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Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung www.hessen-nanotech.de Hessen Nanotech Nanotechnologie in der Natur – Bionik im Betrieb

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Page 1: Nanotechnologie in der Natur - Bionik im Betrieb · Impressum Nanotechnologie in der Natur – Bionik im Betrieb Band 20 der Schriftenreihe der Aktionslinie Hessen-Nanotech des Hessischen

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Hessen Nanotech

Nanotechnologie in der Natur– Bionik im Betrieb

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Nanotechnologie in der Natur – Bionik im Betrieb

Band 20 der Schriftenreihe der Aktionslinie Hessen-Nanotech

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ImpressumNanotechnologie in der Natur – Bionik im Betrieb

Band 20 der Schriftenreihe der Aktionslinie Hessen-Nanotech des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

Erstellt von:

Dr. Wolfgang Luther

VDI Technologiezentrum GmbH

Zukünftige Technologien Consulting

VDI-Platz 1

40468 Düsseldorf

In Kooperation mit:

Dr. Heike Beismann

Dr. Heike Seitz

VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences

Verein Deutscher Ingenieure e.V.

VDI-Platz 1

40468 Düsseldorf

Redaktion:

Sebastian Hummel, Susanne Sander

(Hessisches Ministerium für Wirtschaft,

Verkehr und Landesentwicklung)

Alexander Bracht, Markus Lämmer

(Hessen Agentur, Hessen-Nanotech)

Herausgeber:

HA Hessen Agentur GmbH

Abraham-Lincoln-Straße 38–42

65189 Wiesbaden

Telefon 0611 774-8614

Telefax 0611 774-8620

www.hessen-agentur.de

Der Herausgeber übernimmt keine Gewähr für die Richtig-

keit, die Genauigkeit und die Vollständigkeit der Angaben

sowie für die Beachtung privater Rechte Dritter. Die in der

Veröffentlichung geäußerten Ansichten und Meinungen

müssen nicht mit der Meinung des Herausgebers überein-

stimmen.

© Hessisches Ministerium für Wirtschaft,

Verkehr und Landesentwicklung

Kaiser-Friedrich-Ring 75

65185 Wiesbaden

www.wirtschaft.hessen.de

Vervielfältigung und Nachdruck – auch auszugsweise – nur

nach vorheriger schriftlicher Genehmigung.

Gestaltung: WerbeAtelier Theißen, Lohfelden

Druck: Werbedruck GmbH Horst Schreckhase, Spangenberg

www.hessen-nanotech.de

August 2011

Quelle: Festo

Abbildungen Coveroben: Festounten links: Plant Biomechanics Group Freiburgunten Mitte: Dupont Deutschland GmbHunten rechts: Claudia Blüm, Thomas Scheibel

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InhaltVorwort .......................................................................................................................... 3

1 Bionik und Materialtechnologie ....................................................................... 4

1.1 Grundlagen .............................................................................................................. 4

1.2 Lernen von der Natur – Konzeption und Strategie für bionische Innovationen ...... 6

1.3 Motivation für Unternehmen zur Nutzung bionischer Verfahren ....................... 8

1.4 Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz ............................................................... 8

2 Bionische Lösungsansätze für technische Problemstellungen .......... 9

2.1 Bionische Oberflächensysteme ............................................................................. 9

2.2 Materialien und Bauteile ....................................................................................... 23

2.3 SelbstX-Eigenschaften .......................................................................................... 31

2.4 Leichtbau und Architektur .................................................................................... 33

2.5 Robotik ................................................................................................................... 36

2.6 Bionische Sensorik ................................................................................................ 38

2.7 Sonstige Anwendungen ....................................................................................... 39

3 Praxisbeispiele mit Bezug zu Hessen ........................................................... 40

3.1 Umweltschonende Antifoulinganstriche ............................................................ 40

3.2 Impulse aus der Natur ........................................................................................... 42

3.3 Automobiler Leichtbau durch Anwendung der Bionik ..................................... 44

3.4 Molekulare Simulation von Grenzflächen: Bionik auf molekularer Ebene? .... 46

3.5 Bionisch-adaptive Architektur: Molekulare Mechanismen als Vorbild ............ 48

3.6 Bionik im Bauwesen .............................................................................................. 50

4 Kompetenzträger und Netzwerke auf nationaler / internationaler Ebene ......................................................... 52

4.1 VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences (VDI-TLS) ................................ 52

4.2 Biokon und Biokon international .......................................................................... 54

4.3 Fachausschuss „Bionik und bioinspirierte Materialien“

der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde (DGM) ...................................... 55

5 Literatur und weiterführende Informationen ........................................... 56

Schriftenreihe Hessen-Nanotech ................................................................... 57

1

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Aktionslinie Hessen-Nanotech

Die Aktionslinie Hessen-Nanotech des Hessi-schen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehrund Landesentwicklung bündelt und koordi-niert die Aktivitäten des Landes Hessen imBereich der Nano- und Materialtechnologiesowie der angrenzenden Felder der Ober -flächentechnologie, der Mikrosystemtechno-logie und der Photonik.

Die bei der landeseigenen Wirtschaftsförde-rungsgesellschaft HA Hessen Agentur GmbHangesiedelte Aktionslinie hat das Ziel, dieWettbewerbsfähigkeit hessischer Technologie-und Dienstleistungsunternehmen weiter zustärken.

Dazu werden Kompetenzen, Erfahrungenund Potenziale des Wirtschaftssektors dar -gestellt und weiterentwickelt. Eine wichtigeRolle spielt dabei die Vernetzung von Technologieanbietern und -anwendern.

Aufgaben der Aktionslinien sind auch dasTechnologie- und Standortmarketing, dieOrganisation des Informationsaustauschsund die Informationsvermittlung sowie dieFörderung der Netzwerkbildung.

www.hessen-nanotech.de

NanotechHessen

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Leonardo da Vinci hatte Recht: Die Natur liefert Lösungen für vielfältige technische

Herausforderungen. Was mit der Betrachtung des Vogelflugs begann, führte unter

anderem zu Klettverschlüssen, selbstschärfenden Messern und selbstreinigenden

Oberflächen.

Wie Sie der vorliegenden Broschüre entnehmen können, hat Hessen als bedeutender

Material- und Nanotechnologiestandort längst den Blick auf die Lösungsprinzipien

der Natur und ihre technischen Innovationspotenziale gelenkt.

Die Natur ist nanostrukturiert. Zellen und Bakterien operieren auf der Nanoebene.

Mit der Erforschung und Kontrolle kleinster Strukturen in der Welt der Atome und

Moleküle wird es möglich, die Wirkprinzipien der Natur zu verstehen und daraus

mitunter faszinierende Lösungen für technische Probleme zu gewinnen.

Dies schafft die Basis für Produkte mit vielversprechenden Marktchancen. Und es

werden immer mehr werden, denn die Bionik entwickelt sich so dynamisch wie die

biologische Forschung. Dazu tragen zahlreiche hessische Unternehmen bei, deren

Engagement in Forschung und Entwicklung in dieser Broschüre vorgestellt wird.

Als Querschnittstechnologien werden Bionik und Nanotechnologie in Zukunft

nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken sein.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

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Dieter Posch

Hessischer Minister für Wirtschaft,

Verkehr und Landesentwicklung

Vorwort

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1 Bionik und Materialtechnologie

1.1 Grundlagen

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Angesichts einer wachsenden wirtschaftlichen, tech-nologischen und gesellschaftlichen Dynamik im 21.Jahrhundert sehen sich Unternehmen einem zuneh-menden Innovationsdruck ausgesetzt. Die Globali-sierung der Wirtschaft schreitet voran, technischeEntwicklungen werden schneller und komplexer,zentrale gesellschaftliche Herausforderungen wieUmwelt- und Klimaschutz, Ressourcenverknappungoder der Rückgang der Biodiversität müssen gemeis-tert werden. Neue Technologien, mit denen innova-tive und intelligente Produkte effizient und möglichstressourcenschonend hergestellt werden können,werden dringend benötigt. Die Bionik und die Mate-rialtechnologie gelten hierbei als aussichtsreichstetechnologische Zukunfts felder, die Lösungsbeiträgefür diese Herausforderungen bereitstellen können.

Die Bionik hat bereits eine lange Tradition. So wirdoft Leonardo da Vinci als erster Bioniker genannt, daer beispielsweise versuchte, Erkenntnisse aus derAnalyse des Vogelfluges für die Konstruktion vonFlugapparaten zu nutzen. Etwa seit den 80er Jahrenwird die Bionik auf die Nano- und Mikroskala erwei-tert (z.B. Lotus-Effect®; Barthlott und Neinhuis 1998).

Insbesondere die sich rasant entwickelnden Techno-logiebereiche Informatik, Nano technologie, Mecha-tronik und Biotechnologie, die vielfach eine Übertra-gung komplexer biologischer Systeme erst ermög -lichen, liefern wichtige Impulse (Kesel 2005). An zahl-reichen Hochschulen und außeruniversitären For-schungseinrichtungen ist die Bionik inzwischen alsLehr- und Forschungsgegenstand vertreten.

Es gab in der Vergangenheit viele Ansätze für eineeinheitliche Definition der Bionik. Die aktuelle VDIRichtlinie VDI 6220 definiert Bionik folgendermaßen:

Bionik verbindet in interdisziplinärer Zusammen-

arbeit Biologie und Technik mit dem Ziel durch

Abstraktion, Übertragung und Anwendung von

Erkenntnissen, die an biologischen Vorbildern

gewonnen werden, technische Fragestellungen

zu lösen. Biologische Vorbilder im Sinne dieser

Definition sind bio logische Prozesse, Materialien,

Strukturen, Funktionen, Organismen und Erfolgs-

prinzipien sowie der Prozess der Evolution.

Technik lernt von der Natur

Eine qualitativ vergleichende Abschätzung von Prof. Vincent (vgl. Vincent et al. 2006) beschreibt dieunterschiedlichen Anteile an Ressourcen, die für konventionelle technische Problemlösungen und Problemlösungen in der Natur benötigt werden. Es zeigt sich, dass natürliche Prozesse insbesondere bei Größenskalen kleiner als ein Meter durch einen intelligenten Strukturaufbau deutlich weniger Energie und Material benötigen als konventionelle technische Bauteile und Strukturen.

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Konventionelle technische Problemlösung Biologische Problemlösung

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Der Begriff Bionik wird häufig nicht einheitlich ver-wendet, und es gibt verschiedene synonym genutzteBegriffe. Beispielsweise werden Bionik und Bio -mimetik im deutschen Sprachgebrauch meist syno-nym verwendet. Im angelsächsischen Sprachge-brauch wird üblicherweise „biomimetics“ genutzt,wenn Bionik gemeint ist, dagegen bedeutet „bio-nics“ in der Regel, dass biologische Systeme tech-nisch erweitert wurden (z.B. Prothetik). Alternativ zubionisch oder biomimetisch wird auch der Begriffbiologisch inspiriert (engl. „bio-inspired“) verwen-det, der jedoch häufig weitergefasst ist. Weitereweitgehend inhaltsgleiche Begriffe sind Biomimikryund Bio mimese. In Deutschland werden dieseBegriffe – häufig abhängig von der Region oder ver-schiedenen Anwendern – gleichbedeutend genutzt.In der vorliegenden Broschüre wird durchgehendder Begriff Bionik entsprechend der Definition derRichtlinie VDI 6220 genutzt.

In der Bionik werden vorhandene natürliche Lösun-gen analysiert, die gefundenen Prinzipien abstrahiertund anschließend der Technik zugänglich gemacht.Die Bionik stellt keine Blaupausen für die Technikbereit, sondern lebt vom Austausch der Fachleuteaus verschiedenen Fachrichtungen (BIOKON 2011).Dabei kann die Bionik auf Lösungen für bestimmtemechanische, strukturelle oder organisatorische Pro-bleme zurückgreifen, die in der Biologie im Laufevon Milliarden Jahren evolutiv optimiert wordensind. Heute sind über 2,5 Millionen identifizierteArten weitgehend mit ihren spezifischen Besonder-heiten beschrieben. Im Sinne der Bionik stehen sieals gigantischer Ideenpool für technische Problem-lösungen zur Verfügung (vgl. VDI 6223).

Für eine bionische Entwicklung ist es nicht ausrei-chend, lediglich die Natur zu kopieren und zu versu-chen, natürliche Konstruktionen nachzubauen. DieHerstellung von Produkten sollte drei Kriterien erfül-len, damit ein Produkt als bionisches Produkt ange-sehen werden kann:

1. Das Produkt muss ein biologisches Vorbild haben,

2. es muss eine Abstraktion des natürlichen Prinzips stattgefunden haben,

3. es muss eine Übertragung in eine technische Anwendung erfolgt sein.

Ein Beispiel für bionische Produkte sind solche mitder als Lotus-Effect® bezeichneten Eigenschaft derSelbstreinigung (vgl. Kapitel 2.1.2). Das biologischeVorbild, die Blätter der Lotosblume, verfügt übereine spezielle Mikrostrukturierung der Oberflächeund dadurch eine hohe Wasserabweisung. Diezugrundeliegenden Prinzipien selbstreinigenderOberflächen sind auf spezielle physikalische undchemische Eigenschaften zurückzuführen, weshalbsie abstrahiert und in technische Oberflächen umge-setzt werden können.

Fälschlicherweise wird häufig angenommen, dass essich bei dem Olympiadach in München ebenfalls umein bionisches Produkt handelt (bionische Architek-tur). Hierbei wird aber keines der drei genannten Kriterien erfüllt und somit kann diese Konstruktionnicht als bionisch gelten. Auch wenn die Ähnlichkeitmit den Netzen verschiedener Spinnen offensichtlichist, handelt es sich beim Olympiadach um eine weit-gehend starre Konstruktion, die sich hierdurch ein-deutig von den extrem elastischen Spinnennetzenunterscheidet. Nur die Anmutung, doch weder Konstruktion noch funktionale Aspekte wurden derNatur entlehnt.

Als Grenzfall einer bionischen Entwicklung wird dieProduktion künstlicher Spinnenseide (Kapitel 2.2.5)angesehen. Hier werden Biotechnologie und Bionikkombiniert. Die biotechnologisch hergestellten Seidenproteine unterscheiden sich nicht von dendurch Spinnen hergestellten Proteinen. Allerdingskönnen die Proteine nicht ohne Weiteres in einenSeidenfaden gesponnen werden. Hierzu bedurfte esder Abstraktion des Spinnapparats der Spinne undeiner technischen Umsetzung. Diese technischenSpinndrüsen wurden somit in einem bionischen Entwicklungsprozess hergestellt.

Viele produzierende Unternehmen haben bereitsdie Vorteile der Bionik erkannt und wenden zuneh-mend bionische Verfahren zur Entwicklung neuerProdukte oder zur Optimierung bestehender Pro-dukte an. Allerdings stellt die Übertragung vonErkenntnissen aus der Biologie in die Technik auf-grund ihrer Komplexität hohe Ansprüche an diebeteiligten Akteure. Die Natur verfügt über zahl -reiche Lösungen, die oft intuitiv verstanden werden.Dennoch sind die Aufklärung der zugrundeliegen-den Mechanismen und ihre Nutzbarmachung für dieTechnik häufig schwierig und langwierig. Fortschrittein der Materialtechnik und der Nanotechnologiewerden jedoch dazu beitragen, dass künftig immermehr bionische Lösungsansätze in die Technik über-tragen werden können. Die Bionik wird somit aufabsehbare Zeit ein aktuelles Forschungsfeld bleiben.

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Ideenfindung

Invention

Problem(Bedarf)

Lösung(Vorbild)

TechnikBiologieAnalogie/Abstraktion

Projekt-/Versuchsplanung

Experimente/Berechnungen

Prototypenbau/Herstellung

Analyse

Anwendungstests

Gesamtbewertung

Biology Push (bottom-up)

Technology Pull (top-down)

1.2 Lernen von der Natur – Konzeption undStrategie für bionische Innovationen

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Aufgrund der interdisziplinären Arbeitsweise in bio-nischen Forschungs- und Entwicklungsprojektenkann es nur durch eine enge Kooperation zwischenBiologie, Ingenieurwissenschaften und weiterer Disziplinen zu einem effizienten Transfer der For-schungsergebnisse in technische Produkte entlangder gesamten Wertschöpfungskette kommen.

Der typische Prozess des bionischen Arbeitens wirdin der folgenden Abbildung dargestellt. Der gradli-nige und sequenzielle Verlauf stellt einen idealisier-ten Fall dar. Tatsächlich ist häufig eine parallele undsich wiederholende Bearbeitung erforderlich.

Ausgangspunkt der Ideenfindung für eine bionischeEntwicklung können in einem Fall Erkenntnisse ausder biologischen Grundlagenforschung (BiologyPush oder Bottom-Up-Prozess) und im anderen Falleine technische Fragestellung oder ein technischesProblem (Technology Pull oder Top-Down-Prozess)

sein. Im letzteren Fall ist das Ziel die Verbesserungoder Weiterentwicklung eines bestehenden Produk-tes oder Prozesses. Kernstück im Prozess des bioni-schen Arbeitens ist die Abstraktion des biologischenVorbilds bzw. der biologischen Prinzipien. Hierbesteht ein großes Potenzial, effiziente und neuar-tige technische Lösungen zu entwickeln, die durcheinen klassischen Konstruktionsansatz nicht entstan-den wären. Der weitere Prozess des bionischenArbeitens unterscheidet sich nicht grundsätzlichvom klassischen Entwicklungsprozess in der Produk-tion. Ein wesentlicher Unterschied besteht in dervariierend intensiven interdisziplinären Zusammen-arbeit zwischen der Biologie und Technik. In derRegel ist das Ergebnis einer bionischen Entwicklungeine Invention, die erst dann zur Innovation wird,wenn bionische Produkte oder Prozesse erfolgreichin den Markt eingeführt wurden.

Vereinfachter Ablauf einer

bio nischen Entwicklung

(© Fraun hofer UMSICHT/

BIOKON, 2010)

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Problemstellung/ZielSchiffsrümpfe bewachsen schnell mit Algen, Seepo-cken und anderen Meeresbewohnern. Die Folge ist einhoher Reibungswiderstand bei der Fahrt. Zusätzlichwird durch das Anheften der Organismen die Außen-haut der Schiffe beschädigt. Die Kosten für den erhöh-ten Energieverbrauch und die Reinigung sind immens.Um dem vorzubeugen wurden die Schiffsrümpfe bis2008 mit einer mittlerweile verbotenen giftigen Farbe,die Tributylzinn (TBT) enthält, bestrichen. Es wurdedaher eine Lösung gesucht, die die Schiffsrümpfe dau-erhaft von Bewuchs freihält ohne toxisch zu sein.

Analyse/WirkprinzipRaubfische wie der Hai haben im Vergleich zu ande-ren Fischen eine relativ lange Lebenserwartung,dennoch setzen sie nie Bewuchs an. Das Prinzip desBewuchsschutzes ist in der Struktur der Haihaut zufinden. Durch kleine, bewegliche, zahnähnliche Plätt-chen, die sich ständig verschieben, können wederAlgen noch Muscheln anhaften. Die besondereOberflächenstruktur der Plättchen sorgt dafür, dasssich auch ohne Bewegung nur schwer etwas festset-zen kann. Zudem weist die Haut des Hai fisches her-vorragende Strömungseigenschaften auf.

AbstraktionDas natürliche Funktionsprinzip musste abstrahiertund eine leicht bewegliche und gleichzeitig struktu-rierte technische Oberfläche entwickelt werden. Die-ses Funktionsprinzip wurde für die Entwicklung einertechnischen Lösung gegen den Be wuchs und fürgünstige Strömungseigenschaften weiterverfolgt.

Transfer und UmsetzungZunächst konnte die Mikrostrukturierung vom DLRBerlin auf Folien umgesetzt werden (Ribletfolien), diev.a. im aeronautischen Bereich eine Reduktion desStrömungswiderstands erreichten. Auf Schiffsrümp-fen konnten diese Folien zwar die Strömungseigen-schaften verbessern, trugen aber nicht zu einer Verminderung des Bewuchses bei.

Zudem hat sich gezeigt, dass sich die Handhabungder Folie schwierig gestaltet, so dass erneut geplantund experimentiert werden musste. Vom Bionik-Inno-vations-Centrum der Hochschule Bremen (B-I-C)wurde dann der Schwerpunkt der Entwicklungsarbeitauf die Antifouling-Eigenschaften gelegt. Es wurde einSchiffsanstrich entwickelt, der durch eine Mikrostruk-turierung bei gleichzeitig flexiblem Material einenBewuchs verhindert.

