspruch wirkt die theoretische Einsicht in das Allge-meine entgegen. Die Akzeptanz der partiellen Rolle in der Gesell-schaft, verbunden mit der Einsicht ins Allgemeine, macht die Per-sönlichkeit des Menschen aus. »Die objektive und die subjektiveVernunft ist an sich ein und dieselbe Vernunft. In dem Maße, indem ihm [dem Menschen] diese Übereinstimmung gelingt, formt ersich zur gesellschaftlich-repräsentativen Persönlichkeit aus« (ebd.:68f.). So weit Tombergs Entwurf. Er enthält die wesentlichen, aller-dings im einzelnen der Ausarbeitung und auch ergänzender undmodifizierender Spezifikation bedürftigen Elemente einer mög-lichen dialektisch-materialistischen Anthropologie. Vor allemkommt es darauf an, das in Gegensatz zur Natur tretende Naturwe-sen Mensch in einer allgemeinen Ontologie zu fundieren, die demTypus nach eine Dialektik der Natur zu sein hätte. Damit wäre dieEinheit von Natur und Geschichte, von Naturverhältnis und Kultur-

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Mensch – Natur tat verbürgt. Eine zentrale Stelle würde in einer solchen Anthropo-logie das ›System der Bedürfnisse‹ einnehmen, die fundamentaldurch die natürlichen Eigenschaften des Menschen bedingt sindund im Laufe ihrer Befriedigung die Produkte der Arbeit durchnicht mehr natürliche Bedürfnisse, ›Zivilisationsbedürfnisse‹ an-reichern und vervielfältigen. (vgl. Holz 1995: 205ff.). Im Anschluss an den marxschen Begriff der gegenständlichenTätigkeit ergäbe sich für eine solche ontologische Grundlegung et-wa folgende Struktur: Erstens: Die gegenständliche Tätigkeit ist das universelle Seins-verhältnis (vgl. Holz 1983). Jedes Seiende wirkt auf jedes andereSeiende und ist somit zugleich aktiv einwirkend und passiv be-wirkt. Die graduelle Intensität der Wirkungen variiert in Abhängig-keit von den materiellen Bedingungen der Wirkungszusammen-hänge. Wirklichkeit bedeutet Abhängigkeit jedes Naturseiendenvon allen anderen in unterschiedlichem Maße. In diesem Wechsel-wirkungsverhältnis bestimmt sich das So-sein (Wesen) jedes Ein-zelseienden. Der Gegensatz von Innerlichkeit und Äußerlichkeitwird in diesem wechselseitigen Einander-Bestimmen aufgehobenund hat nur relativ auf die Grenze des Einzelseienden Bedeutung;es gibt keine ›Innerlichkeit an sich‹, sie entspringt mittels des Äu-ßerlichen als ›Reflexion-in-sich‹. Zweitens: Die in der Sinnlichkeit und ihrer Systematik sich re-alisierende Rezeptivität des Menschen, sein passives Aufnehmender Einwirkungen, wird gemäß der Handlungsrichtung als ›Leiden‹(passio) bezeichnet. In der Aufnahme der Einwirkungen setzendiese sich in Leidenschaften um, das heißt streben energisch nachder Aneignung oder Abstoßung der Wirkung. Die ›Einverleibung‹der Einwirkungen des Äußeren ist Quelle der eigenen Aktivität.Das gegenständliche Verhältnis zur Welt ist meine Gegenständlich-keit für die anderen und meine Tätigkeit gegenüber den anderenals meinen Gegenständen. Nur in dieser doppelten Gerichtetheiterfüllt sich der Begriff der gegenständlichen Tätigkeit. Drittens: Die menschliche gegenständliche Tätigkeit hat folgen-de miteinander verknüpfte Eigentümlichkeiten: a) Sie beruht aufder Unterscheidung von Einzelheit und Allgemeinheit und kanndarum Erfahrung in Wissen überführen. Diese Leistung ist eng mitder Sprache verbunden. b) Menschliche Tätigkeit nutzt zur Erfül-lung von Zwecken zwischengeschaltete Mittel (vgl. Hubig 2002)und stellt diese her. Sie subsumiert die allgemeine Tätigkeitsformunter die besondere der Arbeitsform und in einem organisiertenSystem der Mittelerzeugung und -verwendung unter die Form derProduktion (Produktionsweise). Auf dieser Stufe der gegenständli-

