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©MIHI t ? 43. Band 1994 AUGUSTINUS-VERLAG • WÜRZBURG

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43. Band 1994

AUGUSTINUS-VERLAG • WÜRZBURG

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem und der erste Kreuzzug

Eine quellenkritische Untersuchung

Von Peter Plank, Würzburg

"Die ersten Kreuzfahrer verließen Europa wohl ohne die feste Absicht, ein lateinisches Patriarchat zu begründen. Sie erwarteten, im Rahmen einer von Byzanz befehligten Streitmacht ins Hl. Land zu ziehen; dies hätte zur vol-len Wiederherstellung der orthodoxen Hierarchie in Jerusalem geführt. Tatsächlich hat der griechische Patriarch von Jerusalem, Symeon, die Kreuzfahrer ein Stück des Weges begleitet ... Als die Kreuzfahrer Jerusalem erobert hatten, erreichte sie schon bald die Nachricht vom Tode Symeons, und sie wählten am 1. August 1099 einen Lateiner, um so die Lücke zu schließen."

Mit diesen Sätzen, für das "Lexikon des Mittelalters" verfaßt von J. Riley-Smith1, ist die bis heute herrschende Meinung zu unserem Thema zutref-fend zusammengefaßt - wenn es auch vereinzelte Stimmen gibt, denen zufolge der Patriarch schon ein Jahr zuvor seinen Sitz verlassen hatte und durch Ioannes VIII. ersetzt worden war.2 Symeon unterhielt beste Bezie-hungen zu den Kreuzrittern, was sich vor allem an den beiden Briefen able-sen läßt, die er gemeinsam mit Bischof Ademar von Le Puy, dem päpstli-chen Legaten im Lateiner-Heer, bzw. mit allen griechischen und lateini-schen Bischöfen, die sich in Syrien befanden, ins Abendland schickte, um säumige Kreuzfahrer zur Erfüllung ihres Gelübdes der bewaffneten Wall-fahrt ins Heilige Land zu ermahnen3 - oder sollte es sich dabei um Fäl-schungen handeln?4 Wäre der Bischof Ademar, der große Autorität besaß, nicht unglücklicherweise vorher gestorben, so hätte er das Heilige Land

J. Riley-Smith, Jerusalem. B: Königreich und Lateinisches Patriarchat, LexMA V, 1991, 356-359, dort: 358. Diese Meinung vertritt V. Grumel, La Chronologie des patriarches de Jerusalem sous le Comnenes, in: Izvestija na Bülgarskoto Istoricesko Druzestvo XVI-XVIII ( - Sbornik P. Nikov), Sofia 1940, 109-114, dort: 111. Ihm folgt B. Englezakis, Jean le Chrysostomite, patriarche de Jerusalem au XIIe siecle, Byzantion 43 (1973) 506-508, dort: 507f. Edition dieser Briefe: H. Hagenmeyer, Die Kreuzzugsbriefe aus den Jahren 1088-1100. Eine Quellensammlung zur Geschichte des ersten Kreuzzuges, Innsbruck 1901, 141f, 146-149; Kommentar dazu ebd. 59-61, 68-75; Erläuterungen: 242-247, 269-275. Ph. Jaffe, Monumenta Bambergensia (= Bibliotheca Rerum Germanicarum Bd. V), Berlin 1869, 181 Anm. 1; N. Iorga, La France de Terre Sainte. Considerations synthetiques, Revue Historique du Sud-Est Europeen 11 (1934) 177-249, 297-337, dort: 310.

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vielleicht zu einem Kirchenstaat und Patriarch Symeon zu seinem ersten Herrscher gemacht5 - aber mit dieser These dürfte Steven Runciman heute wohl nicht mehr allzu viele Anhänger finden. Patriarch Symeon war der lateinischen Kirche immer schon gewogen gewesen, was die Kritik seines Kollegen in der rhomäischen Reichshauptstadt, des Ökumenischen Patriar-chen Nikolaos III. (1084-1111), herausforderte6 - oder sollte das Schriftstück, aus dem das gefolgert wird, ganz anders zuzuweisen sein?7 Wie verträgt sich damit die Tatsache, daß Patriarch Symeon einen eigenen Traktat gegen den lateinischen Gebrauch von ungesäuertem Brot (Azymen) bei der eucharisti-schen Feier verfaßt hat?8 Wollte er damit dem Ökumenischen Patriarchen seinen guten Willen zeigen, oder stammt der Traktat am Ende gar nicht vom ihm?9

Symeon befand sich nicht in Jerusalem, als das Kreuzfahrerheer am 15. Juli 1099 die Heilige Stadt einnahm, sondern starb zu ebendieser Zeit auf der Insel Cypern, wohin er vor den Nachstellungen der Muslime geflohen war, so daß die neuen lateinischen Herren nolens volens einen der Ihrigen, Arnulf von Chocques, zum neuen Patriarchen wählen mußten10 - es sei denn, der orthodoxe Patriarch ist gewaltsam vertrieben worden, hat noch jahrelang (bis 1106?) in Bethlehem11 oder in Konstantinopel12 gelebt und -vergeblich - versucht, sein Amt auszuüben.13. Das wäre natürlich für ihn besonders schmerzlich gewesen, wenn er jene, die ihn entthronten, selbst

S. Runciman, A History of the Crusades. Bd. I: The First Crusade and the Founda-tion of the Kingdom of Jerusalem, Cambridge 1951, 289.

6 V. Grumel, Jerusalem entre Rome et Byzance: Une lettre inconnue du patriarche de Constantinople Nicolaus III a son College de Jerusalem (vers 1089), EO 38 (1939) 104-117; A. Michel, Die byzantinische und römische Werbung um Symeon II. von Jerusalem (1085/86), ZKG 62 (1943/44) 164-177.

7 J. Darrouzes, Les documents byzantins du XIIe siecle sur la primaute Romaine, REB 23 (1965) 42-88, dort: 43-51.

8 M. Jugie, Le traite sur les azymes attribue a Symeon II de Jerusalem, EO 26 (1927) 421-425; A Michel, Amalfi und Jerusalem im griechischen Kirchenstreit (1054-1090). Kardinal Humbert, Laycus von Amalfi, Niketas Stethatos, Symeon II. von Jerusa-lem und Bruno von Segni über die Azymen (OCA 121), Rom 1939.

9 So der Herausgeber des Traktats B. Leib, Deux inedits byzantins sur les azymes au debut du XIIe siecle, OC II/3, Rom 1924, 177-190.

1 0 So die gängige Meinung, zuletzt noch außer Riley-Smith (s. Anm. 1): B. Hamilton, The Latin Church in the Crusader States. The Secular Church, London 1980, 12 und 179; J. Nasrallah, Histoire du mouvement litteraire dans l'Eglise melchite du V e au X X e siecle. Bd. III/l (969-1250), Louvain/Paris 1983, 103f; R.-J. Lilie, Die la-teinische Kirche in der Romania vor dem vierten Kreuzzug, ByzZ 82 (1989) 202-220, dort: 216f.

1 1 A. Popov, Latinskaja Ierusalimskaja patriarchija epochi krestonoscev, Teil II, S.-Peterburg 1903, 229f.

1 2 Jugie, Le traite sur les azymes (s. Anm. 8). 1 3 W. Hotzelt, Kirchengeschichte Palästinas im Zeitalter der Kreuzzüge 1099-1291,

Köln 1940, 25 und 39.

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ins Heilige Land gerufen haben sollte, indem er Petrus dem Eremiten, als dieser Jahre zuvor eine Wallfahrt ins Heilige Land unternahm, bitter sein und seiner Kirche Leid klagte und ihn mit dringenden brieflichen Hilferu-fen an Papst Urban II. nach Rom schickte. Aber diese Geschichte hat Heinrich Hagenmeyer schon im letzten Jahrhundert für eine Erfindung gehalten14 - obwohl sie bei denselben Chronisten zu finden ist, denen wir auch als einzigen eine so wichtige und bis heute fast allgemein akzeptierte Nachricht wie die vom Tod des Patriarchen zur Zeit der Einnahme Jerusa-lems im Juli 1099 verdanken, nämlich Albert von Aachen und Wilhelm von Tyrus.15 Daß damit der Bericht der Schaffhausener Nonne Hedewic über das Ringen des Patriarchen Symeon und des syrischen Bischofs Samuel mit den Kreuzfahrern um den Besitz der Jerusalemer Kreuz-Reliquie16 durchaus zu vereinbaren sei, hat Hagenmeyer ebenfalls mitgeteilt17, sich allerdings nicht darüber geäußert, wie man sich das vorzustellen habe.

So ist Patriarch Symeon eine rätselhafte und in fast allen Zügen umstrit-tene Gestalt geblieben. Schon die Quellen des 12. Jahrhunderts berichten Widersprüchliches über ihn. Dies ist jedoch offenkundig nur eine von meh-reren Ursachen dafür, daß die Geschichtswissenschaft bislang nicht in der Lage zu sein schien, seine Persönlichkeit und seine Rolle in den Geschehnis-sen seiner Zeit halbwegs klar zu zeichnen. Vielmehr besitzt die Zugehörig-keit der verschiedenen Forscher zu dem einen oder dem andern wenn nicht religiösen, so doch kulturellen Lager auch heute für die Wahl ihrer Blick-richtung eine so grundlegende Bedeutung, daß diese mit den persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen die Autoren des 12. Jahrhunderts schrieben, nicht schlechthin unvergleichbar erscheint. Natür-lich entbehrt auch der Verfasser dieser Zeilen nicht .einer bestimmten Blickrichtung, die geistiger, aber auch physisch-geographischer Natur ist. Sie ist wie selbstverständlich aus dem Versuch einer Gesamtbetrachtung der Kirchengeschichte Jerusalems und des Heiligen Landes erwachsen. Wer sie unternimmt, begibt sich nicht als eine Art Kriegsberichterstatter mit den weltlichen und geistlichen Kreuzfahrern auf die Reise von Westeuropa nach

1 4 H. Hagenmeyer, Peter der Eremit. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte des ersten Kreuzzuges, Leipzig 1879, 53-86.

1 5 Albert von Aachen, Historia Hierosolymitana I, 2-5 bzw. VI, 39: RHC Hist. Occ. IV, 272f bzw. 489; Wilhelm von Tyrus, Chronicon I, l l f bzw. VIII, 23: R.B.C. Huygens (Hrsg.), Willelmi Tyrensis Archiepiscopi Chronicon (CCM LXIII) Turnholt 1986, 124-127 bzw. 416.

1 6 Übertragung der Reliquien des hl. Kreuzes und Grabes aus Jerusalem, sowie der Leiber der hl. Constans, Alexander und Leguntius aus Trier nach Allerheiligen, in: F.L. Baumann (Hrsg.), Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schaffhausen, Rheingau und Muri (= Quellen zur Schweizerischen Geschichte III), Basel 1883, 146-157.

1 7 H. Hagenmeyer (Hrsg.), Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum, Hei-delberg 1889, 481 Anm. 14.

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Palästina, sieht sie den Muslimen die Heiligen Stätten abringen und neben eigener Staatlichkeit gewissermaßen "die Kirche" im Heiligen Land neube-gründen, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit, und zieht schließlich mit ihnen samt ihrer Kirche wieder ab, sondern er befindet sich schon lange bei der einheimischen griechisch-arabischen Kirche, sieht die "Befreier" aus dem Westen mit gemischten Gefühlen kommen, erlebt sie und ihr kirchlich-kulturelles Sendungsbewußtsein als etwas Naives und Bedrohliches zugleich und bleibt schließlich, als sie, von den Muslimen bezwungen, wieder abzie-hen, im Land zurück, die Kreuzfahrer-Hierarchie als vorübergehende Epi-sode kirchlicher Fremdherrschaft in der zweitausendjährigen Geschichte der Mutter aller Kirchen begreifend.

Selbstverständlich ist auch diese Perspektive nicht mit - menschenun-möglicher - "Objektivität" zu verwechseln, doch verhilft sie zu einem anderen Umgang mit den gegebenen historischen Quellen. Sie führt zu neuen Fragen, auf die diese dann neue Antworten geben. Ist die Gestalt des Patriarchen Symeon bislang in der Historiographie, gängigen Fragestellun-gen und Forschungsrichtungen entsprechend, durchwegs eine Figur am Rande geblieben, so muß sie bei solcher Sicht der Dinge ins Zentrum des Interesses rücken. Verspricht doch eine Aufhellung des Schicksals dieses Hierarchen entscheidende Aufschlüsse über die generelle Haltung der Kreuzfahrer gegenüber den Menschen, zu deren Befreiung vom muslimi-schen Joch sie ausziehen sollten und wollten, nämlich gegenüber den öst-lich-orthodoxen Christen, ihrer Kirche, Geisteswelt und Gesellschaftsord-nung. Zu diesem Ziel kann kein anderer Weg führen als eine möglichst sachgemäße Sichtung und Wertung aller verfügbaren Quellen. Sollen dabei alte und neuerliche Kurzschlüsse und Konfusionen vermieden werden, so wird vor allem deren Qualität, Bedingtheit und Glaubwürdigkeit jeweils in sich zu prüfen sein, bevor sie miteinander in Beziehung gesetzt werden.

I. Symeon in der Reihe der Jerusalemer Hierarchen

Symeon II. war in der Reihe der orthodoxen Patriarchen von Jerusalem der Nachfolger Euthymios' I. und der Vorgänger Ioannes' VIII. Diese Feststel-lung ist keine solche Selbstverständlichkeit, wie es vielleicht zunächst scheinen mag. Das zeigt ein Blick in ältere und neuere Verzeichnisse der Jerusalemer Erzhirten, angefangen vom Oriens Christianus des Dominika-ners Michel Le Quien (1661-1733)18 bis hin zu den Listen, die Venance Grumel19 und Joseph Nasrallah20 bieten. Für Verwirrung hat in diesem

1 8 M. Le Quien, Oriens christianus in quatuor patriarchatus digestus, Bd. III, Paris 1740 (ND Graz 1958), 497-505. Grumel, La Chronologie (s. Anm. 2).

2 0 Nasrallah (s. Anm. 10), 97.

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Zusammenhang vor allem der Name eines gewissen Sabas gesorgt, den manche meinten, zwischen Euthymios und Symeon einreihen zu sollen. Doch ist Sabas, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe21, sicher niemals Patriarch von Jerusalem, vielmehr sehr wahrscheinlich Patriarch von Alexandrien gewesen.

1. Zeugnisse liturgischer Memoria

Mußte bislang die angenommene Notwendigkeit, im späten 11. oder im frühen 12. Jahrhundert einen Amtsinhaber namens Sabas in der Liste der Jerusalemer Patriarchen unterzubringen, das Vertrauen in die historische Glaubwürdigkeit einschlägiger gottesdienstlicher Zeugnisse der Kirche von Jerusalem einschränken, so liegt nunmehr ihre weitgehende Zuverlässigkeit auf der Hand: 1891 publizierte Anastasios Papadopulos-Kerameus eine Reihe von liturgischen Texten, die er in der Jerusalemer Patriarchats-Biblio-thek aufgefunden hatte. Es handelt sich um eine Folge von sechs Stichera, zwei Neun-Oden-Kanones und ein Gebet, in denen jeweils die gesamte Reihe der Jerusalemer Erzhirten, angefangen vom Herrenbruder Jakobus bis hin zu Patriarch Gregorios (f 1281/91), aufgezählt wird.22 Sie sind in der vorliegenden Form offensichtlich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhun-dert entstanden und nennen Symeon jeweils zwischen Euthymios und Io-annes23 - mit Ausnahme freilich des zweiten Kanons, der Euthymios nicht kennt, sondern von dessen Vorgänger Sophronios II. direkt zu Symeon übergeht.24 Daß es sich dabei nur um ein Versehen handeln kann, bestätigt ein weiteres unabhängiges liturgisches Zeugnis, das als historische Quelle bisher nicht herangezogen wurde, nämlich der Cod. Sinaiticus Graec. 1040 aus dem 14. Jahrhundert. Er enthält die Abschrift eines sinaitischen Dia-konikons aus der Zeit zwischen 1162 und 1169.25 Unter den dort in den Verstorbenen-Diptychen namentlich genannten in jüngerer Zeit verstorbe-

2 1 Sabas von Kaisareia. Ein Beitrag zur Geschichte der melkitischen orthodoxen Patriarchate von Jerusalem und von Alexandrien zur Komnenen-Zeit, OstkSt 43 (1994) 23-40.

2 2 Ainxuxa tt)<; ev 'IepoooA.ü(xoiq EKK>.r|üia<;, in: A. Papadopulos-Kerameus, 'Ava-XEKTOC 'IepoCToA.u|IIXIKF)<; ETaxuoXoytaq, Bd. I, Sanktpeterburg 1891 (ND Brüssel 1963) 231-307.

2 3 Ebd. 125, 132, 142. 2 4 Ebd. 139. 2 5 Dokumentation des Codex bei: A. Dmitrievskij, Opisanie liturgiceskich rukopisej

chranjascichsja v bibliotekach pravoslavnago vostoka, Bd. II: EüxoX.oyia, Kiev 1901 (ND Hildesheim 1965) 127-135. Zur Datierung: Plank, Sabas von Kaisareia (s. 26 Anm. 21) Anm. 22.

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nen Oberhirten der Heiligen Stadt wird Symeon ebenfalls zwischen Euthymios und Ioannes genannt.26

2. Das amtliche Siegel

Spricht aus den genannten gottesdienstlichen Texten die geschichtliche Memoria der orthodoxen Kirche von Jerusalem, so führt ein erhaltenes Siegel27 unmittelbar zu Symeons Person. Es trägt die Inschrift: Eu(ied>v s^ecp ö(eo)u 7i(ax)pidpx,(r|q) 'Iepo(a)oA.U|iGov. Auf der Rückseite ist die Wiederaufrichtung Adams durch Christus zu sehen, also das nach dem Bil-derstreit allgemein verbreitete Osterbild der Orthodoxie.28 Es diente längere Zeit als offizielles Siegelmotiv der Jerusalemer Patriarchen. Doch macht Vitalien Laurent, dem die Sammlung und Auswertung byzantinischer Siegel zum Lebenswerk geworden ist, darauf aufmerksam, daß das gesamte Arran-gement wie die ikonographischen Details auf dem Siegel Symeons eine auffallende Parallele in dem Amtssiegel eines weiteren Jerusalemer Patriar-chen namens Ioannes haben. Ohne weitere Begründung weist er letzteres Ioannes VII. (963-966) zu29, ein weiteres aber, das in seiner ganz aus dem Rahmen des Üblichen fallenden Inschrift in Form von zwei byzantinischen Zwölfsilbern ebenfalls einen Patriarchen Ioannes nennt, dem Nachfolger Symeons, Ioannes VIII.30 Da nun aber letztgenanntes, wie ich bei anderer Gelegenheit dargetan habe31, aller Wahrscheinlichkeit nach Ioannes IX. Merkuropulos (1156/57 - vor 1166) im konstantinopolitanischen Exil führ-te, besteht keine Veranlassung mehr, nach plausiblen Gründen dafür zu su-chen, woher es rühren könnte, daß zwei jerusalemische Patriarchensiegel, die eineinhalb Jahrhunderte voneinander trennen, einander so sehr ähneln. Vielmehr gehören sie allem Anschein nach Symeon II. und seinem Nach-folger Ioannes VIII. zu. Somit bestätigt also auch der stilistische Vergleich erhaltener Jerusalemer Patriarchen-Siegel den Platz Symeons II. in der historischen Aufeinanderfolge der jerusalemischen Hierarchen, wie sie die einschlägigen liturgiegeschichtlichen Dokumente bezeugen.

2 6 Dmitrievskij 128; R.F. Taft, A History of the Liturgy of St. John Chrysostom. IV. The Diptychs (OCA 238), Rom 1991, 63.

2 7 V. Laurent, Le corpus des sceaux de l'Empire Byzantin, Bd. V/2: L'Eglise, Paris 1965, 396f (Nr. 1564).

2 8 Dazu: A.D. Kartsonis, Anastasis. The Making of an Image, Princeton/N.J. 1986; P. Plank, DieWiederaufrichtung des Adam und ihre Propheten. Eine neue Deutung der Anastasis-Ikone, OstkSt 41 (1992) 34-49.

2 9 Laurent 393f (Nr. 1561). 3 0 Ebd. 397f (Nr. 1565). 3 1 Ioannes IX. von Jerusalem (1156/57-vor 1166), Patriarch im Exil, FS Friedrich

Heyer (im Druck).

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 281

3. Kaiserliche Synode

Ein weiteres Zeugnis für die kirchenamtliche Tätigkeit Patriarch Symeons bieten die Akten einer konstantinopolitanischen Synode32 zum Fall des Metropoliten Leon von Chalkedon33, der dem Kaiser das Recht abgespro-chen hatte, zur Finanzierung reichserhaltender Feldzüge kirchliche Schätze einschließlich liturgischer Pretiosen, die mit heiligen Bildern geschmückt waren, einzuziehen. War diese Versammlung zuvor meist ohne zwingende Gründe im Jahr 1092 angesetzt worden, so gelang es Paul Gautier34 auf-grund umfangreicher prosopographischer Studien anhand der von ihm neu edierten35 etwa 100 Namen umfassenden Liste der Synodalen, ihre Zusam-menkunft nachvollziehbar an die Jahreswende 1094/95 zu datieren.36

Da Symeon von Jerusalem an dieser Synode teilnahm, besitzen wir hiermit ein erstes zuverlässiges Datum aus seiner Amtszeit. Die Akten zählen ihn, wie den Kaiserbruder und Sebastokrator Isaakios und Patriarch Nikolaos III. von Konstantinopel (1084-1111), zu den CTOvs8pid<^ovT£<;37 -nach J. Darrouzes sind damit Persönlichkeiten mit richterlicher Funktion im engeren Sinn gemeint38 -, während alle übrigen geistlichen und weltli-chen Würdenträger lediglich TiapiCTxd)i£voi (Anwesende) genannt werden. Doch scheint diese herausragende Stellung in unserem Fall kaum anderer als protokollarischer Natur gewesen zu sein. Jedenfalls führte den Akten zu-folge fast nur Kaiser Alexios I. (1081-1118) das Wort, der auch den Vorsitz führte.39

4. Vorgänger und Nachfolger

Von der umstrittenen Nachricht lateinischer Schriftsteller vom Tode Sy-meons im Juli 1099 einmal abgesehen40, ist die Bezeugung seiner Teilnahme an der Reichssynode im Blachernenpalast zu Konstantinopel Ende 1094/Anfang 1095 das bislang einzige zur Verfügung stehende Datum aus dem Leben und Wirken des Patriarchen. So bleibt nur ein mögliches Mittel,

3 2 Migne PG 127, 972-984. 3 3 Zu Leon von Chalkedon: H.-G. Beck, Geschichte der orthodoxen Kirche im by-

zantinischen Reich, Göttingen 1980, 169f (mit Lit!). 3 4 P. Gautier, Le synode des Blachernes (fin 1094). Etüde prosopographique, REB 29

(1971) 213-284. 3 5 Ebd. 216-220. 3 6 Ebd. bes. 280-284. 3 7 Ebd. 220. 3 8 J. Darrouzes, Recherches sur les OOOIKIA de l'Eglise Byzantine (= Archives de 1'

Orient Chretien 11), Paris 1970, 146f. 3 9 An einer Stelle heißt es, der Kaiser habe sich wiederum "an die heiligsten Patriar-

chen und an die anwesende hochgeheiligte Synode" gewandt: PG 127, 977. 4 0 S. oben Anm. 15.

