menschen für eine gemeinsame sache gewinnen · ten, sind großteils nur dann an der...

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Schwerpunkt | Interview 6 Weiterbildung 1 | 2018 • S.6-8 Weiterbildung: Herr Pelinka, gewerkschaftliche So- lidaritätsbemühungen beruhten einmal auf einem Ausgleich der Lebenslagen. Heute, wo sich alles per- manent individualisiert, wo man von Ich-AGs spricht und die Bereiche, die eine Gesellschaft zusammen- halten, immer unklarer zu defnieren sind, wie ist hier gewerkschaftliche Arbeit überhaupt zu bestimmen? Was müssen zum Beispiel Betriebsräte heute für Kompetenzen mitbringen, damit sie den Anforderun- gen der Zeit entsprechen? Anton Pelinka: Sie können natürlich mit der Entwick- lung mitgehen und auf die Interessen der einzelnen Mitglieder, die freilich sehr verschieden sein können, eingehen und diese Interessen auch in ihrer Bildungs- arbeit entsprechend transportieren und für sich selbst erschließen. Das gilt zum Beispiel auch für die Aus- einandersetzung mit der Globalisierung, als ein Phä- nomen, das die Gewerkschaften nicht beseitigen können. Aber sie müssen damit umgehen lernen und versuchen, die Interessen ihrer Mitglieder aufzugrei- fen und zu vertreten. Sicherlich ist das sehr schwer geworden, weil der Wert „Solidarität“ im globalen Zeit- alter anders zu defnieren ist als in einem Stahlgroßbe- trieb in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Das ist unübersichtlicher geworden, keine Frage, aber man kann und muss ja die Betrofenheit und die Zu- sammengehörigkeit, auch die potenzielle, begreifbar machen. Auch wer sich heute noch nicht davon be- rührt sieht, einen fxen Job hat oder sich in seiner Ich- AG einrichten zu können glaubt, kann morgen schon davon fundamental betrofen sein, wenn die Arbeits- plätze „weiterziehen“. Da muss die Bildungsarbeit ansetzen, dass das auch mit den Kompetenzen be- arbeitet wird, die dazu notwendig sind. Da braucht es Informationen und Refexion darüber, was alltäglich in der Welt, in meinem Land in den Arbeitsverhältnissen passiert. Gleichzeitig muss auch der bisherige Bedarf an organisierter Solidarität weiter erlernt werden – und das in Zeiten, in denen der gemeinschaftliche Zusammenhalt als Rohstof für Solidarität generell ab- nimmt. Das ist keine leichte Lernaufgabe. Spricht man mit Betriebsräten, dann sind Information und Refexion über zu antizipierende Entwicklungen natürlich notwendig, aber die Menschen, die sie vertre- ten, sind großteils nur dann an der gewerkschaftlichen Arbeit interessiert, wenn sie ihre unmittelbaren Prob- leme für sie lösen kann. Sie werden daran gemessen, wie sie konkrete Krisen meistern. Wird hier gewerk- schaftliche Arbeit nicht zur Dienstleistung degradiert? Diese Servicefunktion ist nicht von der Hand zu wei- sen. Sie kann aber auch als Motor oder als Transport- mittel der Betrofenheit eingesetzt werden, wenn es unmittelbar noch nicht eine Selbstbetrofenheit ist. Interview mit Anton Pelinka, Professor an der Central European University, Budapest Menschen für eine gemeinsame Sache gewinnen Globalisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Ver- änderungen haben die Arbeit der Gewerkschaften enorm beeinflusst und die Kompetenzanforderungen an Betriebsräte neu definiert. So sollte heutzutage im Vordergrund stehen, die nationalen Grenzen zu überwin- den und internationale Erfahrungen zu schaffen. Vernetzung und Offen- heit, aber auch solidarische Ziele und Visionen müssen dabei eine wich- tige Rolle spielen. Hier kann die Bildungsarbeit ansetzen. Prof. Dr. Anton Pelinka, Professor of Political Science and Nationalism Studies, Central European University, Budapest [email protected]