GesamtbewertungDurch die Entwicklung der flüssigen künstlichen Haifischhaut wurde ein bionisches Produkt geschaf-fen, das einen giftigen Schutzanstrich für Schiffs-rümpfe ersetzt. Die Vorteile liegen auf der Hand:Bewuchs findet nicht mehr statt und dadurch wirdder Strömungswiderstand der Schiffe gleichblei-bend erhalten. Der Energieverbrauch wird entschei-dend gesenkt.

Invention/ InnovationDie künstliche Haifischhaut hat sich als bionischesProdukt der Firma Vosschemie auf dem Markt etab-liert. Sie ist eine kostengünstige und umweltscho-nende Lösung für Probleme in der Schifffahrt. Zudemträgt sie zur Energieeffizienz durch verbesserte Strö-mungseigenschaften bei.

Verlauf einer bionischen Entwicklung am Beispiel der künstlichen Haifischhaut

Antifouling-Farbe

(Quelle: B-I-C Bremen)

Vergleich Bewuchs

von Platte ohne (links)

und mit künstlicher

Haihautbeschichtung

(Quelle: B-I-C Bremen)

Vergleich künstliche (oben) und echte (unten) Haihaut.

(Quelle: B-I-C Bremen)

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Die Zukunftsfähigkeit produzierender Unternehmenwird wesentlich davon abhängen, sich den Zieleneiner nachhaltigen Entwicklung und Ressourceneffi-zienz zu stellen. Aus diesem Grund ist ein Innova -tionssystem, das zumindest die Möglichkeit auf eine„nachhaltigere“ Entwicklung bietet, von großemInteresse. Die Bionik wird hierzu Beiträge liefern kön-nen (vgl. Einschub „Technik lernt von der Natur“ S.4).Allerdings bedeutet bionisch nicht per se nachhaltig,ökologisch oder umweltverträglich. Bionische Pro-dukte oder Prozesse zeigen selten eine optimale,dem biologischen Vorbild entsprechende Anpas-

sung an die Umgebung oder Rahmenbedingungen.Daher muss die Qualität bionischer Lösungen immerdurch eine Bewertung des Einzelfalls erfolgen unddarf nicht verallgemeinert werden (Bertling et al.2005). Weiterhin können bionische Produkte auch mitMaterialien oder Materialkombinationen hergestelltwerden, die keine vorteilhafte Ökobilanz besitzen undnicht den an nachhaltige Produktion und Produktegestellten Anforderungen genügen. Dennoch bietetdie Bionik vielfältige Ansätze, um technische Pro-bleme energie- und materialeffizienter zu lösen, alsdies mit konventionellen Techniken möglich wäre.

1.3 Motivation für Unternehmen zur Nutzung bionischer Verfahren

8

Grundsätzlich gelten in der Natur wie in der Technikdie gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten undKonstanten. Problemlösungen und Funktionalitätenaus der Biologie sind daher prinzipiell auch auf ähn-liche Fragestellungen in der Technik übertragbar.Gerade bei der Entwicklung von komplexen techni-schen Produkten kann die Übertragung biologischerFunktionen zukünftig von großer Bedeutung sein.Biologische Systeme weisen zudem Charakteristikaauf, die bei den meisten technischen Produktenkaum zu finden sind. Beispiele dafür sind die multi-kriterielle Optimierung, die zum Teil sich widerspre-chende Funktionen (Multifunktionalität) bei gleich-zeitig hoher Betriebssicherheit gewährleistet. Dazuzählt auch die Anpassungsfähigkeit an sich verän-dernde Umweltbedingungen (Adaptivität), einehohe Fehler- und Versagenstoleranz (Resilienz undRedundanz) sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisa-tion. Die systematische Übertragung dieser und wei-terer unabhängiger Funktionen biologischer Sys-teme (z. B. Selbstreparatur, Selbsterneuerung undSelbstassemblierung, vgl. Kapitel 2.3) können beider Entwicklung intelligenter, multifunktionaler Pro-dukte von Vorteil sein (Speck und Speck 2009).

Darüber hinaus gibt es für Unternehmen weitereGründe bionische Verfahren einzusetzen (VDI 6223)wie z. B.:

InterdisziplinaritätDurch die steigende Komplexität von Produkten undProzessen in der industriellen Fertigung wird einZusammenspiel der Expertise aus verschiedenenFachdisziplinen immer wichtiger. Die Anwendungbionischer Verfahren fördert in hohem Maße eineinterdisziplinäre Denk- und Arbeitsweise in denbeteiligten Unternehmen. Vor allem Biologie, Nano -techno lo gie und Informationstechnik spielen in derBionik eine Schlüsselrolle.

MarketingwertBionische Entwicklungen haben in der Regel einenhohen Marketingwert. Aufgrund der Tatsache, dassPrinzipien bekannter biologischer Vorbilder in alltäg -lichen Produkten (z. B. Klettverschluss) wiederzufindensind, bietet die Bionik oft erstaunliche Motive, um nichtnur die Funktion eines Produktes zu erläutern, sondernden Prozess von der Ideenfindung bis zur Produktge-staltung darzustellen und emotional zu nutzen.

NachhaltigkeitDie konsequente Ausrichtung von Unternehmens-strategien im Hinblick auf gesellschaftliche Ziel -setzungen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz wirdsich für Unternehmen zunehmend zu einem Wett -bewerbsvorteil entwickeln. Die Bionik kann dabeieine wichtige Aufgabe in Zusammenhang mit einernachhaltigen Entwicklung übernehmen, indem sieeinen Beitrag zu effizienten und konsistenten Lösun-gen in der Produktentwicklung leistet.

1.4 Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz

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Der Einsatz bionisch hergestellter Materialien, Struk-turen und Komponenten gewinnt in einer großenBandbreite von Anwendungsfeldern mehr und mehran Bedeutung. Im Gegensatz zu technischen Materia-lien verfügen biologische Materialien nicht nur übereine hohe Leistungsfähigkeit sondern zusätzlich noch

über eine hohe Anpassungsfähigkeit an wechselndeUmwelteinflüsse sowie hochwirksame Mechanismenzur Regeneration und Selbstreparatur. Die technischeÜbertragung der Eigenschaften ist zumeist nochunvollkommen, birgt aber immense Potenziale fürtechnische Anwendungen und innovative Produkte.

Oberflächen bilden die Grenzfläche zwischen demlebenden Organismus, dem technischen Produktund der Umwelt. Oftmals werden unterschiedlichsteEigenschaften und Funktionen an diesen Schnittstel-len realisiert. Insbesondere biologische Oberflächenzeichnen sich häufig durch eine ausgeprägte Multi-funktionalität aus. Dazu gehören beispielsweiseFormgebung, Begrenzung der Körperaußenmaße,Gewährleistung mechanischer Stabilität, Schutzgegen extreme Umweltbedingungen, Pathogenab-wehr, Atmung, Mechano- und Chemosensorik, Ther-moregulation und weitere. Biologische Systeme bie-ten daher ein großes Potenzial für technische Ideenzur bionischen Umsetzung von Funktionen wie Ad -häsion, Reibung, Abnutzung, Schmierung, Filtration,Sensorik, Benetzung, Selbstreinigung, Antifouling,Thermoregulation, Optik etc. Oft lässt sich hierbeizeigen, dass diese Funktionen und Effekte durchmikro- und nanoskopisch strukturierte Differenzie-rungen bzw. Eigenschaftsgradienten erzeugt wer-den. Demnach ergibt sich die Eigenschaft aus deradäquaten Einstellung von Strukturgröße und mecha -nischer Werkstoffeigenschaft der jeweiligen Grenz-fläche. Im technischen Bereich sind Grenzschicht-funktionalisierungen essentieller Bestandteil einersehr breiten Produkt- und Anwendungspalette. EinenÜberblick über Oberflächenfunktionalisierungen,Beispiele aus der Biologie und deren technischeAnwendung ist in der nachfolgenden Tabelle gege-ben (siehe auch VDI 6221).

Aus dem Bereich der Bionik sind der Ribleteffekt(Antifouling, Widerstandsreduktion in Fluiden) undder Lotus-Effect® (Selbstreinigung) am bekanntes-ten. Außerdem werden derzeit intensiv verschie-dene Haftsysteme untersucht. Insgesamt zeigt sichbei allen diesen Beispielen, dass nicht eine beson-ders glatte Oberfläche die gewünschte Funktion (z. B. Selbstreinigung) erzeugt, sondern erst die spe-ziell strukturierte Oberfläche. Ein Vorteil strukturier-ter Oberflächen besteht in der Zuverlässigkeit undder größeren Toleranz gegenüber Defekten einzel-ner kleiner Elemente der Oberfläche. Im Gegensatzzu den biologischen Vorbildern haben technischeUmsetzungen allerdings oft noch eine begrenzte,häufig sehr kurze Lebensdauer, was einen deut -lichen Nachteil darstellt. Zukünftig gilt es also beson-ders die Langlebigkeit der biologisch inspiriertenMaterialien und Produkte zu verbessern. SolcheMaterialien könnten dann als neuartige Haftbänder,z. B. im Bereich der Robotik und Medizintechnik,Anwendung finden. Es bestehen weitere Aktivitäten,biologisch inspirierte Oberflächen mit kontrollierterReibkraft zu entwickeln, z. B. für Autoreifen oder neu-artige Klettverschlüsse.

Im Folgenden werden einige Beispiele aus der Praxisnäher vorgestellt, bei denen die Bionik Lösungen fürmaterialtechnische Problemstellungen bieten kann.

2 Bionische Lösungsansätze für technische Problemstellungen

2.1 Bionische Oberflächensysteme

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Struktur /Funktion Wirkungsprinzip Biologische Beispiele Beispiele für Technische Anwendungen

aerodynamisch aktive Oberfläche

Reibungsminimierung Insektenflügel, Haifischhaut

Luftwiderstand-minimierende Polymerfolien

hydrodynamisch aktive Oberfläche

Reibungsminimierung oder Reibungsmaximierung

Haifischhaut, Plankton

Flugzeug -außenbeschichtungen

Strukturen zur Luftrückhaltung

Adhäsion,Benetzbarkeit

Atmungsorgan der Wasserinsekten, Blätter des Wasserfarns

unter Wasser trockene Textilien

anti-adhäsive, nichtbenetzbare (selbstreini-gende) Oberflächen

Minimierung der Kontakt fläche zwischen Partikeln/Tropfen und Substratoberfläche

Pflanzenoberflächen (z.B.Lotus, Kohl) Insektenober -flächen (z.B. Libellenflügel)

Fassadenfarbe, Antihaftbeschichtungen

Putzstrukturen Reibungsmaximierung undAdhäsion

Insektenbeine(z.B. Putzkämme bei Bienen)

Förderbänder

lauterzeugende Oberflächen

Reibungsmaximierung,mechanische Verklamme-rung

Stridulationsorgane (z.B. Zikaden, Grillen, Heu-schrecken, Käfer)

Haftmaterialien

Strukturen zur Nahrungs zerkleinerung

Reibungsmaximierung(Abrasion)

Zähne, Mundwerkzeuge,Kaumägen

selbstschärfende Schneidewerkzeuge

Filtrations -vorrichtungen

Reibungsmaximierung undAdhäsion

Mundwerkzeuge bei Fliegen,Filtrationsvorrichtungen bei Meeresorganismen

aktive Filtersysteme

Anti-Reibungs -oberflächen

Reibungsminimierung Reptilienhaut, Gelenke mikro-elektro-mechanischeSysteme (MEMS)

anisotrope Reibung Reibungsminimierung, Gleiten

gerichtete Bewegung (z.B.Beförderung von Gegen-ständen wie Insekteneierim Legebohrer)

Förderbänder

Haftsysteme Reibungsmaximierung,Adhäsion

Füße, Mundwerkzeuge, biologische Greifsysteme,Fixierungs systeme (z.B. Gecko füße)

Haftmaterialien, Klebe -bänder, industrielle Greifer,Autoreifen

Thermoregulation, Verdunstungsschutz

mehrfache Reflexion Oberfläche von Wüstentieren und -pflanzen

Oberflächen -beschichtungen

Körperfarbmuster zur Kommunikation, Tarnung

Reflexion, Interferenz, Diffraktion

Insektenflügel (z.B. Libellen) neuartige multi funktionaleoptische Oberflächen

Biologische Mikrostrukturen auf Oberflächen, ihr Wirkungsprinzip, biologische Beispiele und technisches

Anwendungspotenzial (Quelle: Gorb, S.N.: Functional surfaces in biology – mechanisms and applications.

In: Bio mimetics: Bio logically Inspired Technologies. Ed. by Y. Bar-Cohen.: Boca Raton, London, New York:

Taylor & Francis, (2006), S. 381–398. Gorb, S.N.; Voigt, D.: Funktionale biologische Oberflächen als Vorbilder

für die Technik. Performance, Doppelausgabe 2.2009 / 1.2010, S. 68–77.)

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Ziel: Sehr stark haftende, aber reversible Verbindung

Biologisches Vorbild: Zehen des Geckos, Käfer- und Spinnenbeine

Wirkprinzip: Lamellen im Nanometerbereich erzeugen starke Haftungdurch van-der-Waals-Kräfte.

Abstraktion: Mithilfe einer Gussform wird aus einem Polymer einestrukturierte Oberfläche mit den gewünschten Eigenschaften hergestellt.

Entwicklungsstand: Prototypstadium, z.B. Haftfolie für Kletterroboter,Anwendungspotenziale z. B. im Automobilbau oder in der Medizintechnik

2.1.1 Hochleistungsfähige, reversible Haftverbindungen

Klebstoffe sind in der Materialtechnik von außer -ordentlicher Bedeutung. Der Weltmarkt für Kleb-und Dichtstoffe beläuft sich auf rund 47 Mrd. Europro Jahr. Auch wenn mittlerweile hochleistungs -fähige Klebstoffe für unterschiedliche Anwendungs-felder zur Verfügung stehen, bleibt als grundlegen-des Problem eine mangelnde Reversibilität desKlebvorganges bestehen. Klebverbindungen lassensich in der Regel nicht rückstandsfrei und ohneBeschädigung der Substrate trennen. Dies schränktdie Anwendbarkeit und auch die Rezyklierfähigkeitvon geklebten Materialverbünden ein. Bei vielentechnischen Fragestellungen wären daher statt aufchemischen Bindungen basierende permanenteKlebverbindungen reversible aber hochleistungs -fähige Haftverbindungen von Interesse. Dies giltsowohl im konstruktiven Leichtbau von Automobi-len, Maschinen oder Flugzeugen als auch im Alltag,beispielsweise bei der Befestigung von Einrich-tungsgegenständen oder im Freizeitbereich. Prakti-kable technische Lösungen sind bislang allerdingsMangelware. Hier kommt unmittelbar die Bionik insSpiel, die Anregungen und Möglichkeiten für dieEntwicklung intelligenter Haftverbindungen liefert.Wie etwa schaffen es Geckos, Käfer oder Spinnen,an senkrechten Flächen empor zu klettern oderMuscheln und Pflanzen, sich mit enormer Kraft anverschiedenen Oberflächen verankern zu können?

Des Rätsels Lösung liefern Erkenntnisse aus derBionik forschung. So wurde beispielsweise vor eini-gen Jahren der Haftmechanismus des Geckos ent-schlüsselt. Eine wichtige Rolle spielen dabei physi-kalische „van-der-Waals-Kräfte“. Diese sind zwarweitaus schwächer als chemische Bindungen, besit-zen aber den Vorteil, dass jede Einzelverbindung fürsich leicht gelöst werden kann und dennoch aus derSumme der Vielzahl von Kontaktpunkten eine hoheHaftwirkung resultiert. Dies ermöglicht es dem Gecko,sich durch sukzessives Ablösen von Haftkontaktenleicht fortzubewegen, aber dennoch auf Ober flächenverschiedenster Materialien und Neigungswinkelnhaften zu bleiben. Die Grundlage hierfür bildet diespezielle Oberflächenstrukturierung der Gecko-Zehen. An den Spitzen finden sich Millionen nano-meterfeiner Härchen, die in der Summe für eine aus-reichende Haftoberfläche sorgen, um das Körper -gewicht des Geckos zu tragen.

Der Geckofuß als

biologisches Vorbild

für hochfeste, reversi-

ble Haftverbindungen

(Quelle: S.N. Gorb,

Universität Kiel)

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Mittlerweile gibt es fortgeschrittene Ansätze, derar-tige Haftwirkungen technisch einzusetzen. Hierbeiwerden feine Haftsäulen auf Substraten erzeugt,wobei die Haftwirkung maßgeblich vom Radius derSäulen und der Geometrie der Säulenenden be -stimmt werden. Um eine optimale Haftwirkung zuerzielen, gilt es daher die Haftstrukturen mit einerhohen Präzision und Reproduzierbarkeit herzustellen.

Ansätze zur technischen Nutzung derartiger Haftver-bindungen finden sich beispielsweise in der regene-rativen Medizin, etwa bei der Behandlung von Trom-melfellverletzungen oder beim Wundverschluss mitreversibel haftenden Nahtmaterialien. Durch selbst-haftende Nahtmaterialien könnte vermieden wer-den, dass sich beim Fixieren durch Knoten Ent -zündungen bilden oder das abgeheilte Gewebebeim Entfernen des Nahtmaterials beschädigt wird.

Forschern des Max-Planck-Instituts für Polymerfor-schung ist es bereits gelungen, Prototypen von Naht-material mit nanoskopischen Fibrillen herzustellen,die ein schnelles Haften und Lösen ermöglichen.

Wenn es gelingt, Herstellungsmethoden zu etablie-ren, mit denen sich die bionischen Haftstrukturenreproduzierbar und kostengünstig auf großflächigenPolymerfolien herstellen lassen, eröffnen sich vieleinteressante Anwendungsmöglichkeiten. Ein der -artiges „Gecko-Klebeband“ ließe sich beispielsweiseals reversible und hochbelastbare Verbindungstech-nik z. B. in der Bautechnik oder im Automobil einset-zen. Erste technologische Lösungen basieren aufGuss- und Prägeprozessen, bei denen die Strukturenfotolithografisch auf Stempel- /Gussformen übertra-gen und anschließend auf Polymerfilme aufgeprägtwerden. Technische und wirtschaftliche Lösungenkönnten sich beispielsweise durch sogenannte Rolle-zu-Rolle-Verfahren ergeben, bei denen die Struktu-ren durch eine Stempelwalze in einen Epoxidharz-film (auf einer Kunststofffolie) geprägt und anschlie-ßend ausgehärtet werden (Kroner, Kamperman undArzt 2010).

Auch in anderen Anwendungsfeldern wie der Bau-technik bieten sich Einsatzpotenziale für bionischeHaftverbindungen. Die Hochschule Darmstadtbefasst sich beispielsweise mit der Entwicklungreversibler Haftverbindungen nach dem Prinzip desGeckos, die als mobile Anschlagpunkte zur sicherenund flexiblen Befestigung technischer Infrastruktu-ren wie Kabel und Leitungen auf einer Baustelle ein-gesetzt werden können (Hessisches Ministerium fürWissenschaft und Kunst 2011).

In der Natur gibt es neben der Nutzung von van-der–Waals-Kräften viele weitere Haft- bzw. Klebmechanis-men, die beispielsweise auf kapillaren oder chemi-schen Wechselwirkungen basieren und unter sehrvariablen Umgebungsbedingungen einsetzbar sind.Beispiele hierfür sind Kletterpflanzen, deren extremfeste Verankerung mit dem Untergrund aus einerspeziellen Nano-/Mikrostruktur der Haftorgane inKombination mit Haftsekreten resultiert, oderMuscheln, die Adhäsionssekrete zur Permantenthaf-tung unter Wasser nutzen. Adhäsive Muschelpro-teine sind auch für technische Einsatzmöglichkeiteninteressant, wie beispielsweise zur Fixierung denta-ler Implante – eine Anwendung, die die UniklinikFrankfurt im Rahmen des BMBF-Projektes BioClouentwickelt hat.

Die Entschlüsselung der chemischen und mikrome-chanischen Eigenschaften von Adhäsionssekreten istein aktuelles Forschungsfeld der Bionik, von der dietechnische Klebstoffentwicklung profitieren könnte.