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um seine Amtszeit irgendwie einzugrenzen, nämlich der Rückgriff auf gesi-cherte Daten, die seinen Vorgänger und seinen Nachfolger betreffen.

In Bezug auf den Letzteren sei der Übersichtlichkeit halber gleich vor-weg gesagt: Zwar ist Ioannes VIII. durch Zeugnisse gottesdienstlichen Ge-denkens41 und durch ein Siegel42 ebenso sicher bezeugt wie Symeon selber und wird darüber hinaus durch seine erhaltenen Schriften auch als theologi-scher Denker greifbar43, doch ist bislang kein einziges Ereignis aus seiner Amtszeit bekannt, das als chronologischer Anhaltspunkt dienen könnte. Hatten Venance Grumel44 und Jean Darrouzes45 geglaubt, das von dem byzantinischen Historiker Nikephoros Kallistos Xanthopulos (ca. 1256-ca. 1335) für das Jahr 1106/07 gemeldete Auftauchen eines namentlich nicht genannten Patriarchen von Jerusalem, der zuvor Bischof von Tyros gewe-sen sei46, in Konstantinopel auf Ioannes VIII. deuten zu sollen, so ist nach der Untersuchung des gesamten damit in Zusammenhang stehenden Fragenkomplexes die Unhaltbarkeit dieser Annahme zu konstatieren.47

Damit bleibt nur die ernüchternde Feststellung, daß das erste greifbare Datum der jerusalemischen Patriarchengeschichte nach der Amtszeit Symeons der 27. Februar 1122 ist. An diesem Tag vollendete um 9 Uhr vormittags der melkitische Anagnost und Schreiber Basileios zu Jerusalem die Abschrift einer ausführlichen Gottesdienstordnung für die Kar- und Osterwoche, in der er Nikolaos, den zweiten Nachfolger Symeons, als den in seinen Augen legitimen Patriarchen der Heiligen Stadt erwähnt.48

Günstiger erweist sich die Quellenlage in Bezug auf Symeons Vorgänger Euthymios I. Der nahm am 11. April 1082 in Konstantinopel am Synodal-prozeß gegen Ioannes Italos teil49, schloß - vermutlich 1082/83 - zu Thessa-

4 1 S. oben Anm. 23 und 26. 4 2 S. oben Teil 1.2. 4 3 Vgl. L. Petit, Jean de Jerusalem, DThC VIII (1947), 766f; Darrouzes, Le memoire de

Constantin Silbes contre les Latins, REB 21 (1963) 50-100, dort: 54. 4 4 Grumel, La Chronologie (s. Anm. 2), 110-112; ders., Jean VIII, in: Catholicisme VI

(1967), 544. 4 5 J. Darrouzes, Le Traite des Transferts. Edition critique et commentaire, REB 42

(1984) 147-214, dort: 183 (Nr. 55); V. Grumel - J. Darrouzes, Les regestes des actes du patriarcat de Constantinople I/II-III: Les regestes de 715 ä 1206, 2. Ed. Paris 1989, 443 (Nr. 981).

4 6 Historia Ecclesiastica XIV, 39: Migne PG 146, 1196. 4 7 Dazu mein Aufsatz: Sabas von Kaisareia (s. Anm. 21). 4 8 T U 7 I I K Ö V XF^q sv ' I E P O A C Ä Ü N O K ; EKKXR|cna<;, in: A . Papadopulos-Kerameus,

A V & ^ E K T C X 'IEPOCROA.t^ITIKFJQ E-uaxuo^oyiac; II, Sanktpeterburg 1894 (ND Brüssel 1963), 1-254. Erwähnung des Patriarchen im Fürbittgebet des Diakons zum Palm-sonntag: ebd. 26; abschließende Datierung durch den Schreiber: 253.

4 9 J. Gouillard, Le proces officiel de Jean l'Italien. Les actes et leurs sous-entendus, in: Travaux et Memoires (Paris) 9 (1985) 133-174, dort: 157 Zeile 412; Datierung: Zeile 410.

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 283

lonike im Auftrag des Kaisers Frieden mit dem Normannen Bohemund50

und bestätigte im Lauf des Jahres 1084 zu Petritzos/Backovo durch seine Unterschrift51 die griechische Version des Typikons eines Gottesmutter-Klosters, das der Großdomestikos des Westens, Gregorios Pakurianos, dort im Jahr zuvor gestiftet hatte.

Die größte Aufmerksamkeit müssen in unserem Zusammenhang jedoch zwei an Patriarch Euthymios gerichtete Briefe auf sich ziehen, die Nikon vom Schwarzen Berg (f nach 1098) im Logos 35 seines Taktikon überlie-fert.52 Als Absender des einen53 ist eine Versammlung von Bischöfen und hervorragenden Klerikern des Patriarchates von Antiocheia genannt. Der andere54 stammt von Archimandrit Petros, der sich als Abt des dortigen berühmten Klosters des hl. Symeon des Wundertäters einführt. Anlaß der beiden zum Teil ähnlich lautenden Schreiben ist die Entrüstung über die Kunde von der schlechten Aufnahme, die sog. Tzatoi, von Antiocheia kommend, als angebliche Häretiker im Heiligen Land gefunden hätten. Die Antiochener versichern Euthymios, die Tzatoi seien als Armenier chalke-donischen Bekenntnisses vollkommen rechtgläubig. Manche von ihnen hätten in antiochenischen Klöstern als Mönche gelebt und seien von den Hierarchen wie den Klosteroberen ihres Patriarchats vorbehaltslos akzep-tiert worden. Was nun die Briefe an Euthymios für uns so interessant macht, sind vor allem jene Sätze in dem Schreiben der Bischöfe und Kleri-ker, in welchen sie einen Einblick in ihre eigene Lage geben.55 Sie sprechen von einem einschneidenden Wandel der Verhältnisse, der bei ihnen einge-treten sei (rj yevo|aevr| xcov Hpay|idxov £vaA.A.ayr|), der auch deshalb besonders schlimme Folgen zeitige, weil sie eines Hirten entbehrten, der sie zusammenführen könnte, so daß sie zerstreut seien und wilden Tieren zur leichten Beute würden (5iecT7tapy(ievout; övxaq Kai Orpaiv eüdXooxov u7ir|py(j.evouq 0r)pa|ia). Diese Klage führender Vertreter der Kirche von Antiocheia ist nur dann verständlich, wenn sie nach dem 4. Dezember des Jahrs 108 456 angestimmt worden ist, jenem Tag, an dem die zweite byzan-tinische Ära der Stadt, die immerhin 115 Jahre lang gewährt hatte, durch die selguqische Eroberung gewaltsam zu Ende gegangen war. In der Tat war

5 0 F. Dölger: Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565-1453, 2. Teil: Regesten von 1025-1204, München/Berlin 1925, 30 (Nr. 1087).

5 1 P. Gautier, Le Typikon du Sebaste Gregoire Pakourianos, REB 42 (1984) 5-145, dort: 131 und 133; Datierung der Unterschrift: 18f.

5 2 Edition dieses Logos: V.N. Benesevic, Opisanie greceskich rukopisej monastyrja Svjatoj Ekateriny na Sinae, Bd. I, St. Peterburg 1911 (ND Hildesheim 1965), 584-586.

5 3 Ebd. 584f. 5 4 Ebd. 585f. 5 5 Ebd. 584. 5 6 So - M . E . richtig - interpretiert von: Ch. Papadopulos, Iaxopia xrj<; EKKATICTICCC;

'Aviioxeiaq, Alexandreia 1951, 888f.

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die Stadt am Orontes damals ohne Patriarchen57 und sollte es noch bleiben bis zur Erhebung Ioannes' V. Oxeites (108 7/89).58 Sind aber die beiden zusammengehörigen antiochenischen Briefe in der Angelegenheit der Tza-toi frühestens 1085 an Euthymios abgegangen, so kann auch sein Nachfol-ger Symeon frühestens in diesem Jahr den jerusalemischen Patriarchenthron bestiegen haben.

Wir besitzen somit in den Jahreszahlen 1084 und 1095 verläßliche ter-mini post bzw. ante quem für den Amtsantritt Symeons II. von Jerusalem, während das Ende seiner Amtszeit zunächst nicht einmal eingrenzbar, geschweige denn bestimmbar erscheint.

II. Symeon zwischen Rom und Konstantinopel?

Einer Formulierung von Anton Michel zufolge gab es eine intensive "byzantinische und römische Werbung um Symeon II. von Jerusalem" - so der Titel eines Aufsatzes aus seiner Feder59 -, die auf dem Hintergrund der Kirchenspaltung von 1054 und des damit eng verbundenen Azymen-Streits zu verstehen ist. Diese These, zuerst vertreten von Venance Grumel, stützt sich auf zwei Schriftstücke theologischen Inhalts, aus denen aber auch wichtige Schlüsse chronologischen Charakters gezogen wurden bzw. zu ziehen sind. Es handelt sich dabei zum einen um einen Antwortbrief auf die Inthronisations-Anzeige eines Patriarchen, die man Symeon II. zugeschrie-ben hat, und zum andern um seinen erhaltenen Traktat zur Azymen-Frage.

1. Reaktion auf eine Inthronistika

In einem 1939 erschienenen Aufsatz60 lenkte der französische Byzantinist Venance Grumel die Aufmerksamkeit auf einen griechischen Brief ohne Absender, Adressaten und Datierung, den Aleksej Stepanovic Pavlov 1878 in Sanktpeterburg publiziert hatte.61 Pavlov hatte sich darauf beschränkt anzumerken, es handle sich um den Brief eines Patriarchen von Konstan-tinopel an seinen Amtsbruder in Jerusalem über die mit der lateinischen Kirche strittigen Themen des filioque, der Azymen und des römischen

5 7 V. Grumel, Le patriarcat et les patriarches d'Antioche sous la seconde domination byzantine (969-1084), EO 33 (1934) 129-147, dort: 145.

5 8 P. Gautier, Jean V l'Oxite, patriarche d'Antioche. Notice biographique, REB 22 (1964) 128-157, dort: 129.

5 9 S. oben Anm. 6. 6 0 Jerusalem entre Rome et Byzance (s. oben Anm. 6). 6 1 A. Pavlov, Kriticeskie opyty po istorii drevnejsej greko-russkoj polemiki protiv la-

tinjan, Sanktpeterburg 1878, 158-168.

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Primats.62 Nun stellte sich Grumel die Aufgabe, Absender und Empfänger zu identifizieren und den Brief zu datieren.

Ohne große Schwierigkeiten war zu erkennen, daß es sich um die Ant-wort auf eine Inthronistika handelt, auf ein Schreiben also des Oberhauptes einer autokephalen orthodoxen Kirche an seine Amtskollegen, mit dem er altchristlichen Brauch gemäß seine Erhebung anzeigt, um Anerkennung und Gemeinschaft bittet und gegebenenfalls auf aktuelle Geschehnisse und Probleme eingeht. Dem Brief ist zu entnehmen, daß das Schreiben, auf das er antworten sollte, aus Jerusalem gekommen war. Sein selbstbewußter und autoritativer Ton läßt kaum an einen anderen Briefsteller denken als den Patriarchen von Konstantinopel.63

Aus der Erwähnung des Azymenstreits schließt Grumel, daß der Brief-wechsel zwischen Jerusalem und Konstantinopel nicht vor die Zeit des Ökumenischen Patriarchen Michael I. Kerullarios (1043-1058) zurückrei-chen kann, unter dem dieser Konflikt ausbrach.64 Zugleich schließt er diesen als Autor des erhaltenen Briefes aus, da Kerullarios das ebenfalls behandelte wesentlich ältere filioque-Problem dogmatisch anders einge-schätzt und abgehandelt habe, als hier geschehen.65 Weil aber der Jerusale-mer einen an ihn gerichteten Papstbrief beigelegt hatte, aus dem der Kon-stantinopeler dann ausführlich zitierte, komme das 12. Jahrhundert als Abfassungszeit der Patriarchen-Korrespondenz nicht in Frage, da die römi-schen Päpste seit Errichtung des lateinischen Patriarchats von Jerusalem 1099 die orthodoxen Erzhirten der Heiligen Stadt ignorierten und diese Haltung noch bis ins 13. Jahrhundert hinein aufrechterhielten. Danach aber könne kein Jerusalemer Patriarch mehr ein solches Schwanken in der Azymen-Frage an den Tag gelegt haben, wie es die Antwort aus Konstan-tinopel voraussetze.66 Nach alledem müßten die Briefe zu Ende des 11. Jahrhunderts gewechselt worden sein. Dazu passe auch, daß der Ökumeni-sche Patriarch den Abfall von Griechen von der Wahrheit beklage und seinen Kollegen eindringlich davor warne, es ihnen aus Angst oder Oppor-tunismus gleichzutun, womit kaum etwas anderes gemeint sein könne als die zwangsweise Unterstellung von "Christen des griechischen Ritus und byzantinischer Obödienz" unter die römische Autorität, die im Rahmen des Bündnisses der Normannen mit dem Papsttum unter Urban II. (1088-1099) in Unteritalien erfolgt sei.67

6 2 Ebd. 45. 6 3 Grumel (s. Anm. 6) 109. 6 4 Ebd. 109. 6 5 Ebd. 113. 6 6 Ebd. 109f. 6 7 Ebd. 113f.

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Wäre demnach das untersuchte Schriftstück als Antwort des Ökumeni-schen Patriarchen Nikolaos III. (1084-1111) auf die Inthronistika seines Jerusalemer Amtskollegen Symeon II. zu identifizieren, dessen Wahl Gru-mel ohne nachvollziehbare Begründung in zeitlichen Zusammenhang mit der römischen Unions-Initiative von 1088/89 bringt68, so sieht er doch ein gewisses Problem darin, einem in der Azymenfrage unsicheren Patriarchen einen diesbezüglichen Traktat zuzutrauen, in dem orthodoxen Positionen so klarer Ausdruck gegeben ist wie in dem Symeons II. Grumel meint, die Unsicherheit des Hierarchen könne sich darauf beschränkt haben, wie Orthodoxe sich den Lateinern gegenüber in dieser Frage konkret verhalten sollten. Im übrigen zeige sein freundlicher Umgang mit ihnen, daß er selber die Azymen-Problematik keinesfalls als einen wirklich kirchentrennenden Unterschied betrachtet habe.69

Trotz der Betrachtung von allen Seiten und umfassender Argumentation war Grumel sich seiner eigenen Erklärung des von Pavlov edierten Brief-fragments nicht ganz sicher, weswegen er in einer abschließenden Bemer-kung seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß weitere Beobachtungen noch mehr Licht in die Sache bringen würden, und sich schon im voraus dazu bereit erklärte, seine Schlüsse gegebenenfalls zu revidieren.70 Dazu freilich hatte er zeitlebens, wenigstens was seine Hauptthese betraf, keinen Anlaß. Vielmehr kam Anton Michel71 im Prinzip zum selben Ergebnis, wenn er auch wichtige Details anders deutete: Als Absender der Inthronistika kämen nur die Jerusalemer Patriarchen Euthymios I. und Symeon II. in Frage. Da der Erstere wohl in Konstantinopel geweiht worden sei, habe er keinen Anlaß gehabt, seine Erhebung dort anzuzeigen.72 Doch ist Michel nicht damit einverstanden, Symeons Erhebung und Inthronistika um 1088/89 anzusetzen: "Die feindselige byzantinische Antwort würde dann gerade in die Zeit fallen, da der Ökumenische Patriarch mit Rom verhandelte ... Der Patriarch von Jerusalem hätte nahezu gleichzeitig 2 Schreiben erhalten, das eine vom Patriarchen, der den Papst mit Belial zusammenwirft, das andere von der Synode, das die Aufnahme des Papstes in die Diptychen schon vor Untersuchung der Kontroversen vorsah." Michel bestreitet deshalb einen Zusammenhang von Unionsversuch und Patriarchen-Korrespondenz. Letz-tere müsse zuvor stattgefunden haben, weil in ihr ansonsten sicher auf den Synodalbeschluß wäre Bezug genommen worden. "So ist für die Briefschaft Symeons mit Abstand etwa das Jahr 1086 anzunehmen."73

6 8 Ebd. 116. 6 9 Ebd. 116f. 7 0 Ebd. 117. 7 1 Die byzantinische und römische Werbung (s.oben Anm. 6). 7 2 Ebd. 170. Was Michel dazu veranlaßt, die Weihe des Patriarchen Euthymios in

Konstantinopel anzunehmen, sagt er nicht. 7 3 Ebd. 173.

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Sind Michels Gründe gegen eine Datierung der jerusalemischen Inthro-nistika und ihre Beantwortung um 1088/89 oder später einsichtig, so ent-behren seine weiteren Überlegungen jeder Stütze in den Quellen: Das römi-sche Schreiben, das der jerusalemische Patriarch seiner Inthronistika nach Konstantinopel beigefügt habe, sei in Wirklichkeit kein Papstbrief gewesen, sondern habe von einem amalfitanischen Kleriker namens Laycus ge-stammt.74 Auf diesen Laycus und seine Schrift zugunsten der Azymen, die Patriarch Symeon nach Michels Ansicht mit seinem Traktat widerlegen wollte, wird noch zurückzukommen sein. Wenn Michel aber den Kleriker mit dem kuriosen Namen auch noch ohne sachliche Gründe mit dem hier zur Debatte stehenden Patriarchen-Briefwechsel in Verbindung bringen will, so läßt sich das wohl nur mit der fast ehrfürchtigen Zuneigung erklä-ren, die der Freisinger Professor zu seiner Entdeckung gefaßt hatte: "Es würde ja Wunder nehmen, wenn dieser rege Kopf nicht auch an die Haupt-frage, den römischen Primat, herangegangen wäre."75

Mit dieser Bemerkung zeigt Michel nun aber zugleich, daß seine Bewun-derung für Laycus ihm nicht den Blick für einen anderen wichtigen Um-stand verstellte. Er sieht nämlich, im Gegensatz zu Grumel, sehr gut, daß nicht das Azymen-Problem, sondern die Primats-Frage im Mittelpunkt des theologischen Interesses des jerusalemisch-konstantinopolitanischen Brief-austausches steht, und daß sie auf viel breiterer argumentativer Basis aufge-rollt wird, als dies ansonsten im 11. Jahrhundert zu beobachten ist. Doch begreift Michel dieses auffallende Faktum kurzschlüssig als byzantinische Reaktion auf angebliche bahnbrechende Primats-Theorien des Laycus.76

Bei solcher, durch die verfügbaren Quellen in keiner Weise gedeckter, Sicht der Dinge geraten nun sowohl Nikolaos III. von Konstantinopel als auch Symeon II. von Jerusalem ins Zwielicht. Erscheint Symeon, von den Lateinern durch Schreiben, die als Papstbriefe ausgegeben werden, umwor-ben und zugleich von Konstantinopel eindringlich vor ihnen gewarnt, als theologisch und kirchenpolitisch schwankende Figur, so wird Nikolaos unvermeidlich zum zweifelhaften Charakter, der große Abneigung gegen die Lateiner empfindet und diese im inner-orthodoxen Umgang auch kund-tut, jedoch vor dem Druck des Kaisers zurückweicht und dessen Unionspo-litik zähneknirschend unterstützt.77

Schon Grumel hatte eine weitere Klärung der Sachlage vor allem aus ei-ner Indentifizierung des im konstantinopolitanischen Brieffragment er-

7 4 Ebd. 173f. 7 5 Ebd. 174. 7 6 Ebd. 175. 7 7 Vgl. Michel 176f; ebenso Beck, Geschichte der orthodoxen Kirche (s. Anm. 33),

150.

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288 Peter Plank

wähnten und zitierten päpstlichen Schreiben erwartet.78 Daß er mit diesem Gedanken recht gelegen hatte, zeigte ein Vierteljahrhundert später sein Kollege Jean Darrouzes.79 Scharf wies der Michels These, es handle sich gar nicht um einen Papstbrief, zurück, hielt hingegen Grumels Überlegung, das Schreiben könne nicht aus dem 12. Jahrhundert stammen, für schlüssig.80

Noch weniger freilich hielt er ein Schreiben solchen Inhalts im 11. Jahr-hundert für denkbar. Im Rahmen seiner Studien über die mittelalterliche Entwicklung der Primats-Kontroverse konnte Darrouzes zeigen81, daß die Byzantiner erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts allmählich Kenntnis nah-men von der im Gefolge der gregorianischen Reform neu formulierten römischen Konzeption des päpstlichen Primats, sie nach und nach als Haupthindernis für eine kirchliche Einigung begriffen und entsprechende Gegenargumente entwickelten.

