nerdfall nr. 07 · 2020. 12. 9. · nerdfall nr. 07 am mittag eines eiskalten wintertages wird die...

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NERDfall Nr. 07 Am Mittag eines eiskalten Wintertages wird die Besatzung eines NEFs ohne Sonderrechte zu einer KTW-Einweisung nachgefordert. Auf Grund dieser Einsatzmeldung geht die NEF-Besatzung von einer unkritischen Situation aus. Nach der etwa 15-minütigen Anfahrt wird daher lediglich das Monitoring sowie eine Schreibunterlage samt Protokoll mit in den zweiten Stock genommen. Doch beim Betreten der Wohnung und dem ersten Anblick der auf dem Sofa sitzenden Patientin ändert sich diese Einschätzung schnell: Die etwa 50-jährige Patientin befindet sich - auf den ersten Blick erkennbar - in deutlich reduziertem Allgemeinzustand. Zudem wirkt sie agitiert und tachypnoeisch, im Gesicht fällt eine leichte Marmorierung auf. Laut der ebenfalls anwesenden jugendlichen Tochter bestehe bei ihrer Mutter seit dem Vortag ein fieberhafter Infekt mit bisher eigentlich nur leichtem Husten und einmaligem Übergeben. Der Husten sei wohl trocken, das Übergeben soweit unauffällig gewesen. Nachdem sie bei ihrer Mutter nun aber seit einigen Stunden auch eine rasch zunehmende “Müdigkeit” beobachten könne, habe sie selbst telefonischen Kontakt zur Hausärztin ihrer Mutter aufgenommen. Diese habe am Telefon zugesichert, eine Klinikeinweisung zu veranlassen und das Telefonat daraufhin beendet. Die Patientin macht mit einer abfälligen Handbewegung deutlich, dass sie von den Sorgen Ihrer Tochter nicht viel hält. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter scheint insgesamt ein wenig angespannt zu sein. Die Wohnung erscheint ordentlich, macht insgesamt aber einen eher "heruntergekommenen" Eindruck. Die KTW-Besatzung berichtet, überhaupt keine Einsicht für die Durchführung der Einweisung bei der Patientin erzielen zu können. Sie verweigere jede Maßnahme, wolle eigentlich nur in Ruhe gelassen werden und schlafen. Ein Einweisungsschein läge vor, jedoch habe die Tochter diesen selbst abholen müssen - die Hausärztin selbst sei nie vor Ort gewesen. Tragestuhl und Notfallkoffer des KTWs sind bereits in der Wohnung. Aufgebrachtes “Ich möchte das nicht” und leichte Ausweichbewegungen der Patientin erschweren die Durchführung jeglicher Maßnahmen. Echten Widerstand leistet die Patientin beim Anbringen eines Basismonitorings und einer körperlichen Untersuchung dann aber doch nicht. Bei einer Atemfrequenz von 24/min lässt sich unter Raumluft eine SpO2 von 97% ableiten. Die Rekap-Zeit beträgt vier Sekunden, die Herfrequenz liegt bei 110/min. Der Blutdruck ist bei 110/70 mmHg. Zudem wird ein 12-Kanal EKG abgeleitet (siehe unten). Die Patientin präsentiert sich motorisch insgesamt unruhig und fingert ständig an den Kabeln und ihrer Kleidung herum. Eine Temperaturmessung ergibt 39,2°C. Bei der Auskultation der Lunge fallen basal beidseits feinblasige RGs auf. Eine orientierende Herzauskultation über Erb bleibt o.p.B.. Das Abdomen stellt sich weich und nicht druckdolent dar, die Peristaltik scheint unauffällig. Letzter Stuhlgang und Wasserlasen seien wohl ebenfalls unauffällig gewesen. Schmerzen werden verneint. Am linken Oberbauch fällt eine fast 20 cm große, quer verlaufende OP-Narbe auf. Beim Hochschieben ihrer Jogginghose zeigen sich von beiden Patellae ausgehende - etwa zwei Handflächen große - Marmorierungen der Haut. Zudem bestehen beidseits leichte Knöchelödeme. Die Patientin zeigt sich zu allen Qualitäten orientiert, reagiert auf Nachfragen jedoch deutlich verlangsamt und scheint manche Fragen einfach zu "überhören". Eine orientierende neurologische Untersuchung liefert jedoch keinen Anhalt für ein fokal neurologisches Defizit. Ein Meningismus besteht nicht. PERRLA. Erst nach zweimaliger Nachfrage gibt die Patientin an, Escitalopram sowie - wegen gelegentlicher Kopfschmerzen - ab und zu Ibuprofen einzunehmen. Somatische Vorerkrankungen und Allergien bestünden keine. Bei der Frage nach dem letzten Hausarztbesuch schaut sie fragend zu ihrer Tochter, diese zuckt nur hilflos mit den Schultern. Sie ergänzt jedoch, dass ihre Mutter vor zwei Jahren einen schweren Rollerunfall in Bulgarien hatte, nachdem ihr ein Organ entnommen werden musste. Welches Organ, das könne sie nicht genau sagen. Die Patientin zeigt hierauf auf ihre OP-Narbe und zuckt ebenfalls nur mit den Schultern. Nach telefonischer Rücksprache mit der Leitstelle wird klar, dass der nächste RTW witterungsbedingt etwa 25 Minuten zum Einsatzort benötigen würde. Ein Rendezvous auf dem Weg zur Klinik ist wegen unterschiedlicher Fahrtrichtungen nicht möglich. Autor: Navid Azad

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    NERDfall Nr. 07 

        