Winzige Härchen

an den Käferfüßen

fließen in Kontakt

mit Oberflächen

und vergrößern die

Haftung. (Quelle:

T. Eimüller, P. Gutt-

mann, S. N. Gorb)

Nanofasern auf

Nahtmaterial

(Quelle: Max-

Planck-Institut für

Polymerforschung)

Künstlich her gestellte

Gecko strukturen auf

einer Kunststofffolie

(Quelle: A.E. Kovalev,

Universität Kiel)

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Verschmutzte Oberflächen sind nicht nur ein alltäg -liches Ärgernis im privaten Umfeld, sondern verur -sachen auch in der Industrie Kosten in Milliarden-höhe. Maschinenoberflächen in der Lebensmittel-,Kosmetik oder Pharmaindustrie haben hohe Anfor-derungen in Bezug auf kontinuierliche Reinhaltung.Verschmutzungen von Leitungen, Wärmetauschernoder Transportmitteln können die Funktionsweisevieler Infrastruktureinrichtungen erheblich beein-trächtigen. Der Arbeitsaufwand und die Umweltbe-lastung durch chemische Reinigungsmittel stellenein erhebliches Kosten- und Umweltproblem dar. In

der Biologie finden sich viele wirksame Mechanis-men gegen die Verunreinigung von Oberflächen.Das bekannteste Beispiel ist der sogenannte Lotus-Effect®, der die geringe Benetzbarkeit einer Ober-fläche bezeichnet, wie sie bei der Lotosblume aberauch vielen einheimischen Pflanzenarten beobach-tet werden kann. Wasser perlt in Tropfen ab undnimmt dabei auch alle Schmutzpartikel auf derOberfläche mit. Verantwortlich dafür ist eine kom-plexe mikro- und nanoskopische Architektur derOberfläche, die die Haftung von Schmutzpartikelnminimiert.

Beschichtungsanlage

zur Herstellung struk-

turierter Polymer -

folien (Quelle: INM,

Foto: Uwe Bellhäuser)

Anwendung von bio -

nischen Haftmechanis-

men am Beispiel eines

Laufroboters, der senk-

rechte Flächen empor

klettern kann (Quelle:

Case Western Reserve

University)

Ziel: Reinhaltung von Oberflächen

Biologisches Vorbild: Pflanzenblätter wie Lotus oder Kapuzinerkresse

Wirkprinzip: Hydrophobe, nano- und mikrostrukturierte Oberflächen verhindern Anhaften von Schmutzpartikeln – Wassertropfen transportieren diese ab.

Abstraktion: Ausbildung nano- /mikrostrukturierter superhydrophober Oberflächendurch physikalische oder chemische Beschichtungstechniken etwa durch Selbstorga-nisation von Siliziumdioxidnanopartikeln und Fluorpolymeren

Produkte: Außenwandfarbe Lotusan®, Beschichtung z. B. von Fassaden, Textilien,Keramik, Glas

2.1.2 Selbstreinigende Oberflächen

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Derartige Oberflächen werden superhydrophobgenannt, d. h. sehr stark Wasser abweisend. Selbst-reinigende Oberflächen sind von zunehmend tech-nischer und wirtschaftlicher Bedeutung, z. B. beiselbstreinigenden Textilien oder Fassadenflächen.Für die Herstellung superhydrophober Oberflächen-systeme gibt es verschiedene technische Verfahren.Eine kostengünstige Methode besteht in flüssigenBeschichtungslösungen, die funktionalisierte Sili -ziumdioxid-Nanopartikel, Vernetzungsmittel und

Fluorpolymere enthalten. Auf den beschichtetenOberflächen entsteht selbstorganisiert eine mikro-raue Struktur eines Netzwerkes organischer undanorganischer Bestand teile, an deren Außenseitesich wasserabweisende Molekülketten befinden, sodass insgesamt ein super hydrophober Effekt ent-steht. Verschiedene Materialien wie Textilfasern,Metall, Glas oder Keramik lassen sich so mit einemSelbstreinigungseffekt ausstatten.

Links:

Computergrafik Ober fläche

Lotus-Effect® (Quelle: William

Thielicke – [email protected])

Rechts:

Wassertropfen auf Kapu -

zinerkresse, natürlicher

Selbst reinigungseffekt

(Quelle: ©marika /pixelio.de)

Nanobeschichtete Textilfasern werden u. a. für Markisenstoffe mit Selbstreinigungseffekt eingesetzt (links). Durch die

superhydrophoben Eigenschaften des Textilgewebes perlt Wasser tropfenförmig ab (oben rechts) und spült dabei

anhaftende Schmutzpartikel fort. Die Abbildung Mitte rechts zeigt das chemisch funktionalisierte Polyestergewebe in

elektronenmikroskopischer Aufnahme (Bildbreite: 500 µm). In einer stärkeren Vergrößerung (unten rechts) wird ein

nanoporöser Belag sichtbar, mit dem ein Großteil des Textils bedeckt ist und der für die superhydrophoben Eigen-

schaften verantwortlich ist. (Quelle: BASF)

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Superhydrophobe Beschichtungen liefern auchLösungsansätze für die Vermeidung des Vereisensvon Oberflächen. Verschiedene Pflanzen, Fische,Frösche und Insekten verfügen über Eigenschaften,die durch eine spezielle chemische Funktionalisie-rung und Strukturierung von Oberflächen eine Eis-bildung verhindern.

Was in der Natur überlebenswichtig ist, ist auch inder Technik von erheblicher Bedeutung. In vielentechnischen Fragestellungen wie dem Automobil-und Flugzeugbau oder auch bei Windkrafträdernwären wirksame Anti-Icing-Oberflächen ein enormerVorteil.

Wie bei der Selbstreinigung spielen auch bei derVermeidung der Eisbildung die Nanostrukturen eineentscheidende Rolle. Derzeit werden systematischeUntersuchungen durchgeführt, welche Struktur- undMaterialkombinationen optimale Eigenschaften imHinblick auf diese Funktionalität bewirken. Im Experi -ment konnte bereits gezeigt werden, dass neben derchemischen Funktionalisierung auch die Strukturie-rung einen deutlichen Einfluss auf die Vermeidungder Eisbildung besitzen. Im Rahmen eines BMBF-Projektes konnten hydrophobe mikro- und nano -strukturierte Schichten für Kunststoffober flächen her-gestellt werden, die einen wirksamen Vereisungs-schutz bieten, da die Bildung von Kristallisations -keimen auf der Oberfläche behindert und die Haf-tung von Eis um mehr als 90% reduziert wird (Fraun-hofer IGB 2011).

Die Natur liefert das Vorbild: Mikroskopische Aufnahmen

von Eis auf einem Blatt des heimischen „Frauenmantels“

(Alchemilla). Die Oberflächenstruktur und -chemie ver -

hindert, dass Eis auf der Oberfläche fest anhaften kann.

Es bilden sich vereinzelte Eiströpfchen und -nadeln, die

sich einfach von der Oberfläche ablösen lassen.

(Quelle: Dr. Michael Haupt, Fraunhofer-Institut für

Grenz flächen- und Bioverfahrenstechnik IGB)

Raster-Kraft-Mikroskop-Auf-

nahme einer durch Plasma-

technologie beschichteten

Kunststofffolie. Durch die

Nanostrukturen in Kombina-

tion mit der Oberflächen -

chemie wird die Eisbildung

und die Eishaftung deutlich

verringert.

(Quelle: Dr. Michael Haupt,

Fraunhofer-Institut für Grenz-

flächen- und Bioverfahrens-

technik IGB)

Thermographische Aufnahme

eines unterkühlten Wasser-

tröpfchens auf einer im Plasma

beschichteten Kunststofffolie.

Der Wassertropfen wird durch

die künstliche Oberflächen-

funktionalisierung auch bei

Temperaturen unter Null Grad

Celsius flüssig gehalten.

(Quelle: Dr. Michael Haupt,

Fraunhofer-Institut für Grenz-

flächen- und Bioverfahrens-

technik IGB)

Forschung und Entwicklung

im Kontext Anti-Eis-Beschich-

tungen – Beurteilung der

Reifhaftung durch einen Reif-

Adhäsions-Test.

(Quelle: FhG IFAM)

Die Enteisung von Flugzeugtragflächen ist ein zeit- und

kostenintensiver Prozess (Quelle: iStockphoto.com/Ceneri)

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Energieverlust und Verschleiß durch Reibung zählenzu den Grundproblemen mechanischer Prozesse.Ob in der Industrie oder im Verkehrssektor, dieReduktion von Reibung könnte Volkswirtschaftenvon Kosten in Milliardenhöhe entlasten und erheb-lich zur Umwelt- und Ressourcenschonung beitra-gen. Auch hier kann die Natur Lösungsansätze lie-fern. Die Minderung von Reibung zur effizienten undEnergie sparenden Fortbewegung ist in der Naturein weitverbreitetes Prinzip. Schon seit längerer Zeitwerden Prinzipien zur Reibungsminimierung in Luft(Aerodynamik) und Wasser (z. B. Haifischhaut) unter-sucht. In jüngerer Zeit wird die Biologie als Vorbild

herangezogen, um Reibkontakte zwischen Festkör-pern zu optimieren. Als Beispiel aus der Natur wirdhierbei der Sandfisch (Scincus albifasciatus) aus derSahara untersucht, der sich bei der Fortbewegungim Sand in ständigem Reibkontakt mit feinen Sand-körnern befindet und dennoch durch ein äußerstglatt und glänzend erscheinendes Schuppenkleidbesticht. Ursache hierfür ist eine im Verlauf der Evolution heraus gebildete raffinierte Oberflächen-struktur. Eine unter dem Elektronenmikroskop erkenn-bare, quer zur Strömung des Sandes verlaufendeSchwellenstruktur fungiert als Abstreifkamm für denWüstenstaub, der die Sandkörner überzieht.

Ziel: Verschleißminderung und Reduzierung der Reibung zwischen Festkörpern

Biologisches Vorbild: Struktur der Hautschuppen des Sandfischs

Wirkprinzip: Sägezahnartige Mikro- und Nanostruktur der Hautschuppen, die querzur Fortbewegungsrichtung, d. h. zur „Sandströmung“, verläuft, streift schmirgelndenQuarzstaub von Sandkörnern ab. Die Sandkörner gleiten über die Kämme derMikrostruktur.

Abstraktion: Mikrokämme aus Silizium und Polymeren

Entwicklungsstand: Nachgebildete Strukturen zeigen bisher noch nicht ausreichend die gewünschten Eigenschaften; Anwendungspotenziale: z. B. Trocken-schmierung, landwirtschaftliche Maschinen, Verschleißschutz für Solaranlagen (insbesondere für den Einsatz in Wüsten)

2.1.3 Reibungsmindernde Oberflächen

Der Sandfisch verfügt über einen

effizienten und verschleiß armen Fort-

bewegungsmechanismus im Wüsten-

sand, der auf einer sägezahnartigen

Mikrostruktur der Hautschuppen

basiert. (Quelle: TU Berlin)

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Die von schmirgelnden Staubpartikeln befreitenSandkornflächen können so mit geringer Reibungund fast ohne Abrieb über die Schwellenstrukturgleiten. Nanoskalige Spitzen auf den Schuppen die-nen dabei als effiziente Ableitstrukturen für elektro -sta tische Aufladungen, um zu vermeiden, dass feinegeladene atmosphärische Tonpartikel sich fest aufder Sandfischhaut anlagern können. Im Rahmen vonForschungsarbeiten konnten derartige Strukturenmittels mikrotechnischer Lithographie- und Abfor-mungsverfahren nachgestellt werden, allerdingsnoch ohne die Zyklenbeständigkeit des Vorbildesaus der Natur (Rechenberg et al. 2009).

In der Technik bietet das Prinzip dieses mikrostruk-turierten Abstreifkammes Potenziale in Anwendun-gen, bei denen Schleifpartikel zwischen Grund- undGegenkörper zum Verschleiß führen, wie z. B. beiFußbodenbelägen aber auch landwirtschaftlichenMaschinen, Geräten in der Kohle- und Abraumförde-rung sowie Granulierungsapparaten und Sinteran -lagen. Der Sandfisch könnte hier als ein Vorbild fürdie Entwicklung einer effizienten und weitgehendwartungsfreien Trockenschmierung dienen, um dieNachteile des Einsatzes von Schmierstoffen wie Kon-tamination und Entsorgungsproblematik zu vermei-den.

Oben: Künstlich erzeugte „Mikrokämme“ als reibungsmindernde

Struktur nach dem biologischen Vorbild des Sandfisches

Links: Herstellungsverfahren auf Basis einer geätzten Silizium-

Masterform, die über mehrere Prozessschritte in ein Polymer

abgeformt wird (Quelle: IZM Berlin]

Prinzip des reibungs -

mindernden Abstreifeffektes

kleiner Partikel durch quer-

gestellte Kammstrukturen

(Quelle: TU Berlin]

Schmirgelschicht

Sandkorn

Abgestreifter Partikelhaufen

Ebene Gleitfläche

Sandkorn

Gleitfläche mit Querschwellen

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Farbeindrücke bestimmen unser optisches Wahr-nehmungsvermögen und ästhetisches Empfinden.Farben sind in vielen Industriebereichen, etwa alsCodierung oder Gefahrenhinweis, vor allem aber imKonsumgüterbereich von entscheidender Bedeu-tung. Eine attraktive Farbgebung entscheidet oft-mals über Erfolg oder Misserfolg eines Produktes ,z. B. bei Kosmetikartikeln oder Verpackungen. Ob -wohl die Entwicklung und Nutzung von Farbstoffenbereits die gesamte Kulturgeschichte der Mensch-heit begleitet hat, blieben bestimmte Farbeffekte,wie sie in der Natur beobachtet werden, lange Zeitunerklärlich. Eindrucksvolle Beispiele sind der Perl-glanzeffekt bestimmter Muschelsorten oder daschan gierende Farbspiel spezieller Insektenpanzer,Schmetterlingsflügel oder Pfauenfedern. Die schil-lernden Farben entstehen dabei ohne molekulare,organische Farbstoffe allein durch Interferenzeffekteauf Basis von Nano- und Mikrostrukturen der jewei-ligen Oberflächen. Die Oberflächen bestehen dabeiaus zweidimensionalen kristallinen Strukturen, die

eine regelmäßige Gitterstruktur bilden. Dabei ent-steht in Abhängigkeit vom Betrachtungswinkel einunterschiedlicher Farbeindruck. Anders als etwabeim Regenbogen wird das auftreffende Licht nichtspektral zerlegt sondern jeweils Anteile des Lichts anunterschiedlichen Strukturen der Oberfläche reflek-tiert. Der geringe Unterschied in der zurück geleg-ten Wegstrecke der reflektierten Strahlen verursachteine Überlagerung der elektromagnetischen Wellen,die sich je nach Wegunterschied auslöschen oderverstärken können. Da das Licht aus Wellen verschie-dener Wellenlängen besteht, werden beispielsweiseblaue und rote Wellenlängen unterschiedlich ver-schoben. So kann das blaue Licht verstärkt werden,während das rote Licht verschluckt wird. Technischwerden derartige Strukturen beispielsweise für Effekt-pigmente in der Kosmetik oder bei Autolackengenutzt. Je nach Betrachtungswinkel und Dicke derPigmentschichten entstehen wechselnde Farbef-fekte beim Beobachter.

2.1.4 Nano- und Mikrostrukturen für optische Effekte

Ziel: Lichtbeständige attraktive Farben

Biologisches Vorbild: Farberzeugung an Strukturen bei Schmetterlingen oder Käfern

Wirkprinzip: Lichtinterferenz an strukturierten Oberflächen und Materialien

Abstraktion: Dünne Metalloxidschicht auf Trägerpartikel (aus Siliziumdioxid) führt ebenfalls zu Interferenz des Lichtes. Es entsteht ein richtungsabhängiger irisierender Farbeindruck.

Produkt: Interferierende Pigmente, Anwendung z.B. in Autolacken, Kosmetikfarbenoder Verpackungen

Morphofalter und

Käfer mit intensiver

metallisch glänzender

Farbgebung auf Basis

nanostrukturierter

Oberflächen (Quellen:

links: Wikipedia public

domain, rechts: MPI für

chemische Ökologie)

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Ziel: Antireflektionseigenschaften für transparente Oberflächen

Biologisches Vorbild: Lichtsammeleffekt bei Augen nachtaktiver Motten

Wirkprinzip: Nano- /mikrostrukturierte Linsenoberflächen sorgen für einen fließenden Übergangdes Brechungsindexes zwischen Luft und Mottenauge. Dadurch lassen sich Reflexionsverluste vermeiden und die Lichtausbeute im Auge erhöhen („Mottenaugeneffekt“).

Abstraktion: Säulenartige Nanostrukturen oder nanoporöse Siliziumdioxidbeschichtungen auftransparenten Oberflächen ermöglichen einen fließenden Übergang des Brechungsindexes zwi-schen Luft und Substrat und sorgen für Antireflektionseigenschaften. Die Antireflektionsschichtenlassen sich mittels Beschichtungs- oder Prägeverfahren auf Glas- und Kunststoffsubstraten erzeugen.

Produkte: Entspiegelung von Displays und Architekturglas, erhöhte Lichtausbeute bei Solarzellen

Oben: Interferenzpigmente bestehen aus einem Siliziumdioxid-

kern und einer nanoskaligen Metalloxidbeschichtung. Auf das

Pigment auftreffende Lichtstrahlen werden teilweise an der

oberen und teilweise an der unteren Grenzschicht zwischen

Metalloxidbeschichtung und Siliziumdioxidkern reflektiert.

Durch Interferenzeffekte ergeben sich je nach Betrachtungs-

winkel unterschiedliche Farbwirkungen. (Quelle: Merck)

Rechts: Effektlackierung durch Interferenzpigmente. Interfe-

renzpigmente bewirken einen mit dem Betrachtungswinkel

wechselnden Farbeindruck, wie in der Abbildung anhand eines

Automobillackes demonstriert wird.

(Quelle: Dupont Deutschland GmbH)

Lichtquelle

Durch die unterschiedliche Wegstreckedes Lichtstrahls entstehen unterschiedliche

Interferenzfarben, abhängig vomBetrachtungswinkel.

Metalloxidbeschichtung(TiO2 oder Fe2O3)

SiO2

Betrachtungswinkel

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Ein weiterer in der Natur vorkommender optischerEffekt sind antireflektierende Eigenschaften und Licht -sammeleffekte, wie sie bei Augenlinsen nachtaktiverInsekten (z. B. Motten) vorkommen. Durch eine facet-tenartige Mikro- /Nanostruktur des Mottenaugeswird der Brechungsindex zwischen umgebender Luftund der Linsenoberfläche fließend angepasst, sodass Lichtbrechung und -reflektion vermieden wird.Das einfallende Licht gelangt weitgehend vollstän-dig in das Mottenauge und wird somit möglichst effi-zient genutzt. Technisch wird der Mottenaugeneffektbeispielsweise zur Entspiegelung von Displays oderSolarzellen eingesetzt.

Wichtig ist es dabei, die entspiegelten Strukturenmöglichst kostengünstig und mit hoher mechani-scher Stabilität herzustellen. Entspiegelte Gläser lassen sich beispielsweise durch Sol-Gel-Beschich-tungen herstellen, bei denen sich durch ein Tauch-verfahren auf dem Glassubstrat eine nanoporöseAntireflexschicht aufbringen lässt, die die Licht -reflexion auf ca. 2% reduziert (vgl. Hessen-Nanotech2008). Mittlerweile sind auch Verfahren entwickeltworden, mit denen sich Antireflexstrukturen aufKunststoffsubstraten kostengünstig herstellen lassen.Dabei werden die gewünschten Strukturen durch einBeschichtungsverfahren in einer Gussform erzeugtund mit einer speziellen Spritzgusstechnik in einemeinzigen Prozessschritt auf entspiegelte Kunststoff-scheiben übertragen.

Künstliche Antireflexionsoberfläche, bei der nanoskalige

Strukturen nach dem natürlichen Vorbild von Mottenaugen zu

entspiegelnden Eigenschaften führen (Quelle: Fraunhofer ISE)

Demonstration des

Entspiegelungseffekts

(Quelle: Fraunhofer

IWM, Freiburg)

Entspiegeltes

Kunststoffdisplay

eines Autotachos

(Quelle: Fraunhofer

IWM, Freiburg)

Elektronenmikroskopie-Aufnahme einer Motten -

augenstruktur auf einer entspiegelten Kunststoff -

oberfläche (Quelle: Fraunhofer IWM, Freiburg)

Wiener Nachtpfauen-

auge (Quelle: André

Künzelmann /UFZ)

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Stofftrennung und Filtration gehören zu den Grund-operationen in der chemischen Verfahrenstechnikund sind demnach von immenser wirtschaftlicherBedeutung. Trotz ausgereifter Filtrationstechnikenstellt insbesondere eine effiziente und kostengüns-tige Abtrennung sehr feiner Stoffgemische wie etwagesundheitsgefährdender Stoffe aus Industriepro-zessen immer noch eine Herausforderung dar. DasProblem mehrphasige Stoffgemische voneinanderzu trennen ist nicht nur eine technische Fragestel-lung, sondern stellt sich auch an vielen Stellen in derNatur. Ein Beispiel ist die Abscheidung von Nebel-wasser aus der Atmosphäre, wie sie von einigenPflanzen speziell in sehr niederschlagsarmen Klima-zonen praktiziert wird. Über einen wirksamenMecha nismus verfügt eine afrikanische Grasart, diedurch eine sehr filigrane dreidimensionale Blatt-struktur in der Lage ist, Nebelwasser an der Blatt-oberfläche zu kondensieren und die sich ausbilden-den Tropfen zu nutzen. Derartige Strukturen liefernVorbilder für effiziente Nebelabscheider und neu -artige Filtermaterialien. Eine Entwicklung betrifft beispielsweise Filtermedien, mit denen z. B. feinsteKühlschmierstoff-Tröpfchen in der spanenden Indus-trie aus Gasen effizient entfernt werden können.Nach biologischem Vorbild lassen sich neue Koales-zenzabscheider realisieren, bei denen Synergie -effekte zwischen neuartigen Filtermaterialien, Ober-flächenstrukturierung und optimierter Filterarchitek-tur ermöglicht werden.