Wieweit die Gedankengänge byzantinischer Theologie auf diesem Ge-biet zu Ende des 11. Jahrhunderts gediehen waren, ist Autoren wie Ioannes von Kiev und Theophylaktos von Achrida zu entnehmen.82 Spielte die Pri-matsfrage damals überhaupt - etwa im Vergleich zum Azymenstreit - noch eine untergeordnete Rolle, so änderte sich dies in der Folgezeit und vollends nach der Eroberung Konstantinopels durch die Lateiner 1204 grundlegend. Die breite Zurückweisung des römischen Primats in dem byzantinischen Patriarchenbrief wie auch der äußerst verbitterte Ton, in dem er endet, wei-sen nach Darrouzes eindeutig in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts.83 In diesem Zusammenhang nun macht er die Entdeckung, die seine Überle-gungen bestätigt und sicher auch Grumel zur Revision seiner Datierung und Zuweisung des zur Debatte stehenden Brieffragments bewogen hätte: "Die umstrittenen Evangelientexte, die der Patriarch in dem anonymen Brief nach dem Papstbrief zitiert, finden sich genauso in dem Brief Gregorius' IX. an Germanos II. und zwar in derselben Reihenfolge."84 Damit liegt der Ge-danke nahe, daß auch das Papstschreiben, das ein jerusalemischer Patriarch seiner Inthronistika an den Kollegen von Konstantinopel beilegte, aus der Kanzlei Gregors IX. (1227-1241) stammte. Der Empfänger und Beantworter jener Synodika aus Jerusalem aber wäre dann kein anderer als Germanos II. (1222-1240), der gezwungen war, seines Amtes im Exil zu Nikaia zu walten. Den Adressaten des erhaltenen Brieffragments vermutet Darrouzes in

7 8 Grumel 117. 7 9 Les documents byzantins (s. Anm. 7). 8 0 Ebd. 44. 8 1 Ebd. 47-49. Vgl. dazu die von Darrouzes angeregte Studie von J. Spiteris, La critica

bizantina del primato romano nel secolo XII (OCA 208), Rom 1979. 8 2 Kurz dargestellt bei Darrouzes 49. 8 3 Ebd. 50. 8 4 Ebd. 50. Der besagte Brief findet sich bei Mansi XXIII, 56.

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Patriarch Athanasios II. von Jerusalem (1229-1235)85, dessen Kontakt mit einem römischen Legaten nachgewiesen ist.86

Die Darlegungen von Jean Darrouzes, denen vorbehaltlose Zustimmung gebührt, eröffnen einen völlig neuen Zugang zu dem von A. Pavlov edierten Schriftstück. Es gehört historisch und theologiegeschichtlich in die Zeit nach 1204, als im Machtbereich des lateinischen Kaisertums von Konstantinopel, seiner Vasallenstaaten in Hellas und der Agäis sowie auf Cypern unter den Lusignans viele orthodoxe Bischöfe sich vor die Wahl gestellt sahen, sich dem römischen Papst und seinen lateinischen Patriar-chen bzw. Erzbischöfen zu unterwerfen oder ihre Sitze zu verlassen.87

Germanos II., der in der Inthronistika des Patriarchen von Jerusalem eine eindeutige Distanzierung von Theologie und Politik der Lateiner vermißt zu haben scheint, befürchtete wohl eine Ausweitung solcher Verhältnisse auf das erst wenige Jahrzehnte zuvor von den Kreuzfahrern größtenteils wieder geräumte Palästina und erteilte seinem Kollegen in der Heiligen Stadt in zum Teil scharfen und bitteren Worten eine entsprechende Warnung und Lektion.

Wenn auch nicht ganz auszuschließen ist, daß die konkreten personellen Zuordnungen, die Darrouzes mit guten Gründen vorgenommen hat, noch korrigiert oder präzisiert werden müssen, so ist doch als sicher festzuhalten, daß unser Brieffragment weder etwas mit Nikolaos III. von Konstantinopel noch mit Symeon II. von Jerusalem zu tun hat. Daraus immer wieder gezo-gene Schlüsse auf theologisches Schwanken und Lateinerfreundlichkeit des Letzteren sind ebenso zu streichen wie verschiedene Versuche, aufgrund dieses Schriftstücks den Zeitpunkt seiner Thronbesteigung zu bestimmen oder einzugrenzen.

2. Symeons Azymen-Traktat

Dafür, daß Patriarch Symeon in der zu seiner Zeit virulentesten Frage der Kontroverstheologie, nämlich der Azymen-Problematik, geschwankt hätte, gibt es nach der klaren anderweitigen Zuweisung eines einschlägigen Brief-wechsels zwischen den Oberhäuptern der Kirchen von Jerusalem und von Konstantinopel nicht mehr den geringsten Anhaltspunkt. Vielmehr zeigt ein eigener Traktat, den der Hierarch diesem Thema gewidmet hat, daß er diesbezüglich in keiner Weise vom orthodoxen Standpunkt abwich, den er in seiner Schrift ruhig, aber eindeutig und unmißverständlich vortrug.

8 5 Ebd. 50. 8 6 Ebd. 45. 8 7 Vgl. dazu etwa G. Stadtmüller, Michael Choniates, Metropolit von Athen (ca. 1138-

ca. 1222), OC Bd. XXXIII-2 (= Nr. 91), Rom 1934, 184-212.

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Hinweise auf einen Azymen-Traktat Symeons finden sich schon in der älteren Literatur, etwa bei Dositheos II. von Jerusalem und Michel Le Quien.88 Doch wurde er erst 1924 von Bernard Leib nach drei Handschrif-ten des 13.-16. Jahrhunderts ediert.89 Nun meinte Leib aber, dem Patriar-chen, der in allen drei Manuskripten in der Uberschrift ( T O U Ä Y T C O X A T O U

äpxi£7UCTK07i0U Eui ecovoq 'Iep0CT0X6(iMV nepi Tcüv ct^ujicov) als Verfasser genannt ist90, die Autorschaft absprechen zu müssen.91 Die Schrift präsen-tiert sich nämlich als Entgegnung auf einen lateinischen Traktat zugunsten der Azymen, der einem lateinischen Kleriker in Konstantinopel zugegangen sei92, und Leib glaubte, dieser Traktat sei kein anderer als die Azymen-Schrift des Bruno, Bischofs von Segni und Abtes von Monte Cassino, die dieser an den Benediktiner-Abt Leo in Konstantinopel richtete.93 Da aber Bruno erst nach seinem Eintritt in Monte Cassino im Jahr 1102, wahr-scheinlich sogar erst als Abt dieses Klosters (1107-1111) über die Azymen geschrieben habe94, könne der bereits im Juli 1099 verstorbene Symeon nicht auf Bruno reagiert haben.

In der Tat folgen beide Schriften in ihrer Kontroverse auf weiten Strek-ken demselben gedanklichen Duktus. Zwar fiel schon Leib auf, daß der Grieche an einigen Stellen Argumente oder biblische Belege zu entkräften sucht, die bei Bruno gar nicht begegnen. Doch glaubte er, daß solche Zusät-ze auf das Konto der Lateiner in Konstantinopel gingen, welche die Schrift des Cassinenser Abtes dem griechischen Autor in angereicherter Form übergeben hätten.95 Eine Sache für sich schienen Leib die Erörterungen des Griechen über das Datum des Letzten Abendmahles zu sein, des Themas der Orthodoxen im Azymen-Streit schlechthin, auf das die Lateiner nie so recht eingehen wollten.96 Griechische Ausführungen zu diesem Punkt konnten auch im vorliegenden Fall kaum als Entgegnungen auf eine vorgängige lateinische These konzipiert sein.

Ein letztes wichtiges Problem, für das Leib eine Lösung suchen mußte, war die Erwähnung eines nana(c;) XiÄßeCTxpoq durch den griechischen Autor als Absender der ihm vorliegenden, aus Rom eingegangenen lateini-schen Schrift. Er suchte diese Aufgabe durch folgende Auslassungen zu

8 8 Patriarch Dositheos II. von Jerusalem, 'Ioropioc Tiepi TCOV S V 'IepoaoX6(ioiq roxTpiapxeuadvTCüv, Bukarest 1715, 188; M. Le Quien, Oriens christianus (s. oben Anm. 18) III, 498f.

8 9 Leib, Deux inedits (s. oben Anm. 9) 217-239. 9 0 Ebd. 207-209 und 217. 9 1 Ebd. 177-190. Schon Le Quien hatte an der Verfasserschaft Symeons gezweifelt:

Oriens christianus (s. oben Anm. 18) III, 500. 9 2 Ebd. 217. 9 3 De sacrificio azymo ad Leonem monachum, Migne PL 165, 1085-1090. 9 4 Dazu: B. Gigalski, Bruno von Segni, Münster/Westf. 1898, 283-285. 9 5 Leib 182. 9 6 Leib 182f.

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erledigen: "Der Name des Verfassers des von dem Griechen widerlegten Briefes rtapd Tivoq nana SiA-ßsaxpou bedeutet wenig, wenn man die Leichtfertigkeit bedenkt, mit der man im Mittelalter Namen zuwies. Au-ßerdem ist darauf hinzuweisen, daß das Gutachten des Bruno den Namen des Papstes Silvester ausdrücklich erwähnt.97 Möglicherweise hatte der orthodoxe Leser seine Schwierigkeiten, den schlecht geschriebenen Schluß zu lesen, und glaubte, in dem Namen Silvester eine Angabe zu erkennen, die den Redaktor betrifft."98

Widerspruch erntete Leib mit seinen Thesen bei seinem Landsmann Martin Jugie. In einem Beitrag, der kaum den Umfang einer Rezension übersteigt99, äußerte dieser seine eigenen einigermaßen überraschenden Ansichten über Symeon und das ihm von Leib abgesprochene theologische Werk: Zwar könne Symeon nicht der Autor des edierten Traktats sein, wenn dieser auf eine zwischen 1107 und 1111 von Bruno von Segni verfaßte Schrift antworte, der Patriarch aber 1099 verstorben sei. Doch unterliege ebendieses von Albert von Aachen überlieferte Sterbedatum starken Zwei-feln. Der Aachener Kanoniker sei nicht Augenzeuge der von ihm berichte-ten Ereignisse gewesen, sondern gebe lediglich wieder, was er von anderen erfahren habe. Glaubwürdig sei dagegen Michael der Syrer mit seiner Nachricht, daß Symeon bei der Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfah-rer zugegen gewesen sei. Danach aber sei es ihm wohl ebenso ergangen wie seinem Amtskollegen Ioannes von Antiocheia. Er habe sich mit den Latei-nern überworfen und sei entweder über diesen Auseinandersetzungen ge-storben oder wie Ioannes nach Konstantinopel geflüchtet. Daß Symeon die Erstürmung Jerusalems 1099 miterlebt habe, sei jedenfalls sehr wahrschein-lich, "um nicht zu sagen sicher"100.Demzufolge sei die Autorschaft Symeons am besagten Azymen-Traktat selbst dann möglich, wenn das Werk eine Widerlegung der erst zwischen 1107 und 1111 entstandenen Schrift Brunos sein sollte.

Doch erklärt sich Jugie auch in diesem Punkt mit Leib nicht einverstan-den. Symeon antworte auf die Schrift "eines gewissen Papstes Silvester" an einen lateinischen Kleriker in Konstantinopel, während Brunos Brief klar seinen Verfasser und seinen Empfänger namens Leo nenne. Symeon ant-worte nach eigenem Bekunden auf ein in dem ihm vorliegenden lateinischen Schriftstück auftauchendes Argument, wenn er sich mit der Behauptung auseinandersetzt, Abraham und Lot hätten ihren drei

9 7 PL 165, 1089. Allerdings in einer Reihe mit den Namen Petrus, Clemens, Gregori-us.

9 8 Leib 183. 9 9 Le traite sur les azymes (s. oben Anm. 8). 1 0 0 Ebd. 422.

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geheimnisvollen Gästen (Gen 18f.) ungesäuertes Brot vorgesetzt.101 Eine Passage dieses Inhalts sei aber bei Bruno von Segni nicht zu finden. Ebenso antworte Symeon auf die ihm vorliegende Schrift, nicht aber auf Bruno, wenn er auf das Argument entgegnet, der Besitzer des Saales, in dem der Herr das Letzte Mahl mit seinen Jüngern gehalten habe, sei ein gesetzestreuer Jude gewesen und habe deshalb unmöglich zu dieser Zeit gesäuertes Brot in seinem Hause haben können.102 Umgekehrt setze Bruno den Griechen entgegen, der Herr habe am Abend des Auferstehungstages zu Emmaus (Lk 24,11) mit Sicherheit ungesäuertes Brot gebrochen103, ohne daß sich bei Symeon eine Replik auf diesen Gedanken finde. Angesichts dieser Schwierigkeiten sei es schwerlich denkbar, daß der Traktat Symeons eine Antwort auf Brunos Schrift darstelle. Jugie sieht sehr wohl, daß "de curieuses coincidences" zwischen beiden Schriften bestehen. Doch glaubt er, sie ließen sich "facilement par la nature du sujet" erklären.104

Eine Wende nahm die Diskussion um den Azymen-Traktat des Patriar-chen, als Anton Michel im Codex Brüx. 1360 fol. 116v-119 eine "Epistola Layci clerici missa Sergio abbati ad defendendum se de azymis contra Grae-cos" auffand und sie 1939 edierte und kommentierte.105 Michels Untersu-chung ergab, daß Bruno von Segni bei der Abfassung seines Azymen-Trak-tats den neu entdeckten Brief des Laycus, den er um 1070 datiert106, regelrecht ausgeschrieben hat.107 Nicht weniger bedeutsam ist Michels Feststellung, daß die Azymen-Schrift des Patriarchen Symeon zu Laycus in viel engerem Verhältnis steht als zu Bruno.108 Die Einwände, die Jugie gegen Brunos Schrift als unmittelbaren Widerpart für Symeon erhebt, treffen zwar auf diese, nicht aber auf den Brief des Laycus zu. So findet sich bei Laycus tatsächlich die bei Bruno vermißte Berufung auf Abraham und Lot, ebenso der Hinweis auf den gesetzestreuen Besitzer des Abendmahl-saales: "Der griechische Text ist also, wie die viel engeren Beziehungen des Inhaltes zeigen, eine Antwort auf den Brief des Laycus von ca. 1070 und nicht auf die Epistel des Bruno von ca. 1110. Auch sprachlich steht er dem Sondergut des Laycus näher als Bruno."109

Da Leib dem Patriarchen den griechischen Traktat "nur aus dem Ver-hältnis zu Bruno heraus"110 abgesprochen hatte, sieht Michel nach seiner

1 0 1 Symeons Azymen-Traktat § 9: Leib 222. 1 0 2 Ebd. § 14; Leib 225. ' 1 0 3 PI 165, 1087. 1 0 4 Jugie 424. 1 0 5 Amalfi und Jerusalem (s. oben Anm. 8). Textedition ebd. 35-47. 1 0 6 Ebd. 17f. 1 0 7 Ebd. 7 und 24. 1 0 8 Ebd. 15. 1 0 9 Ebd. 28. 1 1 0 Ebd. 29.

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Entdeckung des Laycus keinen Grund mehr, der gegen eine Autorschaft Symeons sprechen könnte, dessen Tod im Jahr 1099 er im übrigen nach wie vor für ein verläßliches Datum hält.111 Adressat des Laycus-Briefes ist nach Michel der Abt Sergius vom Benediktiner-Kloster St. Maria der Amalfitaner in Konstantinopel112, weswegen er auch Laycus für einen Amalfitaner hält.113 Nichtsdestoweniger scheide Konstantinopel als "Ausgabeort" der Schrift des Laycus an den Patriarchen aus, weil dieser ansonsten in seiner Antwort deutlich gemacht hätte, daß er auch selber in der byzantinischen Reichshauptstadt geschrieben habe.114 Von Amalfi aus gesehen komme vielmehr Jerusalem in Betracht115, wo sich ebenfalls ein Kloster mit Mön-chen aus der italienischen Seerepublik befand.

Schließlich bleibt Michel auch ein Wort zum Silvester-Problem nicht er-spart: "Daß aber der Brief unter dem Namen 'eines Papstes aus Rom' dem Patriarchen eingehändigt wurde, geschah wohl, um ihm höheres Ansehen zu sichern. Da Silvester I. der Liturge der abendländischen Kirche schlechthin war und das Briefchen über die Azymen geht, da überdies Silve-ster I. gegen Ende der Epistel (...) sogar zitiert wird, lag es nahe, sie 'einem' (xivoc;) Papst Silvester zuzuschreiben. An einen 'Weltpriester Silvester' ist bei der Zusammenstellung nana (...) mit Rom ... nicht zu denken."116

Mögen Michels folgernde Überlegungen im einzelnen auch diskussions-bedürftig erscheinen, einen echten Fortschritt auch hinsichtlich der rechten Würdigung des Azymen-Traktats des Symeon bedeutete die Edition des Laycus-Briefes allemal. Doch war dessen Entdeckung nicht der letzte Fund, der wesentlichen Einfluß auf die richtige Einordnung und Interpretation der theologischen Schriftstellerei des jerusalemischen Patriarchen gewinnen sollte. 1974 macht Jean Darrouzes auf einen Azymen-Traktat des kleinasia-tischen Bischofs Nikolaos von Andida aufmerksam117, der zuvor nur als Verfasser eines Liturgie-Kommentars bekannt gewesen war.118 Darrouzes mochte sich zwar nicht auf eine Gesamtedition dieser Schrift einlassen, auf die er im Cod. Bucar. Acad. graec. 318 gestoßen war, gab aber einige Passa-gen daraus wieder119, die aus historischen Gründen bedeutsam erschienen.

1 1 1 Ebd. 28. 1 1 2 Ebd. 18f. 1 1 3 Ebd. 20f. Dieser Schluß ist m.E. zu gewagt. 1 1 4 Ebd. 29f. Ein m.E. unnachvollziehbarer Gedanke. 1 1 5 Ebd. 30. 1 1 6 Ebd. 32. 1 1 7 J. Darrouzes, Nicolas d'Andida et les azymes, REB 32 (1974) 199-210. 1 1 8 Dazu R. Bornert, Les commentaires byzantins de la Divine Liturgie du VIIe siecle

(= Archives de L'Orient Chretien 9), Paris 1966, 181-213. Die Entdeckung des Azymentraktats hat auch Konsequenzen für die Datierung des Liturgiekommentars des Nikolaos. Darrouzes setzt seine Abfassung nunmehr 1085-1095 an: Nicolas d'Andida 199 und 203.

1 1 9 Darrouzes 207-210.

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Außerdem war ihm aufgefallen, daß der erste Teil des Azymen-Traktats des Nikolaos so gut wie identisch ist mit den Paragraphen 15-31 des theologi-schen Werkes des Patriarchen Symeon zum selben Thema, dessen zweitem Teil also, der auf die abschnittweise Auseinandersetzung mit der lateini-schen Vorlage folgt und als eine Art Beiwerk breit die Frage des Zeitpunk-tes des Letztes Abendmahls des Herrn mit seinen Jüngern behandelt.

Die damit gegebene Frage, in welcher Richtung die Abhängigkeit verlau-fe, klärte Darrouzes, indem er den Text des Symeon eindeutig als Plagiat erwies. Darauf lasse schon die gesamte Anlage beider Werke schließen. Während Nikolaos ganz natürlich seinem zu Anfang dargelegten Plan in der Durchführung folge, wirke der Text Symeons unproportioniert, was sich durch die Übernahme eines großen Teiles aus Nikolaos erkläre. Offen-kundig aber werde das Plagiat im Paragraphen 31 bei Symeon: Er kündigt dort ebenso wie Nikolaos an der entsprechenden Stelle die Darlegung eines neuen Gedankens an, nämlich den Erweis der Reinheit des gesäuerten Bro-tes. Im Gegensatz zu Nikolaos, der dieses Argument dann tatsächlich auch entwickelt, kommt aber Symeon darauf nicht mehr zurück, sondern been-det seine Ausführungen mit einem nochmaligen Rückgriff auf seinen latei-nischen Widerpart.120

Während also der Azymen-Traktat des Patriarchen Symeon in seiner Gesamtanlage als eine Art literarischer Sandwich erscheint, erweist die Ho-mogenität der Schrift des Nikolaos zugleich ihre Priorität. Dieser Umstand nun gewinnt insofern höchste Bedeutung, als Nikolaos persönliche Erleb-nisse berichtet, die chronologische Rückschlüsse auf sein eigenes Werk und folglich auch auf das seines Plagiators Symeon zulassen.

Bischof Nikolaos berichtet nämlich von seiner Begegnung mit Lateinern auf der Insel Rhodos. Venezianer hatte er dort angetroffen, welche mit Erlaubnis des Kaisers sogar schon eigene Kirchen gebaut hatten, in denen sie ihre Azymen darbrachten, von denen sie behaupteten, sie seien geeigne-ter für das eucharistische Opfer als gesäuertes Brot. Außerdem habe sich dort noch "eine weitere Menge" lateinischer Mönche und Bischöfe aufgehal-ten, die unterwegs zum Grabe Christi gewesen seien.121

Darrouzes gibt seiner Überraschung über diese Erlebnisse des Nikolaos Ausdruck, zeigen sie doch Rhodos als etablierten Handelsplatz der Venezi-aner samt festen kirchlichen Einrichtungen und als Durchgangshafen für Heilig-Land-Pilger und Kreuzfahrer. Angesichts dieses Bildes stellt Darrou-zes die entscheidende Frage, "seit wann Rhodos zum regulären Anlegeplatz der Kreuzfahrer auf dem Weg zum Heiligen Land geworden ist"122. Wenn er trotz dieser von ihm selbst formulierten unausweichlichen Frage zu der -

1 2 0 Ebd. 204f. 1 2 1 Griechischer Text: Darrouzes 208; franz. Übersetzung: ebd. 202. 1 2 2 Ebd. 202.