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Page 1: Menschen für eine gemeinsame Sache gewinnen · ten, sind großteils nur dann an der gewerkschaftlichen Arbeit interessiert, wenn sie ihre unmittelbaren Prob - ... Eines der Probleme,

Schwerpunkt | Interview

6 Weiterbildung1 | 2018 • S.6-8

Weiterbildung: Herr Pelinka, gewerkschaftliche So-

lidaritätsbemühungen beruhten einmal auf einem

Ausgleich der Lebenslagen. Heute, wo sich alles per-

manent individualisiert, wo man von Ich-AGs spricht

und die Bereiche, die eine Gesellschaft zusammen-

halten, immer unklarer zu definieren sind, wie ist hier

gewerkschaftliche Arbeit überhaupt zu bestimmen?

Was müssen zum Beispiel Betriebsräte heute für

Kompetenzen mitbringen, damit sie den Anforderun-

gen der Zeit entsprechen?

Anton Pelinka: Sie können natürlich mit der Entwick-

lung mitgehen und auf die Interessen der einzelnen

Mitglieder, die freilich sehr verschieden sein können,

eingehen und diese Interessen auch in ihrer Bildungs-

arbeit entsprechend transportieren und für sich selbst

erschließen. Das gilt zum Beispiel auch für die Aus-

einandersetzung mit der Globalisierung, als ein Phä-

nomen, das die Gewerkschaften nicht beseitigen

können. Aber sie müssen damit umgehen lernen und

versuchen, die Interessen ihrer Mitglieder aufzugrei-

fen und zu vertreten. Sicherlich ist das sehr schwer

geworden, weil der Wert „Solidarität“ im globalen Zeit-

alter anders zu definieren ist als in einem Stahlgroßbe-

trieb in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Das ist unübersichtlicher geworden, keine Frage, aber

man kann und muss ja die Betroffenheit und die Zu-

sammengehörigkeit, auch die potenzielle, begreifbar

machen. Auch wer sich heute noch nicht davon be-

rührt sieht, einen fixen Job hat oder sich in seiner Ich-

AG einrichten zu können glaubt, kann morgen schon

davon fundamental betroffen sein, wenn die Arbeits-

plätze „weiterziehen“. Da muss die Bildungsarbeit

ansetzen, dass das auch mit den Kompetenzen be-

arbeitet wird, die dazu notwendig sind. Da braucht es

Informationen und Reflexion darüber, was alltäglich in

der Welt, in meinem Land in den Arbeitsverhältnissen

passiert. Gleichzeitig muss auch der bisherige Bedarf

an organisierter Solidarität weiter erlernt werden  –

und das in Zeiten, in denen der gemeinschaftliche

Zusammenhalt als Rohstoff für Solidarität generell ab-

nimmt. Das ist keine leichte Lernaufgabe.

Spricht man mit Betriebsräten, dann sind Information

und Reflexion über zu antizipierende Entwicklungen

natürlich notwendig, aber die Menschen, die sie vertre-

ten, sind großteils nur dann an der gewerkschaftlichen

Arbeit interessiert, wenn sie ihre unmittelbaren Prob-

leme für sie lösen kann. Sie werden daran gemessen,

wie sie konkrete Krisen meistern. Wird hier gewerk-

schaftliche Arbeit nicht zur Dienstleistung degradiert?

Diese Servicefunktion ist nicht von der Hand zu wei-

sen. Sie kann aber auch als Motor oder als Transport-

mittel der Betroffenheit eingesetzt werden, wenn es

unmittelbar noch nicht eine Selbstbetroffenheit ist.