Ziel: Mehrphasige Stofftrennung, Wassergewinnung aus Nebel

Biologisches Vorbild: Dünengras

Wirkprinzip: Mit dreidimensionaler Blattstruktur werden Nebeltröpfchen kondensiert

Abstraktion: Nanostrukturierte Filtermedien oder Koaleszenzabscheider mit veränderter Filterarchitektur

Entwicklungsstand: Potenziale bei Trennverfahren für Ölemulsionen, Wassergewinnung in Wüsten

2.1.5 Effiziente Stofftrennung und Filtration

Die afrikanische

Grasart Stipa grostis

sabulicola ist ein

effizienter Nebel ab -

scheider aufgrund

der dreidimensional

mikro-nanostruk tu rier -

ten Blattoberfläche.

(Quelle: ITV

Denkendorf)

Technische Anwen-

dungsmöglichkeit

für nanostruk turier te

Koaleszens abschei der

sind spanende

Fertigungsverfahren

in der Industrie.

(Quelle: ITV

Denkendorf)

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Weitere Potenziale bestehen auch bei der Entwick-lung umweltfreundlicher Trennverfahren für Ölemul-sionen. Basierend auf den Eigenschaften bestimmterInsektenarten wie Öl sammelnder Bienen sollen neu-artige faserbasierte Filtersysteme mit extrem hoherSaugfähigkeit und Haltekapazität entwickelt werden.In der Umwelttechnik könnten diese Filter zur effi -

zienten Abtrennung öliger Bestandteile aus Öl- Wasser-Emulgatoren-Mischungen eingesetzt werden.Potenzial besteht auch für regenerierbare Ölbinde-textilien, die sowohl die Einweganwendung als auchdie umweltbelastende thermische Entsorgung erset-zen könnten.

Ölbiene (Centris sp.)

in Aktion: Haare an

den Beinen spei-

chern die Flüssigkeit

(Quelle: Tierökologie

Uni Bonn)

Hinterbein einer Ölbiene (Centris) mit

den typischen verzweigten Haaren

(Quelle: Tierökologie Uni Bonn)

Hinterbein einer Ölbiene (Centris)

beladen mit Öl

(Quelle: Tierökologie Uni Bonn)

Elektronenmikroskop-Foto des Prototyps

eines Textils inspiriert durch die Ölbiene

(Quelle: Tierökologie Uni Bonn)

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Wo klassische Ansätze der Ingenieur- und Material-wissenschaft oftmals an Grenzen stoßen, eröffnen sichdurch disziplinenübergreifende Forschungssträngeder Materialtechnik und der Nanotechnologie neueLösungsansätze für bionische Entwicklungen. Ebensowie die Natur auf dem intelligenten Zusammenwirkennanostrukturierter Materiebausteine basiert, ist auchfür die Umsetzung biologischer Effekte in die techno-logische Praxis die ge zielte Nanostrukturierung vonWerkstoffen und Ober flächen in vielen Fällen das Mittel der Wahl.

Biologische Materialien zeichnen sich durch vielfältigeEigenschaften und eine hohe Leistungsfähigkeit aus.Als Beispiel sei hier Spinnenseide genannt, die vieleverschiedene Funktionen erfüllen kann (Netzbau,Kokonbau, Flugfäden, etc.) und dabei erstaunlicheEigenschaften aufweist, die im Leistungsbereich tech-nischer Materialien liegen (fünfmal so reißfest wieStahl, dreimal so fest wie die derzeit besten syntheti-schen Fasern, siehe Kapitel 2.2.5).

Solche biologischen Materialien (Spinnenseide, Perl-mutt, Pflanzengewebe etc.) sind daher von beson-derem Interesse für die Forschung und bilden dieGrundlage für bionische Entwicklungen.

Biologische Materialien zeichnen sich häufig durcheine ausgesprochene Multifunktionalität aus, wäh-rend technische Materialien in der Regel auf wenigeFunktionen hin entwickelt und optimiert werden.

Ein weiteres Charakteristikum, das biologische Mate-rialien entscheidend von vielen technischen Mate-rialien unterscheidet, ist das biologische Wachstum.Das bedeutet, dass Materialien unter extremer Res-sourcenschonung aus kleinen Einzelbausteinen auf-gebaut werden; dies geschieht in der Regel untermilden Milieubedingungen. Es werden also keinehohen Temperaturen, keine extremen ph-Werte undkeine hohen Drucke erforderlich, um diese leis-tungsfähigen Materialien zu erzeugen.

Im Zuge der anhaltenden und immer wichtiger werdenden Debatte um die Nachhaltigkeit von Pro-dukten einschließlich ihrer Entsorgung kann auchhier von biologischen Materialien gelernt werden.Organismisch erzeugte Materialien sind in der Regelvollständig abbaubar und können wieder in dennatürlichen Stoffkreislauf einbezogen werden.

Allerdings birgt diese quasi genetisch angelegte„begrenzte Nutzungsdauer“ organismischer Mate-rialien auch eine große Herausforderung für dietechnische Umsetzung. Technische Produkte sollenhäufig möglichst langlebig sein. Aber auch hier giltes diese Prinzipien intelligent zu erkennen und tech-nisch zu nutzen.

2.2 Materialien und Bauteile

2.2.1 Materialoptimierung für schärfere Klingen

Ziel: Selbstschärfende Messer für den industriellen Einsatz

Biologisches Vorbild: Zähne von Nagetieren

Wirkprinzip:Weiche innenliegende und harte außenliegende Anteile bei Zähnen,Selbstschärfung durch gerichtete Abrasion, weiches innenliegendes Material stützt,hartes (jedoch auch sprödes) Material bildet die Schnittkante

Abstraktion: Kombination aus verschieden harten Materialien, die sich bei Gebrauch unterschiedlich stark abschleifen

Entwicklungsstand/Produkt: Selbstschärfende Klingen

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Schneidwerkzeuge für den industriellen Einsatz müssen so lange wie möglich scharf bleiben, denndie großen Klingen verursachen hohe Kosten beimSchärfen oder durch Austausch. SelbstschärfendeKlingen können diese Kosten deutlich reduzieren.

Ein biologisches Vorbild war schnell gefunden: AlleNagetierzähne arbeiten nach dem Prinzip der„Selbstschärfung“. Eine Analyse dieser Zähne zeigtden Einsatz zweier unterschiedlich harter Materialien.

Bis man das biologische Vorbild entdeckt hatte, ver-suchte man es mit harten oder weichen Materialien: Dieharten Materialien machten das Messer spröde undbruchanfällig, die weichen verursachten ein schnellesabstumpfen. Erst die Verbindung des „lang lebigen“,stabilen Anteils mit dem „kurzlebigen“, sich schnellabschleifenden Teils der Klinge, führt zu den „ratten-scharfen Zähnen“, die dem Prinzip der Zähne von Nage-tieren folgen. Eine erste technische Umsetzung wurdevon Fraunhofer UMSICHT bereits 2005 vorgestellt.

Nagezahn der Wühl-

maus (Quelle: Paläon-

tologie der Uni Bonn)

Selbstschärfendes

Schneidwerkzeug

(Querschnitt)

(Quelle: Fraunhofer

UMSICHT)

2.2.2 Gestaltoptimierung gegen Ermüdungsbrüche

Ziel: Brüche bei Materialermüdung und Versagensbrüche vermeiden bzw. hinaus zögern

Biologisches Vorbild: Baumwachstum, Knochenwachstum

Wirkprinzip: Gleichverteilung der Spannung durch Auf- oder Abbau von Material

Abstraktion: Übertragung der Wachstumsregeln auf technische Konstruktionen

Produkt: Computerprogramme zur Berechnung der Spannung entsprechend derWachstumsregeln

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Versagensbrüche von Bauteilen werden häufig durchwiederkehrende Belastungen ausgelöst (Er mü dungs -brüche). Diese zu vermeiden ist nicht nur eine Frageder Kostenersparnis, sondern kann, z. B. im medizini-schen Bereich beim Einsatz von Implantatschrauben,lebensnotwendig sein.

Für das einwandfreie Funktionieren von biologischenStrukturen und auch technischen Bauteilen ist nebenden Materialeigenschaften auch die Gestalt von gro-ßer Bedeutung. Biologische Strukturen können ihreGestalt unter Belastung (z. B. Bäume) oder auchunter mangelnder Belastung (z. B. Knochen) durchWachstum adaptiv anpassen. Dadurch können Span-nungen konstant verteilt und Versagens brüche vermieden werden.

Diese Wachstumsregeln können simuliert werdenund als Basis für Optimierungsprogramme verwen-det werden, um ein versagenssicheres Bauteil mitmöglichst geringem Gewicht zu konstruieren. Das zuoptimierende Bauteil wird dabei rechnerisch nachden gleichen Wachstumsregeln gestaltet, wie siebeispielsweise bei Holz oder Knochen anzutreffensind (siehe Kapitel 3.3).

Die Übertragung dieser Gesetzmäßigkeiten in tech-nische Anwendungen wurde maßgeblich am Karls-ruher Institut für Technologie (KIT) durchgeführt, dasauch entsprechende Computerprogramme ent -wickelte, um die Gestaltoptimierung für technischeFormen berechnen zu lassen. Inzwischen liegenauch anschauliche und einfache Vorgehensweisenfür Geodreieck und Taschenrechner vor:

Quelle: Prof. Mattheck,

KIT Karlsruhe

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Integrale Ebenea Mechanische Tests a Analyse der Geometrie und

Oberflächenoptimierung

Makroskopische Ebenea Lichtmikroskopiea Mechanische Testsa Oberflächenanalyse (Rauigkeit)

Mikroskopische Ebenea Lichtmikroskopiea Tomographiea Mikromechanische Tests

Submikroskopische Ebenea Rasterelektronenmikroskopie (REM, ESEM)a Transmissionselektronenmikroskopie (TEM)a Mikromechanische Testsa Nanoindentierunga Scanning Acoustic Microscopy (SAM)a Oberflächenanalyse (Grenzflächen, Rauigkeit etc.)a Multiphotonenmikroskopie

Biochemische Ebenea Chemische Analysena Spektroskopische Analysen (FT-IR, Raman, UV)a Atomic Force Mikroskopie (AFM)a Transmissionselektronenmikroskopie (TEM)a Röntgenstreumethodena NMR-Spektroskopie

Typische Analysemethoden auf verschiedenen Hierarchieebenen

2.2.3 Technischer Pflanzenhalm

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Möglichst geringes Gewicht bei gleichzeitig maxima-ler Stabilität mit zusätzlich hervorragenden Dämp -fungseigenschaften in eine einzige Struktur zusam-menzubringen sind technisch immer noch eine großeHerausforderung. Pflanzliche Vorbilder gibt es dazugenügend, jeder Grashalm ist in dieser Hinsicht einefantastische Leichtbaukonstruktion der Natur.

Die hohe Fehler- und Versagenstoleranz solcher bio-logischer Systeme hängt zum großen Teil mit ihremmodularen Aufbau zusammen. Diese Eigenschaftwird auch heute schon häufig in technischen Syste-men genutzt, meist jedoch auf der Ebene der Bau-teile (z. B. Karosseriebau). Auf der Ebene des Materi-als kann hier noch viel von der Natur gelernt werden.

Ziel: Leichte Hohlrohrkonstruktion mit hoher Bruch- und Knickstabilität sowie guten Dämpfungseigenschaften

Biologisches Vorbild: Pfahlrohr und Schachtelhalm

Wirkprinzip: Hohlrohre mit hierarchisch angeordneten Faserverbünden

Abstraktion: Kombination von Faserverbundmaterialien mit Hohlrohrstrukturen,umgesetzt über Pultrusionsverfahren

Produkt: Technischer Pflanzenhalm

Achsenstruktur

Gewebestruktur

Zellstruktur

Zellwand

Makromoleküle

Bildquellen: Ingo Burgert, MPI Potsdam Golm/Plant Biomechanics Group Freiburg

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Da biologische Materialien und Strukturen fastimmer hierarchisch aufgebaut sind, ist eine gründ -liche Analyse auf verschiedenen Längenskalen imVorfeld jeder bionischen Lösungsstrategie unbe-dingt notwendig. Es muss geprüft werden, ob dieRandbedingungen, die für das biologische Vorbildgelten, auch für die technische Umsetzung relevantsind. Erst durch die Abstraktion, d. h. das Loslösendes gefundenen Prinzips vom biologischen Vorbild,kann eine bionische Umsetzung gelingen.

Die Erkenntnisse aus den Analysen wurden im sogenannten „Technischen Pflanzenhalm“ von der Uni-versität Freiburg und dem Institut für Textil- und Ver-fahrenstechnik Denkendorf umgesetzt. Die hoheBiegesteifigkeit wurde vom Schachtelhalm (Equise-tum) abstrahiert, während die besonderen Dämp-fungseigenschaften vom Pfahlrohr (Arundo donax)abstrahiert wurden. Der zum Patent angemeldeteTechnische Pflanzenhalm ist ein bionischer Faserver-bundwerkstoff, der im Flechtpultrusionsverfahrenhergestellt wird. Trotz seines geringen Gewichtsweist er eine hohe Biege- und Knickstabilität auf.Außerdem kann er Schwingungen gut abdämpfen.Diese bionische Umsetzung von Material und Struk-tur in ein technisches Hohlrohr kann z.B. zur Auf-nahme von Leitungen dienen.

Ziel:Werkstoffe mit multifunktionalem Eigenschaftsprofil (z. B. hohe Druck- und Bruchfestigkeit, Härte, Biokompatibilität)

Biologisches Vorbild: Knochen, Zähne, Perlmutt

Wirkprinzip: Hierarchisch aufgebaute anorganische-organische Hybridmaterialien

Abstraktion: Kombination anorganischer Materialien und Polymere in Selbstorganisationsprozessen

Entwicklung/Produkt: Künstliches Perlmutt, Knochenersatzmaterial

Der technische Pflanzen-

halm, ein bionisches struk-

turoptimiertes Faserver-

bundmaterial, mit den bio-

logischen Vorbildern Pfahl-

rohr (links) und Schachtel-

halm (rechts).

(Quelle: Plant Biomechanics

Group Freiburg)

2.2.4 Anorganisch-organische Hybridmaterialien

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Herkömmliche Werkstoffe sind oftmals limitiert, wennes darum geht, verschiedene technische Eigenschaf-ten und Funktionen in einem Material zu vereinen. So ist Keramik zwar sehr hart, dafür aber spröde undwenig bruchfest. Ganz anders einige Materialien, die aus der Natur bekannt sind. Knochen oder Perl-mutt sind hochleistungsfähige Materialien, die einehohe Härte mit Elastizität, Druck- und Bruchfestigkeit kombinieren.

Ein Ziel aktueller materialwissenschaftlicher Forschungist es daher, organisch-anorganische Hybridmateria-lien mit vergleichbarer Struktur wie in der Natur vor-kommende Biomineralien und -keramiken technischherzustellen. Ein seit längerem untersuchtes Biomine-ral ist Perlmutt, das aus alternierenden Schichten vonAragonit (Kalziumcarbonat) und einem Biopolymerbesteht. Dank der nanoskaligen Laminatstruktur weistdas Material eine bis zu 3000 mal höhere Bruchzähig-keit auf als gewöhnlicher Kalk.

Inzwischen wurden verschiedene Verfahren ent -wickelt, derartige Strukturen technisch herzustellen.Beispielsweise gelingt es durch Reaktion einerMischung aus Metalloxiden, organischer Monome-ren und Tensiden durch Selbstorganisation einevergleichbare laminatartige Struktur aufeinem Substrat zu erzeugen. Es entstehteine optisch transparente, sehr harteBeschichtung, die z. B. für die Veredlungvon Oberflächen verwendet werdenkann.

Knochen sind ein weiteres Beispiel für Biokeramikenals ein hoch komplex strukturiertes Hybridmaterialaus organischen und anorganischen Bestandteilen,das im gesunden Organismus einem ständigen Um -bau unterworfen ist. Durch verschiedene Krankheits -bilder und Alterserscheinungen kann das Gleich -gewicht zwischen Auf- und Abbau gestört werden.Künstliche Materialien für den Zahn- und Knochen-ersatz sind deshalb im Fokus biomedizinischer Mate-rialentwicklungen. Der Schlüssel hierzu liegt im Ver-ständnis der Nanostruktur und geeigneten Verfah-ren zu deren Herstellung. Ein erfolgreicher Ansatzbesteht darin, künstliche Materialien zu erzeugen,die als Substrat für körpereigene Zellen dienen undso die Selbstheilungskräfte unterstützen. Bereits aufdem Markt sind nanostrukturierte Biomaterialien, die Anwendung finden als Knochenaufbaumaterialbei Knochendefekten.

Stabile Sandwichstruktur als Perlmuttimitat: Nanoschichten aus Titan dioxid und Polymer machen

ein Verbundmaterial besonders bruchfest, wenn ihre Dicken im Verhältnis 10:1 zueinander stehen.

(Quelle: MPI für Metallforschung)

TiO2

Siliziumsubstrat

Polyelektrolytschicht

~100 nm

~10 nm

Polystyrensulfonat

Polystyrensulfonat

Polyethylenimin

Polyallylaminhydrochlorid

TiO2

TiO2

Schale mit Perlmutt (Quelle: Uni Göttingen)

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Die Materialien bestehen aus nano strukturiertenHydroxylapatitkristalliten, die zwischen Kollagenfibril-len eingelagert werden und so die nanostrukturierte,extrazelluläre Matrix des Knochens nachahmen. ImWerkstoffverbund sind die Hydroxylapatitkristallitemit Siliziumdioxid-Nanopartikeln vernetzt, wobei einnanoskaliges Porensystem entsteht. Die so gebildeteStruktur unterstützt die Anbindung körpereigenerProteine und fördert somit den Heilungsprozessdurch den Wiederaufbau körpereigenen Knochen-materials. Weiter gehende Entwicklungen umfassendie Integration wachstumsfördernder Substanzen indie Knochen ersatzmatrix. Forschern ist es beispiels-weise gelungen, aus natürlichen Aminosäuren Nano-Kapseln zu erzeugen, in die Wachstumsfaktoren ein-geschlossen werden. Durch kontinuierliche Abgabedes Wirkstoffes wird der Knochenaufbau begünstigtund der Heilungsprozess beschleunigt.

Neue Erkenntnisse zur Herstellung von Biomine -ralien lassen sich auch aus Untersuchungen zur Biosynthese anorganischer Verbindungen in biolo-gischen Organismen wie beispielsweise Tiefseeor-ganismen ableiten, deren Strukturen einen enormenDruck aushalten müssen. Durch generelle mechanis-tische Überlegungen lassen sich Zielstrukturen fürdas Design bionischer Hybridwerkstoffe definieren.So lässt sich durch längliche parallel zur Oberflächein die Polymermatrix eingebettete mineralischeNano strukturen die Zugfestigkeit des Komposits ver-bessern, während für eine Erhöhung der Druckfes-tigkeit eine senkrechte „Pfahlanordnung“ der anorga-nischen Nanostrukturen gewählt werden sollte.

Ziel: Herstellung besonders stabiler und reißfester Fasern

Biologisches Vorbild: Zusammensetzung und Aufbau der Spinnenseide

Wirkprinzip: Kombination von Material- und Struktureigenschaften

Abstraktion: Biotechnologische Herstellung der Proteine, kombiniert mit bionischerVerspinntechnik der Fäden zur Strukturnachbildung

Entwicklungsstand/Produkt: Dreidimensionale Faserstrukturen, z.T. mit Metallionen imprägniert

2.2.5 Hochfeste und elastische Kunststofffasern

Proteinmatrix

Zugbelastung

Druckbelastung

Nano-Mineralstifte

Nano-Pfähle Polymer

Mechanistische Grundlagen zum Design nanostruk-

turierter Biokomposite mit verbesserter Zugfestigkeit

(oben) und Druckfestigkeit (unten). Durch parallele

Ausrichtung der Nanostrukturen zur Kraftwirkung

wird der jeweilige Verstärkungseffekt erzielt. (Quelle:

TU Berlin, Prof. Rechenberg)

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Im Bereich textiler Fasern stellen Eigenschaften wieReißfestigkeit und Elastizität für innovative Entwick-lungen die großen Herausforderungen dar. Dabeimuss eine Faser möglichst reißfest und gleichzeitignoch sehr elastisch sein.