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in sich unmöglichen - Auffassung gelangt, der Traktat des Nikolaos von Andida müsse in der Zeit von 1095-1098 entstanden sein, so einzig deshalb, weil für ihn der Tod des Patriarchen Symeon, der aus diesem Traktat so reichlich geschöpft hat, im Jahr 1099, spätestens aber 1101, eine unumstöß-liche Tatsache ist.123

Resümieren wir die historischen Fakten! Mit dem Jahr 1082, in dem Kai-ser Alexios I. den Venezianern für ihre Unterstützung im Krieg gegen die Normannen umfangreiche Handels- und Niederlassungsprivilegien ein-schließlich der Erlaubnis zum Erwerb oder zur Errichtung lateinischer Kir-chen einräumte, beginnt die unaufhaltsame wirtschaftliche, militärische und politische Expansion der Westeuropäer im rhomäischen Reich124, die nicht weniger zu dessen Niedergang beitragen sollte als die türkische Invasion aus dem Osten, die etwa zur selben Zeit einsetzt. Sollten sich schon in den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts Venezianer auf Rhodos niedergelassen haben, so wurden sie mit Sicherheit noch einmal von £aka (Tzachas), dem sel-guqischen Emir von Smyrna, verdrängt, der seit 1089/90 die ägäischen In-seln vor der kleinasiatischen Küste der Reihe nach in seine Gewalt brachte, bis sie ihm von dem rhomäischen Megas dux Ioannes Dukas im Früh-jahr/Frühsommer des Jahres 1092 wieder entrissen wurden.125 Hätte Niko-laos auf Rhodos nur Venezianer angetroffen, die damals übrigens formal als Untertanen des byzantinischen Kaisers galten, so wäre über den Zeitpunkt seines Aufenthaltes auf der Insel nur zu sagen, daß er vermutlich nach 1092 anzusetzen sei. Doch läßt seine Erwähnung einer weiteren Menge von La-teinern, die der Bischof genau von den Venezianern zu unterscheiden weiß, viel genauere Rückschlüsse zu. Sie waren auf dem Weg zum Grabe Chri-sti126, gehörten also zu den Kreuzfahrern oder waren Pilger in das bereits eroberte Jerusalem. Der kleinasiatische Bischof kam also zu einer Zeit nach Rhodos, als die Insel bereits zum wichtigen Flottenstützpunkt der Kreuz-fahrer geworden war, der ihnen Versorgung und Nachschub sicherte.127

Wenn also Nikolaos von Andida die Insel Rhodos frühestens im Jahr 1099128 besuchte, danach seinen Azymen-Traktat schrieb, dieser in die Hände des Patriarchen Symeon gelangte und von ihm zur Abfassung seiner eigenen Schrift zum Thema herangezogen wurde, so kann der Jerusalemer

1 2 3 Ebd. 204. 1 2 4 Vgl. dazu: Lilie, Die lateinische Kirche (s. oben Anm. 10) 202. 1 2 5 P. Gautier, Defectation et soumission de la Crete sous Alexis I e r Comnene, REB 35

(1977) 215-227, bs. 227; vgl. E. Malamut, Les lies de l'Empire Byzantin VIIIe-XIIe

siecle, Bd. I, Paris 1988, 91. 1 2 6 Darrouzes 208. 1 2 7 Malamut Bd. II, Paris 1988, 441 und 556. 128 Ygj Malamut Bd. I, 95. Wilhelm von Tyrus berichtet von genuesischen, veneziani-

schen und griechischen Schiffen, die im Jahr 1099 die Kreuzfahrer von Cypern und Rhodos aus versorgt hätten: Chronicon VII, 21: Huygens (s. oben Anm. 15) 371.

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Oberhirte nicht bereits zur Zeit der Einnahme der Heiligen Stadt durch das Kreuzritterheer, also im Juli 1099, auf Cypern verstorben sein, wie bislang von den allermeisten Forschern im Vertrauen auf Albert von Aachen und den von ihm abhängigen Wilhelm von Tyrus angenommen worden ist. Anders lautende Nachrichten dürfen keinesfalls mehr ignoriert oder von vornherein als unglaubwürdig abgetan werden, wie geschehen.

Eine erste sehr wichtige Nachricht dieser Art enthält bei näherem Zuse-hen der Azymen-Traktat des Patriarchen selbst, und zwar in seinen einlei-tenden Sätzen:

"Wir haben zur Kenntnis genommen, ihr christusliebenden Lateiner, das Streitschriftchen (xo CTUCTTCXTIKÖV ypaji|adxiov) für euer ungesäuertes Opfer, das ihr uns habt zugehen lassen. Da war auch eine Art Brieflein, von Rom aus geschrieben, wie es hieß, von einem Papst Silvester (Kai r|v £7UCTToAi5iov t i ano Pö)fir|q ypacpev, rot; ecppa^s, raxpa xtvoq nana üiAßECT-cpou) an einen lateinischen Kleriker, der in Konstantinopel lebt. Wir haben daraus klar erkannt, daß ihr weder etwas Geziemendes noch etwas Wahres noch etwas Erhärtendes besitzt, was den Dienst mit Azymen empfehlen könnte, den ihr Christus unserem Gott darbringt."129

Im Gegensatz zur gesamten bisherigen Forschung ist festzuhalten, daß Symeon in diesem Vorspann zu seinen sakramententheologischen Ausfüh-rungen klar und deutlich von zwei verschiedenen Schriftstücken spricht, die man ihm zusammen ausgehändigt hat, nämlich von einer kleinen Streit-schrift (auaxaxtKÖv ypap|_iaxiov) zugunsten der Azymen und von einem Begleitbrieflein (£7UCTTOA.I5IOV) eines Papstes Silvester. Dieser Begleitbrief und sein Verfasser waren dem Patriarchen offenbar suspekt, was er durch den Zusatz indefiniter Pronomina (£7UCTxoA.(8i6v XI ... napa xtvoq 7tarax) kundgibt - im Gegensatz zur Streitschrift selbst, die er mit bestimmtem Artikel (xö CTUCTXCXXIKÖV ypa|i|iaxiov) anführt und als solche durchaus ernst nimmt.

Wer aber ist dieser Papst Silvester? Solange man davon ausging, daß das Symeon übergebene ypap.|idxiov und E T U C T X O A A Ö I O V einunddasselbe Schrift-stück sind, war darauf keine befriedigende Antwort zu finden. Nun trug das an einen lateinischen Kleriker zu Konstantinopel gerichtete Begleitschrei-ben zum Azymen-Traktat, das Patriarch Symeon in Händen hielt, ohne Zweifel als Absender den Namen eines römischen Papstes Silvester. Aber es handelt sich dabei natürlich nicht um Silvester I. (314-335), der auch in der orthodoxen Kirche von alters her als Heiliger verehrt wird und als angebli-cher Täufer Kaiser Konstantins des Großen in hohem Ansehen steht. Soll die Einhändigung des besagten Briefes an den Jerusalemer Patriarchen über-haupt irgendeinen Sinn gehabt haben, so muß er vielmehr einen inhaltli-

1 2 9 Leib 217.

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chen Bezug zu dem gleichzeitig übergebenen Azymen-Traktat besessen haben. Damit aber scheiden als Briefsteller auch die Päpste Silvester II. (999-1003) und Silvester III. (1045-1046) aus, die beide noch vor Ausbruch des Schismas von 1054 die römische Kirche regiert hatten. Es kommt somit als Absender des E T C I C T X O X I S I O V nur der römische Erzpriester Maginulfus in Frage, der seit dem 18. November 1105 bis ins Jahr 1111 als Silvester IV. unter dem Schutz des Markgrafen Werner von Ancona Papst Paschalis II. (1099-1118) Konkurrenz machte.130

Somit erklärt sich auch die reservierte Haltung Patriarch Symeons ge-genüber dem EmcTToAiSiov. Er wußte vermutlich sehr wohl, daß Silvester nichts weiter als ein römischer Gegenpapst mit sehr beschränktem Anhang war, der versuchte, auch außerhalb Italiens, etwa bei den Angehörigen der lateinischen Kirche in Konstantinopel und über sie nach Möglichkeit in orthodoxen kirchlichen Kreisen, Einfluß zu gewinnen. Daß seine Ansprü-che mancherorts zumindest nicht schlechterdings verworfen wurden, zeigt die Tatsache, daß es in Konstantinopel offenbar Lateiner gab, die sich nicht scheuten, Briefe Silvesters zur Unterstreichung dogmatischer Positionen der römischen Kirche an höchste Würdenträger der orthodoxen Kirche weiter-zureichen.

Wenn aber Symeon seinen Azymen-Traktat erst nach der Lektüre eines Briefes des Maginulfus-Silvester verfaßt hat, so beweist dies, daß der Patri-arch zumindest im Jahr 1106 noch am Leben war. Daß er sowohl von diesem Brief als auch von der Abhandlung gegen die Azymen des Nikolaos von Andida Kenntnis nehmen konnte, die ja beide nicht an ihn gerichtet bzw. für ihn verfaßt waren, läßt sich am ehesten dadurch erklären, daß Symeon den letzten Abschnitt seines Lebens ebenso wie sein antiocheni-scher Amtsbruder Ioannes V. in Konstantinopel verbrachte und dort sein Werk gegen die Azymen schrieb.

Nun ist der Gedanke an Maginulfus-Silvester als Absender des im Azy-men-Traktat Symeons genannten römischen Briefes nicht ganz neu. Auch Anton Michel ist er schon gekommen, doch hat er ihn sofort wieder ver-worfen: "Da Symeon spätestens 1106 gestorben ist, kommt der Gegenpapst Silvester IV. Maginulfus (1105-1111) als angeblicher Absender des Laycus-Briefes nicht in Frage."131 Ganz abgesehen davon, daß Michels Argumenta-tion selbst dann nicht stichhaltig wäre, wenn der Patriarch tatsächlich im Jahr 1106 das Zeitliche gesegnet haben sollte, so ist klarzustellen, daß es für eine solche chronologische Fixierung keinen Anhaltspunkt gibt. Zwar

1 3 0 Ph. Jaffe, Regesta Pontificum Romanorum ad a.p.Chr. n. MCXCVIII, 2. Aufl. Bd. I, Leipzig 1851 (ND Graz 1956), 773f.;vgl. C. Servatius, Paschalis II. (1099-1118). Studien zu Person und Politik (= Päpste und Papsttum Bd. 14), Stuttgart 1979, 43, 71f„ 251.

1 3 1 Die byzantinische und römische Werbung 174 Anm. 59.

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behaupten das orthodoxe Autoren wie Chrysostomos Papadopulos132 und Aleksandr Popov133 wie - von ihnen abhängig - Wilhelm Hotzelt134, die tradieren, Symeon II. habe bis in dieses Jahr in Bethlehem gelebt und ver-geblich versucht, sein Amt auszuüben und in der Jerusalemer Anastasis die hl. Liturgie zu feiern, woran ihn die lateinischen Machthaber gewaltsam gehindert hätten. Doch bringen sie für diese Darstellung keinerlei Quellen-beleg bei. Es scheint vielmehr so, als ob eine altererbte Verwechslung mit Patriarch Leontios II. (1176-1185), einem Nachfolger Symeons II., vorliege, von dem sein Zeitgenosse und Biograph Theodosios Gudelis ebendies be-richtet.135 Die damit verbundene Festlegung des Sterbejahres Patriarch Symeons auf 1106 hingegen rührt möglicherweise aus jener bereits erwähn-ten Translationsnachricht bei Nikephoros Kallistos Xanthopulos136 von der Anerkennung eines ehemaligen Bischofs von Tyros als Patriarch von Jerusalem, der sich im Jahr 6615 (= Sept. 1106/Aug. 1107) in Konstan-tinopel eingefunden habe.137 Doch handelt es sich auch hierbei um eine Verwechslung.138

Gibt es also keinerlei Hinweis, der es nahelegte, den Tod Symeons II. ge-rade im Jahr 1106 anzunehmen, so entfällt erst recht ein von daher erhobe-ner Einwand gegen Maginulfus-Silvester als Absender des von dem Patriar-chen in seinem Azymen-Traktat erwähnten päpstlichen Briefes aus Rom.

Davon unberührt bleibt die Feststellung, daß Symeon seine Schrift gegen die Azymen frühestens 1106 verfaßt haben kann, so daß wir im Jahr 1105 einen sicheren terminus post quem für das Ableben des Patriarchen besit-zen. Zusammen mit dem als Terminus ante quem für seinen Amtsantritt er-mittelten Jahr 1095 ist hiermit ein zeitlicher Rahmen gegeben, in dem er samt der Kirche im Heiligen Lande, der er vorstand, mit den Kreuzfahrern und ihrer Kirche konfrontiert wurde. Bevor wir uns der Aufgabe zuwen-den, Licht in die diesbezüglichen Ereignisse zu bringen, sei festgehalten, daß die Auswertung von Quellen, aufgrund derer die ältere Forschung ein Schwanken Symeons II. zwischen Rom und Konstantinopel behauptete,

132 'Icrpopia rFj<; 'EKK>.r|cncx<; 'IepoaoXüncov, 2. Ausg. Athen 1970, 417f. 1 3 3 Latinskaja Ierusalimskaja patriarchija (s. Anm. 11) 229. Popov "beweist" seine

Behauptung mit dem Hinweis, daß darüber bis heute sogar die orthodoxen Schul-kinder in Jerusalem Bescheid wüßten.

1 3 4 Kirchengeschichte Palästinas (s. Anm. 13) 25. Vgl. auch J. Prawer, The Latin Kingdom of Jerusalem. European Colonialism in the Middle Ages, London 1972, 221. Da auch er annimmt, Symeon sei schließlich ins Heilige Land zurückgekehrt, scheint seine Verlegung des Todes des Patriarchen ins Jahr 1116 ein einfaches Verse-hen zu sein.

1 3 5 D. Tsougarakis, The Life of Leontios, Patriarch of Jerusalem. Text, Translation, Commentary, Leiden u.a. 1993, 138.

1 3 6 S. oben Anm. 46. 1 3 7 Darrouzes, Le Traite des Transferts (s. oben Anm. 45) 183. 1 3 8 S. dazu oben Anm. 21.

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keinerlei Anhaltspunkte für die Berechtigung einer solchen These erbracht hat.

III. Symeon und die Kreuzfahrer

Bekanntlich wählten sich die Kreuzfahrer aus ihren eigenen Reihen schon wenige Tage, nachdem sie Jerusalem eingenommen hatten, eine eigene weltliche und geistliche Obrigkeit. Am 22. Juli 1099 wurde Gottfried von Bouillon unter dem von ihm selbst bevorzugten Titel eines Ecclesiae S. Sepulcri Advocatus zum Herrscher über Jerusalem und die übrigen erober-ten Gebiete im Heiligen Land erhoben, am 1. August Arnulf von Chocques zum Patriarchen der Heiligen Stadt erklärt.139 Während aber die Wahl Gottfrieds als notwendige Folge der Beseitigung der muslimischen Herr-schaft erscheint, stellt sich im Falle der Bestellung Arnulfs, auch wenn sie von vornherein nur als Provisorium gedacht gewesen sein sollte, unaus-weichlich die Frage nach ihren faktischen Voraussetzungen und ihrer recht-lichen und moralischen Legitimation. Denn die Heilige Stadt besaß von je-her einen orthodoxen Patriarchen, der an der Spitze des palästinischen Epis-kopats stand und eine eigenständige Kirche regierte, die mit den anderen chalkedonisch-orthodoxen Patriarchaten von Konstantinopel, Alexandrien und Antiochien sowie den autokephalen Erzbistümern von Bulgarien und Cypern in kanonischer Gemeinschaft stand und auch mit der lateinischen Kirche der nunmehrigen Eroberer samt ihrem römischen Haupt, solche -allerdings schon lange brüchig gewordene - Gemeinschaft gepflogen hatte, bis diese wenige Jahrzehnte zuvor im Gefolge der Ereignisse von 1054 beendet worden war, ohne daß man diesen Bruch damals etwa schon für dauerhaft oder gar endgültig gehalten hätte. Die Frage, ob es den Kreuzfah-rern anstand und zustand, einen der Ihren zum Patriarchen von Jerusalem und damit zum Haupt der palästinischen Kirche zu erheben, hätte sich auch dann gestellt, wenn der bischöfliche Thron der Heiligen Stadt damals tat-sächlich vakant gewesen wäre, wie Albert von Aachen behauptet. Ange-sichts der Tatsache aber, daß sein legitimer Inhaber, Symeon II., noch wenigstens bis ins Jahr 1106 am Leben war, erhebt sich der Verdacht, daß die Errichtung des lateinischen Patriarchats von Jerusalem im Jahr 1099 von Maßnahmen begleitet war, die den Charakter von Unrecht und Gewalt trugen. Eine kritische Sichtung und Wertung aller verfügbaren Quellen soll darüber Klarheit verschaffen.

1 3 9 Älteste Quelle darüber sind die noch im Jahr 1099 von einem anonymen Autor aus Süditalien abgeschlossenen Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum XXXIX, 3-4: Hagenmeyer (s. oben Anm. 17) 477-481.

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1. Armenische Geschichtsschreibung

Schon Martin Jugie hat ernsthafte Zweifel an der Darstellung Alberts von Aachen gehegt. Für ihn stand nahezu fest, daß Patriarch Symeon die Ein-nahme der Heiligen Stadt an Ort und Stelle miterlebt hat. Er verwies dabei auf eine Passage im Geschichtswerk des jakobitischen Patriarchen Michael des Syrers (1166-1199) mit folgendem Wortlaut:

"Die fränkischen Truppen setzten ihren Zug fort, bemächtigten sich aller Gebiete bis hin

nach Joppe und langten vor Jerusalem an. Diese Stadt war voll von Arabern, die vor kur-

zem aus Ägypten gekommen waren und die Türken vertrieben hatten. Die Kreuzfahrer

stürzten sich auf sie mit dem Schwert in der Hand und tilgten sie aus. Die Anführer der

Ungläubigen, die sich im Tempel zusammengedrängt hatten, wurden herausgerissen und

dem Tode überantwortet.

Der Patriarch folgte einer Straße, metzelte die Ungläubigen auf seinem Weg nieder,

und als er an der Kirche der Heiligen Auferstehung anlangte, klebten seine Hände vom

Blut am Knauf seines Schwertes. Er wusch sie und sang den Psalm: Der Gerechte wird

sich freuen im Herrn, wenn er schaut die Vergeltung, deren Diener er ist. Er wird wa-

schen seine Hände, die gefärbt sind vom Blut des Sünders (Ps 58[57], 11). Sodann feierte

er die Liturgie, indem er sagte, er habe sein Leben lang noch kein Opfer dargebracht, das

Gott wohlgefälliger gewesen sei.

Gottfried herrschte zu Jerusalem zwei Jahre, nach deren Ablauf Balduin sein Nachfol-

ger wurde, der den Thron 15 Jahre innehatte."140

Ein größerer Gegensatz zum Bild eines fern vom Kampfgeschehen heilig-mäßig sterbenden Greises, das Albert von Aachen zeichnet, als dieses blut-rünstige und abstoßende Szenario ist kaum vorstellbar. Nun haben aber alle, die diese Stelle bislang heranzogen, wenn sie über Symeon handelten, ohne sich dessen bewußt zu sein oder es für bedenklich zu halten, aus der armenischen Bearbeitung des Geschichtswerkes Michael des Syrers zitiert. Noch im 19. Jahrhundert war dies auch gar nicht anders möglich, weil man das syrische Original damals nicht kannte. Doch wurde dieses im Jahr 1888 von dem syrisch-unierten Patriarchen I.-E. Rahmani zu Edessa aufgefunden und 1899-1910 von J.-B. Chabot in vier Bänden ediert.141 Felix Haase unterzog sich in einem 1915 erschienenen Beitrag142 der Mühe, den ursprünglichen syrischen Text des Patriarchen Michael mit der vormals allein greifbaren armenischen Bearbeitung aus der Feder des Priesters Ishök (Isaak) zu vergleichen, die dieser im Jahr 1248 in der kleinarmenischen Patriarchenresidenz zu Romgla verfaßte. Dabei stellte sich heraus, daß der

1 4 0 RHC Hist. Arm. I, 311-409, dort: 329. 141J.-B. Chabot, Chronique de Michel le Syrien, 4 Bde., Paris 1899/1901/1905/1910

(ND Brüssel 1963). 1 4 2 F. Haase, Die armenische Rezension der syrischen Chronik Michaels des Großen,

OrChr N.S. 5 (1915) 60-82, 271-284.

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Armenier manches aus seiner Vorlage wegließ, dafür anderes hinzufügte, wofür er offenbar andere Quellen besaß. Nun hat diese Beobachtung nicht nur für die Aufzeichnungen über die Zeit vor dem Auftreten Mohammeds Gültigkeit, auf die Haase seine Untersuchung beschränkte. Sie bestätigt sich gerade auch hinsichtlich des oben zitierten Abschnitts. Er entspricht dem Kapitel VII im Buch XV des syrischen Originals.143 Dort aber folgt unmit-telbar auf die Nachricht vom Massaker der Kreuzfahrer unter den Musli-men nach der Erstürmung der Stadt die Notiz über ihre beiden ersten fränkischen Herrscher.144 Die phantastischen Behauptungen über den Patriarchen145 entpuppen sich also eindeutig als Sondergut des Armeniers. Angesichts dessen, daß Ishök bereits eineinhalb Jahrhunderte vom Gesche-hen entfernt ist und nicht einmal den Namen des betreffenden Patriarchen weiß, wird man seine Einlassungen nicht auf Symeon II. applizieren dürfen, wenn sie überhaupt irgendeinen Quellen wert haben.

Symeon mit Namen nennt hingegen ein weiterer armenischer Ge-schichtsschreiber, der dem berichteten Geschehen zeitlich wesentlich näher steht, nämlich Matthäus von Edessa, dessen Chronik die Jahre 952-1136 umfaßt. Für das Jahr 550 armenischer Zeitrechnung (= 24. Februar 1101-23. Februar 1102 A.D.) berichtet er146, das Lichtwunder, das sich alljährlich zum Osterfest zu Jerusalem im Heiligen Grab ereignet147, sei diesmal zu-nächst ausgeblieben, dann aber verspätet doch noch eingetreten.148 Den Bericht von diesem die Menschen stark erregenden Ereignis, von dem auch der lateinische Priester Fulcher von Chartres Kunde gibt149, nimmt Mat-thäus zum Anlaß, eine Reihe von nichtchalkedonischen und chalkedonisch-

1 4 3 Chabot III, 182-187. 1 4 4 Ebd. 185. 1 4 5 Auch Gautier mochte sie nicht glauben: Le synode des Blachernes (s. oben Anm.

34) 229 Anm. 78. 1 4 6 Ich zitiere nach dem Extrakt in RHC Hist. Arm. I, 4-150, dort: 55. Zu Matthäus

von Edessa und seiner Chronik: V. Inglisian, Die armenische Literatur, in: Hand-buch der Orientalistik I/VII: Armenische und kaukasische Sprachen, Leiden/Köln 1963, 156-250, dort; 191f; J. Muyldermans, L'historiographie armenienne, in: Le Museon 76 (1963) 109-144 pass.

1 4 7 Zu diesem bis heute sich alljährlich ereignenden Geschehen: B. Schmidt, Die Feier des heiligen Feuers in der Grabeskirche, Palästinajahrbuch 11 (1915) 85-118; R. Hartmann, Arabische Berichte über das Wunder des heiligen Feuers, Palästinajahr-buch 12 (1916) 76-94; K. Schmaltz, Das heilige Feuer in der Grabeskirche im Zu-sammenhang mit der kirchlichen Liturgie und den antiken Lichtriten, Palästinajahrbuch 13 (1917) 53-99.