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Ausblickchen Tätigkeit wird diese zur gesellschaftlichen; die Gesellschaftist die Organisation der gegenständlichen Tätigkeit in der Weiseder Produktion. Jede Produktionsweise bringt im Prozess der Mit-telerzeugung neue Formen von Mitteln und damit der Produk-tionsweise hervor. Dies ist die Spezifik der Menschheitsgeschichteund spiegelt sich in der fortlaufenden Weiterentwicklung und Dif-ferenzierung der (zivilisatorischen) Bedürfnisse. c) So wird die Ge-schichte zum Selbsterzeugungsakt des Menschen von Stufe zu Stu-fe der Anreicherung und Modifikation der Bestimmungen seinesSo-seins. Es gibt nur ein geschichtliches Wesen des Menschen, al-lerdings stets auf der Grundlage seiner naturhaften Beschaffenheit.d) In der Produktion, die sich der natürlichen und der aus ihnenhergeleiteten künstlichen Produktivkräfte bedient, geht derMensch ein Naturverhältnis ein, das gegenüber dem animalischenals »natürliche Künstlichkeit« (Plessner IV/383ff.) gekennzeichnetwerden kann. Die Produktionsweise wird so zur Lebensweise desMenschen. e) Die Lebensweise gewinnt Gestalt in den Verkehrsfor-men, die Produktion und Distribution der bedürfnisbefriedigendenLebensmittel regeln: Tausch und Markt, Sitte, Eigentumsordnung,Recht, Kultur usw. Insgesamt bildet die Organisation dieser Ver-kehrsformen – sei es in Gewohnheitsregeln, sei es in Institutionen– die Produktionsverhältnisse. Auf dieser Ebene ist auch die Fragenach dem Sinn als Frage nach dem Verhältnis der eigenen Existenzzum Ganzen methodisch zu beantworten. Viertens: Aus dieser kursorischen Beschreibung der Parameterdes Mensch-Welt-Verhältnisses folgt die systematische Einheit vonAnthropologie, Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie. Esfolgt daraus auch, dass eine Anthropologie, die abgelöst von die-sem geschichtsphilosophisch-gesellschaftstheoretischen Zusam-menhang betrieben wird, ihren Gegenstand verfehlt. Mit diesem Ausblick auf die Begründung der Anthropologie ausder Verfassung der gegenständlichen Tätigkeit ist nicht ein Ergeb-nis oder Ende, sondern ein Anfang oder Forschungsprogramm for-muliert. Nicht als ob damit das Problemfeld erschöpft wäre, son-dern so, dass es sich unter diesen Gesichtspunkten strukturierenkann. Die eingangs ausgesprochene Auffassung, dass eine Anthro-pologie vorgängig einer Ontologie bedürfe, scheint mir aus dieserStruktur anthropologischen Fragens begründet; sie führt mich aufdie ontologische Verfassung des Seienden, die in der gegenständli-chen Tätigkeit manifest wird und die ich durch das Widerspiege-lungstheorem (vgl. Holz 2003) auszudrücken versuche. In diesemsystematischen Zusammenhang, in dem sich die Dialektik konsti-

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Mensch – Natur 5tuiert , sehe ich den zukünftigen Ort einer philosophischen An-thropologie als Wissenschaftsdisziplin. Bis dieser Ort genau be-stimmt und betreten und seine Topographie erforscht ist, werdennoch viele Schritte zu gehen sein. Einer davon, von dem eine künf-tige Anthropologie sich nicht dispensieren darf, wird die dialekti-sche Aneignung von Plessners Erkenntnissen sein.

5 | Vgl. dazu demnächst meine ausführliche Untersuchung Reflexion undWeltentwurf (in Vorbereitung).

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Anhang

Landvermessung im Unbewussten.Zur Psychoanalyse Sigmund Freuds

Einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts im Be-reich der Menschenkunde, Sigmund Freud, ist in der marxistischenTheorie immer schlecht weggekommen. Das hatte seinen gutenGrund in der ideologischen Wendung, die die Psychoanalyse nebenund nach Freud nahm und die sich in mannigfachen sektiereri-schen Zersplitterungen manifestierte. Im Umfeld des Marxismushat sich nur Herbert Marcuse ernsthaft mit Freud auseinanderge-setzt (vgl. Marcuse 1955/1957), später dann der an Mitscherlichanknüpfende Flügel der Frankfurter Schule (vgl. Lorenzer 1974;Gente 1970, 1972). Beide Rezeptionen gehen ihrerseits von theo-retischen Voraussetzungen aus, die Freud bereits in einer bestimm-ten Perspektive eigener Problemstellungen sehen. Ich füge des-halb als Anhang hier einen Aufsatz bei, den ich 1979 anlässlichdes 40. Todestags von Sigmund Freud geschrieben habe (vgl. Holz1979). Denn ich meine, dass ein Verständnis für das, was Freudden Humanwissenschaften brachte, auch zum Handwerkzeug einerdialektisch-materialistischen Anthropologie gehört.