Im Bereich der Biopolymere finden sich herausra-gende Werkstoffe mit technisch z.T. unerreichtenEigenschaften. Ein beeindruckendes Beispiel ist hier -bei die Spinnenseide, die fünfmal so reißfest ist wieStahl, dreimal so fest wie die derzeit besten synthe-tischen Fasern und zugleich äußerst elastisch. Diechemische Zusammensetzung und der strukturelleAufbau von Spinnenseide sind mittlerweile aufge-klärt. Spinnenfäden bestehen aus Proteinketten, diez.T. über physikalische Wechselwirkungen miteinan-der vernetzt sind, um für Stabilität zu sorgen. Dazwi-schen finden sich unvernetzte Bereiche, die denFaden elastisch machen. Die besondere Funktio -nalität des Spinnfadens resultiert dabei zu großenTeilen aus der Besonderheit des Spinnprozesses,weniger durch die Variation des Materials an sich.Durch Variation der Spinnparameter sind Spinnen inder Lage, Spinnfäden mit unterschiedlicher Funktio-nalität zu spinnen, wie z.B. klebrige Fangfäden undstabile Konstruktionsfäden.

Mit Hilfe biotechnologischer Verfahren lassen sichSpinnenseidenproteine künstlich herstellen. Als Aus-gangsmaterial für industrielle Anwendungen wer-den pulverförmige Seidenproteine genutzt, die sichbeispielsweise mit Elektrospinnverfahren in faden-förmige Makromoleküle überführen lassen. Aus die-sen Fasern lassen sich unterschiedliche Strukturenmit breiten Anwendungspotenzialen in der Technikherstellen. Vliesstoffe können beispielsweise in An -lagen zur Staubfilterung und Luftreinhaltung einge-setzt werden. Weiterhin können die Proteine zu sehrdünnen und widerstandsfähigen Folien und Filmenweiterverarbeitet werden, die Anwendungspoten-ziale in der Medizin- oder Verpackungstechnik auf-weisen. Bio- und nanotechnologische Ansätze ver-folgen die weitere Optimierung von Spinnseiden-proteinen durch chemische Funktionalisierung, wiez. B. der Metallisierung durch Gasphasenabscheide-verfahren.

amorpher Bereich

kristalliner Bereich

Struktur von Spinnenseide

(Quelle: DGM)

Spinnfäden sind fünf Mal reißfester als Stahl und zugleich

äußerst elastisch. Dennoch lässt sich das natürliche

Material weiter verbessern. Mit Metallionen infiltriert, hält

ein doppelt genommener Spinnenfaden sogar einen

ca. 30 Gramm schweren Würfel, dreimal mehr als der

natürliche Faden. (Quelle: MPI für Mikrostrukturphysik)

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Materialversagen verursacht enorme volkswirtschaft-liche Schäden und bedroht tagtäglich unsere Sicher-heit. Technische Systeme und Materialien haben imGegensatz zu biologischen Organismen und Materia-lien nicht die Fähigkeit sich selbst zu reparieren.Schlaglöcher, die sich von alleine schließen oderdefekte Brückenpfeiler, die sich selbst reparieren, zäh-len daher bislang allenfalls zu den Zukunftsvisionenund Wunschträumen von Materialwissenschaftlern.

Einige spezifisch biologische Materialeigenschaftenrücken in jüngster Zeit jedoch vermehrt in den Fokusdes technischen Interesses. Dazu zählen die Fehler-und Versagenstoleranz, die sogenannten SelbstX-Eigenschaften (z. B. Selbstreparatur, Selbstorgani -sation, Selbstanpassung etc.) und die Modularität (d. h. die Besonderheit biologischer Systeme modularaufgebaut zu sein).

Haarrisse sind häufig eine erste Ursache für eine fort-schreitende Materialermüdung in tragenden Bautei-len und Konstruktionen wie etwa bei Brücken, Autosoder Flugzeugen. Sie sind schwer zu detektieren,und es ist fast unmöglich solche frühen Ermüdungs-erscheinungen oder Beschädigungen zu reparieren.

Dagegen ist die Fähigkeit natürlicher Organismen,sich bei Verletzungen selbst zu regenerieren, einerder faszinierendsten Mechanismen in der Biologie.Die Übertragung derartiger Prozesse auf technischeWerkstoffe und Systeme steckt derzeit noch in denKinderschuhen. Dennoch gibt es in den letzten Jahrenverstärkte Bemühungen selbstheilende Materialienzu entwickeln, um die Lebensdauer von Werkstoffenin verschiedenen Anwendungen zu verbessern, ins-besondere in strukturellen Bauteilen, aber auch inder Mikroelektronik. Das Ziel ist es, Ermüdungs -erscheinungen oder Beschädigungen von Werkstof-fen wie Risse, Kratzer oder Korrosionslöcher autonomreparieren zu lassen. Fortschritte in der Mikro- undNanotechnik sowie Bionik haben zu ersten Lösungs-

ansätzen für die Umsetzung technischer Selbsthei-lungsmechanismen geführt. Benötigt werden hier-bei sowohl ein beständiges Füllmaterial als auch einselbstgesteuerter Mechanismus zum Auslösen desHeilungsprozesses.

Am weitesten ausgereift sind bislang Selbstheilungs-konzepte von Polymermaterialien. Ein interessanterAnsatz basiert auf dem Einsatz von Mikro- bzw. Nano -kapseln, die flüssige reaktive Monomere enthaltenund zusammen mit einem Katalysator im Kunststoff-bauteil verteilt sind. Tritt ein Riss im Material auf, wer-den dabei auch einige Kapseln beschädigt und derInhalt verteilt sich in der Lücke. Durch Reaktion mitdem in der Matrix dispergierten Härter bzw. Katalysa-tor wird ein Polymerisationsprozess ausgelöst, der denRiss durch ein stabiles Polymer-Netzwerk wieder ver-schließt. Auch wenn der Aushärtungsprozess dabeieinige Stunden dauern kann, ist es möglich, feineMikrorisse beispielsweise in Kunststoffplatinen elek-tronischer Bauteile zu schließen, bevor sich die Mate-rialschädigung weiter ausbreiten kann.

2.3 SelbstX-Eigenschaften

2.3.1 Selbstreparatur von Werkstoffen

Ziel: Reparatur von Haarrissen

Biologisches Vorbild: Regeneration von lebendem Gewebe

Wirkprinzip: Selbstheilungsprozesse und Wachstum

Abstraktion: Reparatur von Haarrissen durch Schäume und Polymere nach dem Aufreißen von Kapseln im Grundmaterial

Entwicklungsstand/Produkt: Selbstreparatur von Polymermaterialien

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Das Interesse an selbstreparierenden Materialienund Beschichtungen ist dort besonders groß, wohohe Sicherheitsanforderungen erfüllt werden müs-sen, z. B. in tragenden Strukturen von Fahrzeugen,

Flugzeugen oder Satelliten. Durch selbstheilendeMaterialien könnten kostenintensive Ausfallzeitenund Reparaturen reduziert werden.

Die Herstellung komplexer Einheiten aus hierar-chisch aufgebauten Einzelkomponenten ist tech-nisch nicht nur sehr schwierig, sondern auch extremkostenintensiv. Wenn das Ausgangsmaterial hin -gegen in der Lage ist, sich selbst in die gewünschteStruktur zu bringen, könnten enorme Kosten einge-spart werden. Die Selbstorganisation von Materie-bausteinen zu komplexen Einheiten ist eines derGrundprinzipien für Strukturbildung und Wachstumin der Natur. Bausteine wie Atome, Moleküle, Mole-külverbände oder Partikel ordnen sich selbstgesteu-ert zu übergeordneten Strukturen, wobei die Bau-pläne implizit im Ausgangsmaterial enthalten sind.Diese Prozesse bilden die Basis auch für sehr kom-plexe Prozesse wie die Replikation von DNA-Strän-gen, die Selbstorganisation von Proteinen oder dieSelbstheilung biologischen Gewebes.

Technisch wird versucht, sich Prinzipien der Selbst -organisation zunutze zu machen, um funktionelleMaterialien deutlich kostengünstiger herzustellen,als dies mit üblichen Strukturierungsverfahren mög-lich wäre. Die Strukturen, die sich mit technischenSelbstorganisationsverfahren herstellen lassen, sinddabei noch deutlich einfacher als die Vorbilder inder Natur und beschränken sich meist auf ein- biszweidimensional strukturierte Systeme wie Partikel,Hohlkapseln, Drähte oder Oberflächen.

Als Bausteine für technische Selbstorganisationspro-zesse eignen sich sowohl Biomaterialien wie DNA,Lipide oder Proteine als auch chemische Substanzenwie funktionalisierte Nanopartikel oder Makromole-küle.

Aber auch mit anorganischen Ausgangsstoffen lassen sich Selbstorganisationsprozesse realisieren,z. B. auf Basis des industriell etablierten Sol-Gel-Ver-fahrens. Vernetzbare Moleküleinheiten, in der Regelauf Basis von Siliziumverbindungen, verbinden sichhierbei selbstgesteuert in einer Reaktionslösung zuNanopartikeln und daraus aufgebauten Strukturen.Je nach Wahl der Reaktionsbedingungen und derchemischen Funktionalisierung der Ausgangsmole-küle lassen sich dabei nanostrukturierte Fasern,nanoporöse Festkörper oder Beschichtungen miteinem breiten Eigenschaftspektrum realisieren. Der-artige Selbstorganisationsprozesse werden heutebereits erfolgreich für kommerzielle Umsetzungenbionischer Effekte, wie z.B. der Lotus-Effect® (vgl.Kapitel 2.1.2), genutzt.

Erste Erfolge auf dem Weg zu selbst-

heilenden Werkstoffen: Elastomere

mit Vernetzungsadditiven können

Mikrorisse von selbst reparieren.

(Quelle: Fraunhofer UMSICHT)

2.3.2 Strukturerzeugung durch Selbstorganisation

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In der belebten Natur werden viele verschiedeneStrategien verfolgt, mit denen sich Organismen mög-lichst gut an ihre Umwelt anpassen. Den meistenStrategien ist gemeinsam, dass Ressourcen effizienteingesetzt werden, was wiederum in vielen Fällen zugrandiosen Leichtbau-Konstruktionen führt, die den-noch oft erstaunliche Stabilitäten aufweisen und zu -sätzlich noch weitere wichtige Funktionen erfüllen (z. B. Klimaregulation). Die Entwicklung solcher effek-tiver und gleichzeitig kostengünstiger Konstruktionenist eine wichtige Aufgabe der Architektur geworden.

Da biologische Leichtbaukonstruktionen oft auchden ästhetischen Sinn des Menschen ansprechen,wurden diese Konstruktionen bereits früh kopiert.Grund war oft nur der ornamentale Wert, ohne diedahinterliegenden biologischen Prinzipien zu erken-nen. So gilt z. B. das Dach des Olympiastadions inMünchen als hervorragende Leichtbaukonstruktion,ist aber keine bionische Umsetzung.

Mit dem wissenschaftlichen Ansatz der Bionik undden Möglichkeiten, die neue Materialien und Ver-bundwerkstoffe heute bieten, lassen sich völlig neueWege beschreiten. So kann durch die Verlaufsrich-tung und Packungsdichte von Fasern eine Vielzahlfein abgestimmter Struktureigenschaften erreichtwer den, die ähnlich dem passiven Öffnen undSchlie ßen eines Kiefernzapfens bei Austrocknungbzw. Befeuchtung für die Klimaregulation genutztwerden könnte. Auch können heutzutage Pneustruk-turen, die Pflanzen- oder Tierzellen zum Vorbildhaben, umgesetzt werden. Mit neuen Materialienkönnen hier Selbstreparatur-Mechanismen (sieheAbbildungen unten) eingebaut und erstaunlich trag-fähige Konstruktionen erzeugt werden. Wie bei denoben genannten Anwendungsfeldern gilt auch hier,dass die Architektur von einer Vielzahl einzelnerKomponenten aus der Bionik profitieren kann. EineAuf listung möglicher Funktionen aus der Natur, die verwertet werden könnten, findet sich in Kap. 3.6.

2.4 Leichtbau und Architektur

Selbstreparaturmechanismus von Membranen durch Schaumbildung

(Quelle: EMPA, Universität Freiburg)

Selbstreparatur in einem natürlichen Gewebe. Ein Riss im blau

gefärbten Gewebe wird durch in den Riss wachsende Zellen

(rosa gefärbt) wieder verschlossen.

(Quelle: EMPA, Universität Freiburg)

Membran (PVC-beschichtetes Polyestergewebe)

PU-Schaum

5mm

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2.4.1 Pneustrukturen im Leichtbau

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Nicht in allen landschaftlichen Gebieten ist es mög-lich, mit schweren Geräten stabile Brücken zu bauen.So erlauben Skigebiete in schwer zugänglichenGebirgsregionen nicht den Einsatz von schwerenMaschinen. Außerdem soll oft ermöglicht werden,eine Brückenkonstruktion nur für die Wintersaisonaufzustellen (z. B. um verschiedene Skigebiete mit -

einander zu verbinden), während dies im Sommernicht nötig oder gewünscht ist. Hier werden schnellauf- und abbaubare Konstruktionen benötigt, die beigeringem Gewicht eine hohe Stabilität aufweisen.Zudem können solche Leichtbaukonstruktionen esermöglichen, auch bei festen Installationen erheb -liche Ressourcen und damit Kosten einzusparen.

Ziel: Konstruktion von sehr leichten Flächentragwerken

Biologisches Vorbild: Strukturfestigkeit pflanz licher und tierischer Zellen

Wirkprinzip: Stabilität durch modularen Aufbau und Druck im Inneren der einzelnen Einheiten

Abstraktion: Mit Luft gefüllte Pneustrukturen mit einer Versteifung der Oberfläche

Produkt: Tensairity®, Gewächshaus „Project Eden“

Tensairity® Demonstrations-Brücke mit 8 m Spannweite und 3.5 t max. Last (Quelle: EMPA)

Tensairity® Parkhaus Dach

28m, Montreux, Schweiz

(Quelle: Luscher Architectes

SA & Airlight Ltd)

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So genannte Pneustrukturen sind in der belebtenNatur ein häufiges Phänomen, wenn es um den res-sourcensparenden Einsatz vom Material geht. SolcheStrukturen sind sowohl sehr stabil, als auch extremleicht. Jedes pflanzliche oder auch tierische Gewebeist letztlich aus Zellen aufgebaut, die diesem Prinzipfolgen. Die einzelnen Zellen stehen unter Druck undbauen dadurch die Stabilität des gesamten Gewe-bes auf, zudem werden die Zellen durch verstei-fende Fasern in den Zellwänden gegen Zug- undBiegekräfte geschützt. Dieses Prinzip wurde in derProduktanwendung der Tensairity®-Technologie um -gesetzt. Hier handelt es sich um pneumatische, luft-gefüllte Strukturen, die äußerst leicht und damit einfach zu transportieren und gleichzeitig sehr stabilsind. Die Tensairity®-Technologie ist eine Kombina-tion aus einem mit Luft gefüllten Körper, wie zumBeispiel einer Röhre, und konventionellen Zug- undDruckelementen, also Stäben und Kabeln oderStahlträgern.

Zusätzlich wurde in einigen Umsetzungen auch einSelbstreparaturmechanismus eingebaut. Wird dieäußere Membran beschädigt, so verschließt Schaumim Inneren das Loch. Luftgefüllte Brücken haltensogar das Gewicht eines Personenkraftwagens aus,ohne sich nennenswert zu biegen. Weitere Anwen-dungen sind Überdachungen von großen Hallen,Sportstadien und Plätzen.

Ein weiteres Beispiel eines Gebäudes, das das Kon-struktionsprinzip der Pneustrukturen nutzt, ist dasGewächshaus des Bildungsprojektes „Eden“ in Groß-britannien. Hier werden Folienkissen und Luft als tra-gende Elemente genutzt. Die Folienkissen stehenunter ständigem leichten Überdruck und bewahrenso die Stabilität des gesamten riesigen Gewächs -hauses.

Gewächshaus

„Eden Project“ in

Großbritannien

(Quelle: H. Beismann)

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2.5 Robotik

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In der Robotik kommen viele verschiedene Inge-nieurdisziplinen zum Einsatz. Bei Robotersystemenmuss der komplette Ablauf von Sensorik, Software,Elektronik und Aktorik abgestimmt ineinander grei-fen, damit ein gut funktionierendes Gesamtsystementsteht. Entsprechend dieser Vielzahl an Kompo-nenten kann auch die Bionik an vielen Stellen helfen,das Gesamtsystem eines Roboters zu optimieren.Dies reicht entsprechend von den klassischen Bio-nik-Feldern des Leichtbaus und der Materialverbes-

serung (siehe vorherige Kapitel) zu Strömungsmini-mierung (z. B. über die Optimierung der Oberflächebei Unterwasser-Robotern, siehe Kapitel 2.1) bis zurAnwendung und Übertragung von Tierverhalten beider Navigation und Steuerung (z. B. Schwarmverhal-ten von Vögeln, Fischen und Insekten für Roboter-flotten). Im Bereich der elektro-mechanischen Kom-ponenten wird der Teilbereich Biomechatronik derBionik bedeutsam.

Bisherige Robotersysteme werden in der Regel ausMetall gefertigt und sind für Arbeiten bestimmt, diedurch Routine geprägt sind und bei denen schwereLasten bewegt werden müssen. Der Arbeitsraum derMaschine und des Menschen sind aus Sicherheits-gründen getrennt. Eine gefahrlose Mensch-Maschine-Interaktion kann über verschiedene Wege erreichtwerden. Ein vollkommen neuer Ansatz ist, auch dasMaterial aus dem ein Roboter gebaut wird, durch ein

nachgiebiges „weiches“ Material zu ersetzen. Diesgilt es als zusätzliche, passive Sicherung zu nutzen,denn auch die beste Steuerungstechnik hat einegewisse Reaktionszeit, die im Fall einer ungewolltenKollision möglicherweise zu langsam reagiert, um einSystem zu stoppen. Neue Materialien und die Bionikhelfen dabei, eine gefahrlose Mensch-Maschine-Interaktion zu ermöglichen.

2.5.1 Bionischer Handlings-Assistent

Ziel: Gefahrlose Mensch-Maschine-Interaktion

Biologisches Vorbild: Elefantenrüssel

Wirkprinzip:Weicher, flexibler und muskulöser Rüssel, der als Tast- und Greiforgan eingesetzt wird

Abstraktion: Nachgiebiges gesintertes Material gepaart mit einer druckluftbetriebenen Steuerungs- und Regelungstechnik

Produkt: Bionischer Handling-Assistent

Die Grundlage für den

Bionischen Hand ling-

Assistenten bildet ein

generatives Laser -

verfahren, mit dem

aus einem Kunststoff -

granulat die flexible

Leicht baukonstruktion

der Greiferstruktur

gefertigt wird.

(Quelle: Deutscher

Zukunftspreis / Fotos

Ansgar Pudenz)

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Die Firma FESTO hat einen völlig neuen Weg be -schrit ten und einen Bionischen Handling-Assisten-ten entwickelt, dessen Entwicklung vom Elefanten-rüssel inspiriert wurde. Diese Innovation wurde imDezember 2010 mit dem Deutschen Zukunftspreisausgezeichnet. Dieses „Dritte-Hand“-System wurdeaus einem leichten Kunststoff in einem generativenLaserfertigungsverfahren hergestellt. Betrieben wirdder Bionische Handling-Assistent mit Druckluft undeiner intelligenten Steuerungstechnik. Durch dieseKomponenten wird eine Nachgiebigkeit garantiert,die bei einer Kollision keine Gefahr mehr für denMenschen birgt. Diese inhärente Nachgiebigkeitunterscheidet das System von Konkurrenzproduk-ten, insbesondere solchen bei denen die Nachgie-bigkeit nur über die Steuerungs- und Regelungs-technik erzeugt werden kann, das Material aber wei-terhin Metall ist.

Damit werden viele neue Anwendungsfelder eröff-net, u. a. in Bereichen in denen Menschen arbeitenund gefahrlose maschinelle Unterstützung brau-chen, etwa in der Industrie, um Werkzeuge oderBauteile einem Monteur / einer Monteurin in dasInnere eines Fahrzeugs zu reichen. Aber auch derEinsatz im häuslichen Umfeld ist denkbar.