1 4 8 Solche Verzögerungen traten immer wieder einmal ein und riefen beim Volk je-desmal starke Verwirrung und Unruhe hervor: Schmidt 91.

1 4 9 Historia Hierosolymitana lib. II cap. VIII, 2: H. Hagenmeyer, Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana (1095-1127), Heidelberg 1913, 395f. Ebd. Anm. 5 weitere Belege.

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orthodoxen Ersthierarchen aufzuzählen, die zu diesem Zeitpunkt ihres Amtes walteten, unter ihnen auch Symeon von Jerusalem.150

Matthäus von Edessa lagen also Nachrichten vor, denen zufolge Symeon II. noch zu Ostern 1101 Oberhirte der Heiligen Stadt war. Damit ist freilich nicht gesagt, daß er sich zu dieser Zeit noch in Jerusalem aufgehalten hätte. Schließlich befand sich auch Ioannes V., den Matthäus ebenfalls anführt, damals nicht mehr in seiner Residenzstadt Antiocheia. Uberhaupt lehrt der Parallel-Fall des Ioannes, daß es falsch wäre, aus der Erwähnung Symeons durch den Armenier an dieser Stelle allzu präzise chronologische Daten herauszulesen, hatte doch der antiochenische Patriarch schon im Oktober 1100151, bald nach seinem von den neuen lateinischen Herren erzwungenen Rückzug nach Konstantinopel, dort sein Amt offiziell niedergelegt. Bedeut-sam bleibt aber, daß Matthäus von Edessa nichts davon wußte, daß der Patriarchat des Symeon mit der Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfah-rer geendet hätte, noch davon, daß er gerade zu diesem Zeitpunkt, wo auch immer, verstorben wäre. Auch bei solcher Interpretation, welche bewußt eine Überdehnung ihrer Aussagekraft vermeidet, bleibt die besagte Stelle bei dem armenischen Chronisten eine bestätigende Stütze bereits gewonnener Erkenntnisse zur Vita des Patriarchen.

2. Briefe an säumige Kreuzfahrer

Im 1539 zu Paris erschienenen vierten Buch De rebus gestis Francorum des Paulus Emilius Veronensis findet sich ein Brief Patriarch Symeons II. an Papst Urban II. und die abendländischen Fürsten, in dem der Jerusalemer Oberhirte bewegte Klage führt über die ständigen Bedrängnisse und Leiden, die den Christen im Heiligen Land von den Türken zugefügt würden, viel schlimmer noch als zuvor von den Sarazenen. Die Abendländer sollten sich dessen bewußt sein, daß die Türken auch ihnen selbst noch gefährlich wer-den könnten, wenn sie ihnen nicht Einhalt geböten, solange noch Zeit dazu sei. Als Lohn für ihre Hilfe verspricht der Patriarch ihnen irdische König-reiche im Vaterland des Erlösers und die ewige Glückseligkeit mit dazu.152

1 5 0 Es handelt sich um Gregor II. Vahram von Kleinarmenien (1065/66-1105), Basilios von Großarmenien (1081/82-1113/14), Nikolaos III. von Konstantinopel (1084-1111), Ioannes V. Oxeites von Antiocheia (1087/89-1100), Symeon II. von Jerusalem und den jakobitischen Syrer Athanasios VII. (1090-1129).

1 5 1 Gautier, Jean V l'Oxite (s. oben Anm. 58) 132. Griechischer Text und französische Ubersetzung der Rückstrittserklärung: Ebd. 136-141.

1 5 2 Das lateinische Original stand mir nicht zur Verfügung. Darum zitiere ich nach der französischen Übersetzung bei: J.-E. Darras, Histoire generale de l'Eglise depuis la creation jusqu'a nos jours, Bd. XXIII, Paris 1875, 229f.

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Dieses Schriftstück soll jenes Schreiben sein, das der Patriarch nach Al-bert von Aachen153 dem französischen Eremiten Peter zusteckte, als der einige Jahre vor dem ersten Kreuzzug eine Wallfahrt nach Jerusalem unter-nommen habe. Doch gehört es zu deutlich dem zeitgeschichtlich-geistigen Umkreis der ersten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1529 an, als daß es seit Ende des 19. Jahrhunderts noch jemand allen Ernstes hätte für echt halten können154, zumal Heinrich Hagenmeyer gute Gründe für die Annahme vorgetragen hatte, daß Peters Reise selbst überhaupt nicht zum Ziel geführt hat.155

Nichtsdestoweniger hat derselbe Hagenmeyer zwei andere Schreiben in seine 1901 erschienene kritische Edition der "Kreuzzugsbriefe aus den Jahren 1088-1100" aufgenommen, die er selbst für echte Schreiben Symeons II. hielt.156 Als solche werden sie denn auch bis heute fast allgemein akzep-tiert und gelten als Belege besten Einvernehmens zwischen dem Patriarchen und den Kreuzfahrern im Vorfeld der Einnahme Jerusalems. Philipp Jaffe (1819-1870) freilich hatte seinerzeit das eine von ihnen mit dem Absender Ierosolymitanus patriarcha et episcopi tarn graeci quam latini universaque militia Domini et ecclesiae kurzerhand für eine Erfindung ("commentitiam esse hanc epistolam") erklärt und es für ganz unnötig gehalten, das zu begründen, weil es "minime difficile intellectu" sei.157 Den anderen Brief aber, den Patriarch Symeon und Bischof Ademar von Le Puy, päpstlicher Legat im Kreuzfahrerheer, gemeinsam abgesandt haben sollen, hielt der rumänische Historiker und Politiker Nicolae Iorga (1871-1940) für eine Fälschung, vor allem deshalb, weil ihm eine solche Einmütigkeit zwischen Lateinern und Orthodoxen, wie der Brief sie demonstriert, an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert nicht glaubhaft schien.158

Da unsere Untersuchungen die anderen bislang beigebrachten Hinweise auf die allgemeine Lateiner-Freundlichkeit des Patriarchen Symeon, zu denen die beiden besagten Briefe sich gut zu gesellen schienen, als nicht tragfähig erwiesen haben, wird der Eindruck Iorgas wie das intuitiv-apodik-tische Urteil Jaffes zum Anlaß, eine genauere quellenkritische Untersu-chung beider Briefe anzustellen.

Die Rezeptions- und Uberlieferungsgeschichte der beiden Schreiben ist denkbar unterschiedliche Wege gegangen. Das eine, als dessen Absender der Patriarch und der Bischof von Le Puy fungieren, hat sich nur in einer einzi-

1 5 3 Historia Hierosolymitana I, 4f.: RHC Hist. Occ. IV, 273. 1 5 4 Ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Schriftstück bei: P. Riant, Inventaire

critique des lettres historiques des croisades, in: Archives de 1'Orient Latin I, Paris 1881, 1-224, dort: 92-100.

1 5 5 Hagenmeyer, Peter der Eremit (s. oben Anm. 14) 53-86. 1 5 6 S. oben Anm. 3. 1 5 7 S. oben Anm. 4. 1 5 8 S. oben Anm. 4.

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gen Handschrift, dem Cod. 1405 (früher K 785) der Stadtbibliothek von Reims, erhalten.159 Er stammt aus der Abtei St. Thierry bei Reims, ist hauptsächlich hagiographischen Inhalts und wurde seinem Grundbestand nach im 10. Jahrhundert geschrieben. Zwei freigebliebene Stellen des Codex auf fol. 64v und am Ende auf fol. 209v wurden später, angeblich noch im 11. Jahrhundert, dazu genutzt, Schriftstücke, die mit dem ersten Kreuzzug in Zusammenhang stehen, niederzuschreiben, nämlich einen Brief der Kreuzzugsführer Bohemund, Raimund von St. Gilles und Gottfried von Bouillon (fol.

64v)i60 sowie das hier interessierende Schreiben des Patriar-

chen und des Bischofs (fol. 209^, beide ganz allgemein an die abendländi-sche Christenheit gerichtet. Während nun das Schreiben der weltlichen Kreuzzugsführer immerhin noch zwei andere Handschriften enthalten161, ist bis heute für das des Patriarchen und des Bischofs nur dieses eine Zeugnis bekannt, das offenkundig seinerseits nie der Weiterverbreitung dieses Schriftstücks gedient hat, sondern von Anfang an zu internen, rein archiva-lischen Zwecken an schwer auffindbarer Stelle angefertigt wurde. So ist es denn auch zu erklären, daß erst Wilhelm Arndt während einer Biblio-theksreise im Jahr 1868 von ihm flüchtige Notiz nahm und ein Jahrzehnt später gab162, und, dadurch aufmerksam geworden, Comte Paul Riant es 1881 erstmals edierte.163

Der französische Graf erkannte auch sofort den engen formalen und in-haltlichen Zusammenhang dieses Schriftstücks mit jenem anderen Kreuz-zugsbrief, der als Aufruf des Patriarchen von Jerusalem samt dem griechi-schen und lateinischen Episkopat im Abendland schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts weite Verbreitung gefunden hatte und der Geschichtswissen-schaft folglich altbekannt war. Seine breite Rezeption verdankte dieser Brief der Aufnahme in den berühmten Codex des Udalricus von Bamberg164, der allem Anschein nach als Lehr- und Musterbuch für Kanzlei-Notare konzi-piert ist165, und noch mehr seiner Hinzufügung als Vorspann oder als An-1 5 9 H. Loriquet, Cataloge generale des manuscrits des bibliotheques publiques de

France. Departements Bd. XXXIX: Reims Bd. II, Paris 1904, 595-600, dort: 599. 1 6 0 Ediert von Hagenmeyer, Die Kreuzzugsbriefe (s. oben Anm. 3) 153-155. Hagen-

meyer hält diesen Brief für das Machwerk eines fahnenflüchtigen Kreuzfahrers, der es in die Form eines von den Kreuzzugsführern stammenden excitatoriums kleidete, um seine eigene vorzeitige Rückkehr zu legitimieren.

1 6 1 Ebd. 1 6 2 W. Arndt, Reisebericht, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche

Geschichtskunde 2 (1877) 233-299 dort: 270. 1 6 3 Inventaire critique 221; Kommentar dazu: ebd. 152-155. 1 6 4 T. Reuter, Codex Udalrici, LexMA II (1983) 2209f. 1 6 5 W. Wattenbach - R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter.

Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Teil: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050-1125), 1940/43 (ND Darmstadt 1967) 439-442. Über die Stellung der insgesamt drei Kreuzfahrerbriefe im Codex Udalrici: K. Pivec, Studien und Forschungen zur Aus-

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 305

hang an zahlreiche Exemplare der vielgelesenen Historia Hierosolymitana des Robertus, der wahrscheinlich Mönch im Kloster St. Remi zu Reims war.166

Nun überliefern seine beiden Haupt-Vehikel das Schreiben in ganz ver-schiedenem Umfang. Während es die Handschriften des Codex Udalrici wie auch einige andere von diesem abhängige167 und unabhängige Zeugnisse in der längeren Variante bieten, schließt es als Zufügung zur Historia des Robertus nach dem ersten Drittel.168 Die Frage nach dem ursprünglichen Textbestand - sie ist von Riant und von Hagenmeyer konträr beantwortet worden169 - ist von der Uberlieferungsgeschichte her nicht zu entscheiden, weil beide Varianten bis ins beginnende 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen sind: Die kürzere ist der um 1120 geschriebenen Historia Hiersolymitana nach Ausweis der ältesten Handschriften von Robertus selbst oder einem zeitgenössischen Abschreiber beigefügt, die längere gehört zum ursprüngli-chen Bestand des um 1125 durch Udalrich von Bamberg redigierten und dem Würzburger Bischof Gebhard gewidmeten Kanzlei- und Schulbuches.

Die Uberlieferungsgeschichte beider Kreuzzugsbriefe, welche einen Pa-triarchen von Jerusalem an der Spitze eines Absender-Kollektivs nennen, schließt demnach eine späte Fiktion nach Art des bei Paulus Emilius Vero-nensis begegnenden Schriftstücks aus, läßt vielmehr ihre Herkunft aus dem Heerlager der abendländischen Ritter vor der Erstürmung der Heiligen Stadt als immerhin möglich erscheinen. Ob sie tatsächlich von dort stam-men, wird, wenn überhaupt, nur durch genaue Analysen von Sprache und Inhalt zu erweisen sein, die m.E. allen Schriftstücken gemeinsam gelten müßte, die, nachweislich um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert ver-faßt, vorgeben, von den geistlichen und weltlichen Anführern der Kreuz-fahrer zu stammen, und an keine konkreten Adressaten gerichtet sind, sondern allgemein zum Aufbruch weiterer dazu verpflichteter oder geeigne-ter Männer aus dem Abendland in den Orient zur Unterstützung der sich bereits dort befindenden Ritter und Kämpfer aufrufen.170 Diese Aufgabe ist

gäbe des Codex Udalrici. II. Teil: Der Codex Udalrici und die Kanzlei Heinrichs V., in: Mitteilungen des Osterreichischen Instituts für Geschichtsforschung 46 (1932) 257-342, dort: 322f.

1 6 6 Zur Historia Hierosolymitana und ihrem Verfasser: M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. III, München 1931, 424f. Zu den Manu-skripten der Historia, die den besagten Kreuzzugsbrief enthalten: Riant, Inventaire critique 156f.

1 6 7 Etwa die 1148 redigierten Annalen von Corvey, cod. 28: Ph. Jaffe, Monumenta Corbeiensia (= Bibliotheca Rerum Germanicarum Bd. I), Berlin 1864, 65.

1 6 8 Riant 156f.; vgl. auch Hagenmeyer, Kreuzzugsbriefe 72-75. 1 6 9 Riant 156f.; Hagenmeyer 68f. 1 7 0 Dazu gehört auch ein Brief mit dem Initium "Patriarcha et Balduinus I rex Hiero-

solymitanus omnes Christianos opem rogant", der große Ähnlichkeit mit dem an-

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306 Peter Plank

hier nicht zu lösen. Ihrem Gang und Ziel entsprechend soll sich die vorlie-gende Untersuchung vielmehr darauf beschränken, die beiden zur Debatte stehenden Schreiben auf ihre mögliche Beziehung zu Patriarch Symeon II. hin zu befragen, ein Unterfangen, das ihre Uberlieferungsgeschichte als sinnvoll erscheinen läßt.

Da eine solche Untersuchung vor allem aufgrund inhaltlicher Kriterien erfolgen muß, seien beide Stücke ganz in Ubersetzung geboten.

"S (oder D), Patriarch von Jerusalem, und H, Bischof von St. Marien in Puy, letzterer vor

allem, dem von Papst Urban die Sorge für das christliche Heer übertragen worden ist:

Gnade euch, Friede und ewiges Heil von unserem Gott und Herrn Jesus Christus!

Auf gemeinsamen Ratschluß hin senden wir zu euch, wir, die Kleriker mit den Bischö-

fen und die Mönche wie auch die Herzöge, Grafen und übrigen guten Laien, unter

beständigem Gebet für euer Seelenheil, damit ihr alle, die ihr in den nördlichen Ländern

wohnt, ohne Zögern zu uns kommt. Alle ermahnen wir so. Doch sollen von allen nur

jene kommen, die um ihres Heiles willen kommen wollen, die körperlich gesund sind

oder das nötige Reisegeld besitzen. Ihr könnt freilich mit Wenigem zu uns aufbrechen.

Alsdann aber wird der allmächtige Gott dafür sorgen, daß ihr von eurer Heimat aus

hergelangt.

In der Romania, liebste Brüder, befinden wir Christen uns. Über die große Stadt Nikäa

haben wir die Oberhand erlangt, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, und haben

sie unserer Herrschaft unterworfen. Drei Schlachten haben wir geschlagen. Von Nikäa

aus hat sich unser Heer in Richtung Antiochien in Bewegung gesetzt. Mehrere andere

Städte und Stützpunkte der Türken haben wir erobert. Wir haben 100 000 Reiter und

Gepanzerte. Aber was ist das schon? Wenige sind wir im Vergleich zu den Heiden.

Wirklich und wahrhaftig kämpft Gott für uns.

Dazu nun hört, Brüder, von dem Wunder, das ebenjener hochheilige Patriarch allen

Christen kundgibt, wie ihm der Herr selbst in einem Gesicht erschienen ist und denen,

die sich bei dieser Unternehmung mühen, versprochen hat, daß ein jeder von ihnen vor

ihm am schrecklichen Tage des Jüngsten Gerichtes sieggekrönt hervorgehen wird.

Ihr wißt aber sehr wohl, daß jene wahrlich exkommuniziert sind, die sich mit dem

heiligen Kreuz haben bezeichnen lassen, dann aber abtrünnig geworden und zu Hause

geblieben sind. So mahnen und beschwören wir euch bei ebenjenem heiligen Kreuz und

dem Grab des Herrn, daß ihr all jene mit dem Schwert des Bannes schlagt, wenn sie nicht

folgen und sich beeilen, damit auch sie am kommenden Osterfest dort in der Romania

sind, wo wir uns befinden. Gehabt euch wohl und gedenket unser, die wir uns Tag und

Nacht mühen! Betet für uns!"

geblichen Brief Bohemunds, Raimunds etc. aufweist und von Hagenmeyer (Kreuzzugsbriefe 83 und 306f.) ebenso für unecht angesehen wird wie von Jaffe (Monumenta Bambergensia 317). Natürlich ist hier unter dem patriarcha bereits der Lateiner zu verstehen.

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 307

In der Abschrift, die er für Paul Riants Publikation von diesem Brief aus dem damals mit dem Sigel K 785 bezeichneten Kodex anfertigte171, gab der Reimser Archivar Demaison die Initiale, mit der das Schreiben einsetzt, als D wieder. In einem Brief vom 17. März 1897 an Heinrich Hagenmeyer172

berichtigt er dann mit Entschiedenheit, es handle sich nicht um ein D, sondern um ein S. Doch welcher der beiden Buchstaben nun immer in der Handschrift geschrieben stehen mag, "patriarcha Hierosolymitanus" kann, als das Heer des ersten Kreuzzuges sich unter der geistlichen Leitung des päpstlichen Legaten H(ademar), Bischofs von Le Puy, "in Romania", d.h. in Kleinasien auf dem Weg von Nikäa nach Antiochien, befand, nur Symeon II. gewesen sein. Wiewohl aber seine Person, seines Ranges wegen oder aus welchem Grund auch immer, im Absender an erster Stelle steht, ist das Schreiben als solches freimütig vor allem (praecipue) als eines des provenza-lischen Bischofs gekennzeichnet. In der Tat bezieht sich das "nos" des Briefes durchwegs auf die geistlichen und weltlichen Kreuzfahrer aus dem Abendland und niemanden sonst. Sie sind es, welche die Stadt Nikäa er-obert, drei Schlachten geschlagen und unterwegs nach Antiochien weitere Städte und Stützpunkte eingenommen haben. Ein Heer von 100 000 Rei-tern und Gepanzerten sind sie, und Ademar ist nicht nur ihr oberster spiri-tus rector, sondern, ungeachtet seines geistlichen Amtes, auch einer ihrer militärischen Führer.

Das vor allem ist es, was ihn von Symeon scharf unterscheidet. Auch der Patriarch war eine führende Persönlichkeit, doch nicht der Kreuzfahrer, sondern der Melkiten, d.h. jener kirchlichen Gemeinschaft im muslimi-schen Machtbereich, die mit dem Kaiser in der rhomäischen Reichshaupt-stadt in Glaubensgemeinschaft stand und ihm als ihrem Protektor und potentiellen Befreier vom muslimischen Joch auch von jeher selbstverständ-liche politische Loyalität entgegenbrachte. Melkite zu sein hieß, im byzan-tinischen Kaiser den eigentlichen rechtmäßigen Herrscher über die eigene, von Fremdstämmigen und Andersgläubigen beherrschte Heimat zu sehen und zu ihm in einer ideellen und nach Möglichkeit auch tatsächlichen Verbindung zu stehen, die ständige Hoffnung und Gefährdung in einem bedeutete. Als führender Melkit hätte Symeon sich niemals mit abendlän-dischen Rittern einverstanden erklären können, die behaupteten, sie hätten die alte byzantinische Stadt Nikäa nicht nur den muslimischen Selguqen entrissen, sondern sie auch ihrer eigenen Herrschaft unterworfen (nostrae dicioni subegimus), was im übrigen nicht der Wahrheit entsprach, weil sie nicht nur vertragsgemäß gebunden waren, sie dem Kaiser - wie alle anderen Eroberungen auf ehemaligem Reichsgebiet - zu übergeben, sondern der Arm des Kaisers in diesem Fall auch noch lang und stark genug gewesen

1 7 1 Riant 152. 1 7 2 Hagenmeyer, Kreuzzugsbriefe 59.

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308 Peter Plank

war, sein Recht einzufordern und durchzusetzen.173 Doch verrät die zitierte Formulierung die wahre Einstellung der Kreuzfahrer, die sie dann auch alsbald, weit genug von Konstantinopel entfernt, zu Edessa, Antiocheia und schließlich in Jerusalem in die Tat umsetzten. Den melkitischen (zu deutsch: kaiserlichen) Patriarchen zu Jerusalem in dieser Sache für ihren erklärten Gesinnungsgenossen zu halten, würde eine völlige Verkennung der Anschauungen und der Mentalität chalkedonisch-orthodoxer Christen im Nahen Orient, vor allem ihrer Hierarchie und gar noch deren griechi-scher Mitglieder und Häupter, in dieser Zeit bedeuten.

Nicht weniger bedenklich mutet es an, einem orthodoxen Patriarchen zu unterstellen, er habe es als seine Sache betrachtet, Christen, die weit vom kanonisch definierten Gebiet seiner Kirche entfernt lebten und mithin ganz und gar nicht seiner Jurisdiktion unterstanden, wegen der tatsächlichen oder angeblichen Nichteinhaltung eines Gelübdes mit der Exkommunika-tion zu bedrohen, und das im Alleingang, ohne Absprache mit den anderen Patriarchen, mit denen er in kirchlich-hierarchischer Gemeinschaft stand, vielmehr zusammen mit einem Bischof einer Kirche, mit der diese Gemein-schaft damals unterbrochen war, wenn auch noch kaum jemand wissen konnte, daß sie auf Dauer zerbrochen war. Hinzu kommt, daß das Zustan-dekommen eines solchen Agreements zwischen dem melkitischen Patriar-chen und dem lateinischen Bischof auf einem Territorium zu denken wäre, das - zumindest in der Sicht Symeons - weder im kirchlichen Hoheitsbe-reich des einen noch in dem des anderen, sondern in dem des melkitischen Patriarchen von Antiocheia, Ioannes' V. Oxeites, lag, von dem bei alledem mit keinem Wort die Rede ist, der aber im Jahr 1097 ohne Zweifel in Antiocheia lebte.