Vor vierzig Jahren starb Sigmund Freud, vor achtzig Jahren er-schien sein erstes Hauptwerk Die Traumdeutung, mit dem er diePsychoanalyse begründete; und immer noch haftet seiner Theoriedie Aura einer Geheimlehre an, immer noch finden sich in der psy-chotherapeutischen Praxis Dilettantismus, Magie und Wissenschafteinträchtig (oder auch in sektiererischer Zwietracht) nebeneinan-der. Die Geschichte lehrt uns, dass manche Wissenschaft in solchzweideutigem clair-obscur ihren Anfang genommen hat und langebrauchte, bis sie ins helle Licht der Vernunft treten konnte; unddas heißt: ins helle Licht kritischer Aufklärung über sich selbst,

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Mensch – Natur die zu geben jede Wissenschaft verpflichtet ist, wie auch aufgeklär-ter Kritik ihres Gegenstands, die eine Wissenschaft zur Wissen-schaft macht. Bei der Feier zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag, 1936 in Wien,schon unter der Drohung des Faschismus aus Nord und Süd, nochin einer Enklave des erhaltenen Scheins bürgerlicher Liberalität,hielt Thomas Mann die Festrede auf den Jubilar. Und bezüglich-anzüglich sagte er: »Entschließt man sich, einen Dichter zumLobredner eines genialen Forschers zu ernennen, so sagt das etwasaus über den einen wie den anderen« (Mann 1968: 2/214). In derTat hat wohl kaum ein Wissenschaftler je so unmittelbar anregendauf die Literatur und Kunst eingewirkt wie Freud, der den Dichterndie Dramaturgie des Unbewussten lieferte und den Malern die Re-geln der Bildmontage. Bei James Joyce und André Breton sindFreuds Interpretationsmuster ebenso wiederzuerkennen wie in denWerken von Max Ernst und Salvador Dali – womit auch die Spann-weite von Sinntiefe und Unsinn in der Psychoanalyse angedeutetist. Aber auch umgekehrt ist Freuds Lehre der Literatur nahe. Sei-ne Beschreibungen psychischer Prozesse lesen sich wie Fabeln desSeelenlebens, und es gehört zur Überzeugungskraft seiner Metho-de, dass er ein großer Stilist war; seine Sprachkraft hat ihm dasGehör der Geisteswissenschaften gewonnen. Und wie alle Literatur– Goethe hat das am deutlichsten ausgesprochen – etwas kritischsichtbar macht und so überwindet, will auch die PsychoanalyseFreuds kritisch bloßlegen und befreien. In ihm, der das Irrationalezu erhellen unternahm, steckt noch einmal etwas vom Pathos derAufklärung – und diese Verbindung macht wohl sein immense, bisheute die Künste und Geisteswissenschaften durchdringende Wir-kung aus.

Kritische Rationalität

Eben dies kritische Moment in Sigmund Freuds Lehre, das in derTradition detektivischer Enthüllungserkenntnis steht, wie sie vonPierre Bayle über Ludwig Feuerbach bis zur Deutschen Ideologievon Marx und Engels reicht, hat Thomas Mann in seiner Festredehervorgehoben: »Die analytische Einsicht ist weltverändernd; einheiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvenderVerdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele be-treffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwindenkann« (ebd.: 230).

