mikroradiographische studie des unterkiefers beim kind

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Mikroradiographische Studie des Unterkiefers beim Kind A. Dhem, M. Goret-Nicaise, Bruxelles Anatomische Abteilung (Prof. A. Dhem) der Universit6 Catholique de Louvain Mit 6 Abbildungen Das Studium aber das Wachstum des Unterkiefers ist yon besonderer Bedeutung, wenn es gilt, einen Beitrag zu den Fortschritten der Kieferorthop~tdie zu leisten. Die verschiedenen Vorgfinge dieses Wachstums sind jedoch noch umstritten. Die vorliegende Arbeit wurde unternommen, um den Aufbau des Unterkiefers und dessen Waehstum besser zu verstehen. Zu diesem Zwecke haben wir eine einfa- che, in unserem Laboratorium abliche Technik angewandt. Sie wurde erstmals ftir Untersuchungen am menschlichen Schienbein verwendet. Methodik Wir haben die Unterkiefer von acht Kindern bearbeitet. Von den acht waren drei Feten, drei totgeborene Anenzephali, eins ungeffihr vier Monate und eins 3 9/12 Jahre alt. Die Mandibulae wurden radiographiert und danach in Methacrylsauremethylester eingebettet. Beim Sezieren wurden die Muskelans~itze unbesch~tdigt am Stack gelas- sen. Die Unterkiefer wurden alsdann durch zwei Schnitte beiderseits der Symphysis in drei Stacke zerteilt: ein Mittelstack, bestehend aus der Symphysis mandibulae, die in diesem Stadium nicht bearbeitet wurde, zwei hintere Teile, jedes bestehend aus der hinteren Halfte des jeweiligen rechten oder linken Corpus mandibulae sowie dem entsprechenden Ramus. Der rechte Tell wurde ffir die Anfertigung yon FrontaIschnitten, der linke far die von Schnitten parallel zur ~uBeren Fl~che des Corpus mandibulae verwendet. Die Knochen wurden zersfigt und auf 80 Mikrometer abgeschliffen. Jeder Schnitt wurde auf eine Feingranulatemulsion (KODAK Spectroscopic plate, 649 O) gelegt und wei- chen ROntgenstrahlen ausgesetzt. Die Bestrahlungsdauer betrggt 15 Minuten ft~r ei- ne Objektentfernung yon 61 mm und 45 Minuten ft~r eine Entfernung yon 106 mm. Die R0ntgenstrahlen wurden durch eine ,,Machlett"-R0hre erzeugt, die durch ei- nen ,,Baltographe" (Balteau, Li6ge, Belgien) -- einen Generator -- gespeist wurde. In dieser Weise erhalten wir mikroradiographische Darstellungen (Dhem [1] 1967). Ergebnisse Auf der Radiographie (Abb. 1) sehen wir eine Kranialansicht des Unterkiefers ei- nes anenzephalen Totgeborenen. Diese beweist, dab zur Zeit der Geburt zwei halbe, durch eine Symphysis vereinigte Mandibulae bestehen. Wir k6nnen auch die Zahn- anlagen, den Canalis mandibulae und die Kondylarzone erkennen. 316 Fortschr. Kieferorthop. 40 (1979), 316--320 (Nr. 4)

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Page 1: Mikroradiographische Studie des Unterkiefers beim Kind

Mikroradiographische Studie des Unterkiefers beim Kind

A. Dhem, M. Goret-Nicaise, Bruxelles

Anatomische Abteilung (Prof. A. Dhem) der Universit6 Catholique de Louvain

Mit 6 Abbildungen

Das Studium aber das Wachstum des Unterkiefers ist yon besonderer Bedeutung, wenn es gilt, einen Beitrag zu den Fortschritten der Kieferorthop~tdie zu leisten. Die verschiedenen Vorgfinge dieses Wachstums sind jedoch noch umstritten.

Die vorliegende Arbeit wurde unternommen, um den Aufbau des Unterkiefers und dessen Waehstum besser zu verstehen. Zu diesem Zwecke haben wir eine einfa- che, in unserem Labora tor ium abliche Technik angewandt. Sie wurde erstmals ftir Untersuchungen am menschlichen Schienbein verwendet.

Methodik

Wir haben die Unterkiefer von acht Kindern bearbeitet. Von den acht waren drei Feten, drei totgeborene Anenzephali, eins ungeffihr vier Monate und eins 3 9/12 Jahre alt.