Ein mögliches Einsatzgebiet

für den Bionischen Handling-

Assistenten von Festo könnte

das Krankenhaus sein.

(Quelle: Festo)

Vorbild für den

Bionischen Handling -

Assistenten von Festo

war der Elefantenrüssel

(Quelle: Festo)

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2.6 Bionische Sensorik

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Damit ein lebender Organismus in einer wechsel -haften Umwelt überleben kann, muss er die Verän-derungen der Umwelt sensorisch aufnehmen, dieseDaten verarbeiten und eine adäquate Reaktiongenerieren. Dies trifft auf alle Lebewesen zu, alsoTiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen gleicher-maßen. Informationen werden sowohl in biologi-schen als auch in technischen Systemen von Senso-ren geliefert. Das Gebiet der biologischen Sensorikbefasst sich mit dem Messen und Dechiffrieren vonfür das Lebewesen relevanten Umweltparametern.Sensoren können dabei als beliebige Strukturenabstrahiert werden, die physikalische Parameter ineine Serie von Daten übertragen. Die Informa -tionsverarbeitung setzt anschließend an (VDI 6225).

Biologische Sensorsysteme zeichnen sich gegen-über technischen Systemen durch eine frühzeitigeund drastische Datenreduktion aus – alles was nichtbenötigt wird, wird herausgefiltert. Haarsinneszellenan den Cerci von Grillen reagieren dann am stärks-ten, wenn sich ein Fressfeind in unmittelbarer Nähebefindet. Die Augen von fliegenden Insekten sindbesonders auf bewegte Kontraste abgestimmt underlauben sicheres pilotieren auch im unwegsamenGelände. Die Kraftsensoren in den Beinen laufenderInsekten reagieren besonders sensibel auf Kraft -änderungen, die mit der Gangstabilität verbundensind. Im Verbund sind einzelne Sinnesorgane in derLage, komplizierte Reizmuster zu detektieren: UnserTastsinn wird durch eine Vielzahl von Sensoren gebil-det, die über den ganzen Körper verteilt sind. Nebender Datenreduktion ist in all diesen Beispielen auchdie biologische Informationsverarbeitung von heraus -ragendem Interesse – je intelligenter diese geschieht,desto leistungsfähiger ist das bestehende neuronaleSystem. Die bionische Sensorik überträgt dieseGrundprinzipien in technische Lösungen. TechnischeAntennen ertasten Hindernisse und erkennen Ober-flächen, technische Fliegenaugen erlauben die Kontrolle von Raumfähren und technische Netzhäutebilden energiesparende Implantate, die nur nochselten Batteriewechsel bedürfen. Integrierte Kraft-sensoren erlauben nicht nur Insekten das kontinuier-liche Überwachen ihrer Körperteile. Die Informa -tionsaufnahme und -verarbeitung im Tier- und Pflan-zenreich ist höchst leistungsfähig und verfolgt fun-damental andere Ansätze als die technische Sensorik (Textquelle: Tobias Seidl).

Ameise Cataglyphis

fortis in ihrer natür -

lichen Umgebung. Mit

einfachen Sensoren,

können komplexe Auf-

gaben gelöst werden.

(Quelle: Tobias Seidl)

Ameise in einem Versuch beim

Ausweichen eines Hindernisses

(Quelle: Tobias Seidl)

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Der biologische Geruchssinn ist der Informations -kanal zur Detektion gasförmiger Signale (Nahrungs-und Gefahrengerüche, soziale Signale). Beim mensch - lichen Geruchssinn sind etwa 350 verschiedeneRiechzellentypen vorhanden, von denen jeder selek-tiv auf ein eigenes Spektrum von Geruchsstoffenanspricht. Eine Geruchsstoffmischung führt zu einemMuster von Riechzellenerregungen, das im Gehirnmit zuvor erfahrenen und gespeicherten Geruchs-eindrücken abgeglichen wird.

Das Messkonzept der „elektronischen Nasen“ ist einestrukturelle Analogie zum biologischen Geruchs sinn.An die Stelle der Riechzellen werden unterschied -liche elektronische Gassensoren gesetzt (soge-nannte Sensorarrays). Das Signalmuster des unter-schiedlichen Ansprechens der Sensoren auf Gas-bzw. Geruchsstoffmischungen ist die primäre Daten-ebene. Als Signale werden nicht nur stationäreZustände, sondern auch aus den zeitlichen Signal-formen abgeleitete Werte wie Anstiegszeiten ver-wendet. Die neuronale Verarbeitung in Riechkolbenund Gehirn wird mit elektronischer Datenverarbei-tung und speziellen musterverarbeitenden Software-algorithmen nachgebildet. Ziel ist die Klassifizierungähnlicher Signalmuster und deren Zuordnung zugeruchlichen Referenzwerten (VDI 6225).

Technisch können unterschiedliche Typen von Gas-sensoren eingesetzt werden, wie z.B. Metalloxidsen-soren, Schottky-Dioden oder miniaturisierte Schwing -quarze, deren Schwingfrequenz sich bei der Adsorp-tion der gesuchten gasförmigen Stoffe messbarändert. Im Idealfall lässt sich die Sensoroberfläche sofunktionalisieren, dass gezielt nur die gesuchtenMoleküle detektiert werden, wie z.B. Spreng- oderExplosivstoffe. In der Regel sprechen die eingesetz-ten Gassensoren aber nicht selektiv auf bestimmteGeruchsstoffe, sondern breitbandig auf viele gas -förmige Stoffe an. Ein Beispiel sind molekülunspe -zifische Halbleiter-Gas sensoren, die bestimmte Luft -

inhaltsstoffe infolge charakteristischer Widerstands-änderungen mit Hilfe von Mustererkennung und ent-sprechenden Auswertealgorithmen detektieren kön-nen. Derartige Gassensoren, deren Empfindlichkeitsich durch nanostrukturierte Metalloxidverbindungenoptimieren lässt, werden beispielsweise vom Institutfür Angewandte Physik der Universität Gießenerforscht. Im Rahmen des BMBF-Projektes BioHot1

sollen elektronische Nasen entwickelt werden, die zurFrühbranderkennung in Holzspänetrocknern einge-setzt werden können. Als Vorbild dient hierbei eineaustralische Käferart, die über Sensoren verfügt, diedas Entstehen von Waldbränden frühzeitig anhandspezifischer gasförmiger Stoffe erkennen können. MitHilfe eines derartigen bionischen Sensorsystemskönnten Trocknungsprozesse in der holzverarbeiten-den Industrie durch einen optimierten Energieeinsatzdeutlich wirtschaftlicher gestaltet werden.

Elektronische Nasen sind sehr vielfältig einsetzbarund eignen sich generell für Anwendungen, die einekontinuierliche Luft- und Geruchsüberwachung erfor-dern. Das Spektrum umfasst Qualitätskontrollen inder Lebensmittelindustrie, Warnsysteme zur Brand-oder Gefahrstoffdetektion bis hin zu medizinischenFragestellungen bei der Früherkennung von Krank-heiten durch Analyse der Atemluft oder Schweißab-sonderungen. Auch zur Überwachung der Luftquali-tät in Automobilen gibt es bereits eine technischeUmsetzung der Firma Bosch in Form einer automati-schen Lüftungsklappensteuerung, die automatischschließt, wenn Abgase angesaugt werden.

Die Möglichkeiten bionischer Konzepte sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Für eine Vielzahltechnischer Herausforderungen liefert die Natur bio-logische Vorbilder. Zu nennen sind beispielsweisehierarchisch strukturierte Schalen und Hülsen vonPflanzensamen und Steinfrüchten, die als Vorbild für

die Entwicklung bionischer Materialien mit hoherAufpralldämpfung und Durchschlagresistenz dienenkönnen. Potenzielle Anwendungen derartig hierar-chisch strukturierter Kompositmaterialien z. B. aufBasis faserverstärkter Metallschäume sind Unfall- undAufprallschutz in der Verkehrs- und Fahrzeugtechnik.

2.6.1 Beispiel: „elektronische Nase“

2.7 Sonstige Anwendungen

Elektronische Nasen

liefern ein objektives

Messverfahren zur

Einschätzung von

Gerüchen, z.B. um

Windelmaterialien zu

entwickeln, die unan-

genehme Gerüche

mindern. (Quelle:

Lehrstuhl für Mess-

technik der Universität

des Saarlandes,

Foto: Bellhäuser

– das bilderwerk)

1 www.uni-

giessen.de/cms/fbz/

fb07/fachgebiete/

physik/einrichtungen/

institut-fur-angewandte-

physik/kohl/biohot

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3 Praxisbeispiele mit Bezug zu Hessen

3.1 Umweltschonende Antifoulinganstriche

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Wenn sich Seepocken, Muscheln, Bakterien undPilze an Schiffsrümpfe heften, wird es teuer. Hochge-rechnet auf alle Handelsflotten weltweit verursachtdieses Biofouling als Ballast zusätzliche Kraft stoff -kosten von rund 60 Milliarden Euro pro Jahr. Vorallem die Seepocke kann eine meh rere Dezimeterdicke Kruste auf der Schiffswand bilden, die den Rei bungs widerstand und damit den Treibstoffver-brauch mit entsprechenden Folgen für die Um welterhöht. Zudem können Biofilme, etwa über ihreStoffwechselprodukte, ihre Unterlage auch mecha-nisch an greifen.

Lange Zeit wurde der Bewuchs mit bioziden Anstri-chen ferngehalten. Doch seit 2008 sind biozideLacke auf Zinnbasis verboten und es ist nur eineFrage der Zeit, bis auch kupferhaltige Farben nichtmehr eingesetzt werden dürfen. Die Reeder suchendeshalb händeringend nach umweltschonendenAlternativen. Derartige Alternativen werden auch inanderen Anwendungsfeldern benötigt: zum Schutzder menschlichen Gesundheit und zum Schutz vontechnischen Geräten vor dem Bewuchs mit Bakte-rien und Pilzen. Entsprechende Anwendungsfeldersind geschlossene Räume mit wachstumsförderndenUmweltbedingungen wie relativ hohe Temperaturund hohe Luftfeuchtigkeit und /oder mit hohen Hy -giene anforderungen wie etwa Klinikbereiche, Bade -zimmer, Schwimmbäder und Weltraumstationen.

Wie die Alternativen aussehen können, zeigt dieNatur: Delphine oder Haie zum Beispiel besitzenspezielle Hautstrukturen, bei denen die Kombinationaus Struktur und Elastizität verhindert, dass Biofilmeanwachsen. Andere Lebewesen, etwa der im Meerlebende Schwamm Geodia barretti, wehren denBewuchs mit natürlichen Aktivstoffen wie Barettin ab.

Bewachsene Schiffsschraube. Die Ausschnittvergröße-

rung zeigt den Bewuchs mit Seepocken (Quelle: Bio-

nik-Innovations-Centrum der Hochschule Bremen)

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Diese Prinzipien will Evonik Industries auf Schiffs -lacke übertragen. Der Grundstein dazu wurde ineinem vom BMBF geförderten Projekt gelegt, in demEvonik mit drei Partnern aus Bremen an „bioinspirier-tem Antifouling“ geforscht hat: mit dem Bionik-Inno-vations-Centrum der Hochschule, dem Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Mate-rialforschung IFAM und der OHB-System AG, die aufden Bereich Raumfahrtsysteme und Sicherheit spe-zialisiert ist.

Gemeinsam haben die Partner geeignete biologi-sche Vorbilder identifiziert und ermittelt, mit welchenAktivstoffen und welchen Oberflächenstrukturen sieAntifouling-Eigenschaften erzeugen können. DaTests unter Realbedingungen im Meer aufwändigsind, hat Evonik außerdem Schnelltests entwickelt,die erstmals schon im Labor zuverlässige Hinweisegeben, ob sich Mikro- und Makroorganismen aufden Lackoberflächen ansiedeln und wie leicht siesich ablösen, wenn das Schiff gereinigt wird. DerService bereich Verfahrenstechnik & Engineeringund der Geschäftsbereich Inorganic Materials vonEvonik arbeiten in Hanau mit Unterstützung der Pro-jektpartner an Additiven, mit denen sie natürliche,ungiftige Aktivstoffe durch Mikroverkapselung bzw.feste Anbindung an spezielle Träger in handelsübli-che Schiffslacke einbringen. Zum Einsatz kommensollen sie in Schiffslacken auf Silicon- und PUR-Basis.Das soll dem Anwender den Umstieg auf die neuenLackrezepturen erleichtern. Außerdem lassen sichdie Systeme wie bisher applizieren und machenneues Equipment überflüssig.

Ergebnis des BMBF-Projekts sind Lackformulie -rungen mit nachweislicher Antifouling-Wirkung, diejedoch noch nicht die geforderte mechanische Sta-bilität besitzen und deren Langzeiteigenschaftennoch charakterisiert werden müssen. Dieses Problemwollen die Evonik-Forscher in einem Nachfolgepro-jekt lösen und die Additive bzw. die Lackformulie-rungen weiter optimieren. Da bei umweltschonen-den Antifoulinganstrichen für Schiffe ein milliarden-schwerer Markt lockt, hat sich Evonik ein ehrgeizigesZiel gesetzt: Schon in drei Jahren sollen die Additivemarktreif sein.

Kontakt:Dr. Juri TschernjaewTelefon 06181 59-5461, Fax [email protected]

Evonik Industries AGServicebereich Verfahrenstechnik & EngineeringRodenbacher Chaussee 463457 Hanau-Wolfgang

www.evonik.com

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3.2 Impulse aus der Natur

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Die Ergebnisse der Kooperation mit dem Team umProf. Dr. Thomas Speck von der Universität Freiburg,das aus Naturwissenschaftlern verschiedener Diszi -plinen zusammengesetzt ist, können sich sehen las-sen. Darunter befinden sich beispielsweise neueAnsätze für Kabeleinführungen. Das sind Öffnungenbzw. Verschlusssysteme, durch die sich Kabel ineinen Schaltschrank einführen lassen. Diese solltenbreit genug sein, um Kabel leicht aufnehmen zu kön-nen, zugleich aber das Eindringen von Feuchtigkeit,Staub und Schmutz verhindern. Dazu gab es zweiVorbilder aus der Natur: die Venusfliegenfalle undden Waldkaktus. Die Fangblätter der Venusfliegen-falle, einer fleischfressenden Pflanze aus der Familieder Sonnentaugewächse ist für Insekten eine töd -liche Falle. Die Blätter schließen sich über ihremOpfer wie inein ander gefächerte Lamellen undgeben es nicht wieder frei. Dieses Verschlusssystem,das sich in ähnlicher Weise beim Waldkaktus findet,lieferte die Idee für die Gestaltung einer optimalabdichtenden Kabeleinführung.

Eine weitere interessante, der Natur nachempfun-dene Lösung ist eine schockabsorbierende Palettefür den sicheren Transport von Schaltschränken, indie bereits hochsensible Elektronik eingebaut ist.Das Konzept ist ebenso einfach wie schlüssig: ZurDämpfung der Paletten werden künstliche „Stacheln“eingesetzt, die dabei helfen, Stöße effektiv abzumil-dern. Bei der Strukturoptimierung der Palette ließensich die Bioniker von dem Beispiel der Natur leiten:So schützen die Stacheln von Igeln und Stachel-schweinen diese vor Sturzverletzungen.

Die Blätter der Venus-

fliegenfalle schließen

sich wie in einander

gefächerte Lamellen.

Dieses Verschlusssys-

tem lieferte die Idee für

die Gestal tung einer

optimal abdichtenden

Kabeleinführung.

(Quelle: Rittal)

Seit einigen Jahren legt man bei Rittal knifflige technische Problemstellungen auch indie Hände versierter Bioniker. Die Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg undder ITV Denkendorf hat für den System anbieter für Gehäuse- und Schaltschranktech-nik wertvolle Impulse und Ideen für neue Produkte hervorgebracht. Durch die Naturinspirierte Lösungen sind beispielsweise Dämpfungselemente für Transportpalettenoder neue Konzepte zu Kabeleinführungen.

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Die bionische Palette nutzt nachwachsende Roh-stoffe wie etwa Hanf, Flachs oder Leinen. Die auseinem Faserverbundstoff mit geschäumter Matrixund optimiert ausgerichteten Verstärkungsfaserngefertigte Palette ist damit bei vergleichbaren Kostenumweltschonender und entsorgungsfreund licher alsherkömmliche Palettensysteme. Diese bestehen zu -meist aus einer Kombination unterschiedlichsterMaterialien wie zum Beispiel Metall, Holz oder Kunst-stoff. Solch ein Materialmix ist problematisch, da diePaletten meistens nach einmaligem Gebrauch ent-sorgt werden. Nicht alle gängigen Materialen sindfür das Recycling geeignet. Der Ressourcenverbrauchist bei herkömmlichen Palettensystemen hoch.

Die bionische Schockpalette ist eine gemeinsameEntwicklung von Rittal, der Universität Freiburg sowieder ITV Denkendorf. Um seinen Kunden auch inZukunft wirkungsvolle, aus der Natur abgeleiteteLösungen für unterschiedlichste Anwendungen bieten zu können, arbeitet Rittal mit dem Bionik-Kompetenz-Netzwerk (BIOKON) zusammen, das sichdie Schaffung einer umfassenden Informationsinfra-struktur und die Bündelung der wichtigsten Arbeits-gruppen im Bereich Bionik auf die Fahnen geschrie-ben hat.

VDI Bionik- Richtlinie

Mit der neuen Richtlinie VDI 6223 „Bionische Mate-rialien, Strukturen und Bauteile“ können nun die überdie Jahre gesammelten Erfahrungen vor allem mit-telständischen Unternehmen zugänglich gemachtwerden. Die VDI-Richtlinie zeigt den praktischenAnwendungsnutzen der Bionik in der Produktent-wicklung auf. Die Richtlinie entstand, unter aktiverMitwirkung von Mitarbeitern von Rittal als Industrie-partner.

Die Bionik ist für Rittal zu einer neuen Quelle imKreativitätsprozess geworden und stellt eine sinn-volle Ergänzung zu traditionellen Entwicklungstoolsdar. Es ist zu hoffen, dass infolge der neuen Richtlinieund der damit verbundenen praktischen Einblicke inbionisches Arbeiten die Chancen der Bionik fürInnovationsprozesse erkannt werden.

Kontakt:Hans-Robert KochPresse- und ÖffentlichkeitsarbeitTelefon 02772 505-2693, Fax [email protected]

Rittal GmbH & Co. KGAuf dem Stützelberg35745 Herborn

www.rittal.de

Bei der bionischen

Schockpalette geht es

um den wirksamen

Schutz beim Transport

von Schaltschränken

mit hochsensibler

Elektronik.

(Quelle: Rittal)

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3.3 Automobiler Leichtbau durch Anwendung der Bionik

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Durch das Bestreben den Treibstoffverbrauch einesKraftfahrzeugs möglichst gering zu halten, gewinntdas Thema Leichtbau in der Automobilindustrieimmer größere Bedeutung. Ein wichtiges Werkzeugzum Erreichen dieses Zieles ist dabei die simulations -gestützte Optimierung, wie sie auch bei der AdamOpel AG zum Einsatz kommt. Wenn es darum geht,möglichst leichte Bauteile mit hoher Festigkeit zuentwickeln, haben sich vor allem die Optimierungs-methoden bewährt, die aus dem Bereich der Bionikstammen und deren Grundlagen am Forschungs-zentrum Karlsruhe entwickelt wurden. Dort wurdendie Eigenschaften von biologischen Kraftträgern(wie beispielsweise Bäume, Knochen, Krallen, etc.)studiert. Da sich während der Evolution nur die ambesten angepassten Strukturen durchgesetzt haben,

kann man erwarten, dass solche biologischen Bau-teile optimal bezüglich Festigkeit und Gewicht sindund somit ein festigkeitsoptimiertes Leichtbau -design darstellen.

Die biologischen Kraftträger erreichen ihre optimaleForm durch eine Wachstumsregel. Diese kann mansimulieren und als Basis für Optimierungspro-gramme verwenden, um ein versagenssicheres Bau-teil mit möglichst geringem Gewicht zu konstruieren.Man lässt dabei das zu optimierende Bauteil virtuellauf dem Rechner wachsen, wie es beispielsweise einKnochen tun würde, wenn er die Funktion des Bau-teils übernehmen müsste.