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Sigmund FreudsZur Psychoanalyseim Unbewussten.Landvermessung Will man Freud gerecht werden und ihn vor allem auch von

seinen Jüngern und Nachläufern abgrenzen, so muss man das Wort›Analyse‹ ernst nehmen. Wie auch immer man einzelne Elementeseiner Theorie des psychischen Apparats und seiner Funktionenbeurteilen mag: Die Grundintention seines Forschens ging auf dierationale Durchdringung des Irrationalen. Nicht die ›Entdeckungdes Unbewussten‹ ist Freuds eigentliche Leistung, denn darin hat-te er spätestens seit der Romantik seine Vorläufer, sondern die An-nahme, dass die Prozesse des Unbewussten nach erkennbaren Ge-setzen verlaufen, dass diese Verläufe in einer geregelten Aus-drucks- und Symbolbeziehung zum Bewussten stehen und alsodechiffrierbar und übersetzbar sind, und dass Konstitutionsbedin-gungen für dominante Inhalte und Formen des Unbewussten ange-geben werden können. Damit wurde der Untergrund des Seelischenmethodisch darstellbar. Schon 1950 hat der Marxist Walter Hollitscher den bürgerli-chen, vor allem konfessionellen Kritikern Freuds, die ihn des Mate-rialismus, Atheismus und Pansexualismus zeihen entgegengehal-ten: »Psychische Konflikte, die zur Krankheit führen, unbewusstepsychische Reaktionen, die Triebentwicklung des Kindes, die psy-chischen Mechanismen der Verdrängung, der Symptombildung, derSublimierung, der Identifizierung, der Über-Ich-Bildung: Wie vielzu all diesen Themen auch immer noch zu sagen sein wird – es istgrotesk, so zu tun, als wären sie nicht durch Freud zum Gegen-stand exakter wissenschaftlicher Problemstellungen geworden.«

Materialistische Grundauffassung

Seelisches – das Wort könnte Misstrauen erwecken, weil es den Ge-danken an eine Art immaterieller Substanz nahe legt, die dannvielleicht gar noch als das ›eigentliche‹ Sein gegenüber dem ›bloß‹Körperlichen verstanden wird. Das sind Vorstellungen, die unzuläs-sigerweise die Psychologie mit den Intentionen der Erlösungsreli-gionen verknüpfen, dualistisch einen Leib-Seele-Gegensatz, jaKonflikt ausmalend, wie er – als Erbstück der Gnosis, des Manichä-ismus, des Neuplatonismus – für die Metaphysik des Christentumsleitmotivisch gewesen ist. In der Tat sind viele Weltanschauungs-jünger der Psychoanalyse, vor allem in der mythologisierendenRichtung der Schule C.G. Jungs, diesem Weg gefolgt – sehr zumSchaden der Wissenschaftlichkeit der psychoanalytischen Praxis. Dies alles muss man von Freud fernhalten. Mit dem Raunen vonSchicksalsgöttinnen und der geheimnisvollen Konstanz von Arche-

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und das KonzeptHelmuth Plessner

Mensch – Natur typen, die von urvordenklichen Zeiten her die Muster unseres Le-bens darstellen, hat er nichts zu tun. Vielmehr soll das Verfahren Freuds gerade dahin führen, dieunterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufenden psychischen Pro-zesse einsehbar zu machen und gegebenenfalls therapeutischeEingriffe zu ermöglichen. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass fürFreud diese psychischen Prozesse – also das ›Seelenleben‹ – nichtein immaterielles Substrat, also eine ›unsterbliche Seele‹ repräsen-tieren, sondern Ausdruck von Vorgängen sind, die auf einer mate-riellen Grundlage, wie sie durch unser Nervensystem gegeben ist,ablaufen. »Wir nehmen an, dass das Seelenleben die Funktion eines Ap-parats ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzungaus mehreren Stücken zuschreiben […]. Die älteste dieser psychi-schen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es; sein Inhalt istalles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegtist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammendenTriebe. Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelthat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprüng-lich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und denEinrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besonde-re Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Au-ßenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wirden Namen des Ichs« (Freud 1972: 17/67). Das Zitat stammt aus der Abhandlung Abriß der Psychoanalyse,die Freud 1938, im Jahr vor seinem Tod, schrieb, und die zeigt,dass er dem spontanen Materialismus des Naturwissenschaftlerssein Leben lang treu geblieben ist. Die Grundlage seiner Theoriebietet keinen Ansatzpunkt für irgendeine Art von Seelenmystik.Und das therapeutische Programm, Erkrankungen von Körperorga-nen als Wirkung psychischer Deformationen zu deuten und siedurch deren Beseitigung kausal zu heilen, ist wissenschaftstheore-tisch auch viel einfacher zu begründen, wenn man von der materi-ellen Einheit der Wirklichkeit ausgeht.