Wenn nun Patriarch Symeon nicht nur keinen Anteil an der Abfassung des Briefes hatte, was daraus hervorgeht, daß von ihm im Text in der drit-ten Person die Rede ist, sondern davon auszugehen ist, daß er entweder von wesentlichen Inhalten des Schreibens keine Kenntnis hatte oder aber gar nicht wußte, daß der Brief auch und gar zuerst, in seinem Namen geschrie-ben wurde, so bleibt von der durch den Brief suggerierten Zusammenarbeit zwischen den Kreuzfahrern und Symeon nur mehr jene wunderbare Er-scheinung übrig, in welcher der Herr selbst dem Patriarchen den strahlen-den Ausgang des Jüngsten Gerichts für alle Kreuzritter (quisque procedet coronatus) geoffenbart haben soll.

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit auch dieser Nachricht ist nur dann richtig zu beantworten, wenn nicht vergessen wird, daß Symeon II. ein mel-kitischer Hierarch war, was seine geistige und geistliche Formung durch die byzantinisch-orthodoxe theologische Tradition miteinschließt. Zu dieser

1 7 3 Dazu: S. Runciman, The First Crusade: Constantinople to Antioch, in: K.M. Setton (Hrsg.), A History of the Crusades Bd. I, Philadelphia/Penn. 1955, 280-304.

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 309

Überlieferung aber gehört auch eine andere theologisch-ethische Haltung gegenüber dem Kriegshandwerk als die den abendländischen Kreuzfahrern gewohnte. Mit dieser aus der Väterzeit überkommenen Haltung war auf spektakuläre Weise der rhomäische Kaiser Nikephoros II. Phokas (963-969) konfrontiert worden, als er auf den Gedanken kam, seine im Kampf gegen die Muslime gefallenen Soldaten als Heilige und Märtyrer verehren zu las-sen. Der Ökumenische Patriarch Polyeuktos (956-970) und seine Synode lehnten ein solches Ansinnen strikt ab unter Hinweis auf den 13. Kanon des hl. Basileios, der für solche, die ihre Hände im Krieg mit Blut befleckt ha-ben, und sei es auch für Sitte und Glaube, einen Ausschluß von der eucha-ristischen Gemeinschaft auf drei Jahre vorsieht.174 In vollem Bewußtsein der Problematik, die dieser Väter-Kanon in einem christlichen Staatswesen hervorrufen muß, setzten sich berühmte byzantinische Historiker und Ka-nonisten mit dieser ererbten Norm und ihrer erneuten Adaptierung auf ein zeitgenössisches Problem durch die Kirche ihrer Epoche auseinander, unter ihnen Ioannes Skylitzes (1040-nach 1100)175, ein Zeitgenosse des Patriarchen Symeon, ebenso wie Ioannes Zonaras176 und Theodoros Balsamon177 als herausragende Gestirne des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert.

Die Frage nach der theologisch-ethischen Einschätzung des kriegerischen Kampfes gegen die Muslime, also ebenjenen Werkes, dem die Kreuzfahrer sich erklärtermaßen widmen wollten und widmeten, gehörte somit gerade in der byzantinischen Welt zu den virulenten Problemen der Zeit, deren Lösung man unter Zuhilfenahme altkirchlicher Normen unternommen hatte. Es ist völlig undenkbar, daß Patriarch Symeon II. von Jerusalem, dessen lebendige Teilnahme an den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit durch seinen Azymen-Traktat zur Genüge erwiesen ist, das kon-stantinopolitanische Synodalurteil unter Patriarch Polyeuktos, das auch und gerade seine eigene und nachfolgende Generationen byzantinischer Intellek-tueller der bleibenden Aktualität der Thematik wegen anhaltend beschäftig-te, nicht gekannt haben und die Aktivitäten der Kreuzfahrer statt dessen von deren eigener geistiger Warte aus beurteilt haben sollte.

Zwar spricht der Bericht von der Vision, die ihm zuteil geworden sein soll, nicht direkt von der Kanonisierung der abendländischen Heilig-Land-Befreier, doch ist die Rede von ihrer ausnahmslosen coronatio beim Jüng-sten Gericht auch nicht allzu weit davon entfernt. Berücksichtigt man

1 7 4 Grumel - Darrouzes, Regestes (s. oben Anm. 45) 302 (Nr. 790). Text des 13. Kanon des Basileios von Kaisareia in seinem Brief Nr. 188, der an Amphilochios von Iko-nion gerichtet ist: Migne PG 32, 681.

1 7 5 I. Thurn (Hrsg.), Ioannis Scylitzae Synopsis Historiarum (Fontes Historiae Byzan-tinae), Berlin 1973, 274f.

1 7 6 Ioannes Zonaras, Annales lib. XVI: Migne PG 135, 121. 1 7 7 Ioannes Zonaras und Theodoros Balsamon in ihren Kommentaren zum 13. Kanon

des hl. Basileios: Migne PG 138, 636-640.

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310 Peter Plank

darüber hinaus, daß zum Synodalurteil unter Polyeuktos wie zu seiner Re-zeption in der nachfolgenden kanonistischen und historischen Literatur nicht nur die Zurückweisung der Martyrerverehrung der im Kampf gegen die Muslime Gefallenen, sondern auch der Rückgriff auf die von Basileios empfohlene kirchliche Strafe für kriegerisches Blutvergießen ganz allgemein gehört, so ist der Verweis in dem lateinischen Brief des Ademar von Le Puy auf eine Patriarch Symeon II. zuteilgewordene Vision über den glänzenden Ausgang des Jüngsten Gerichts für alle Kreuzfahrer als nicht glaubwürdig, weil mit der Geisteswelt eines melkitischen Patriarchen dieser Zeit unver-einbar, zurückzuweisen.

Kann also der Brief, den der Reimser Codex 1405 auf seinem letzten Blatt bietet, in keiner Weise als Beleg für aktives Einvernehmen zwischen dem Jerusalemer Oberhirten und den Kreuzfahrern schon vor der Erobe-rung Antiocheias in Anspruch genommen werden, so ist nunmehr das weitverbreitete andere lateinische Schreiben, das den Patriarchen in ähnli-cher Weise mit dem abendländischen Ritterheer in Verbindung bringt, einer nicht weniger kritischen Betrachtung zu unterziehen:

"Der Patriarch von Jerusalem und die Bischöfe, griechische wie lateinische, samt dem

ganzen Heer des Herrn und der Kirche (wünschen) der Kirche des Westens die Gemein-

schaft am himmlischen Jerusalem und die Teilhabe am Lohn für ihre Mühe.

Weil uns durchaus nicht unbekannt ist, daß ihr euch freut über das Wachstum der

Kirche, und wir glauben, daß ihr gespannt darauf seid, sowohl Widriges als auch Günsti-

ges zu hören, tun wir euch den gedeihlichen Fortschritt folgendermaßen kund: Es sei

denn eurer Liebe bekanntgemacht, daß Gott seine Kirche über 40 größere Städte und

über 200 Niederlassungen hat triumphieren lassen sowohl in der Romania als auch in

Syrien, und daß wir bislang außer dem gemeinen Volk an die 100 000 Gepanzerte

besitzen, obwohl wir viele in den ersten Schlachten verloren haben. Aber was ist das

schon? Was ist einer gegen Tausend? Wo wir einen Grafen haben, da haben die Feinde 40

Könige, wo wir eine Abteilung, da die Feinde eine Legion, wo wir einen Krieger, da jene

einen Herzog, wo wir einen Fußsoldaten, da jene einen Grafen, wo wir ein Feldlager, da

jene ein Königreich. Wir aber haben nicht auf die Menge vertraut, weder auf

Truppenstärke noch irgendeine Vermessenheit, sondern durch den Schild Christi und die

Gerechtigkeit geschützt

a) haben wir Georgius, Theodorus, Demetrius und dem seligen Blasius, den Streitern

Christi, wahrlich uns anvertraut.

b) und von Georgius, Theodorus, Demetrius und dem seligen Blasius, den Streitern

Christi, wahrlich begleitet, haben wir die Schlachtordnungen der Feinde sicher durch-

brochen und durchbrechen sie weiter, und in fünf großen Feldschlachten haben wir, weil

Gott den Sieg errang, die Oberhand behalten.

Doch was weiter? Von Seiten Gottes wie von uns aus bitten ich, der apostolische

Patriarch, die Bischöfe und der ganze Stand des Herrn aufs inständigste, und ruft die Kir-

che, unsere geistliche Mutter: Kommt, meine geliebten Söhne, kommt zu mir und

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 311

empfangt von den Söhnen des Götzendienstes her, die sich gegen mich erheben, die

Krone, die euch von Anbeginn der Welt vorherbestimmt ist (vgl. Mt 25,34). Kommt also,

so bitten wir, um Kriegsdienst zu leisten im Heere des Herrn, an ebenjenem Ort, an dem

der Herr gekämpft hat, an welchem Christus für uns gelitten und euch ein Beispiel

hinterlassen hat, damit ihr seinen Spuren folgt (1 Petr 2,21). Ist denn nicht Gott schuldlos

für uns gestorben? Also wollen auch wir, wenn es nötig ist, sterben, nicht für ihn,

sondern für uns, damit wir, der Welt gestorben, leben für Gott.

Doch ist es für uns weder zweckdienlich zu sterben noch viel zu kämpfen. Denn wir

müssen, was schwieriger ist, standhalten, weil wir die Festungen und Städte besetzt

halten müssen, was das Heer sehr beeinträchtigt.

Kommt also, eilet den doppelten Preis in Empfang zu nehmen, das Land der Lebenden

(Ps 114 [116],9) nämlich und das Land, das von Milch und Honig fließt und von Lebens-

mitteln aller Art überquillt. Seht, ihr Leute, durch die Vergießung unseres Blutes stehen

allenthalben die Wege offen. Nehmt nichts außer dem, was ihr bis hierher benötigt. Nur

die Männer sollen kommen, die Frauen noch wegbleiben.

Aus einem Haus, in dem sich zwei befinden, soll einer, von Verpflichtungen frei, sich

zum Kampf begeben, zuvorderst freilich jene, die das Gelübde getan haben. Wenn sie

nicht kommen und ihr Gelübde erfüllen, so exkommunizieren wir sie, ich, der apostoli-

sche Patriarch, und die Bischöfe und der gesamte Stand der Orthodoxen, und stoßen sie

aus ganz und gar aus der Gemeinschaft der Kirche. Ihr aber sollt dasselbe tun, damit sie

nicht etwa ein Grab unter Christen erhalten, es sei denn, daß sie aus einem angemessenen

Grund zu Hause bleiben. Kommt und empfangt mit uns die doppelte Herrlichkeit! Das

schreibt auch ihr!"

Ihre Anfügung an die Historia Hierosolymitana des Robertus hat der kür-zeren Fassung dieses Textes zu weitaus größerer Verbreitung verholfen, als dies der längeren beschieden war. Doch ist mit Hagenmeyer178 dafür zu halten, daß der längere Text der ältere ist. Hätte das Schreiben tatsächlich ursprünglich mit dem Hinweis auf die vier angeführten Heiligen als Helfer im Kampf geendet, so wüßte man nicht zu sagen, zu welchem Zweck es eigentlich verfaßt worden ist. Auch trifft Riants Bemerkung, die Passagen, die sich nur in der längeren Version finden, seien ausschließlich homileti-scher Art und ohne historischen Belang179, zumindest für deren erste Zeilen nicht zu, die von fünf großen Feldschlachten berichten.

Sodann läßt die inhaltlich und sprachlich abrupte Art, in der die kürzere Variante zu Ende geht, auf ihren sekundären Charakter schließen. Während der absolute Ablativ militibus Christi nos vere comitantibus der längeren Fassung sich organisch deren Sinn- und Satzstruktur einfügt, indem er die Heiligen als begleitende Erscheinungen des entscheidenden Schutzes durch Christus im Kampf vorstellt, zieht die Ersetzung des Partizips comitantibus in der kürzeren Version durch das diese abschließende Wort committimus,

1 7 8 Hagenmeyer, Kreuzzugsbriefe 68. 1 7 9 Inventaire critique 156f.

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312 Peter Plank

also ein zwar phonetisch ähnliches, aber etwas ganz anderes bedeutendes Verbum in indikativer Form, die grammatische Funktionsänderung der Wendung militibus Christi zu einem Dativ und die sachlich schiefe Aufwer-tung der damit gemeinten Heiligen zu Hauptträgern der Hilfe von oben nach sich. Demgegenüber ist der umgekehrte Vorgang, nämlich die Rettung einer sprachlich und theologisch verkorksten Konstruktion durch den bloßen, dann schon genial zu nennenden, Austausch eines einzigen, näm-lich des letzten, Wortes des ursprünglichen Schreibens samt der dadurch zugleich ermöglichten Fortsetzung des Textes auf sachlich und stilistisch bruch- und problemlose Weise, so gut wie undenkbar.

Ist also aufgrund innerer Kriterien von dem weitaus längeren als dem ur-sprünglichen Text des Schreibens auszugehen, so zeigt sich im Aufbau, in der Wortwahl und in der Gedankenführung sofort seine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem oben bereits besprochenen Schriftstück. Beide beste-hen aus Absender samt Grußformel, Lagebericht, der Aufforderung an Säumige, aus der Heimat nachzukommen, der Verheißung göttlichen Loh-nes bei Befolgung und schließlich der Drohung mit der Exkommunikation bei Mißachtung des Aufrufs.

Bis in Einzelheiten hinein reichen Ubereinstimmungen und Ähnlichkei-ten. So mündet der Lagebericht, in dem von jeweils 100 000 (Reitern und) Gepanzerten (loricati) die Rede ist, beide Male in die rhetorische Frage: Aber was ist das schon (sed quid hoc)? - im Vergleich nämlich zur militäri-schen Ubermacht der Gegner, die aber jenen nichts anhaben kann, auf deren Seite Gott samt allen himmlischen Mächten kämpft. Der Vision des Patriarchen von der Krönung der Kreuzfahrer beim Jüngsten Gericht in dem einen Brief entspricht die Verheißung dieser Krone, "die euch von Anfang der Welt an vorherbestimmt ist", ohne eigene Vision, aber unter Anspielung auf dasselbe Gericht (Mt 25,34).

Die Schreiben enden mit der Exkommunikations-Drohung für jene, die dem Aufruf nicht folgen wollen, wobei zu beachten ist, daß beide Male dazu befugte Autoritäten im Empfangsgebiet - wohl der dortige Episkopat -aufgefordert werden, sich der Exkommunikations-Sentenz anzuschließen und sie gegebenenfalls durchzusetzen ("vos igitur ... eos omnes anathematis gladio percutiatis" bzw. "et vos idem facite"). Uberhaupt scheinen die Auto-ren beider Schreiben die höhere Geistlichkeit in der Heimat als Erst-empfänger und Multiplikator ("hoc itaque et vos scribite") im Auge gehabt zu haben. Tatsächlich ist dem schon erwähnten, ähnliche Ziele verfolgen-den Schreiben weltlicher Kreuzzugsführer, wie es sich im Reimser Codex 1405 fol. 64v erhalten hat, ein befürwortendes Postscriptum des Bischofs

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 313

Hugo von Grenoble (1053-1132) zugesetzt180, der als eifriger Förderer des Kreuzzugsgedankens bekannt ist.

Was nun hat der melkitisch-orthodoxe Patriarch Symeon II. mit alledem und in Sonderheit mit dem Schreiben zu tun, dessen Präskript den Iero-solymitanus patriarcha und episcopi tam graeci quam latini, also eine Art gemischter Bischofssynode unter seinem Vorsitz, als Absender einführt?

Vorweg sei gesagt, daß eine solche "Synode" aus Bischöfen, deren Kir-chengemeinschaft untereinander damals zumindest gestört war, unter dem Vorsitz eines Patriarchen, den man sich doch wohl immer noch als außer-halb seines eigenen Jurisdiktionsbereichs weilend denken müßte, schwer vorstellbar ist, und daß sich die Melkiten unter ihnen als Angehörige der chalkedonisch-orthodoxen Patriarchate von Antiocheia und von Jerusalem schwerlich selber als "graeci" bezeichnet hätten, was in jedem Fall ihrem Kirchenbegriff und zum Teil auch ihrer tatsächlichen nationalen und sprachlichen Zugehörigkeit widersprochen hätte. Es hätte auch nicht in ihre Vorstellungswelt gepaßt, daß die Kirche als solche ein Heer unterhielte. Am allerwenigsten aber hätten sie sich die Aussage zu eigen gemacht, daß die Kirche durch die militärischen Erfolge der Kreuzfahrer ein - offenkundig territorial verstandenes - Wachstum (incrementum) erfahren habe, waren sie doch selbst die legitimen Hirten jener Kirche, welche seit apostolischen Zeiten "tam in Romania quam in Syria", wo die Kreuzfahrer ihre Kämpfe ausgefochten hatten, bestand. Diese militärischen Erfolge konnten in ihren Augen auch nicht einfach Triumphe "der Kirche", geschweige denn ihrer eigenen Kirche sein.

Wie im oben analysierten Brief sprechen auch in diesem schon nach wenigen Zeilen ausschließlich die Kreuzfahrer selbst von ihren militäri-schen Erfolgen und Mißerfolgen, und das in einer Weise, die nie und nim-mer Bischöfen der einheimischen melkitischen Patriarchate in den Mund gelegt werden kann. Da hilft auch die Aufbietung typisch östlicher Krieger-Heiliger181 nichts mehr, zumal einer aus ihrer traditionellen Vierzahl, nämlich Prokopios, hier mit dem hl. Bischof Blasios von Sebaste vertauscht ist, der seinerseits niemals mit der Welt der Soldaten in Verbindung ge-bracht worden ist.182

1 8 0 Hagenmeyer, Kreuzzugsbriefe 83. 1 8 1 Sie wurden und werden im übrigen in der orthodoxen Kirche nicht etwa als Pa-

trone der Krieger verehrt, sondern als Märtyrer um des Glaubens willen, die dem Soldatenstand angehörten.

1 8 2 Vgl. dazu:H. Delehaye, Les legendes grecques des saintes militaires, Paris 1909 (ND New York 1975). Auch in den Gesta Francorum XXIX, 5 (Hagenmeyer [s. oben Anm. 139] 375) und in der wohl um 1130 verfaßten Historia Belli Sacri cap. 27 (RHC Hist. Occ. III, 183) werden östliche Krieger-Heilige als himmlische Helfer der Kreuzritter erwähnt, dort Georgius, Mercurius und Demetrius, hier Georgius, Demetrius und Theodorus.

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314 Peter Plank

So muß denn erneut und ausdrücklich das aus dem Ruder gelaufene Wort mittels der Wendung "Aber was weiter" (sed quid plura) an den Pa-triarchen zurückgegeben werden, was freilich mißlingt, weil er sich jetzt selber einen Titel beilegt, der bei orthodoxen Patriarchen im Gegensatz zum römischen Papst, der im Mittelalter häufig domnus apostolicus ge-nannt wurde, nie üblich war.183 Die Rede nun, die der Patriarch samt Epi-skopat und Klerus in eigener Verantwortlichkeit wie auch im Namen Got-tes und der Kirche an die künftigen Kreuzritter richtet, sprengt alles, was man einem halbwegs klar denkenden orthodoxen Theologen und melkiti-schen Hierarchen je zutrauen könnte.

Er verspricht den herbeizitierten Nachzüglern - wie schon in der angeb-lichen Vision - wiederum eine Krone. Da sie ihnen "ab initio mundi praede-stinata" ist, muß diese Krone etwas mit dem Reich zu tun haben, das der König beim Jüngsten Gericht laut Matthäus den Gesegneten seines Vaters zu Besitz gibt (Mt 25,34). Andererseits muß diese Krone zu diesem Zweck erst den Söhnen des Götzendienstes (idolatriae filiis) entrissen werden, welche der Kirche - wohl der Kirche von Jerusalem - so schlimm zugesetzt haben. Hier fließen offenbar irdisches und himmlisches Jerusalem in wirrer Weise ineinander und werden auf einmal in Aussicht gestellt. Patriarch Symeon hätte also seinem Versprechen der ewigen Seligkeit an die Kreuzrit-ter noch die Einladung hinzugefügt, die Muslime aus dem Heiligen Land hinauszuwerfen, um dort ihre eigene Herrschaft zu errichten.

Sodann wird der Erlöser-Tod des Herrn als Vorbild für den - nicht aus-zuschließenden - tödlichen Ausgang der bewaffneten Wallfahrt der Ritter bemüht. Doch als habe sich der Schreiber damit zu weit aus dem Fenster gelehnt, sucht er nun, die möglichen Folgen solchen Großmuts wieder in den Bereich des Erträglichen zurückzuschrauben. Zwar würde solches Ster-ben zum Leben bei Gott führen, doch sei solches eigentlich kaum mehr zu fürchten, weil es jetzt nicht mehr so sehr ums Sterben oder auch nur ums Kämpfen gehe, vielmehr "wir die Festungen und Städte besetzt halten müssen" - womit dem Patriarchen und seiner gemischten Synode schon wieder die Militärs und Logistiker ins Wort gefallen sind.

Nochmals versprechen die kirchlichen Synodalen den doppelten Preis, nämlich das jenseitige Land der Lebenden samt dem diesseitigen Land, das von Milch und Honig samt allen anderen Lebensmitteln fließt, und das - so merken wiederum die Ritter an -, obwohl sie den Weg dorthin ja schon in blutigen Schlachten freigekämpft hätten. Das Schlußwort immerhin hat dann doch der apostolicus patriarcha samt seinen Bischöfen und dem gan-zen ordo orthodoxorum, wer immer das auch sein mag: Exkommunikation

1 8 3 Hingegen war die Bezeichnung des Jerusalemer Bischofsstuhles als änooxoXiKbc^ Gpövoq durchaus gebräuchlich: G.W.H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 5. Aufl. 1978, 210f.

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 315

oder doppelte Herrlichkeit! So lautet die Alternative für jene, die immer noch zu Hause sitzen, obwohl sie so dringend in der Etappe gebraucht würden.

