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Schwerpunkt | Interview
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Weiterbildung: Herr Pelinka, gewerkschaftliche So-
lidaritätsbemühungen beruhten einmal auf einem
Ausgleich der Lebenslagen. Heute, wo sich alles per-
manent individualisiert, wo man von Ich-AGs spricht
und die Bereiche, die eine Gesellschaft zusammen-
halten, immer unklarer zu definieren sind, wie ist hier
gewerkschaftliche Arbeit überhaupt zu bestimmen?
Was müssen zum Beispiel Betriebsräte heute für
Kompetenzen mitbringen, damit sie den Anforderun-
gen der Zeit entsprechen?
Anton Pelinka: Sie können natürlich mit der Entwick-
lung mitgehen und auf die Interessen der einzelnen
Mitglieder, die freilich sehr verschieden sein können,
eingehen und diese Interessen auch in ihrer Bildungs-
arbeit entsprechend transportieren und für sich selbst
erschließen. Das gilt zum Beispiel auch für die Aus-
einandersetzung mit der Globalisierung, als ein Phä-
nomen, das die Gewerkschaften nicht beseitigen
können. Aber sie müssen damit umgehen lernen und
versuchen, die Interessen ihrer Mitglieder aufzugrei-
fen und zu vertreten. Sicherlich ist das sehr schwer
geworden, weil der Wert „Solidarität“ im globalen Zeit-
alter anders zu definieren ist als in einem Stahlgroßbe-
trieb in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Das ist unübersichtlicher geworden, keine Frage, aber
man kann und muss ja die Betroffenheit und die Zu-
sammengehörigkeit, auch die potenzielle, begreifbar
machen. Auch wer sich heute noch nicht davon be-
rührt sieht, einen fixen Job hat oder sich in seiner Ich-
AG einrichten zu können glaubt, kann morgen schon
davon fundamental betroffen sein, wenn die Arbeits-
plätze „weiterziehen“. Da muss die Bildungsarbeit
ansetzen, dass das auch mit den Kompetenzen be-
arbeitet wird, die dazu notwendig sind. Da braucht es
Informationen und Reflexion darüber, was alltäglich in
der Welt, in meinem Land in den Arbeitsverhältnissen
passiert. Gleichzeitig muss auch der bisherige Bedarf
an organisierter Solidarität weiter erlernt werden –
und das in Zeiten, in denen der gemeinschaftliche
Zusammenhalt als Rohstoff für Solidarität generell ab-
nimmt. Das ist keine leichte Lernaufgabe.
Spricht man mit Betriebsräten, dann sind Information
und Reflexion über zu antizipierende Entwicklungen
natürlich notwendig, aber die Menschen, die sie vertre-
ten, sind großteils nur dann an der gewerkschaftlichen
Arbeit interessiert, wenn sie ihre unmittelbaren Prob-
leme für sie lösen kann. Sie werden daran gemessen,
wie sie konkrete Krisen meistern. Wird hier gewerk-
schaftliche Arbeit nicht zur Dienstleistung degradiert?
Diese Servicefunktion ist nicht von der Hand zu wei-
sen. Sie kann aber auch als Motor oder als Transport-
mittel der Betroffenheit eingesetzt werden, wenn es
unmittelbar noch nicht eine Selbstbetroffenheit ist.
Interview mit Anton Pelinka, Professor an der Central European University, Budapest
Menschen für eine gemeinsame Sache gewinnen
Globalisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Ver-änderungen haben die Arbeit der Gewerkschaften enorm beeinflusst und die Kompetenzanforderungen an Betriebsräte neu definiert. So sollte heutzutage im Vordergrund stehen, die nationalen Grenzen zu überwin-den und internationale Erfahrungen zu schaffen. Vernetzung und Offen-heit, aber auch solidarische Ziele und Visionen müssen dabei eine wich-
tige Rolle spielen. Hier kann die Bildungsarbeit ansetzen.
Prof. Dr. Anton Pelinka, Professor of Political Science and Nationalism Studies, Central European University, Budapest
Anton. Pelinka@uibk. ac. at
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Wer heute Arbeit hat, kann ja morgen schon selbst
bereits „freigestellt“ werden. Keine Branche ist heute
sicher vor dramatischen Umwälzungen, etwa durch
die neuen Technologien.
Wie kann das gehen? Wie ist diese Verbindung von
pragmatischen, realpolitischen und „ideologischen“
Vorgehensweisen in Übereinstimmung zu bringen?
Frisst die Service-Funktion nicht das Selbstverständ-
nis, die Visionen von Gewerkschaften auf?
Aus meiner Sicht müssen gerade hier neue Wege ge-
sucht werden, wo die alte Ideologie, im Sinne von „das
Gegenüber ist der Arbeitgeber, der Unternehmer, der
Kapitalist“, so nicht mehr greift. Das ist ja nicht mehr
der Kapitalist, das ist die anonyme finanzkapitalisti-
sche Logik, die uns allen hier gegenübersitzt. Hier gilt
es die Konturen zu schärfen. Daher, meine ich, sollte
man gar nicht versuchen, die Konflikte von gestern
quasi ideologisch aufzugießen, sondern die Konflikte
von heute und morgen pragmatisch zu lösen. Natür-
lich geht es nach wie vor und mehr denn je um das
Profitinteresse. Aber das Profitinteresse hat ein ganz
anderes Gesicht bekommen.
Eines der Probleme, dem sich Betriebsräte auch
gegenübersehen, ist die Entscheidung für eine inklu-
sive oder eine exklusive Solidarität. Für wen kämpfen
Gewerkschaften? Sind die, die schon ausgegrenzt
sind, schon verloren, oder sind sie zumindest poten-
ziell noch ein Klientel, wofür es sich lohnt zu kämpfen?