Basierend auf dieser Idee wurde das CAO-Verfahren(Computer Aided Optimization) entwickelt. Hier wird

die Wachstumsregel nur auf die Außenkontur einesBauteils angewendet. Dabei verschiebt man dieAußenkontur in den hochbelasteten Bereichen nachaußen und lagert dadurch Material an, während mandiese in den niedrig belasteten nach innen ver-schiebt und damit Material entfernt. Diesen Prozessführt man jedoch nicht nur einmal durch sondernmehrmals in kleinen Schritten, vergleichbar mit derBildung von Jahresringen beim Baum. Eine Anwen-dung aus der Praxis ist in Abbildung 1 am Beispieleines Differentialgetriebegehäuses gezeigt. Hier traten in dem markierten Bereich Spannungsspitzen

Abb. 1:

CAO-Verfahren am

Beispiel eines

Differentialgetriebe -

gehäuses (Quelle:

Adam Opel AG)

Abb. 2:

Optimierung

einer Felge (Quelle:

Adam Opel AG)

Schwingbruch-kritische Stelle

Basis

Felge

Differentialkäfig Formoptimierung mit CAO

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auf, die reduziert werden mussten, um die Festigkeitdes Bauteils sicherzustellen. Durch die Formoptimie-rung mit CAO konnte die Spannung um 30 % redu-ziert werden, was einer Lebensdauererhöhung umeinen Faktor 8 entspricht.

In Gegensatz zum CAO-Verfahren wird beim SKO-Verfahren (Soft Kill Option) die Wachstumsregelnicht nur auf die Außenkontur sondern auch auf dasInnere eines Bauteils angewendet, so dass innerhalbeines Bauteils Löcher entstehen können. Damit ent-spricht das SKO-Verfahren mehr dem Wachstumeines Kochens, der ja auch teilweise hohl und porösist und über Fresszellen Material im Innern abbauenkann. Ein Anwendungsbereich der SKO-Methode istdie Bestimmung von optimalen Lochpositionen undLochformen in einem Bauteil. In Abbildung 2 ist dieOptimierung einer Felge dargestellt. Ausgangs-punkt ist eine Felge mit fünf vorgegebenen Löchern.Diese wurden im ersten Schritt mit dem CAO-Verfah-ren optimiert, sodass sich dann eine Lochform ohneSpannungsspitzen ergab. Anschließend wurde mitSKO die optimale Position für zusätzliche Löcher inder Felge ermittelt.

Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Optimierungvon Gussteilen. Ausgangspunkt ist jeweils der zur Verfügung stehende Bauraum (Designraum). NachAn wendung von SKO ergibt sich dann ein Design -vorschlag, der als Vorlage bei der Konstruktion desGussteils dient. Die Vorgehensweise ist in Abbil-dung 3 am Beispiel eines Motorhalters dargestellt.

Bei dem Programm TopShape, das Fertigungsrestrik-tionen von Gussteilen berücksichtigt, handelt es sichum eine Erweiterung von SKO. Damit simuliert Top -Shape das Wachstum eines Knochens, der quasi dieFertigungsrestriktionen für Gussteile kennt. In Abbil-dung 4 ist die Optimierung eines Achsschenkelsausgehend vom Bauraum dargestellt. Wendet mandas SKO-Verfahren an, so ergibt sich eine fastwurzel artige Struktur, welche nur sehr schwer inter-pretierbar und in ein gussfähiges Design umzuset-zen ist. Das Ergebnis von TopShape ist dagegennahezu direkt verwendbar.

Kontakt: Prof. Dr. Lothar [email protected]

Adam Opel AG65423 Rüsselsheim

Abb. 4: Optimierung eines Achsschenkels aus gehend vom Bauraum (Quelle: Adam Opel AG)

Abb. 3:

Optimierung von

Gussteilen am Beispiel

eines Motorhalters

(Quelle: Adam Opel AG)

Spannungsverteilung Geglätteter Designvorschlag

Aluminium Achsschenkel

DesignraumTopologie-optimierung(SKO)

TopShape

Entformungs-richtung

Designvorschläge Umsetzung

Umsetzung

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3.4 Molekulare Simulation von Grenzflächen:Bionik auf molekularer Ebene?

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Grenzflächeneffekte spielen gleichermaßen in bio-logischen und technischen Systemen eine großeRolle. Äußere Grenzflächen sind verantwortlich fürdas Erscheinungsbild (Farbe, Glanz, Textur) aberauch für Eigenschaften wie Haftung, Benetzbarkeitund Anfälligkeit für chemischen und biologischenAbbau. Innere Grenzflächen schaffen eine Abgren-zung in Kompartimente in der Biologie und Kraft-schluss, Wärmeübergang und Ladungsübergang inVerbundmaterialien.

Die Eigenschaften von Grenzflächen werden maß-geblich durch die molekularen Wechselwirkungenzwischen den aufeinander treffenden Phasen oderMaterialien bestimmt. Die Natur hat für den jeweili-gen Zweck hoch optimierte Oberflächen und Grenz-flächen geschaffen, und zwar auf der Ebene vonMolekülen oder Mikro- und Nanostrukturierung. Einbekanntes Beispiel ist der so genannte Lotus-Effect®,bei dem die an sich schon hydrophobe Oberflächeder Blätter durch Mikrostrukturierung soweit super-hydrophobiert wird, das Wasser und Schmutz davonabperlen. Dieser Effekt lässt sich in technischenOberflächen nicht nur kopieren, sondern unterUmständen dadurch verstärken, dass man die Ober-fläche nicht nur auf der Mikrometerebene sondernauch auf der Nanoebene strukturiert.

Wassertropfen auf einer nanostrukturierten Graphit-Oberfläche.

Die nm-breiten Furchen führen zu einer erhöhten Wasserabweisung

verglichen mit glattem Graphit. (Quelle: Frédéric Leroy)

Molekulare Simulation zum Dispergierungsverhalten

von Silica-Nanoteilchen in Polystyrol und dem Einfluss

von auf das Nanoteilchen gepfropften Polymermole-

külen. (Quelle: Tinashe Ndoro)

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Nanostrukturierte, hydrophobe Oberflächen sindaber nicht ohne weiteres experimentell herzustellen.Es lassen sich jedoch Computersimulationen durch-führen, die aufzeigen können, wie eine solche Ober-fläche strukturiert sein müsste, um einen höherenSelbstreinigungseffekt zu erzielen. Dies erfolgt mitder Methode der Molekulardynamik, die ein realisti-sches Modell von Oberfläche und Benetzungsflüssig-keit auf molekulare Ebene benutzt: die Wechselwir-kung zwischen einzelnen Atomen und Molekülen wirddabei berücksichtigt. So wird die Beschreibung vonnanometerskaligen Strukturen und Prozessen mög-lich, für die Standardmaterialmodelle der Struktur -mechanik bzw. Fluidmechanik versagen. Diese Tech-nik ist so weit entwickelt, dass sich beispielsweisevoraussagen lässt, ob eine Ober flächenstruktur mitkreisförmigen Löchern von 2,5 nm Durchmesser effek-tiver ist als eine mit 2,5 nm breiten Gräben.

Die Molekulardynamik lässt sich jedoch auch gut aufinnere Grenzflächen in Polymerverbunden anwen-den, die im Zusammenhang mit Kleb- und Beschich-tungsprozessen sowie bei der Herstellung vonNanokompositen wichtig sind. Hier lässt sich diemechanische Anhaftung quantitativ bestimmen.Zudem kann man feststellen, wie dick die soge-nannte Interphase nahe der Grenze ist, in der dasPolymer seine Volumeneigenschaften noch nicht vollerreicht hat, und welche Auswirkungen sie auf dieFestigkeit des Gesamtverbunds hat.

Auch neuartige Komposite, zum Beispiel aus Poly-amid und Kohlenstoffnanoröhren (CNTs) könnenmolekular simuliert werden. Durch Betrachtung dermolekularen Wechselwirkungen kann nicht nur inErfahrung gebracht werden, warum CNTs im Polymerzur Aggregation neigen und schwer zu dispergierensind. Es lässt sich zum Beispiel auch der Grenzflä-cheneffekt nachvollziehen, dessentwegen die extremhohe Wärmeleitfähigkeit von CNTs verloren zu gehenscheint, wenn sie in ein Polymer eingearbeitet wer-den. Demnach sind CNT-Polymer-Komposite keineKandidaten für thermisch hoch leitfähige Materialien.

Kontakt: Prof. Dr. Florian Mü[email protected]

Eduard-Zintl-Institut für Anorganische und Physikalische Chemie und Center of Smart InterfacesTechnische Universität DarmstadtPetersenstraße 2064287 Darmstadt

www.chemie.tu-darmstadt.de/mueller-plathe

Diese Simulation einer Kohlenstoffnanoröhre in einer Polyamid-Matrix zeigt nicht nur die grenzflächeninduzierte Strukturbildung

im Polymer, sondern erlaubt auch die Berechnung des Wärmeübertragungswiderstandes zwischen Nanoröhre und Polymer.

(Quelle: Mohammad Alaghemandi)

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3.5 Bionisch-adaptive Architektur: Molekulare Mechanismen als Vorbild

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Die New Yorker Ingenieurfirma Hoberman Assoc.konzipiert in Zusammenarbeit mit dem Wyss Institutefor Biologically Inspired Engineering in Cambridge,USA, adaptive Verschattungssysteme für Gebäude.Die Firma iO Interdisziplinäre Objekte, Frankfurt amMain, unterstützt deren Einführung in Europa.

Biologische Materialien generieren ihre Anpassungs -fähigkeit aus evolutionären Mechanismen. Sie reagie -ren, wandeln sich, heilen nach Verletzungen, verän-dern Farbe und Oberfläche. Solche adaptiven Pro-zesse funktionieren nach dem „bottom-up”-Prinzip:Als Reaktion auf externe Stimuli addieren sich che-misch-physikalische Veränderungen auf molekularerEbene zu dynamischen Effekten im Makroskopischen.Die Architektur arbeitet traditionell umgekehrt:

Mechanische Strukturen, elektrische und pneumati-sche Antriebe sowie rechnergestützte Regelsystemedienen dazu, „top-down“ auf einfallendes Sonnen-licht, Wind, Klima und Niederschlag zu reagieren.Veränderliche Oberflächen, nachgeführte Reflekto-ren, mechanische Verschattungselemente werdenbenutzt, um die thermischen, akustischen und licht-technischen Bedingungen in Gebäuden zu stabilisie-ren. Hier sehen wir den Weg für eine evolutionärandere Architektur, die sich zukünftig, auf molekula-rer Ebene konzipierter, durch Selbstorganisation auf-gebauter adaptiver Werkstoffe bedient. Solche inhä-rent reaktionsfähigen Materialien bereiten einerinnovativen Architektur den Weg, die selbsttätig undin Echtzeit auf Umweltbedingungen zu reagierenvermag.

Der Text basiert auf einem gemeinsamen Beitrag folgender Autoren des Wyss Instituts: Ben Hatton, Ian Wheeldon, Philseok Kim, Chuck Hoberman, Don Ingber und Joanna Aizenberg.

Abprallender Tropfen auf

einer mikrotexturierten

„Anti-Vereisungs”-Ober -

fläche (Quelle: Wyss

Institute)

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Biomimetisch ausgerichtetes Material-Design arbeitetmit Konzepten hierarchischer Strukturen, selbstanord-nender Supramoleküle, dynamischer Bindungen undmolekularer Komplementarität. Von besonderemInteresse sind hier bionische Werkstoffe, die sichpotenziell für den Einsatz in der Architektur eignen.Am Wyss Institut in Harvard wurden dazu drei neueMaterialien realisiert: eine mikrotexturierte „Anti-Ver-eisungs”-Oberfläche, eine auf mikrofluiden Absorber-elementen basierende Beschichtung für thermisch-adaptive Fensterverglasung sowie eine klare Kunst-stofffolie, deren optische Transparenz durch mecha-nische Spannung kontinuierlich verändert werdenkann. Die strukturierte Oberfläche des Lotosblattesstand Pate für die Anti-Vereisungsschicht. Die hierar-chisch strukturierte Strömung des Blutes in den Gefä-ßen inspirierte zu dem aus Mikrokanälen aufgebautenFlüssigkeitssystem für die Wärmeregelung von Fens-terscheiben. Durch Einbau verschiebbarer, lichtstreu-ender Elemente in der Oberfläche entstand dasmechanisch-adaptive Polymer.

Über weite Strecken gleicht das Vokabular zurBeschreibung stimulus-aktivierter adaptiver Werk-stoffe dem zur Charakterisierung „anpassungsfähiger“Gebäude. Der Unterschied besteht in den Bezugs-größen. Materialentwicklung erfolgt im Nano- undMikrobereich, Gebäude entstehen im Makro-Bereich.Die Überbrückung dieser Skalen-Differenz lohnt.Disziplinübergreifend müssen dafür die an innova -tiven Lösungen interessierten Architekten mit Mate-rialentwicklern in einen intensiven Dialog treten. Aus der Schnittmenge zwischen Werkstoffwissen-schaft, biomimetischem Engineering und Architekturerwachsen innovative Lösungen, auf die wir für dienachhaltige Sicherung unserer Lebensbedingungennicht verzichten können.

Kontakt: Prof. Werner [email protected]

iO Interdisziplinäre ObjekteRobert-Mayer-Straße 4960486 Frankfurt am Main

unstretched stretched released

Kunststofffolie mit ver-

änderbarer optischer

Transparenz durch

mechanische Spannung

(Quelle: Wyss Institute)

Fluide Absorber -

elemente für ther-

misch-adaptive

Fenster verglasung

(Quelle: Wyss Institute)

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Die Bionik, die sich als interdisziplinäre Wissenschaft Konstruktionsprinzipiender Natur für die Technik zunutze macht und aus dieser Strategie heraus ihrenNamen ableitet, gewinnt auch in der Architektur stärker an Bedeutung.

3.6 Bionik im Bauwesen

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Dass sich Architekten von natürlichen Formen inspi-rieren lassen, ist eigentlich nicht neu. Sie versuchengemeinsam mit Naturwissenschaftlern von natürli-chen Konstruktionen wie beispielsweise Schmetter-lingsflügeln oder Blattstrukturen technisch nutzbareInformationen abzuleiten und im Bauwesen innova-tiv zu verwerten.

Die Bionik macht sich als interdisziplinäre Wissen-schaft die im Zuge der Evolution über sehr langeZeiträume optimierten Naturkonstruktionen zunutze.Durch konsequente Beobachtung von erfolgreicharbeitenden natürlichen Systemen oder Strukturenlassen sich die erkannten Optimierungen auf artifi-ziell geschaffene Werke übertragen. Dieser Ansatzfunktioniert aber leider nicht immer. Prinzipien ausder Natur können nicht direkt und ohne Abstraktionübertragen werden. So nützen beispielsweise dieTragstrukturen von Grashalmen nicht unmittelbarder Entwicklung von Tragstrukturen bei Hochhäusern.

Heute verlagern sich die wissenschaftlichen Unter-suchungen in Richtung der natürlichen Strategienund zur Analyse der erforderlichen Maßnahmen, diezur eigentlichen Optimierung geführt haben. Ein

essentieller Vorteil biologisch inspirierter Planungliegt dabei im Einsparen jener langen Zeitspanne,die für das Bilden und Ausprobieren einer Techno-logie aufgewendet werden muss. Während Natur-prozesse in sehr langen Zeitphasen ausgereift sind,ist es durch Ausnutzung der natürlichen Entwick-lungsergebnisse möglich, innerhalb kürzester Zeiteine Ergebnisverbesserung zu erzielen. Das Prinzipder evolutionären Algorithmen – eine mathematischbasierte bionische Optimierungsmethode für tech-nische Fragestellungen – geht genau diesen Weg.

Mathematische Simulierung bionischer Strukturen (Quelle: TU Darmstadt)

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Bionische Funktionen

In der Tat kennen wir bereits viele Eigenschaften vonBauwerken, die bereits biologisch inspiriert sind.Meistens finden sich solche Eigenschaften in funk-tionalen Bereichen von Bauwerken. Eine prinzipielleVerwertbarkeit natürlicher Prinzipien lassen sichüberall vermuten, wenn:

a dynamische Anpassungseffekte wünschenswert sind

a besondere Oberflächeneffekte von Materialien angestrebt werden (z. B. Lotus-Effect® und Oberflächenreinigung)

a komplexe Netzwerke (z. B. Leitungsnetze) durch Optimierung mit weniger Material auskommen sollen

a die äußere Hülle von Bauwerken durch adaptive Fähigkeiten auf geänderte Umweltbedingungen (z. B. Lichteinfall, Sonnenschutz) reagieren muss

a intelligente Bereitstellung und Verteilung von Gebäudeenergie angestrebt wird

a ideale, natürliche Belüftungsprinzipien eine teurere Aufbereitung von Luft ersetzen können

a Kühleffekte durch Optimierung von Heizkreisläufen möglich sind

a natürlich vorhandene Umgebungs-bedingungen die Raumatmosphäre konditionieren sollen

a verwendete Materialien permanent geänderten Anforderungen ausgesetzt sind (smart materials)

a ein Optimum unter zahlreichen Kombinationen zu suchen ist, deren mathematische Berechnung zu aufwändig wäre (sog. Evolutionäre Algorithmen)

a Faltstrukturen bei wandelbaren Bauwerken odergeschuppte Strukturen auftauchen

Forschungsergebnisse:

Werden bionische Lösungen konsequent eingesetzt,bergen sie ein enormes Potenzial für verschiedeneBereiche:

a Materialersparnisa Leistungssteigerungena Energieeinsparungena Optimierunga Kostenersparnissea Verbesserte Aufenthalts-, Arbeits- und Lebensbedingungen

a Funktionale Verbesserungen

Das Grundprinzip der bionischen Forschung liegteher in der Lösung für gezielte, individuelle Aufga-benstellungen. Daher wird kein Hauskonzept einenallgemeingültigen bionischen Ansatz verfolgen, son-dern bedarfsgerechte Verbesserungen anstreben.Aktuelle Forschungsansätze im Bauwesen sind bei-spielsweise in den Bereichen

a Green Buildinga Evolutionäre Optimierunga Oberflächena Materialtechnologien

zu erwarten. Weitere gute Ansätze könnten in derAnpassungsfähigkeit von dynamischen Bauwerkenbei der Lastabtragung sein. Somit wären mit wenigerMaterial höhere Gebäude oder längere Brücken rea-lisierbar. Doch damit sich die Bionik im Bauwesenetablieren kann und Anwender nicht in den Zulässig -keitskriterien der Genehmigungsverfahren gefan-gen bleiben, müssen auch politische Anstrengungenunternommen werden. Das wäre auch eine beson-dere Chance für die deutsche Baubranche, sich iminternationalen Konkurrenzkampf zu profilieren.

Kontakt: Prof. Stefan SchäferTelefon 06151 [email protected]

Institut für MassivbauTechnische Universität Darmstadt

www.info-schaefer.de

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4 Kompetenzträger und Netzwerkeauf nationaler / internationaler Ebene

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Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) ist mit mehrals 140000 persönlichen Mitgliedern einer der größ-ten technisch-wissenschaftlichen Vereine Europas. InDeutschland ist der VDI eine führende Institution fürdie Weiterbildung und den Erfahrungsaustauschtechnischer Fach- und Führungskräfte: Er fördert denTransfer von Technikwissen als Dienstleistung für allein Beruf und Studium stehenden Ingenieure undNaturwissenschaftler, für die Unternehmen, den Staatund die Öffentlichkeit. Der VDI ist gemeinnützig undunabhängig von wirtschaftlichen und parteipoliti-schen Interessen. Etwa 800 Ausschüsse und 5400Veranstaltungen vermitteln jährlich ca. 200000 Teil-nehmern Fachinformationen und fördern den Erfah-rungsaustausch. International kooperiert der VDI mitmaßgebenden ausländischen Ingenieurvereinen; in15 Ländern sind VDI-Freundeskreise tätig. Die VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences (VDI-TLS)ist die zentrale Informationsplattform des VDI imBereich der Life Sciences und bündelt Angebote fürseine Mitglieder und Interessierte.

Die VDI-Gesellschaft TLS wurde im April 2009 ge -grün det und vereint die Fachbereiche Max-Eyth-Gesellschaft Agrartechnik, Bionik, Biotechnologie,Gentechnik und Medizintechnik. Die Aktivitäten derFachbereiche werden durch einen mit ehrenamtlichtätigen Entscheidungsträgern besetzten Fachbeiratgeplant und koordiniert. Die Aktivitäten der Fachbe-reiche der VDI-TLS werden übergeordnet durch denBeirat gelenkt. Mit heute bereits mehr als 8000 zuge-ordneten Mitgliedern, ca. 40 Fachausschüssen undmehr als 400 ehrenamtlich aktiven Fachleuten ist dieVDI-Gesellschaft TLS eine stark wachsende Einheitdes Vereins. Die ehrenamtlich aktiven Fachleute derVDI-TLS, die regionalen Arbeitsgruppen der Bezirks-vereine und die Landesvertretungen bilden einumfangreiches Netzwerk. Dieses umfasst ebenfallsausgewählte nationale und internationale Partner-schaften, die bei inhaltlichen und organisatorischenFragestellungen schnell aktiviert werden können.