Die Eigenart des Psychischen

Nun ist mit der Einsicht, dass psychische Prozesse ihren materiel-len Träger und ihre Entsprechung in neurophysiologischen Vorgän-gen haben, keineswegs alles gesagt. Zwar wissen wir heute wesent-lich mehr als zu Zeiten Freuds von den elektroenergetischen Ab-

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Sigmund FreudsZur Psychoanalyseim Unbewussten.Landvermessungläufen im Nervensystem, von biochemischen Reaktionen in den

Nervenzellen, von genetischen Programmen, von Datenverarbei-tung und Steuerungsmechanismen im Gehirn; wir können die Ent-stehung einer Reihe von psychischen Funktionen lokalisieren,können durch gezielte Stromstöße und pharmako-chemische Ein-wirkungen psychische Verhaltensweisen erzeugen und Ähnlichesmehr. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite werden solche materiell physiologischenWirkungszusammenhänge vom Menschen zum Beispiel als Furchtoder Freude, als Liebe oder Hass erlebt, und aus der vielfältigenKombination von Elementarempfindungen erwachsen Einstellun-gen von Treue oder Zuverlässigkeit, Verhaltensweisen wie Güteoder Bosheit, und so bildet sich ein Charakter – und das alles istnoch qualitativ etwas anderes als zum Beispiel eine Verbindungvon Aminosäuren. Mit dem allgemeinen Schema des Umschlags voneiner Qualität in eine andere bietet die Naturdialektik eine Katego-rie für diese Eigenart von Seinsbereichen im Rahmen der materiel-len Einheit der Welt. Für den Psychologen, besonders den als Arzt Tätigen, kommtes – vor allem angesichts des noch wenig entwickelten Stands derNeurophysiologie – in erster Linie darauf an, die Sphäre der psy-chischen Phänomene in ihrem Zusammenhang und in ihrer Ge-setzmäßigkeit zu erforschen. Er darf und muss sich sogar daraufbeschränken, gleichsam phänomenologisch zu verfahren. (DassHusserl und Freud Zeitgenossen sind, scheint mir nicht zufällig.) Die Phänomene erklären sich aber nicht selbst, ihre Bedeutungist an ihnen nicht einfach ablesbar, sondern muss herausgeholtwerden. Jedenfalls gilt das für jene Bereiche, die den Arzt interes-sieren, weil er hinter die verborgenen Ursachen von Beschwerdenkommen möchte. Was er offenkundig vorfindet, muss er deuten,um seinen tieferen Sinn freizulegen. In den Geisteswissenschaftendes 19. Jahrhunderts wurde diese Methode als hermeneutische(sinnverstehende) ausgebildet. Wilhelm Dilthey war ihr einfluss-reichster Vertreter. Sollen die offenkundigen Phänomene auf einen verborgenenSinn verweisen, so muss angenommen werden, es gebe etwas, wasunter ihrer Oberfläche sich abspiele und nicht in Erscheinung tre-te. Das Offenkundige ist das, dessen wir uns ohne Weiteres bewusstsind. »Spricht man von Bewußtsein, so weiß man unmittelbar auseigenster Erfahrung, was damit gemeint ist. Vielen innerhalb wieaußerhalb der Wissenschaft genügt es, anzunehmen, das Bewußt-

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Mensch – Natur sein sei allein das Psychische, und dann bleibt in der Psychologienichts anderes zu tun, als innerhalb der psychischen Phänomeno-logie Wahrnehmungen, Gefühle, Denkvorgänge und Willensakte zuunterscheiden« (ebd.: 79). Das ist indessen ungenügend, weil dieBewusstseinsvorgänge »keine lückenlosen, in sich abgeschlosse-nen Reihen« bilden, es außerhalb ihrer also etwas anderes, ebendas Unterbewusste, geben muss, damit die Kontinuität des Psychi-schen parallel zum Körperlichen gewahrt ist. Wieder schlägt Freuds naturwüchsiger Materialismus durch; erstellt eine zweite Hypothese auf: »Sie erklärt die vorgeblichen so-matischen Begleitvorgänge für das eigentlich Psychische, sieht da-bei zunächst von der Qualität des Bewußtseins ab«. Diese Hypo-these gestattet es, »die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wiejede andere auszugestalten« (ebd.). Um die Gesetze des Psychi-schen zu erforschen, ist nach Indizien zu suchen für jene Elementedes kontinuierlichen psychischen Stroms, die nicht ins Bewusst-sein treten. Offenbar gibt es mindestens einen Bereich, in dem die Selbst-erfahrung durchlässig wird für Unbewusstes, das wir sonst nichterfahren, nämlich die Träume. Sie sind ein Hinweis darauf, dassauch dann, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, psychischeProzesse in uns ablaufen, und meist vergessen wir ja auch vor demErwachen, was wir im Schlafen geträumt haben. Aber dies Unbe-wusste ist auch bewusstseinsfähig, wir können den vergessenenTraum in Erinnerung rufen (wenn auch zuweilen nur mit Hilfe desTherapeuten).