Also das ist überhaupt eine große Krux, in Zeiten
struktureller Arbeitslosigkeit und in Zeiten der Zu-
wanderung. Da ist zum Beispiel ja auch der beson-
dere Fall, dass der Arbeitsmarkt im Binnenmarkt der
EU eigentlich keine Zuwanderung kennt, aber es als
eine gefühlte Zuwanderung verkauft wird, wenn der
slowakische Bauarbeiter unserer Solidarität bedarf.
Oder der 55-jährige Kollege, der nicht mehr vermittel-
bar ist, nachdem sein Betrieb geschlossen hat. Diese
ständige Auseinandersetzung mit der „Das-Boot-ist-
voll-Mentalität“ ist von Gewerkschaften auf allen Ebe-
nen zu führen. Wer gehört dazu und wer nicht. Das
sehe ich als große Herausforderung, nicht nur für Ge-
werkschaften, aber für sie besonders.
Haben die Gewerkschaften heute noch genügend
Verbündete, über die „Plätze im Boot“, um in diesem
Bild zu bleiben, mitzubestimmen, wo doch ihre Ver-
bündeten, zum Beispiel die großen Arbeiterparteien,
generell an Wählerschwund leiden?
Das ist eine Frage, die auch mich umtreibt. Wie geht
zum Beispiel der Österreichische Gewerkschaftsbund
damit um, wenn ganz offenkundig ein Großteil der Mit-
glieder die Freiheitliche Partei wählt und die Freiheit-
liche Partei im Geschehen des ÖGB kaum eine Rolle
spielt? Der ÖGB ist noch immer primär eine sozialde-
mokratische Fraktion, sekundär eine christliche, und
sonst nichts. Aber die Mitglieder wählen zu einem Gut-
teil ganz anders. Welches Wir-Gefühl bedient hier also
die Arbeitnehmervertretung? Darauf spielt ja auch die
FPÖ an, und der Front National in Frankreich, als die
größte Arbeiterpartei in Frankreich. Ist da hier sozusa-
gen aus der Arbeiterschaft heraus eine ethnisch-natio-
nale Grenze zu ziehen? Es gibt auf der anderen Seite
aber auch den Slogan der internationalen Solidarität.
Hier könnte man anknüpfen. Nicht bei dem alten Bild
des kapitalistischen Arbeitgebers, sondern bei der
Komplexität der internationalen Solidarität. Und das
ist natürlich eine Frage der Bildungsarbeit. Und da ist
kein Sofort-Ergebnis im signifikanten Sinn zu erwar-
ten. Aber ohne diese Bemühungen geht es nicht.
Der Umgang mit Grenzen, neuen und alten, verlangt
also nach nachhaltigen Strategien. Sollten sich die Ge-
werkschaften nicht vielleicht von den neuen Plattform-
unternehmen inspirieren lassen, und selbst auch stärker
Plattformen und Netzwerke schaffen, um neuen Raum
zugunsten der Arbeitgeber zu schaffen? Der ÖGB ko-
operiert zum Beispiel mit der IG Metall auf der Plattform
faircrowd.work, wo Geschäftsmodelle verschiedener
Plattformen verglichen und bewertet werden können.
Das sind äußerst sinnvolle Bestrebungen, die unbe-
dingt genutzt werden müssen. Nur so macht das Gan-
ze einen Sinn, wenn man das, was passiert, in einen
größeren Kontext integriert.
Jetzt sind Sie ja jahrzehntelang in der Hochschullehre
tätig gewesen und beratend in vielen politischen Gre-
mien. Was also brauchen Betriebsräte, Gewerkschaf-
ter heute an Lernprozessen und Fähigkeiten, damit
sie, was wir jetzt besprochen haben, auch tatsächlich
vorantreiben können? Wie würden Sie das sehen?
Also an erster Stelle würde ich sagen, wie in dem
Beispiel, das wir erwähnt haben, dass es heute um
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internationale Erfahrungen geht. Das können Platt-formen oder Netzwerke sein, oder Fahrten nach Brüssel zum Europäischen Gewerkschaftsbund oder zu Betrieben in den EU-Staaten mit einem geringe-ren Lohnniveau, um zu sehen, wie dort die Gewerk-schaften aufgestellt sind und arbeiten. Das heißt, es geht darum, Erfahrungen zu sammeln, zu reflektieren und unter den nationalen und internationalen Ge-sichtspunkten breit zu diskutieren. Das halte ich für ganz wichtig. Möglicherweise vorhandene nationale Grenzen, die als kulturelle Grenzen verkauft werden, sollten überwunden werden. Das ist ganz konkre-te Bildungsarbeit. Es geht darum, die Menschen in ihrer Lebenswelt zu erreichen, darüber Bescheid zu wissen und den Blick für das Machbare nicht zu ver-
lieren. Betriebsräte sollten nicht nur auf Augenhöhe verhandeln können, sondern auch die Offenheit im persönlichen Umgang signalisieren, völlig unabhän-gig davon, wo sich jemand parteipolitisch einordnet. Es ist ganz wichtig, dass diese Offenheit niemals ver-loren geht. Dann braucht es natürlich auch Organi-sationskompetenzen, damit der Vernetzungsgedanke spürbar wird. Und dann sollte neben diesen pragma-tischen Kompetenzen nicht vergessen werden, dass Gewerkschaftspolitik ein einigendes Selbstverständ-nis braucht, solidarische Ziele, Leitbilder und Visio-nen, um die Menschen für die gemeinsame Sache zu erreichen und zu bewegen.
Vielen Dank für das Gespräch. ■■
Das Interview führte Rudolf Egger.
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