VDI-Richtlinienarbeit

Technische Regeln (VDI-Richtlinien, DIN-Normen,Standards) sind anerkannte Dokumente, die indus-trielle Anwender in ihrer täglichen Arbeit unterstüt-zen. Insbesondere in der Wirtschaft sind technischeRegeln wesentliche Elemente der Unternehmens-strategie, mit denen Prozess- und Produktqualitätnachgewiesen, Sicherheitsstandards erfüllt und Qua-litätsnormen belegt werden können.

Der VDI ist neben dem DIN eine der wichtigstendeutschen Organisationen, die sich mit der Erstel-lung von technischen Regeln befasst. VDI-Richtlinientragen zur Deregulierung bei, da der Staat dieBeschreibung des Stands der Technik den regelset-zenden Institutionen überlässt. Hierdurch wird derGesetzgeber entlastet und die Interessen der Wirt-schaft durch das Mitspracherecht bei der Erstellungvon technischen Regeln werden gestärkt. VDI-Richt-linien verbreiten technisches Wissen, bauen Handels -hemmnisse ab und erleichtern Vertragsvereinbarun-gen. Derzeit sind über 1800 aktuelle VDI-Richtliniengültig, darunter auch solche, die die Grundlage fürwichtige gesetzliche Verfahren darstellen.

VDI-Richtlinien werden in zwei Sprachen (deutsch /englisch) verfasst und ermöglichen so – über Länder-grenzen hinweg – eine Orientierung durch konkreteHandlungsanweisungen für Fachleute im BereichTechnik und Wissenschaft. Sie sind damit oftmals dieBasis und Ausgangslage internationaler Normungs-aktivitäten, die meistens durch konkrete nationaleVorschläge getragen werden.

4.1 VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences (VDI-TLS)

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VDI-Fachbereich Bionik

Der Transfer von Erkenntnissen aus der Bionik -forschung in die technische Umsetzung ist für dieBionik von zentraler Bedeutung. Wissenstransfer imHinblick auf Umsetzung in die Praxis kann über VDI-Richtlinien erfolgen. Hier können zum einen Defini-tionen und Begriffe festgelegt werden, aber auchkonkrete Handlungsanweisungen für spezielle Frage-stellungen gegeben werden. VDI-Richtlinien sind ineiner technischen Sprache abgefasst, die den an derUmsetzung beteiligten Ingenieuren und Ingenieurin-nen den Umgang mit den eher biologisch geprägtenIdeen erleichtert. Darüber hinaus wird gewährleistet,dass bionische Verfahren von verschiedenen Anwen-dern in gleicher Weise genutzt werden. Dies ermög-licht eine hohe Qualitätssicherung.

Eine übergeordnete Rahmenrichtlinie verdeutlichtprinzipielle Unterschiede zwischen bionischen Ver-fahren und lediglich „naturähnlichen“ Verfahren undführt dadurch zu einer Profilschärfung für die Bionik.

Der VDI-Fachbereich Bionik hat sich bereits früh mitder Entwicklung von VDI-Richtlinien zum Thema Bionikeingesetzt. Die Erarbeitung der VDI-Richtlinien erfolgtin Arbeitsgremien durch ehrenamtlich tätige Fachleuteaus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft.

Eine Liste mit VDI-Richtlinien zur Bionik ist zu findenunter www.vdi.de/bionik (VDI 6220 bis VDI 6226).

Internationaler Bionic-Award

Der VDI fördert Nachwuchswissenschaftler, die sichbionischen Themen widmen. Der internationale Bio-nic-Award wird gemeinsam mit der Deutschen Bun-desstiftung Umwelt vergeben und ist von der Schau-enburg-Stiftung mit 10000 Euro dotiert. Der Preis wirdstets in geradzahligen Jahren vergeben. Nähere Infor-mationen sind unter www.vdi.de/bionic2012 zu finden.

Kontakt:Dr. Heike Beismann, GeschäftsführerinVDI-Gesellschaft Technologies of Life SciencesTelefon 0211 6214-266, Fax [email protected]

Verein Deutscher Ingenieure e.V.Technik und WissenschaftVDI-Platz 140468 Düsseldorf

[email protected]

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4.2 BIOKON und BIOKON international

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Das Bionik-Kompetenznetz BIOKON

Die Bionik als Ideengeber und Innovationsmotor fürTechnik, Wirtschaft und Gesellschaft nutzbar zumachen ist das Hauptanliegen von BIOKON. Diegemeinnützige Forschungsgemeinschaft vereinigtmehr als 90 Universitäten, Forschungsinstitutionen,Unternehmen und Einzelpersönlichkeiten in ganzDeutschland und Europa, die auf dem Gebiet derBionik arbeiten. Die wesentlichen Ziele von BIOKONsind, vorhandenes Expertenwissen zu bündeln undzu vernetzen, F&E-Vorhaben durchzuführen oder zubegleiten und Aus- und Weiterbildungsaktivitätensowie Öffentlichkeitsarbeit für die Bionik anzubietenund zu koordinieren. BIOKON transferiert Wissen inNutzen und agiert als Interessenvertreter und Im -pulsgeber. In den letzten Jahren hat sich BIOKON alszentrale Anlaufstelle für Informationen und Kontaktezur Bionik etabliert, BIOKON ist zum „Transmissions-riemen für Patentlösungen aus der Natur“ geworden.

Das Bionik-Kompetenznetz BIOKON wurde im Jahr2001 mit Unterstützung des Bundesministeriums fürBildung und Forschung (BMBF) gegründet. Seit 2004existiert BIOKON in der Rechtsform eines gemein-nützigen Vereins. Das Bionik-Kompetenznetz wirdvon einer wachsenden Zahl regionaler Knoten-punkte aufgespannt, die über das gesamte Bundes-gebiet verteilt in unterschiedlichen Teildisziplinender Bionik forschen. Viele deutsche und zunehmendauch ausländische Industrieunternehmen schöpfenbereits aus dem Kompetenzpool von BIOKON, greifen Bionik-Ideen auf, nutzen die Fachberatung,beziehen die BIOKON-Experten in ihre F&E-Arbei-ten ein oder geben konkrete Forschungsprojekte inAuftrag. Vor allem kleine und mittlere Unternehmenprofitieren vom Forschungsvorlauf an den Univer -sitäten und Hochschulen und können sich durch die rasche Umsetzung konkreter Produktideen und bionischer Verfahren am Markt besser durchsetzen.Die Industrieanfragen bestimmen ihrerseits wiederneue Bionik-Themen, die zur stärkeren Fokussierungder biologischen Grundlagenforschung auf anwen-dungsrelevante Fragen beitragen.

Internationalisierung: BIOKON international – The Biomimetics Association

Bionik made in Germany ist auch international bei-spielgebend. Die mit BIOKON geschaffenen natio-nalen Netzwerkstrukturen sind eine echte Erfolgsge-schichte. Mit der Gründung des internationalenDachverbandes BIOKON international – The Bio -mimetics Association im März 2009 wurde die inter-nationale Vernetzung konsequent vorangetriebenund institutionalisiert. Sitz dieses Dachverbands dernationalen Bionik-Netzwerke ist Berlin; die Geschäfts -stelle wird von BIOKON betrieben. BIOKON international vereint bereits kurz nach seinerGründung über 100 Mitglieder(-Institutionen) aus 14Ländern und fungiert als anerkannter Stakeholderauf internationaler Ebene. Wesentliche Aktivitätenzielen darauf ab, gemeinsame F&E-Projekte zu ent-wickeln, Finanzierungsmöglichkeiten für bionischeForschung und Entwicklung auf internationaler Ebenezu generieren und zu erschließen und schließ lich Bio-nik als Innovationsmotor für neue Produkte und Tech-nologien auf europäischer und internationaler Ebenefest zu etablieren.

BIOKON und BIOKON international alsInnovations treiber

Konzepte und Produkte der Bionik erweitern dasSpektrum des technisch Möglichen erheblich undbieten marktgängige Lösungen, die auf konventio-nellem Wege nicht erreicht werden. BIOKON undBIOKON international bieten Ihnen die Möglichkeit,gemeinsam mit kreativen Köpfen aus Wissenschaftund Wirtschaft Forschungs- und Entwicklungspro-jekte sowie Prototypen und Produkte zu entwickelnund die Weichen für zukunftsweisende neue Ent-wicklungen zu stellen.

Kontakt:

BIOKON – Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetz e. V.Dr. Rainer Erb, GeschäftsführerTelefon 030 4606-8484, Fax -8474 [email protected], www.biokon.de

BIOKON international – The Biomimetics Association e.V.Dr. Heike Seitz, ProjektleiterinTelefon 030 4606-8484, Fax -8474 [email protected]

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In der Natur gibt es viele Materialien, die durch ihrein Jahrmillionen optimierten Eigenschaften die Einsatzmöglichkeiten von künstlich hergestellten Pro-dukten weit übertreffen. Es ist essentiell, die zu -grunde liegenden Funktionsweisen der Natur zu ana-lysieren, um eine optimale Umsetzung in neuen bio-inspirierten Materialien für technische Anwendungenzu gewährleisten. Für die Analyse von Naturmateria-lien ist eine enge, intensive und offene Zusammenar-beit verschiedener klassischer Disziplinen, wie derBiologie, Chemie und Physik v.a. in der Grundlagen-forschung notwendig. Für eine technische Lösungmüssen die Prinzipien der Natur mittels Ingenieurs-wissen in neue Produkte umgewandelt werden.

Der Fachausschuss „Bionik und bioinspirierte Mate-rialien“ hat zum Ziel, systematisch natürliche (Mate-rial-)Vorbilder zu erforschen und insbesondere denZusammenhang zwischen der Struktur und Funktioneines Naturmaterials und den beteiligten Werkstoffenzu ergründen, was in drei Arbeitskreisen verfolgt wird.

Der Arbeitskreis „interaktive und adaptive Materia-lien“ beschäftigt sich zum einen mit unspezifischen,nicht gerichteten (ggf. vorprogrammierten) Reaktio-nen auf eine veränderte Umgebungssituation, d. h.einer passiven interaktiven Reaktion. Allerdings sindauch adaptive Materialien im Fokus, die mit einer aufdie veränderte Situation angepassten intelligentenund angemessenen Antwort reagieren (aktive adap-tive Antwort). Der gewaltige „Wissensvorsprung“ derNatur gegenüber unserem derzeitigen technischenKnow-how liegt in den Bereichen Selbstheilung,Selbstassemblierung, Selbstreplikation, Selbstreini-gung, Selbsterneuerung, Selbsterhalt und Selbst -begrenzung.

Gegenstand des Arbeitskreises „vom Gen zum Mate-rial“ ist die „molekularbionische“ Erzeugung undCharakterisierung neuer, komplex strukturierter,multi funktioneller Materialien, die über konventio-nelle Herstellungsprozesse nicht zugänglich sind. ImHinblick auf die Materialgenese werden insbeson-dere genregulierte Prozesse und Prinzipien aus derbelebten Natur, die bei Umgebungsbedingungenablaufen, betrachtet. Damit soll der Zugang zu neuenMaterial- (bioorganisch / anorganisch) bzw. Eigen-schaftskombinationen und somit erweiterten techni-schen Anwendungsfeldern für Funktionsmaterialieneröffnet werden.

Der Arbeitskreis „statische und dynamische Grenzflä-chen“ beschäftigt sich mit grenzflächendominiertenMaterialien, wobei sowohl innere Grenzflächen alsauch Oberflächen im Forschungsmittelpunkt stehen.Biologische Grenzflächen zeigen besondere Benet-zungs-, Adhäsions-, tribologische, Permeabi litäts-, me-chanische, elektrische und optische Eigenschaften(quasi-)statisch, aber auch dynamisch (Trans port vonEnergie und Materie, Reorganisation, Respon sivität,oberflächengetriebene Struktur bildung, Adap tion),die für neue Materialansätze von großer Bedeutungsind. Bioinspirierte Materialien werden für viele An-wendungen benötigt. Um die Lösungen der Natur zunutzen, muss man interdisziplinär denken und arbei-ten, was wir in diesem Fachausschuss der DGM aktivumsetzen.

Weitere Informationen unter www.dgm.de

Kontakt:

Prof. Dr. Thomas Scheibel [email protected]

Universität BayreuthLehrstuhl für BiomaterialienFakultät für Angewandte Naturwissenschaften Universitätsstraße 3095440 Bayreuth

4.3 Fachausschuss „Bionik und bioinspirierteMaterialien“ der Deutschen Gesellschaftfür Materialkunde (DGM)

Wespenspinne in

Netz – davor Vliesstoff

aus rekombinanter

Seide (Quelle:

Claudia Blüm und

Thomas Scheibel)

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5 Literatur und weiterführende Informationen

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a Barthlott, W.; Neinhuis, C. (1998): „Lotus-Effect® und Autolack: Die Selbstreinigungmikrostrukturierter Oberflächen“; Biologie inunserer Zeit 28: 314–321

a Bertling, J.; Pflaum, H.; Rechberger, M.; Rettweiler, M. (2005): Bionik als Technologie vision der Zukunft, Studie im Auftrag des Deutschen Bundestagesfür das Büro für Technikfolgenabschätzung beimDeutschen Bundestag, Fraunhofer UMSICHT,Oberhausen, 2005

a BIOKON 2011: www.biokon.net (Stand 1.5.2011)

a von Gleich, A.; Pade, C.; Petschow, U.; Pissarski, E. (2007): Bionik – Aktuelle Trends und zukünftige Potenziale; BMBF 2007

a Fraunhofer IGB 2011: „Eisfreie Tragflächen durch Nanostrukturierung“,Pressemitteilung Februar 2011 (www.igb.fraunhofer.de/www/presse/jahr/2011/dt/2011-02-25-Nanodyn-eisfrei.html)

a Gorb, S.N.: „Functional surfaces in biology – mechanisms and applications“. In: Biomimetics: BiologicallyInspired Technologies. Ed. by Y. Bar-Cohen.:Boca Raton, London, New York: Taylor & Francis,(2006), S. 381– 398

a Gorb, S.N.; Voigt, D.:„Funktionale biologische Oberflächen als Vorbilder für die Technik“; Performance, Doppelausgabe 2.2009 /1.2010, S. 68 –77,http://apportal.ey1.dedicated.nines.nl/wp-content/uploads/2010/06/Funktionale-biologische-Oberfl%C3%A4chen.pdf

a Hessen-Nanotech 2008: Einsatz von Nanotechnologien in Architekturund Bauwesen, Band 7 der Schriftenreihe Hessen-Nanotech, Hessen Agentur, 3. Auflage 2008

a Hessisches Ministerium für Wissenschaft undKunst 2011: „SIGECCO – Mobiler Einzelanschlagpunkt“, Messepräsentation Hannover Messe 2011,www.hessen.de/irj/HMWK_Internet?cid=2fa8b03c11e62e11eab7b8e4fc04448a

a Kesel, A.B. (2005): Bionik. Fischer, Frankfurt.

a Kroner, E.; Kamperman,M.; Arzt, E. 2010: „Geckoinspirierte Klebstoffe – Auf dem Weg in die industrielle Anwendung“; adhäsion 7-8/2010

a Speck, T., Speck, O. (2009): Bionische Innovationen. – TEC 21, 37 /38: 18–21.

a Rechenberg, I.; Zwanzig, M.; Zimmermann, S.;El Khyari, A.R.: TU Berlin 2009: „Tribologie im Dünensand : Sandfisch, Sandboaund Sandschleiche als Vorbild für die Reibungs-und Verschleißminderung“; Projektabschluss -bericht TU Berlin, BMBF-Förderkennzeichen0311967A

a VDI 6220 (Entwurf 2011-06): Bionik – Konzeption und Strategie – Abgrenzungzwischen bionischen und konventionellen Verfahren /Produkten – Berlin: Beuth Verlag

a VDI 6221 (Entwurf 2011-07): Bionik - Funktionale bionische Oberflächen –Berlin: Beuth Verlag

a VDI 6223 (Entwurf 2011-08): Bionik – Bionische Materialien, Strukturen undBauteile – Berlin: Beuth Verlag

a VDI 6225 (Entwurf 2010-11): Bionik – Bionische Informationsverarbeitung –Berlin: Beuth Verlag

a Vincent, J., Bogatyreva, O., Bogatyrev, N.,Bowyer, A., & Pahl, A. (2006): „Biomimetics:its practice and theory“; Journal of the RoyalSociety, Interface 3:471-482.

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Atlas Kompetenz- und InfrastrukturatlasNanotechnologien in Hessen

Competence and Infrastructure Atlas Nanotechnologies in Hessen

Atlas Kompetenzatlas Photonik in Hessen

Competence Atlas Photonics in Hessen

Band 1 Einsatz von Nanotechnologie in der hessischen UmwelttechnologieInnovationspotenziale für Unternehmen

Uses of Nanotechnology in Environmental Technology in HessenInnovation potentials for companies

Band 2 NanomedizinInnovationspotenziale in Hessen für Medizin technik und Pharmazeutische Industrie

Band 3 Nanotechnologie im Auto Innovationspotenziale in Hessen für die Automobil- und Zuliefer-Industrie

Nanotechnologies in AutomobilesInnovation Potentials in Hesse for the Automotive Industry and its Subcontractors

Band 4 NanoKommunikationLeitfaden zur Kommunikation von Chancen und Risiken der Nanotechno logien für kleine und mittelständische Unternehmen in Hessen

Supplement zum Leitfaden NanoKommunikationInnovationsfördernde Good-Practice-Ansätze zum verantwortlichen Umgang mit Nanomaterialien

Band 5 Nanotechnologien für die optische IndustrieGrundlage für zukünftige Innovationen in Hessen

Band 6 NanoProduktionInnovationspotenziale für hessische Unternehmen durch Nanotechnologien im Produktionsprozess

Band 7 Einsatz von Nanotechnologien in Architektur und Bauwesen

Band 8 NanoNormungNormung im Bereich der Nanotechno logien als Chance für hessische Unternehmen

Band 9 Einsatz von Nanotechnologien im Energiesektor

Nanotechnology Applications in the Energy Sector

Band 10 Werkstoffinnovationen aus Hessen Potenziale für Unternehmen

Band 11 Sichere Verwendung von Nanomaterialien in der Lack- und FarbenbrancheEin Betriebsleitfaden

Band 12 Nanotech-KooperationenErfolgreiche Kooperationen für kleine und mittlere Nanotechnologie-Unternehmen

Band 13 Mikro-Nano-Integration Einsatz von Nanotechnologie in der Mikrosystemtechnik

Band 14 Materialeffizienzdurch den Einsatz von Nanotechnologien und neuen Materialien

Band 15 Nanotechnologie in KunststoffInnovationsmotor für Kunststoffe, ihre Verarbeitung und Anwendung

Band 16 NanoAnalytikAnwendung in Forschung und Praxis

Band 17 Nanotechnologie für den Katastrophen-schutz und die Entwicklungszusammenarbeit

Nanotechnologies for emergency management and development cooperation

Band 18 Material formt ProduktInnovations- und Marktchancen erhöhen mit professionellen Kreativen

Materials Shape ProductsIncrease innovation and market opportunities with the help of creative professionals

Band 19 Patentieren von Nanotechnologien

Band 20 Nanotechnologie in der Natur– Bionik im Betrieb

Web-Pub 1 Intelligente Materiallösungen zum Erhalt von Werten

SCHRIFTENREIHE

Informationen /Download /Bestellungen:www.hessen-nanotech.de/veroeffentlichungen

Nanotechnologien im AutomobilInnovationspotenziale in Hessen für die Automobil- und Zuliefer-Industrie

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Hessen Nanotech

Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Einsatz von Nanotechnologienin Architektur und Bauwesen

Hessen Nanotech

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Einsatz von Nanotechnologienim Energiesektor

Hessen Nanotech

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Sichere Verwendung von Nano materialien in der Lack- und FarbenbrancheEin Betriebsleitfaden

Hessen Nanotech

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Kompetenzatlas Photonik in Hessen

Competence AtlasPhotonic in Hessen

Hessen Nanotech

Hessisches Ministeriumfür Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.de

Hessen Nanotech

Material formt ProduktInnovations- und Marktchancen erhöhen mit professionellen Kreativen

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Projektträger der Aktionslinie Hessen-Nanotechdes Hessischen Ministeriums für Wirtschaft,Verkehr und Landesentwicklung

www.hessen-nanotech.deNanotechHessen

EUROPÄISCHE UNION:Investition in Ihre ZukunftEuropäischer Fonds für regionale Entwicklung

Das Projekt wird kofinanziert ausMitteln der Europäischen Union