                       Am Mittag eines eiskalten Wintertages wird die Besatzung eines NEFs ohne Sonderrechte zu einer KTW-Einweisung nachgefordert. Auf Grund                                   dieser Einsatzmeldung geht die NEF-Besatzung von einer unkritischen Situation aus. Nach der etwa 15-minütigen Anfahrt wird daher lediglich                                   das Monitoring sowie eine Schreibunterlage samt Protokoll mit in den zweiten Stock genommen.  Doch beim Betreten der Wohnung und dem ersten Anblick der auf dem Sofa sitzenden Patientin ändert sich diese Einschätzung schnell:  Die etwa 50-jährige Patientin befindet sich - auf den ersten Blick erkennbar - in deutlich reduziertem Allgemeinzustand. Zudem wirkt sie                                       agitiert und tachypnoeisch, im Gesicht fällt eine leichte Marmorierung auf. Laut der ebenfalls anwesenden jugendlichen Tochter bestehe bei                                   ihrer Mutter seit dem Vortag ein fieberhafter Infekt mit bisher eigentlich nur leichtem Husten und einmaligem Übergeben. Der Husten sei wohl                                         trocken, das Übergeben soweit unauffällig gewesen. Nachdem sie bei ihrer Mutter nun aber seit einigen Stunden auch eine rasch                                     zunehmende “Müdigkeit” beobachten könne, habe sie selbst telefonischen Kontakt zur Hausärztin ihrer Mutter aufgenommen. Diese habe am                                 Telefon zugesichert, eine Klinikeinweisung zu veranlassen und das Telefonat daraufhin beendet. Die Patientin macht mit einer abfälligen                                 Handbewegung deutlich, dass sie von den Sorgen Ihrer Tochter nicht viel hält. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter scheint insgesamt                                       ein wenig angespannt zu sein. Die Wohnung erscheint ordentlich, macht insgesamt aber einen eher "heruntergekommenen" Eindruck. Die KTW-Besatzung berichtet, überhaupt keine Einsicht für die Durchführung der Einweisung bei der Patientin erzielen zu können. Sie                                   verweigere jede Maßnahme, wolle eigentlich nur in Ruhe gelassen werden und schlafen. Ein Einweisungsschein läge vor, jedoch habe die                                     Tochter diesen selbst abholen müssen - die Hausärztin selbst sei nie vor Ort gewesen. Tragestuhl und Notfallkoffer des KTWs sind bereits in                                           der Wohnung.    Aufgebrachtes “Ich möchte das nicht” und leichte Ausweichbewegungen der Patientin erschweren die Durchführung jeglicher Maßnahmen.                             Echten Widerstand leistet die Patientin beim Anbringen eines Basismonitorings und einer körperlichen Untersuchung dann aber doch nicht.                                 Bei einer Atemfrequenz von 24/min lässt sich unter Raumluft eine SpO2 von 97% ableiten. Die Rekap-Zeit beträgt vier Sekunden, die                                       Herfrequenz liegt bei 110/min. Der Blutdruck ist bei 110/70 mmHg. Zudem wird ein 12-Kanal EKG abgeleitet (siehe unten). Die Patientin                                       präsentiert sich motorisch insgesamt unruhig und fingert ständig an den Kabeln und ihrer Kleidung herum. Eine Temperaturmessung ergibt                                   39,2°C. Bei der Auskultation der Lunge fallen basal beidseits feinblasige RGs auf. Eine orientierende Herzauskultation über Erb bleibt o.p.B..                                     Das Abdomen stellt sich weich und nicht druckdolent dar, die Peristaltik scheint unauffällig. Letzter Stuhlgang und Wasserlasen seien wohl                                     ebenfalls unauffällig gewesen. Schmerzen werden verneint. Am linken Oberbauch fällt eine fast 20 cm große, quer verlaufende OP-Narbe auf.                                     Beim Hochschieben ihrer Jogginghose zeigen sich von beiden Patellae ausgehende - etwa zwei Handflächen große - Marmorierungen der                                   Haut. Zudem bestehen beidseits leichte Knöchelödeme. Die Patientin zeigt sich zu allen Qualitäten orientiert, reagiert auf Nachfragen jedoch deutlich verlangsamt und scheint manche Fragen einfach                                     zu "überhören". Eine orientierende neurologische Untersuchung liefert jedoch keinen Anhalt für ein fokal neurologisches Defizit. Ein                               Meningismus besteht nicht. PERRLA. Erst nach zweimaliger Nachfrage gibt die Patientin an, Escitalopram sowie - wegen gelegentlicher                                 Kopfschmerzen - ab und zu Ibuprofen einzunehmen. Somatische Vorerkrankungen und Allergien bestünden keine. Bei der Frage nach dem                                   letzten Hausarztbesuch schaut sie fragend zu ihrer Tochter, diese zuckt nur hilflos mit den Schultern. Sie ergänzt jedoch, dass ihre Mutter vor                                           zwei Jahren einen schweren Rollerunfall in Bulgarien hatte, nachdem ihr ein Organ entnommen werden musste. Welches Organ, das könne sie                                       nicht genau sagen. Die Patientin zeigt hierauf auf ihre OP-Narbe und zuckt ebenfalls nur mit den Schultern.  Nach telefonischer Rücksprache mit der Leitstelle wird klar, dass der nächste RTW witterungsbedingt etwa 25 Minuten zum Einsatzort                                   benötigen würde. Ein Rendezvous auf dem Weg zur Klinik ist wegen unterschiedlicher Fahrtrichtungen nicht möglich.  

    Autor: Navid Azad