Die Mandibulae wurden radiographiert und danach in Methacrylsauremethylester eingebettet. Beim Sezieren wurden die Muskelans~itze unbesch~tdigt am Stack gelas- sen. Die Unterkiefer wurden alsdann durch zwei Schnitte beiderseits der Symphysis in drei Stacke zerteilt: ein Mittelstack, bestehend aus der Symphysis mandibulae, die in diesem Stadium nicht bearbeitet wurde, zwei hintere Teile, jedes bestehend aus der hinteren Halfte des jeweiligen rechten oder linken Corpus mandibulae sowie dem entsprechenden Ramus.

Der rechte Tell wurde ffir die Anfertigung yon FrontaIschnitten, der linke far die von Schnitten parallel zur ~uBeren Fl~che des Corpus mandibulae verwendet. Die Knochen wurden zersfigt und auf 80 Mikrometer abgeschliffen. Jeder Schnitt wurde auf eine Feingranulatemulsion (KODAK Spectroscopic plate, 649 O) gelegt und wei- chen ROntgenstrahlen ausgesetzt. Die Bestrahlungsdauer betrggt 15 Minuten ft~r ei- ne Objektentfernung yon 61 m m und 45 Minuten ft~r eine Entfernung yon 106 mm.

Die R0ntgenstrahlen wurden durch eine , ,Machlet t"-R0hre erzeugt, die durch ei- nen , ,Bal tographe" (Balteau, Li6ge, Belgien) - - einen Generator - - gespeist wurde. In dieser Weise erhalten wir mikroradiographische Darstellungen (Dhem [1] 1967).

Ergebnisse

Auf der Radiographie (Abb. 1) sehen wir eine Kranialansicht des Unterkiefers ei- nes anenzephalen Totgeborenen. Diese beweist, dab zur Zeit der Geburt zwei halbe,

durch eine Symphysis vereinigte Mandibulae bestehen. Wir k6nnen auch die Zahn- anlagen, den Canalis mandibulae und die Kondylarzone erkennen.

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i • I Abb. 1

Abb. 2

Abb. 1. Radiographie (l,4mal): Kranialansicht des Unterkiefers eines anenzephalen Totgeborenen. Die folgende Abbildung ist dem durch einen Pfeil angedeuteten Areal entnommen. Abb. 2. Mikroradiographie (8,1real) eines Frontalschnittes durch den rechten Ramus (siehe Pfeil in Abb. 1): 1. Aussere Seite des Ramus (siehe Abb. 3), 2. lAberreste des Cartilago condylaris (siehe Abb. 4).

Abb. 3 Abb. 4

Abb. 3. Mikroradiographie (69mal). Einzelheit der Abbildung 2, geflechtartiger Faserknochen. Abb. 4. Mikroradiographie (69real). Einzelheit der Abbildung 2 (g f = geflechtartiger Faserknochen, e a = endostale Anlagerung, c c = verkalkte IJberreste des Cartilago condylaris).

Das f o l g e n d e Bi ld ( A b b . 2), e n t s p r e c h e n d der in A b b i l d u n g 1 d u r c h e inen P fe i l

a n g e d e u t e t e n Z o n e , ze igt die M i k r o r a d i o g r a p h i e eines F r o n t a l s c h n i t t e s . In d ieser

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A. Dhem, M. Goret-Nicaise

VergrOgerung bemerkt man schon die verschiedenen Slrukturen des Knochengewe- bes. Wir erkennen den Canalis mandibulae und die verkalkten Oberreste des Carti- lago condylaris. Links, an der ~tul3eren Seite, ist das Knochengewebe gitterfOrmig angeordnet; dieses ist bei sttirkerer VergrOBerung im dritten Bild gezeigt.

Auf dieser Abbildung 3 (Einzelheit tier Abb: 2) bemerken wit ein Knochengewebe mit unregelm~tBigen, bisweilen zusammenflieBenden Knochenh6hlchen verschiede- ne t Formen und GrOgen. Es handelt sich um den sogenannten geflechtartigen Fa- serknochen (Weidenreich [ 11] 1930). Dieses Gewebe entsteht durch intramembranO- se Ossifikation. Jedoch findet die beiderseitige Verdickung dieser Knochenb~ilkchen durch periostale Anlagerung statt. In diesem Bereich des Knochengewebes ist also der Knochenaufbau erheblich schneUer als die gew/3hnliche periostale Apposition, darf jedoch nicht mit dem von Ponlot [8] (1959) eingefiihrten Begriff der ,,Schnellen Anlagerung", wetcher auf einer folgenden Abbildung beschrieben wird, verwechselt