Interview mit Anton Pelinka, Professor an der Central European University, Budapest

Menschen für eine gemeinsame Sache gewinnen

Globalisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Ver-änderungen haben die Arbeit der Gewerkschaften enorm beeinflusst und die Kompetenzanforderungen an Betriebsräte neu definiert. So sollte heutzutage im Vordergrund stehen, die nationalen Grenzen zu überwin-den und internationale Erfahrungen zu schaffen. Vernetzung und Offen-heit, aber auch solidarische Ziele und Visionen müssen dabei eine wich-

tige Rolle spielen. Hier kann die Bildungsarbeit ansetzen.

Prof. Dr. Anton Pelinka, Professor of Political Science and Nationalism Studies, Central European University, Budapest

Anton. Pelinka@uibk. ac. at

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Wer heute Arbeit hat, kann ja morgen schon selbst

bereits „freigestellt“ werden. Keine Branche ist heute

sicher vor dramatischen Umwälzungen, etwa durch

die neuen Technologien.

Wie kann das gehen? Wie ist diese Verbindung von

pragmatischen, realpolitischen und „ideologischen“

Vorgehensweisen in Übereinstimmung zu bringen?

Frisst die Service-Funktion nicht das Selbstverständ-

nis, die Visionen von Gewerkschaften auf?

Aus meiner Sicht müssen gerade hier neue Wege ge-

sucht werden, wo die alte Ideologie, im Sinne von „das

Gegenüber ist der Arbeitgeber, der Unternehmer, der

Kapitalist“, so nicht mehr greift. Das ist ja nicht mehr

der Kapitalist, das ist die anonyme finanzkapitalisti-

sche Logik, die uns allen hier gegenübersitzt. Hier gilt

es die Konturen zu schärfen. Daher, meine ich, sollte

man gar nicht versuchen, die Konflikte von gestern

quasi ideologisch aufzugießen, sondern die Konflikte

von heute und morgen pragmatisch zu lösen. Natür-

lich geht es nach wie vor und mehr denn je um das

Profitinteresse. Aber das Profitinteresse hat ein ganz

anderes Gesicht bekommen.

Eines der Probleme, dem sich Betriebsräte auch

gegenübersehen, ist die Entscheidung für eine inklu-

sive oder eine exklusive Solidarität. Für wen kämpfen

Gewerkschaften? Sind die, die schon ausgegrenzt

sind, schon verloren, oder sind sie zumindest poten-

ziell noch ein Klientel, wofür es sich lohnt zu kämpfen?

Also das ist überhaupt eine große Krux, in Zeiten

struktureller Arbeitslosigkeit und in Zeiten der Zu-

wanderung. Da ist zum Beispiel ja auch der beson-

dere Fall, dass der Arbeitsmarkt im Binnenmarkt der

EU eigentlich keine Zuwanderung kennt, aber es als

eine gefühlte Zuwanderung verkauft wird, wenn der

slowakische Bauarbeiter unserer Solidarität bedarf.

Oder der 55-jährige Kollege, der nicht mehr vermittel-

bar ist, nachdem sein Betrieb geschlossen hat. Diese

ständige Auseinandersetzung mit der „Das-Boot-ist-

voll-Mentalität“ ist von Gewerkschaften auf allen Ebe-

nen zu führen. Wer gehört dazu und wer nicht. Das

sehe ich als große Herausforderung, nicht nur für Ge-

werkschaften, aber für sie besonders.

Haben die Gewerkschaften heute noch genügend

Verbündete, über die „Plätze im Boot“, um in diesem

Bild zu bleiben, mitzubestimmen, wo doch ihre Ver-

bündeten, zum Beispiel die großen Arbeiterparteien,

generell an Wählerschwund leiden?

Das ist eine Frage, die auch mich umtreibt. Wie geht

zum Beispiel der Österreichische Gewerkschaftsbund

damit um, wenn ganz offenkundig ein Großteil der Mit-

glieder die Freiheitliche Partei wählt und die Freiheit-

liche Partei im Geschehen des ÖGB kaum eine Rolle

spielt? Der ÖGB ist noch immer primär eine sozialde-

mokratische Fraktion, sekundär eine christliche, und

sonst nichts. Aber die Mitglieder wählen zu einem Gut-

teil ganz anders. Welches Wir-Gefühl bedient hier also

die Arbeitnehmervertretung? Darauf spielt ja auch die

FPÖ an, und der Front National in Frankreich, als die

größte Arbeiterpartei in Frankreich. Ist da hier sozusa-

gen aus der Arbeiterschaft heraus eine ethnisch-natio-

nale Grenze zu ziehen? Es gibt auf der anderen Seite

aber auch den Slogan der internationalen Solidarität.