Patriarch Symeon II. hat mit diesem Brief und mit jenem andern einzig und allein insofern etwas zu tun, als jemand, der mit der Propagierung der Kreuzfahrer-Sache befaßt war, auf den Gedanken kam, die Autorität seines Amtes zu vereinnahmen, um den vermutlich schleppenden personellen Nachschub der Kreuzritter in größeren Schwung zu bringen. Ob diese Idee bei denen, die sie ansprechen sollte, zündete, wird kaum mehr nachzuprü-fen sein. Bei den Historiographen hat sie jedenfalls, trotz ihrer plumpen Ausführung, von Anfang an größten Erfolg gehabt. So erweisen sich die beiden analysierten Schriftstücke als erste Glieder einer ganzen Kette von Lügen und Legenden um den Patriarchen. Es wird noch danach zu fragen sein, zu welchem Zweck sie geschmiedet wurde.

3. Das Ringen um die Kreuzesreliquie

Wo, wann und von wem auch immer die beiden Kreuzzugsbriefe geschrie-ben worden sein mögen, in deren Absendergruppe der Patriarch von Jerusa-lem als erster aufgeführt wird, fest steht, daß sein Name in einem von ihnen gar nicht genannt ist, in dem andern aber - und auch das nur, wenn der Reimser Archivar Demaison bei seiner zweiten Autopsie der betreffenden Handschrift ein schärferes Auge besaß als bei der ersten - allein dessen Initiale steht. So erweist sich die Abhandlung eines anonymen Mönches des Allerheiligen-Klosters zu Schaffhausen am Oberrhein über die Herkunft wichtiger Reliquien in seiner Abtei als älteste lateinische Quelle, in der von Symeon II. ausdrücklich mit Namen die Rede geht. Sie ist nicht mehr im Autograph vorhanden, das um 1130 entstanden sein muß, sondern nur in einer einzigen Abschrift, deren Alter bislang nicht genau festgestellt werden konnte, nämlich auf fol. l v a -6 v ^ der Handschrift Nr. 10 der Ministerialen-bibliothek zu Schaffhausen.184 Diese Narratio de reliquiis in monasterium Scafhusense translatis185 gibt in ihrem ersten Teil ausführlich Auskunft darüber, wie die für das Kloster hochwichtigen Reliquien-Partikel vom heiligen Kreuz und vom Grabe Christi aus Jerusalem nach Schaffhausen gelangt seien:

Zur Zeit König Heinrichs IV. und Papst Urbans II. habe die Kirche, besonders jene des Heiligen Landes, schwer zu leiden gehabt. Der Papst

1 8 4 B.M. von Scarpatetti - R. Gamper - M. Stähli, Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, Bd. III: Die Handschriften der Bibliotheken St. Gallen-Zürich in alphabetischer Reihenfol-ge, Dietikon-Zürich 1991, 275.

1 8 5 Übertragung der Reliquien des hl. Kreuzes und Grabes (s. oben Anm. 16) 146-150.

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habe deshalb einen Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems von der Herrschaft der Muslime gepredigt, der auch zustande gekommen sei und zum Erfolg geführt habe.

"Zu dieser Zeit stand der Kirche von Jerusalem ein Patriarch namens Symeon vor, ein

Mann von herausragender Heiligkeit. So sehr er sich nun auch freute, als ihn die Kunde

von diesem Heereszug erreichte, und hoffte, daß das Erbarmen Gottes nun da sei, so

erfüllte ihn doch größte Furcht, die Zeichen des Leidens Christi, das allerkostbarste

Kreuzesholz nämlich und das Grab des Herrn, würden von dem frommen Heer, wenn es

eintreffe, aus religiöser Habsucht (religiosa aviditate) vollständig oder zum größten Teil

weggerafft. Damit nun die Kennzeichen Christi an dem Ort bewahrt blieben, an dem er

gelitten hat, beriet sich der vorgenannte Patriarch mit einem gewissen Samuel, Bischof

der Syrer (Syrorum episcopo), einem gottesfürchtigen und heiligen Mann, und nachdem

der Stein aus dem inneren Grabmal herausgewälzt war, der als Behältnis des Leibes

Christi gedient hatte, gruben sie ihn samt seinem Kreuz in der Erde ein und versteckten

ihn so, nachdem sie sich davon noch einige Stücke genommen hatten. Als nun die

Streiter Christi nach Eroberung und Säuberung der Stadt vom Unrat der Heiden

vernahmen, daß der himmlische Schatz, auf den sie ihre höchste Hoffnung gesetzt

hatten, von den vorgenannten Männern verborgen worden sei, und sie deren Sinn nicht

leicht zu seiner Preisgabe bewegen könnten, da bekräftigten sie mit einem Eid, sie

würden ihn mit nicht geringerer Sorgfalt bewahren, als er zuvor von ihnen behütet

worden sei. Weil nun aber die frommen Männer nicht etwa aus Bosheit oder Neid diesen

Schatz verborgen hatten, sondern einzig und allein deshalb, um ihn zu bewahren,

nahmen sie den Schwur der Sieger an und brachten ihn zur Ehre Christi wieder zum

Vorschein, wobei sie die Teile, die sie davon schon genommen hatten, unter sich teilten."

Nachdem also Jerusalem befreit und die Wege dorthin wieder gangbar gewesen seien, habe ein großer Pilgerstrom von Leuten beiderlei Ge-schlechts und unterschiedlichen Alters und Standes ins Heilige Land eingesetzt. Unter ihnen sei auch der Schaffhausener Abt Gerhardus mit einigen seiner Brüder gewesen, der die Absicht hatte, auf Dauer dort zu bleiben. Auch eine Schaffhausener Nonne namens Hedewic habe sich mit Zustimmung des Abtes Adalbert, der Gerhard im Amt nachgefolgt war, auf den Weg nach Jerusalem gemacht. Dort habe es sich ergeben, daß Hedewic in nähere Bekanntschaft (assidua familiaritate) mit dem damals schon hochbetagten und tieffrommen (longevum et sanctitate plenum) Bischof Samuel und einer Reklusen namens Emihilt getreten sei. Nach mehrjäh-rigem Aufenthalt habe Hedewic daran gedacht, wieder nach Hause zurück-zukehren - freilich nicht mit leeren Händen. Sie habe sich in den Kopf ge-setzt, Reliquien vom Kreuzesholz und vom Herrengrab mit nach Schaff-hausen zu nehmen. Mit Unterstützung Emihilts und anderer habe sie Bi-schof Samuel solange zugesetzt, bis er ihr schließlich "besiegt durch ihre inständigen Bitten" Partikel von seinem Anteil am Kreuz und Grab des Herrn überlassen habe. Hedewic sei am 28. Dezember 1125 in Schaffhausen

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eingetroffen. Um sich der Echtheit der von Hedewic mitgebrachten Reli-quien zu versichern, hätten sich einige Mönche nach Jerusalem auf den Weg gemacht. Dort hätten sie Bischof Samuel, die Rekluse Emihilt und andere Leute angetroffen, die das von Hedewic Berichtete bestätigt hätten.

Die Aufzeichnungen des Anonymus von Schaffhausen klingen glaub-würdig und weisen keinerlei Unstimmigkeiten auf. Doch stehen sie in dem, was sie über Patriarch Symeon berichten, in solch eklatantem Widerstreit zur herrschenden Meinung, die sich auf die oben analysierten Briefe und vor allem auf Albert von Aachen stützt, daß eine kritische Betrachtung gerade dieser Quelle unerläßlich ist.

Hedewic dürfte Nonne im Kloster St. Agnes gewesen sein, das, zwischen 1080 und 1092 am Ostrand der Stadt Schaffhausen gestiftet, der Leitung des Abtes von Allerheiligen unterstand.186 Abt Gerhard, dessen Ubersiedlung ins Heilige Land der Anonymus erwähnt, hatte der Abtei nur kurze Zeit (1096-1098) vorgestanden und ihre Leitung großer interner Schwierigkeiten wegen, die er nicht beilegen konnte, niedergelegt.187 Ihm folgte Adalbert von Metzingen (1099-1131) im Amte nach, von dem Hedewic die Erlaubnis zu ihrer Wallfahrt ins Heilige Land erhielt. Ihm wurde nachgesagt, er sei am Sturz seines Vorgängers nicht unbeteiligt gewesen.188 Möglicherweise hat Hedewic, um nicht zwischen die Fronten zu geraten, den näheren Kontakt zu Gerhard gemieden, obwohl dieser schon seit dem Jahr 1100 als prior Sancti Sepulcri eines der angesehensten geistlichen Ämter im Königreich Jerusalem bekleidete und somit allernächsten Zugang zu den insignia des Todes und der Auferstehung Christi hatte, nach denen der Schaffhausener Nonne der Sinn stand.189 Gerhard, der das Heilige Kreuz schon in der Schlacht von Ramleh gegen die fatimidischen Truppen getragen hatte, hielt es denn auch durchaus für sein Recht, sich selbst mit Partikeln davon zu versorgen. Doch gelangten diese nach seinem Tode um das Jahr 1130 nicht etwa in seine ehemalige Abtei am Rheinfall, sondern in das Württembergi-sche Kloster Zwiefalten.190 Sein offenbar auf Dauer gespanntes Verhältnis zu Schaffhausen mag erklären, warum Hedewic nicht über ihn, sondern durch den Syrer-Bischof Samuel zu ihren heiß ersehnten Reliquien kam.

Was nun das rechte Verständnis der Nachrichten der Schaffhausener Relatio de reliquiis über Patriarch Symeon anbelangt, so erweist sich dieser Bischof Samuel als Schlüsselfigur, weil Hedewic das, was sie über die

1 8 6 Zu den beiden Schaffhausener Klöstern: E. Schudel, Allerheiligen in Schaffhausen, in: Helvetia Sacra Abt. III, Bd. 1/3, Bern 1986, 1490-1535; sowie: R. Frauenfelder, St. Agnes in Schaffhausen, ebd. 1941-1951.

1 8 7 Schudel 1513f. 1 8 8 Ebd. 1514f. 1 8 9 Baumann, Die ältesten Urkunden (s. oben Anm. 16) 165f. 1 9 0 A. Frolow, La relique de la Vraie Croix. Recherches sur le developpement d'un

culte (= Archives de 1' Orient Chretien 7), Paris 1961, 324.

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Schicksale der Kreuzes- und Grabesreliquien zur Zeit der Einnahme Jerusa-lems wie über die Rolle, die das Oberhaupt der melkitischen Kirche im Heiligen Land dabei spielte, nach ihrer Rückkehr zu berichten wußte, kaum von jemand anderem als dem episcopus Syrorum selbst erfahren haben kann, der all das nicht nur unmittelbar miterlebt, sondern sogar aktiven Anteil daran genommen hatte. Da der lateinische Sprachgebrauch der gesamten Kreuzfahrerzeit unter Syri, Suriani, auch Assyri ausschließlich chalkedonisch-orthodoxe Christen arabischer Zunge, also Melkiten semiti-schen Volkstums versteht191, ist auch klar, was man sich unter einem epis-copus Syrorum vorzustellen hat. Samuel war ein melkitischer Bischof sy-risch-arabischer Herkunft, der zum Episkopat des griechischen Patriarchen Symeon gehörte192 und diesem allem Anschein nach als eine Art Hilfs-bischof bei der seelsorgerischen Betreuung der arabisch-sprachigen Melkiten in der Stadt Jerusalem zur Seite stand. So ist auch leicht erklärlich, wieso gerade er dem Patriarchen angesichts des herannahenden Kreuzfahrer-Heeres dabei half, die Kreuzes- und Grabesreliquie zu verstecken.

Die Nonne Hedewic hat mit Samuel in den Jahren vor 1125, als dieser bereits in vorgerücktem Alter war, in vertrautem Umgang gestanden, und Schaffhausener Mönche haben ihn noch danach lebend in Jerusalem ange-troffen. Er muß es verstanden haben, sich mit der neuen weltlichen und geistlichen Obrigkeit in einer Weise zu arrangieren, die seinen Verbleib im Heiligen Land und sogar in der Heiligen Stadt ermöglichte. Dabei mag ausschlaggebend gewesen sein, daß er schon vor der Ankunft der Kreuzfah-rer keinem eigenen bischöflichen Sprengel vorgestanden und folglich auch unter ihnen keinerlei jurisdiktionelle Eigenständigkeit beansprucht hatte, so daß er sogar geeignet erscheinen konnte, seine bisherige Tätigkeit unter seinen Volksgenossen unter der Autorität des lateinischen Patriarchen mehr oder weniger unauffällig fortzusetzen.

1 9 1 A.-D. v. den Brincken, Die "Nationes Christianorum Orientalium" im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Kölner Historische Abhandlungen Bd. 22), Köln/Wien 1973, 76-103; J. Nasrallah, Syriens et Suriens, in: Symposium Syriacum 1972, celebre dans les jours 26-31 octobre 1972 ä l'Institut Pontifical Oriental de Rome. Rapports et Com-munications (OCA 197), Rom 1974, 487-503, bs. 490-494. Der Angelsachse Saewulf, der 1102/1103 eine Wallfahrt ins Heilige Land unternahm, nennt die semitischen Melkiten assiri. Ausgabe seines nur in einer einzigen Handschrift erhaltenen Pilger-berichts: S. de Sandoli, Itinera Hierosolymitana crucesignatorum (saec. XII-XIII), Bd. II: Tempore regum Francorum (1100-1187) (= Studium Biblicum Franciscanum, Collectio Maior N. 24), Jerusalem 1980, 6-30.

1 9 2 Verfehlt ist also die Einreihung Samuels unter den nicht-chalkedonischen (jakobitischen) Episkopat bei G. Fedalto, Hierarchia Ecclesiastica Orientalis. Series episcoporum ecclesiarum christianarum orientalium. II.: Patriarchatus Alexan-drinus, Antiochenus, Hierosolymitanus, Padua 1988, 1006.

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Jedenfalls scheint es so, als ob sich im Bericht der Schaffhausener Nonne Hedewic über die Herkunft der von ihr aus Jerusalem mitgebrachten Reli-quien vom Kreuz und vom Grab Christi ein Zeugnis aus höchst berufenem Mund, dem seines Hilfsbischofs Samuel nämlich, über das tatsächliche Geschick und Verhalten des melkitischen Patriarchen Symeon im Sommer des Jahres 1099 erhalten habe.

Wir müßten es bei dieser Wahrscheinlichkeit belassen, fänden sich nicht Stellen bei lateinischen Kreuzzugs-Chronisten, welche die Aussagen Hede-wics bzw. ihres Gewährsmannes Samuel stützen, die aber auch ihrerseits, mit ihnen konfrontiert, ihren eigenen tatsächlichen Hintergrund erst offen-baren.

Das älteste Werk, das von der Suche der Kreuzfahrer nach dem versteck-ten hl. Kreuz und seiner Auffindung berichtet, ist die Historia Francorum qui coeperunt Jerusalem des Raimund von Aguilers, Kanonikers in Le Puy.193 Er begleitete den Grafen Raimund von Toulouse als dessen Kaplan auf dem Kreuzzug und begann schon unterwegs mit seinen Aufzeichnun-gen, die mit der Schlacht von Askalon am 12. August 1099 enden. Mit größter Mißbilligung berichtet er von der Erhebung Arnulfs von Chocques zum Patriarchen und fährt dann fort:

"Nachdem nun Arnulf diese Machtstellung erlangt hatte, begann er bei den Einwohnern

der Stadt nachzuforschen, wo sich das Kreuz befinde, das die Pilger vor der Einnahme Je-

rusalems zu verehren pflegten. Jene weigerten sich aber und wollten durch Eid und

andere Aufweise glaubhaft machen, sie wüßten es nicht, bis sie schließlich doch dazu ge-

zwungen wurden (tandem coacti sunt) und folgendermaßen sagten: 'Es ist offenkundig,

daß Gott euch erwählt und aus allen Triibsalen befreit hat, daß er euch diese Stadt und

viele andere geschenkt hat, nicht durch die Kraft eurer Tüchtigkeit, sondern indem er die

Gottlosen in ihrer eigenen Raserei verblendete und euch überaus stark befestigte Städte

öffnete, ja daß er selbst als eurer Anführer und Herr furchtbare Schlachten für euch

schlug. Da wir nun sehen, wie beständig Gott mit euch ist, sollten wir da seine Wohlta-

ten vor euch verbergen?' Dann führten sie sie zu einem Kirchen-Atrium. Dort gruben sie

(die Reliquien) aus und übergaben sie ihnen."

In Grundzügen bestätigt also Raimund die Darstellung des Anonymus von Schaffhausen: Als die Kreuzfahrer Jerusalem eroberten, lagen das heilige Kreuz sowie Reliquien vom Grabe Christi in einem Versteck, das die Ver-treter der melkitischen einheimischen Kirche nur sehr ungern preisgaben. Das panegyrische Lob auf die Abendländer, das ihnen Raimund in den Mund legt, kann nicht davon ablenken, daß er die unerfreulichen Umstän-de dieser Herausgabe im Grunde noch ungeschminkter schildert, als sie in der Schaffhausener Uberlieferung zutage treten. Die christlichen incoli wollten demnach den Aufbewahrungsort der Reliquien auf jeden Fall ge-

1 9 3 Zu Raimund: Hagenmeyer, Fulcheri Carnotensis Historia (s. oben Anm. 149) 66f. Historia Francorum qui coeperunt Jerusalem XXI: RHC Hist. Occ. III, 302.

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heimhalten und behaupteten deshalb sogar allen Ernstes, ihn selber nicht zu kennen. Was schließlich ihren entschlossenen Widerstand brach, spricht der Chronist offen aus: coacti sunt. Dabei fällt auf, daß Raimund nichts Nähe-res darüber sagen kann oder will, um wen es sich bei diesen coacti handelte.

Sehr viel genauere Auskunft gibt gerade in diesem Punkt die Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres (1059-1127/28), obwohl er zur Zeit der Geschehnisse, um die es hier geht, Jerusalem noch nicht gesehen hatte. Fulcher kam erstmals im Gefolge Balduins, des Grafen von Edessa, Ende 1099 in die Heilige Stadt und ließ sich endgültig dort nieder, als dieser seinem Bruder Gottfried im Jahr darauf in der Herrschaft nachfolgte.195 Er mußte sich also auf die Aussagen anderer stützen, wenn er schreibt:

Placuit tunc Deo, quod inventa est particula una crusis dominicae in loco secreto, iam ab

antiquo tempore a viris religiosis occultata, nunc autem a quodam homine Syro, Deo

volente, revelata, quam cum patre suo inde conscio diligenter ibi et absconderat et

conservarat.196

Sprachlich und sachlich erscheint diese Stelle aus Fulchers zwischen 1101 und 1105 geschriebenem Bericht197 einigermaßen verworren, so daß eine Ubersetzung ohne überkleisternde Glättung kaum gelingen kann. Uber die Verbergung der Kreuzesreliquie scheinen ihm zwei verschiedene Versionen vorgelegen zu haben198, die er ohne Geschick miteinander zu verbinden suchte. Die eine behauptete, das heilige Kreuz sei schon vor alters von nicht näher bekannten frommen Leuten versteckt worden, was in etwa an Rai-munds Darlegung erinnert und darauf aufmerksam macht, daß dessen For-mulierung, das Kreuz sei ante captam Jerosolimam verborgen worden, bei einiger Phantasie so gedeutet werden konnte, als sei damit eine der vielen früheren Einnahmen Jerusalems, wenn nicht gar die durch den Kalifen Omar im Jahr 638 gemeint. Die andere hingegen vermeldete, einunddersel-be Mann habe die hochkostbare Reliquie zusammen mit seinem Vater weg-geschafft, der sie dann auch wieder hervorgeholt habe. Die Schaffhausener Relatio de reliquiis nun öffnet die Augen für die Identität dieses homo Syrus wie auch für die seines "Vaters", mit dem zusammen er die Kreuzes-Par-ticula "sorgfältig versteckt und aufbewahrt hatte".

Hatte Raimund nichts über die Rolle des Syrers und seines Vaters in dem Ringen zwischen Melkiten und Lateinern um die Kreuzesreliquie im Som-mer des Jahres 1099 gewußt oder verlauten lassen, so hielt Fulcher, der

1 9 5 Hagenmeyer, Fulcheri Carnotensis Historia 6-9. 1 9 6 Historia Hierosolymitana lib. I cap. XXX, 4: Hagenmeyer (s. oben Anm. 149) 309f. 1 9 7 Der ursprüngliche Umfang des von Fulcher später fortgesetzten Werkes reichte bis

lib. II cap. XXXIII und wurde 1105 abgeschlossen: Hagenmeyer 45. 1 9 8 Der Harmonisierungsversuch Hagenmeyers (a.a.O. 310 Anm. 12), in der Annahme

bestehend, der noch lebende Syrer sei "einer der letzten" gewesen, die damit betraut waren, die Partikel vor den Nichtchristen verborgen zu halten, kann nicht überzeugen.

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Raimunds Schrift nachweislich gekannt und benutzt hat199, es offenbar nicht für tunlich, den Umstand weiter zu tradieren, sie seien dabei coacti gewesen - was Lateinern gegenüber besonders hervorzuheben übrigens auch Bischof Samuel in seiner Lage nicht mehr geraten erschienen sein mag. In Zusammenschau aber bieten Raimund von Aguilers und Fulcher von Char-tres nichtsdestoweniger eine deutliche Bestätigung für die Glaubwürdigkeit dessen, was der Anonymus von Schaffhausen berichtet.

Was indes beide Kreuzzugs-Chronisten hinderte, Namen und kirchli-chen Rang derer mitzuteilen, die die so sehr begehrten Heiltümer im Besitz der melkitischen Kirche halten wollten und es doch nicht vermochten, kann nur eine undurchdringliche Mauer des Schweigens sein, mit der die neuen Herren über Jerusalem das tatsächliche Geschick der melkitischen Hierarchie und besonders ihres Hauptes, des Patriarchen Symeon, umga-ben, sei es, daß sie als offiziöse Historiographen diese Mauer selbst mitauf-gerichtet haben, sei es, daß es auch ihnen nicht gelang, sie zu durchbrechen. Albert von Aachen schließlich bietet ein Beispiel für jene geglättete, von Irritationen völlig freie Sicht der Dinge, die fern von Ort und Zeit des Geschehens sich bilden konnte, wenn nicht mußte: Nachdem Gottfried zum Herrscher über Jerusalem erhoben worden war, habe ein einheimi-scher Christ, fromm und im Gesetz Christi bestens unterwiesen, sich ge-meldet und kundgetan, er habe die jerusalemische Kreuzesreliquie seinerzeit verborgen, damit die Sarazenen sie nicht verunehren könnten, und wolle nun anzeigen, wo sie liege.200

Über die tatsächlichen konkreten Umstände des Ubergangs der zentra-len Heiltümer der Kirche von Jerusalem in die Hände der Lateiner wußten unter diesen Bedingungen wohl schon bald nur mehr führende Kreise der Melkiten in Jerusalem Bescheid. Deren Sicht der Dinge ist - wenigstens umrißhaft - in dem Bericht der Nonne Hedewic erhalten geblieben. Auffal-lende, ansonsten kaum zu deutende Details im frühesten chronistischen Schrifttum der Kreuzfahrer bestätigen und ergänzen das, was Hedewic von Bischof Samuel darüber persönlich erfahren hat.