Die Traumdeutung

Damit ist der Ausgangspunkt für das psychoanalytische Verfahrengewonnen. Die Differenz zwischen der bewussten Traumerinnerungund dem Ganzen eines freigelegten Traumes ist das Instrument derSinndeutung – wenn wir fragen, warum nun wohl Trauminhaltevom Bewusstsein abgedrängt werden. Freud schreibt dazu: »DenWeg zum Verständnis (›Deutung‹) des Traumes beschreiten wir, in-dem wir annehmen, dass das, was wir als Traum nach dem Erwa-chen erinnern, nicht der wirkliche Traumvorgang ist, sondern nureine Fassade, hinter welcher sich dieser verbirgt. Dies ist unsereUnterscheidung eines manifesten Trauminhaltes und der latentenTraumgedanken. Der Vorgang, der aus den letzteren den ersterenhervorgehen ließ, heißen wir die Traumarbeit« (ebd.: 88). Die Traumarbeit erweist sich als eine Chiffrierung des eigentli-

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Sigmund FreudsZur Psychoanalyseim Unbewussten.Landvermessungchen Traumsinns, der Psychoanalytiker hat die Aufgabe, den

Schlüssel zu finden, der die Dechiffrierung des Codes erlaubt. Esleuchtet ein, dass dieser methodische Ansatz kritisch ist, das heißtdie Selbsteinschätzung des Patienten befragt und auflöst, und dasser rational ist, das heißt nach ›natürlichen‹ Gründen forscht. Nunzeigt aber der Traum nur psychische Spuren der individuellen Le-bensgeschichte. Der Gegenstand des Psychoanalytikers begrenztsich durch die von ihm verwandte Methode auf das Individuum.Und da die in Vergessenheit geratenen oder verdrängten Erlebnis-se, die sich dem Unterbewussten als Material psychischer Prozesseeinprägten, bereits in der frühen Kindheit begonnen haben, wirddie private Familiensituation des Kindes zum Deutungsschlüsseldes Therapeuten. Was er dem Patienten zu Bewusstsein bringt, istdas »verborgene Drama der Familie«, wie Marthe Roberts (1967:26) treffend formulierte, und Freud selbst bemerkte, dass dieKrankengeschichten der Hysterie eher einem Roman als medizini-schen Beobachtungen glichen. An sich müsste eine solche Feldanalyse des privaten Erlebnis-bereichs innerhalb klar definierter Grenzen kein Nachteil sein.Doch zielt ja die Therapie darauf, dem Patienten dadurch zu hel-fen, dass sie ihm die Gründe seiner Störungen bewusst macht, sodass seine Vernunft dann den Rest tun kann, um einen psychi-schen Gleichgewichtszustand wiederherzustellen – ein durchausemanzipatorisches Ziel, den Patienten zu eigener Verantwortungzurückzuführen. In dieser Absicht aber ist es verhängnisvoll, wennder Einsicht des Patienten die gesellschaftlichen Bedingtheitenund Vermitteltheiten seiner individuellen Situation nicht klarge-macht werden. Gerade dazu aber liefert die Traumanalyse kein In-strumentarium – eine gesellschaftstheoretische Deutung der Le-bensgeschichte eines Patienten wäre immer eine aus der Analyseselbst nicht zu gewinnende Zutat des Phsychotherapeuten. So schrieb schon 1949 in der französischen Zeitschrift NouvelleCritique eine Gruppe französischer marxistischer Psychiater: »DiePsychoanalyse verkennt die wesentliche Tatsache, daß die psychi-schen Mechanismen, die sie beschreibt, nur die mittelbaren Fakto-ren darstellen, über die hinweg die gesellschaftliche Realität dasIndividuum erreicht.«