Hier könnte man anknüpfen. Nicht bei dem alten Bild

des kapitalistischen Arbeitgebers, sondern bei der

Komplexität der internationalen Solidarität. Und das

ist natürlich eine Frage der Bildungsarbeit. Und da ist

kein Sofort-Ergebnis im signifikanten Sinn zu erwar-

ten. Aber ohne diese Bemühungen geht es nicht.

Der Umgang mit Grenzen, neuen und alten, verlangt

also nach nachhaltigen Strategien. Sollten sich die Ge-

werkschaften nicht vielleicht von den neuen Plattform-

unternehmen inspirieren lassen, und selbst auch stärker

Plattformen und Netzwerke schaffen, um neuen Raum

zugunsten der Arbeitgeber zu schaffen? Der ÖGB ko-

operiert zum Beispiel mit der IG Metall auf der Plattform

faircrowd.work, wo Geschäftsmodelle verschiedener

Plattformen verglichen und bewertet werden können.

Das sind äußerst sinnvolle Bestrebungen, die unbe-

dingt genutzt werden müssen. Nur so macht das Gan-

ze einen Sinn, wenn man das, was passiert, in einen

größeren Kontext integriert.

Jetzt sind Sie ja jahrzehntelang in der Hochschullehre

tätig gewesen und beratend in vielen politischen Gre-

mien. Was also brauchen Betriebsräte, Gewerkschaf-

ter heute an Lernprozessen und Fähigkeiten, damit

sie, was wir jetzt besprochen haben, auch tatsächlich

vorantreiben können? Wie würden Sie das sehen?

Also an erster Stelle würde ich sagen, wie in dem

Beispiel, das wir erwähnt haben, dass es heute um

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internationale Erfahrungen geht. Das können Platt-formen oder Netzwerke sein, oder Fahrten nach Brüssel zum Europäischen Gewerkschaftsbund oder zu Betrieben in den EU-Staaten mit einem geringe-ren Lohnniveau, um zu sehen, wie dort die Gewerk-schaften aufgestellt sind und arbeiten. Das heißt, es geht darum, Erfahrungen zu sammeln, zu reflektieren und unter den nationalen und internationalen Ge-sichtspunkten breit zu diskutieren. Das halte ich für ganz wichtig. Möglicherweise vorhandene nationale Grenzen, die als kulturelle Grenzen verkauft werden, sollten überwunden werden. Das ist ganz konkre-te Bildungsarbeit. Es geht darum, die Menschen in ihrer Lebenswelt zu erreichen, darüber Bescheid zu wissen und den Blick für das Machbare nicht zu ver-

lieren. Betriebsräte sollten nicht nur auf Augenhöhe verhandeln können, sondern auch die Offenheit im persönlichen Umgang signalisieren, völlig unabhän-gig davon, wo sich jemand parteipolitisch einordnet. Es ist ganz wichtig, dass diese Offenheit niemals ver-loren geht. Dann braucht es natürlich auch Organi-sationskompetenzen, damit der Vernetzungsgedanke spürbar wird. Und dann sollte neben diesen pragma-tischen Kompetenzen nicht vergessen werden, dass Gewerkschaftspolitik ein einigendes Selbstverständ-nis braucht, solidarische Ziele, Leitbilder und Visio-nen, um die Menschen für die gemeinsame Sache zu erreichen und zu bewegen.

Vielen Dank für das Gespräch. ■■

Das Interview führte Rudolf Egger.

8 Weiterbildung1 | 2018 • S.6-8