werden. Die Mandibula entsteht auch durch endochondrale Ossifikation des Cartilago

condylaris. Koelliker [7] (1849) hat sekund~re Knorpelbildungen im Unterkiefer be- schrieben. Der Cartilago condylaris erscheint beim Feten im Verlauf der zwolften Woche. Auf der Mikroradiographie der Abbildung 4 (Einzelheit der Abb. 2) ist der verkalkte Knorpel (cc) selbst sichtbar. Wir erkennen auch das durch endostale Anla- gerung (ea) entstandene Knochengewebe, und oben bemerken wir geflechtartigen Faserknochen (gf) wie auf der Abbildung 3.

Die Abbildung 5 zeigt eine andere Ansicht des Gewebes am unteren Rand eines Schnittes parallel zur ~ul3eren Flgche des Corpus mandibulae. Wir erkennen Ha-

Abb. 6

-.,I Abb. 5

Abb. 5. Mikroradiographie (66rnal) eines Schnittes parallel zur ~L~eren Fl~che des Corpus mandibulae. (g f = geflechtartiger Faserknochen, h = Haverssche Kanfilchen, p a = periostale Anlagerung, s a = schnelle Anlagerung.) Abb. 6. Mikroradiographie (66real) des Unterkiefers eines drei Jahre und neun Monate alten Kindes. Einstrahlungsknochen: Masseterinsertion.

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verssche Kan~lchen (h), die in dem soeben beschriebenen Faserknochen (gf) einge- bettet sind. Unten bemerken wit neue, noch nicht vollst~ndig verkalkte Lamellen (pa), welche vom Periost auf das schon vorhandene alte Knochengewebe aufgelagert wurden. Die letzte Lamelle ist auch durch Apposition entstanden; es handelt sich um die sogenannte ,,schnelle Anlagerung" (sa), wie sie von Ponlot [8] (1959) be- schrieben wurde. Die Lamelle ist stark verkalkt und liefert die Unterlage ft~r die sp~- ter auftretende beiderseitige Anlagerung.

Die Mikroradiographie in der Abbildung 6 ist dem Unterkiefer eines drei Jahre und neun Monate alten Kindes entnommen. Dieses Bild zeigt Einstrahlungskno- chen, die parallel verlaufen. Die fiir ROntgenstrahlen weniger durchl/issigen dunklen Striche sind kleine Tunnel, welche Muskelfasern und Kotlagenfasern enthalten. Es handelt sich um die Masseterinsertion. Wir kOnnen so die Richtung der Muskeltrak- tion feststellen und die Art und Weise, in der der Masseter mittels der Kollagenfa- sern mit dem Knochen verbunden ist, beobachten.

Diskussion

Die Mikroradiographie ist yon groBem Nutzen, da sic die Aufl6sung der klini- schen R6ntgenbilder weitgehend verbessert und die Bildanalyse unmittelbar auf zy- tologischer Ebene erm6glicht.

Was die langsame Anlagerung, die schnelle Apposition (Ponlot [8] 1959, Dhem et al. [3] 1976, die endochondrale Ossifikation (Vincent u. Dhem [10] 1960) und den Einflul~ der Muskelans/itze auf die Struktur des Knochengewebes (Dhem u. Vincent [4] 1965, Francois u. Dhem [6] 1974) betrifft, besteht kein Zweifel in der Deutung des untersuchten Materials. Im einzelnen sind diese Vorg/~nge dieselben wie diejeni- gen, die das Wachstum der R6hrenknochen bedingen.

Die Vielseitigkeit der vorhandenen Knochenstrukturen zeugt jedoch von der Kompliziertheit in der Entstehung und im Wachstum dieses durch zwei Ossifika- tionstypen, einen intramembran6sen und einen endochondralen, gebildeten Kno- chen.

In der Tat unterscheidet sich die Mandibula wesentlich von den R6hrenknochen, da ihr Wachstum besonderen Einflt~ssen ausgesetzt ist:

- - dem Wachstum des Cartilago condylaris (Dhem u. Goret-Nicaise [2]), - - vielleicht dem durch die Zahnanlagen ausget~bten Druck, - - der schon im FOtalleben vorhandenen starken Muskelaktivit~tt (Enlow [5]), - - der Abh~tngigkeit vom Wachstum der t~brigen Gesichtsknochen.

Augerdem wird das Wachstum des Unterkiefers, so wie das a11er anderen Skelett- Teile, vom Erbgut bestimmt. Es ist noch verfriiht, den genauen Einflug eines jeden Faktors festzulegen.