Somit kann als erwiesen gelten, daß Patriarch Symeon II. sich in Jerusa-lem befand, als die Kreuzfahrer die Stadt eroberten. Seine Befürchtungen hinsichtlich ihrer "religiosa aviditas" dürften durch das, was dann geschah, weit übertroffen worden sein. Die Hab- und Herrschsucht der Lateiner be-schränkte sich nämlich keineswegs auf die insignia des Sterbens und Aufer-stehens Christi. Wenn Raimund von Aguilers berichtet, Peter von Narbon-ne, mit dessen Erhebung zum Bischof von Albara, im Patriarchatsgebiet von Antiocheia gelegen, die Errichtung einer lateinischen Hierarchie im

1 9 9 Hagenmeyer a.a.O. 66f. 2 0 0 Historia Hierosolymitana lib. VI cap. XXXVIII: RHC Hist. Occ. IV 488f.

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Orient begonnen hatte201, habe sich nach der Eroberung Jerusalems die do-mus patriarchalis zur Bleibe erkoren, und er habe mit eigenen Augen gese-hen, wie der Bischof eine Menge Waffen in das Haus habe hineinschaffen lassen202, so fragt man sich, wo der bisherige Hausherr geblieben sein mag.

Diese Frage bleibt unbeantwortet, ebenso jene, wie im Zuge der Wahl Arnulfs von Chocques zum Patriarchen mit dem bisherigen Amtsinhaber umgegangen worden ist. Immerhin sah sich Raimund in der Lage, mitzutei-len, was mit dem Klerus Symeons geschah, der an der Grabeskirche diente: Er habe seine Ämter und die damit verbundenen Einkünfte verloren.203

Angewidert von solchem Vorgehen teilt der provenzalische Kanoniker auch den Namen dessen mit, der seiner Wahrnehmung und Ansicht nach als Drahtzieher hinter all diesen Machenschaften stand: Arnulf, normannischer Bischof von Martorano in Unteritalien204, der seine eigene Hand, ohne jemanden zu fragen, auf die Geburtskirche in Bethlehem legte, doch wenig später Sarazenen in die Hände fiel und nie mehr auftauchte.205

Doch zeigte auch der neugekürte Vogt des Heiligen Grabes aus Lothrin-gen Interesse an Kirchengut und Herrschaftsrechten des melkitischen Patri-archats. Gottfried von Bouillon hat anscheinend das gesamte Stadtviertel, das unter den Muslimen der Verwaltung und Aufsicht des Patriarchen un-terstanden hatte206, seinem eigenen unmittelbaren Herrschaftsbereich zuge-schlagen. Davon berichtet Daimbert von Pisa, der zu Ende des Jahres 1099 mit Zustimmung des Papstes an die Stelle Arnulfs von Chocques getreten war. In einem Brief an Bohemund von Antiochien, den Wilhelm von Tyrus in seinem Geschichtswerk überliefert hat, zeigt er sich entrüstet darüber, daß Herzog Gottfried nur mit allergrößter Mühe dazu zu bewegen war, den Kirchenbesitz herauszugeben, "den zur Zeit der Türken jener besessen hatte, der damals Patriarch war"207.

Als ob er ihn nicht wüßte, meidet es Daimbert von Pisa in betont di-stanzierter Ausdrucksweise, den Namen des melkitischen Patriarchen zu nennen, für dessen Nachfolger er sich hielt und dessen Stellung und Befug-nisse er ungeschmälert für sich beanspruchte. Hier wie in den anderen ange-führten einschlägigen Zeugnissen zeichnet sich gegenüber Symeons Person eine Haltung ab, die an eine damnatio memoriae erinnert. Sie schloß, wie es scheint, die maßgeblichen Magnaten des Königreichs Jerusalem und ihre

2 0 1 Gesta Francorum XXXI, 1: Hagenmeyer (s. oben Anm. 17), 392f. 2 0 2 Historia Francorum XX: RHC Hist. Occ. III, 301. 2 0 3 Historia Francorum XXI: RHC Hist. Occ. III, 302; bestätigt von Matthäus von

Edessa: RHC Hist. Arm. I, 54f. 2 0 4 Historia Francorum XXI: RHC Hist. Occ. III, 302. 2 0 5 Historia Francorum XX: RHC Hist. Occ. III, 301. 2 0 6 Vgl. dazu Wilhelm von Tyrus, Chronicon IX, 16-18: Huygens (s. oben Anm. 15)

441-445. 2 0 7 Ebd. X, 4: Huygens 456.

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Ratgeber in dessen ersten Jahrzehnten zu einer geschlossenen Front zu-sammen. Erst auf diesem düsteren Hintergrund offenbart sich der histori-sche Wert des Pilgerberichts der Schaffhausener Nonne Hedewic, der mit einem Schuß Naivität ein Stück einer ansonsten streng und erfolgreich verschwiegenen Wahrheit preisgibt.

4. Eine Kette von Lügen und Legenden

Am meisten erstaunt zunächst, daß auch jener Autor den Namen des Patri-archen Symeon nicht nennt, der sich an einigen Stellen seines Werkes in fast epischer Breite über ihn ergeht und sich ehrfürchtig vor ihm verneigt, nämlich Albert von Aachen. Mag Alberts Stil sein eigener sein, so kann er, der das Heilige Land nie mit eigenen Augen gesehen hat, doch nur wieder-geben, was er, vielleicht in einer ihm vorliegenden verlorenen Chronik lothringischer Herkunft, gelesen oder von andern gehört hat.208 Das Gele-sene oder Gehörte nun zeigte den namenlosen Patriarchen von Jerusalem in zwei Rollen, nämlich zum einen als Gesprächspartner des Kreuzzugsagita-tors Peter von Amiens im Vorfeld der großen Unternehmung209 und zum andern als von seinem Sitz vertriebenen Helfer der Kreuzritter in ihrem Kampf um die Heilige Stadt, der just in dem Augenblick stirbt, als er wieder hätte dorthin zurückkehren können und sollen.210

Wie wenig dies alles mit den tatsächlichen Ereignissen zu tun hat, zeigen Hagenmeyers Forschungen über Peter von Amiens211 wie die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung. Doch wäre es kurzsichtig, die Akte mit dieser Feststellung zu schließen. Denn in dem, was Albert von Aachen über Symeon zu sagen weiß, wird deutlicher als irgendwo sonst, wie sehr die reale Person des Patriarchen den Gründern des lateinischen Königreichs Jerusalem im Wege stand und wieweit sie bereit waren zu gehen in dem Bemühen, statt seiner eine imaginäre Figur zu erfinden, deren Wollen, Handeln und Schicksal sich ganz nach ihren eigenen Wünschen richtete. Nichts kann dies klarer machen als der zusammenhängende Wortlaut bei-der Passagen in Alberts Werk, der hier in der trefflichen Übersetzung von H. Hefele aus dem Jahr 1923 geboten sei:

"Dieser Priester (sc. Peter von Amiens) nämlich war einige Jahre vor Beginn dieses Zuges

nach Jerusalem gewallfahrt, um dort zu beten. Da mußte er in der Kirche des Heiligen

Grabes, ach, Dinge sehen, so sündhaft und böse, daß sein Herz voll Trauer aufseufzte,

und er Gott zur Rache für das geschaute Greuel aufrief. Und schließlich, tief bewegt

durch dieses üble Treiben, ging er zum Patriarchen der heiligen Kirche von Jerusalem

2 0 8 R. Hiestand, Albert von Aachen, LThK 3 I, 1993, 329. 2 0 9 Historia Hierosolymitana I, II-V: RHC Hist. Occ. IV, 272-273. 2 1 0 Historia Hierosolymitana VI, XXXIX: RHC Hist. Occ. IV, 489. 2 1 1 S. oben Anm. 14.

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und fragte ihn, warum es den Heiden und Ungläubigen erlaubt sei, die heiligen Stätten

zu beschmutzen, aus ihnen die Gaben der Gläubigen wegzuschleppen, als Ställe die Kir-

chen zu benutzen, die Christen zu schlagen und die frommen Pilger durch Auferlegung

ungerechter Abgaben auszuplündern und mit tausenderlei Bedrückungen zu quälen.

Der Patriarch aber und ehrwürdige Priester vom Heiligen Grabe gab ihm darauf die

fromme und wehmütige Antwort: 'O du getreuester der Christen, was ängstigst und

quälst du mit dieser Frage mein väterliches Herz? Ist doch meine Kraft und Macht nicht

mehr als eine klein winzige Ameise gegenüber dem Ubermut dieser Heiden. Ich muß ja

selbst mit Gaben ohne Ende mir mein Leben erkaufen, wenn ich es von Marter und Tod

erretten will. Aber ärger nur von Tag zu Tag, so fürchte ich, wird unsere Lage werden,

wenn nicht die Christen endlich Hilfe bringen. Dich sende ich, sie darum zu bitten.'

Da gab Peter zur Antwort: 'Ehrwürdiger Vater, ich habe genug selbst erfahren. Jetzt

sehe und merke ich wohl, wie schwach die Macht der Christen ist, die hier mit dir woh-

nen, und wie ihr zu leiden habt unter den Bedrückungen der Heiden. Darum will ich

jetzt mit Gottes Gnade und in Gottes Geleit heimwärts reisen, eurer Befreiung und der

heiligen Orte Erlösung zuliebe, und wenn ich glücklich heimgelangt bin, will ich zuerst

den apostolischen Herrn (domnum apostolicum) aufsuchen und dann alle Großen der

Christenheit, Könige, Herzöge, Grafen und wer sonst wohl eine Herrschaft führt, und

will ihnen allen das Elend eurer Knechtschaft und eure unerträglich böse Lage schildern.

Denn wohl ist es Zeit, daß dies alles, eines wie das andere, dort berichtet werde.'

Indes aber, da ringsum Finsternis den Himmel deckte, ging Peter wieder zu beten an

das Heilige Grab und dort, durch Gebet und Wachen ermüdet, ward er vom Schlaf über-

mannt. Da erschien ihm die Herrlichkeit des Herrn Jesus im Traum und redete in Gnade

ihn, den Sterblichen und Schwachen, also an: 'Peter, du liebstes meiner Christenkinder,

steh auf und gehe hin zu meinem Patriarchen und verlange von ihm den Brief meiner

Sendung mit dem Siegel des Heiligen Kreuzes. Und dann eile so rasch du kannst heim-

wärts in das Land deiner Sippe und erzähle dort, was mein Volk und die heiligen Stätten

hier an Schmach und Elend zu ertragen haben, und entflamme die Herzen der Gläubi-

gen, Jerusalem und die heiligen Orte zu säubern und den Dienst der Heiligtümer wieder-

herzustellen. denn jetzt werden, durch Gefahren und mannigfache Versuchungen hin-

durch, die Pforten des Paradieses den Berufenen und den Auserwählten geöffnet werden.'

Mit dieser wunderbaren und gotteswürdigen Offenbarung verschwand das Gesicht und

Peter erwachte vom Schlafe. Und beim ersten Tagesgrauen verließ er die Schwelle der

Kirche, suchte den Patriarchen auf und erzählte ihm der Ordnung gemäß das ganze

Gesicht und erbat sich von ihm den Brief seiner göttlichen Sendung, versehen mit dem

Siegel des Heiligen Kreuzes. Der Patriarch verweigerte den nicht; ja mit vielen Dankes-

worten übergab er ihm den Brief. Da nahm Peter Urlaub und seiner Sendung getreu

kehrte er zu seinen heimischen Gestaden zurück. In Angst und Sorge fuhr er zu Schiff

übers Meer, kam nach der Stadt Bari, stieg dort wieder ans Land und eilte unverweilt

nach Rom. Dort suchte er den apostolischen Herrn auf und überbrachte ihm die

Botschaft, die Gott und der Patriarch ihm aufgetragen...

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 325

Da nun die ganze Heidenschaft und die götzendienerische Religion aus der Heiligen

Stadt ausgetrieben und Herzog Gottfried zum Schutze der Stadt und ihrer Einwohner

auf den Thron von Jerusalem erhoben war, da schien es der ganzen Gemeinschaft der

Gläubigen gut und nützlich und Gott wohlgefällig, daß auch ein Hirte und Patriarch

wieder eingesetzt werde, der der Herde der Gläubigen und der heiligen Kirche Vorstand

sei. Denn verwitwet war diese Kirche, da ihr Hirte, der Patriarch, ein überaus heiligmä-

ßiger Mann, zur Zeit der Belagerung der Stadt Jerusalem auf der Insel Cypern aus dem

Lichte des Lebens geschieden war. Es war nämlich dieser Patriarch von Jerusalem und

dem Grabe des Herrn fortgezogen, da er von der Ankunft der Christen und ihrer

Belagerung der Mauern von Antiochien hörte, und war nach der Insel Cypern gereist,

der Drohungen der Türken und der Ungunst der Sarazenen wegen. Er war ein hochbe-

tagter Mann und ein treuer Knecht Christi gewesen und hatte von der genannten Insel

aus zu Beginn der Belagerung von Jerusalem dem Herzog Gottfried und den anderen

Fürsten sehr viele Liebesgaben geschickt, bisweilen von jener Frucht, die man Granatap-

fel nennt, bisweilen auch kostbare Früchte von den Zedern des Libanon oder auch

gemästete Pfauen und trefflichen Wein und was er eben sonst noch nach Vermögen an

guten und teuren Dingen hatte auftreiben können; in der Hoffnung, nach Wiederherstel-

lung seiner Kirche auch unter diesen Fürsten friedlich und sicher am Grabe unseres

Herrn Jesus Christus, des Sohnes des lebendigen Gottes, dienen und seine Herde leiten

zu können. Da aber die Stadt Jerusalem von den Gläubigen erobert und die heilige

Kirche wiederhergestellt war, da schied dieser allerchristlichste Patriarch aus dem Leben,

und so blieb seine Kirche verwitwet und verwaist zurück. Und da nun die christlichen

Fürsten, wie ich eben gesagt habe, oftmals Rat hielten und überlegten, wer einem so

guten Manne Nachfolger sein dürfe, fanden sie niemanden, der solcher Ehre und des

göttlichen Regimentes würdig gewesen wäre. Und so verschob man die Sache, bis man

einen fände, der für dieses bischöfliche Amt geeignet wäre. Doch ernannten sie Arnulf

von Zokes, einen Kleriker von ganz wunderbarer Klugheit und Beredsamkeit, zum

Kanzler der heiligen Kirche von Jerusalem, zum Wächter der heiligen Reliquien und

Verwalter der Almosen der Gläubigen."212

Peter von Amiens hat Jerusalem vor dem ersten Kreuzzug nicht erreicht.213

Doch hätte er wirklich zu dieser Zeit ein Gespräch mit dem Patriarchen geführt, so hätten ihm allein die Mühen der Reise durch muslimisch be-herrschtes Gebiet genügend Einsicht in die bestehenden Verhältnisse be-schert, daß er eine so törichte Frage wie die, "warum es den Heiden und Ungläubigen erlaubt sei", so zu handeln, wie sie es taten, nicht gestellt hätte. Symeon hätte ihm vielleicht sein Leid geklagt, aber sicher nicht einen unerfahrenen fremden Mönch aus dem Abendland allen Ernstes damit betraut, militärische Hilfe von außen herbeizuführen, und dies mit einem Brief, der, wäre er abgefangen worden, dem Absender als Hochverräter den

2 1 2 H. Hefele, Albert von Aachen: Geschichte des ersten Kreuzzugs, 1. Teil, Jena 1923, 2-4 und 313f.

2 1 3 Hagenmeyer, Peter der Eremit (s. Anm. 14).

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326 Peter Plank

Tod und seiner Kirche größte Schwierigkeiten gebracht hätte, abgesehen davon, daß das Siegelmotiv der Jerusalemer Patriarchen in dieser Zeit nicht das Kreuz, sondern das Anastasis-Motiv war.214

Wer aber Einwänden dieser Art mit dem Hinweis auf eine stilistische Dramatisierung begegnen wollte, hinter der sich ein historischer Kern verbergen könne, müßte auch eine Antwort zur Hand haben auf die Frage, wie ein melkitischer Patriarch zu Ende des 11. Jahrhunderts auf die Idee kommen konnte, Hilfe aus dem fernen Abendland anstatt aus Konstan-tinopel zu erwarten. Wilhelm von Tyrus (1130-1184), bereits als Lateiner im Orient geboren und ausgezeichneter Kenner seiner inneren Verhältnisse, war sich dieses Problems bewußt und suchte es in seiner Bearbeitung der Szene im Rahmen seines Chronicon zu lösen, indem er Symeon die Worte in den Mund legte: "Denn vom Reiche der Griechen, die an sich von der Verwandtschaft und örtlich gesehen uns näher stehen und über größeren Reichtum verfügen, haben wir überhaupt keine Hoffnung und keinerlei Trost."215

Auch Wilhelm war also zu seiner Zeit durchaus dazu bereit, noch weiter an dem Faden zu spinnen, dessen Anfang bis in die Zeit vor der Eroberung Jerusalems im Juli 1099 zurückzureichen scheint. Ebenso wie die beiden fingierten Briefe, von denen ausführlich die Rede war, dient auch das erfun-dene Gespräch mit Peter von Amiens, das Wilhelm noch weiter zweck-dienlich ausgestaltet hat, einzig dazu, den Kreuzzug der Abendländer ins Heilige Land samt der Begründung eigener weltlicher und geistlicher Herr-schaft dort als selbstlose Tat der Nächstenliebe an bedrängten Glaubensge-nossen hinzustellen. Der Patriarch von Jerusalem und durch ihn die gesam-te orientalische Christenheit habe in höchster Not mündlich und schriftlich flehentlich um Hilfe und Befreiung gebeten - weil, so setzt Wilhelm von Tyrus erklärend hinzu, die Griechen, deren Sache das eigentlich gewesen wäre, kläglich versagt hätten, eine Marginalie, für die Albert von Aachen bzw. seinen Gewährsleuten der geistige Horizont gefehlt hätte.

Hatte nun aber der in unwirklich-mythischer Ferne und Heiligkeit ver-bleibende namenlose Patriarch von Jerusalem seine ihm zugedachten exzita-torischen und legitimierenden Dienste geleistet und seinen Part in dem erbaulichen Epos somit zu Ende gespielt, so blieb noch die Aufgabe zu erklären, warum er exakt an dem Punkt im Ablauf der Handlung ver-schwindet, wo zu erwarten wäre, daß er den ersehnten und siegreichen Be-freiern als Oberhirte der Mutter aller Kirchen entgegentritt und sie voll Dankbarkeit willkommen heißt, um sodann seinen kirchlichen Dienst ohne alle Einschränkung und Bedrückung fortzusetzen. Die wenigen historisch festzumachenden Daten aus dem Leben des Patriarchen lassen die Behaup-

2 1 4 Laurent (s. Anm. 27) 393-400 (Nrr. 1561-1568). 2 1 5 Chronicon I, 11: Huygens (s. Anm. 15) 125.

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Patriarch Symeon II. von Jerusalem 327

tung seines unvorhergesehenen friedlichen Todes fern der bisherigen und vor allem der künftigen Ereignisse auf der Insel Cypern gerade zu diesem Zeitpunkt als dramaturgischen Einfall von abgeschmackter Qualität er-scheinen, der einzig darauf abzielte, sich einer nunmehr im Handlungsge-schehen überflüssigen imaginären Figur zu entledigen, bevor diese sich not-wendigerweise in eine konkrete und eigenständig agierende Persönlichkeit gewandelt hätte, die der weiteren gewünschten Entwicklung der Dinge höchst hinderlich hätte werden müssen. Die Nachricht aber, der geflohene Hierarch habe noch vor seinem Tod mit der Ubersendung von Granatäp-feln und gemästeten Pfauen an die Krieger seinen Beitrag zur Eroberung seiner Bischofsstadt leisten wollen, läßt vermuten, daß unter den Urhebern der ansonsten hochpolitischen Patriarchen-Fabeln auch jemand gewesen sein muß, der Sinn für das Groteske besaß.

In einer anderen Einzelheit freilich des Albert'schen Heldenepos könnte sich vielleicht doch eine historische Nachricht erhalten haben, nämlich in der Angabe, der Patriarch habe sich auf die Insel Cypern zurückgezogen. Freilich dürfte sie sich am ehesten auf die Zeit nach der Eroberung Jerusa-lems beziehen, nachdem er von den neuen Herren von seiner Kathedra ge-stoßen und aus einer Stadt wie aus seinem Patriarchats-Sprengel verjagt wor-den war. Denn noch stand Cypern unter byzantinischer Herrschaft, und es sollte noch ein Jahrhundert dauern, bis auch die dortige chalkedonisch-by-zantinische Kirche unter die Herrschaft eines lateinischen Episkopats ge-zwungen wurde.216 Außerdem wäre es möglich, daß die Kirche von Jerusa-lem bereits zu Symeons Zeiten über eigene Besitzungen auf Cypern verfüg-te.217 Seinen Azymen-Traktat freilich hat der Patriarch doch wohl eher in der rhomäischen Reichshauptstadt verfaßt. Wo immer er ihn aber geschrie-ben hat, die Bezeichnung seiner Kontrahenten als "christusliebende Latei-ner"218 wird nicht als Hinweis auf die Lateiner-Freundlichkeit des jerusa-lemischen Oberhirten zu deuten sein, vielmehr als Ausdruck bitterer Ironie.

2 1 6 Hamilton (s. oben Anm. 10) 317-319. 2 1 7 Tsougarakis (s. oben Anm. 135) 198-200. 2 1 8 Leib (s. oben Anm. 9) 217.