Weltanschauliche Überforderung

Selbstverständlich ist dieser Mangel nicht Freud als Forscher zurLast zu legen. Er hat in einer historischen Situation, in der sich die

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Mensch – Natur Einsicht, dass der Mensch das Ensemble der gesellschaftlichenVerhältnisse ist, noch nicht durchgesetzt hatte, den Gegenstandseiner Wissenschaft nur im Individuum finden können. Es ist er-kenntnistheoretisch korrekt und realistisch, seine Methode vomGegenstand bestimmen zu lassen. Die analytischen Proben aufsExempel, die er in der Psychopathologie des Alltagslebens vorlegte(wo er Phänomene wie Versprechen, Vergessen, Vergreifen und an-dere Fehlleistungen untersuchte), sind durchaus geeignet, nichtnur als Hilfsmittel therapeutischer Praxis, sondern auch als Beiträ-ge zu einer allgemeinen Anthropologie Beachtung zu finden. Indessen gibt es auch Unklarheiten im Traumdeutungsverfah-ren selbst. Im Traum erscheinen uns Bilder, der Analytiker legt zu-nächst diese Bilder aus, wie Joseph dem Pharao die Fabel von densieben fetten und sieben mageren Kühen. Dann aber überlagertsich den Bilddeutungen, dass die in ihnen auftauchenden Begriffemit anderem Sprachmaterial, z.B. ähnlich klingenden Wörtern,Wortverbindungen aus literarischen Texten usw. assoziiert und ge-geneinander ausgetauscht werden, was zwei semantisch sehr ver-schiedene Ebenen sind. Zudem hat der Deutende einen weitenSpielraum, Traumelemente als Momente von Verdichtungen, Ver-schiebungen, Entstellungen, Zensuren aufzufassen und sie so um-zuinterpretieren. Schlüssige Kriterien für den Bedeutungsgehalteines Traumes gibt es nicht, viel bleibt der Intuition überlassen,die wiederum vom Unbewussten des Analytikers gespeist wird. Das sind wissenschaftstheoretische Schwierigkeiten, denennicht nur die Psychoanalyse, sondern jede auf den Menschen imganzen und nicht nur auf die Beobachtung von Verhaltensdatengerichtete Psychologie ausgesetzt ist. Freud hat geglaubt, dieSchwierigkeiten seines Verfahrens überwinden zu können, indemer in der Weltliteratur die Interpretationsmuster der Traumdeutungsuchte – womit er allerdings typologische Invarianten für die psy-chischen Bestimmtheiten annehmen musste. Die freudsche Trieblehre, die von zwei biologisch vorgegebe-nen Grundtrieben (dem Eros und dem Destruktionstrieb) ausgeht,ist nicht das Ergebnis der Analysen, sondern ein vorweggenomme-nes Deutungsschema. Der große Empiriker Freud wird da von ei-nem Weltanschauungsprogramm gesteuert, das wiederum die Be-grenztheit seines Blicks nur auf das Individuum spiegelt. Die spä-ten geschichtsphilosophischen Entwürfe (Totem und Tabu, DerMann Moses) sind Zeugnisse der weltanschaulichen Überforderungdes psychoanalytischen Ansatzes. Dazu wäre ideologiekritisch manches zu sagen und ist schonviel gesagt worden. Vorab jeder Kritik aber sollte festgehalten wer-

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Sigmund FreudsZur Psychoanalyseim Unbewussten.Landvermessungden, dass die hier skizzierten Momente von kritischer Rationalität

und spontanem Materialismus ein unverlierbares Stück Gegen-standsbestimmung, Methodologie und Selbstverständnis der Psy-chologie als Wissenschaft darstellen.

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Edition panta rei

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe

Christoph Hubig Angelica Nuzzo

Mittel System2002, 52 Seiten, April 2003, 52 Seiten,

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ISBN: 3-933127-91-2 ISBN: 3-89942-121-3

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arm und reich Leben (bio-ethisch)2002, 52 Seiten, April 2003, 52 Seiten,

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Naturwissenschaft Wahrnehmen2002, 52 Seiten, Juli 2003, 52 Seiten,

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2003-09-08 15-08-46 --- Projekt: transcript.pantarei.holz.anthropologie / Dokument: FAX ID 019a31299629690|(S. 192 ) anzeige - 126-4 - holz.p 31299629946