Eine erste Studie tiber Cartilago condylaris ist anderswo verOffentlicht worden. Wir untersuchen gegenw/irtig die Symphysis mandibulae.

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A . D h e m , M . Gore t -N ica i s e

Zusarnmenfassung

Mikroradiographische Untersuchungen wurden an acht Unterkiefern yon Feten und Kindern, deren ~il- testes drei Jahre und neun Monate alt war, vorgenommen. Diese Technik dehnt die Aufl6sung der R6nt- genaufnahmen bis auf die zytologische Ebene aus und erm6glicht eine bessere Erfassung der verschiede- nen Knochenstrukturen. Die Vielfalt der beobachteten Strukturen wird dutch die vielen Einfltisse, die die Entstehung und das Wachstum des Unterkiefers bestimrnen, bedingt: das Erbgut, die Entwicklung der anderen Skeletteile des Gesicfitsmassivs, die Muskelaktivit~tt, das Wachsturn des Cartilago condylaris und vielleicht auch der dutch die Zahnanlagen ausgetibte Druck.

Summary

Eight mandibles, taken from fetuses and children of whom the oldest was three years and nine months, were analysed by rnicroradiography. This technique allows an analysis to be made of the different bone structures on a cytological scale. The differences found in the mandible result from the multiple influen- ces responsible for its formation and subsequent growth: heredity, the development of the other bones of the face, muscular activity, the growth of the condylar cartilage and perhaps also the pressure qxerted by the developing teeth.

R~sum~

Huit mandibules pr61ev6es chez des foetus et des enfants dont le plus ~tg6 avait trois ans et neuf rnois, ont ~t6 sournises ~ une analyse rnicroradriographique; cette technique pousse la r~solution des clich6s ra- diologiques habituels jusqu'fi l'Schelle cytologique et perrnet de rnieux dStailler les diff6rentes structures du tissu osseux. La diversit8 des aspects rencontres rSsulte des influences multiples qui rSgissent la forma- tion et la croissance de la rnandibule: l'h~r~dit6, le d~veloppernent des autres pi~ces squelettiques du mas- sif facial, l'activit8 rnusculaire, la croissance du cartilage condylien et peut-Stre ~galement la pression exercSe par les bourgeons dentaires.

Schrifttum

1. Dhem, A.: Le rernaniement de l'os adulte. (Th~se Univ. Louvain), Bruxelles, Arscia, et Paris, Maloi- ne, 1967.

2. Dhem, A., M. Goret-Nicaise: R61e du cartilage condylien darts la croissance rnandibulaire. Bull. Ass. Anat. (ira Druck).

3. Dhem, A., N. Piret, M. Nicaise, B. Nusgens: Bone in Dermatosparaxis. I. Morphologic Analysis. Calcif. Tiss. Res. 21 (1976), 29--36.

4, Dhem, A., A. Vincent: Analyse microradiographique du squelette. Recipe 10 (1965), 515--536. 5. Enlow, D. 1t.: Handbook of facial growth. W. B. Saunders, Philadelphia--London--Toronto 1975. 6. Francois, R. J., A. Dhem: Microradiographic study of the normal human vertebral body. Acta anat.

(Basel) 89 (1974), 251--265. 7. Koelliker, A.: Zit. n. [9]. 8. Ponlot, R.: Le radiocalciurn dans l'Stude des os. (Th~se Univ. Louvain), Bruxelles, Arscia, 1959. 9. Schaffer, J.: Die SttRzgewebe. V. Das Knorpelgewebe. In: W. v. Mollendorff, (Hrsg.): Handbuch

der mikroskopischen Anatomie des Menschen, Bd. II/2. Springer, Berlin 1930, S. 210--390. 10. Vincent, J., A. Dhem: l~tude rnicroradiographique de l'ossification endochondrale. Acta anat. (Ba-

sel) 40 (1960), 121--129. i1. Weidenreich, F.: Das Knochengewebe. In: W. v. MOllendorf (Hrsg.): Handbuch der rnikroskopi-

schen Anatomie des Menschen, Bd. II/2. J., Springer, Berlin 1930, S. 391--520.

Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. A. Dhem, Dr. M. Goret-Nicaise, Universit~ Catholique de Louvain, Depart- ment d'Anatomie, Avenue Emmanuel Mounier, 52, B-1200 Bruxelles.

320 Fortschr. Kieferorthop. 40 (1979), 316--320 (Nr. 4)