Überlegungen aus christlicher sicht was kommt nach dem tod? … · 2020. 5. 20. · der...

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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 73. Jahrgang 11 / 10 ISSN 0721-2402 H 54226 Was kommt nach dem Tod? Überlegungen aus christlicher Sicht Zur rechtlichen Beurteilung kirchlicher Sektenwarnungen Sant Rajinder Singh in Berlin „Kraftwerk Religion” Eine Ausstellung in Dresden Stichwort: Freimaurer Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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    ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen 73. Jahrgang 11/10IS

    SN 0

    721-

    2402

    H 5

    4226

    Was kommt nach dem Tod?Überlegungen aus christlicher Sicht

    Zur rechtlichen Beurteilung kirchlicher Sektenwarnungen

    Sant Rajinder Singh in Berlin

    „Kraftwerk Religion”Eine Ausstellung in Dresden

    Stichwort: Freimaurer

    Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

    EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

    umschlag1110.qxp 21.10.2010 14:11 Seite 1

  • inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2

  • Heinrich Bedford-StrohmWas kommt nach dem Tod? 403

    Judith MüllerGrundlagen des ÄußerungsrechtsRechtliche Beurteilung kirchlicher Sektenwarnungen 412

    IslamNeuer Vorsitzender des Zentralrats der Muslime: Wer ist Aiman Mazyek? 419

    Freigeistige BewegungHumanistischer Verband Hannover wird Mitglied im Forum der Religionen Hannover 420

    Neuapostolische KircheWeiterhin interne Richtungskämpfe in der NAK 421

    EsoterikAm Anfang war das Licht – ein Film über das „Phänomen“ Lichtnahrung 422

    Neue religiöse BewegungenSant Rajinder Singh in Berlin 423

    Der Dokumentarfilm „Guru – Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard” 425

    Alternative MedizinNorwegische Behörden überprüfen Hamer 426

    Jugend„Mäßig religiös”. Zur Shell-Jugendstudie 2010 426

    Religiöse Landschaft„Kraftwerk Religion“ – eine Ausstellung in Dresden „über Gott und die Menschen“ 427

    INHALT MATERIALDIENST 11/2010

    INFORMATIONENINFORMATIONEN

    ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

    INFORMATIONENBERICHTE

    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 401

  • INFORMATIONENSTICHWORT

    Freimaurer 430

    BÜCHER

    Benjamin Idriz, Stephan Leimgruber, Stefan J. Wimmer (Hg.)Islam mit europäischem GesichtPerspektiven und Impulse 435

    INFORMATIONENBÜCHER

    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 402

  • 403MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    Der Umgang mit dem Tod heute

    Der Tod ist ein Thema, dessen Erfahrungs-bezug garantiert ist. Jeder und jede stirbteinmal. Und es gibt niemanden, der inseiner Lebenszeit nicht mit dem ThemaTod konfrontiert ist. Gleichzeitig gibt eskaum ein Thema, das so viel Hilflosigkeiterzeugt wie das Thema Tod. Eltern geratenins Stammeln, wenn Kinder fragen, wa-rum der Opa im Himmel ist, wo sie ihndoch gerade in die Erde gelegt haben.Nachbarn wechseln die Straßenseite, weilsie nicht wissen, wie sie den Hinterbliebe-nen begegnen sollen. Seelsorger verwei-sen auf den Geheimnischarakter Gottes,wenn sie von Sterbenden gefragt werden,was nach dem Tod kommt.Der Tod hatte für die Menschen schon im-mer etwas Bedrohliches an sich. In denReligionen hat man daher in ganz unter-schiedlicher Weise immer wieder Antwor-ten auf die damit verbundenen Fragen zugeben versucht. Religiöse Inhalte habenden Menschen Sprache für das zu gebenvermocht, was die Soziologie „Kontin-genzbewältigung“ nennt. Sie haben denSinn des Lebens gerade angesichts seinerBegrenztheit zum Ausdruck zu bringenversucht. Wo diese Sprache verlernt wird,zerrinnt zunehmend die Fähigkeit, denTod überhaupt zu thematisieren.So ist es kein Wunder, dass der Tod in denmodernen, säkularer werdenden Gesell-schaften zunehmend verdrängt, ja zuwei-len aus dem Alltag geradezu verbanntwird. Der Umgang mit dem Tod wird andie „Spezialisten“ delegiert. Das Bestat-

    tungsunternehmen sorgt dafür, dass derLeichnam so schnell wie möglich aus demSterbehaus abtransportiert wird. Wenn derPfarrer oder die Pfarrerin dann eintrifft, istdie Aussegnung schon nicht mehr mög-lich.Gleichzeitig werden wir mit Todeserfah-rungen aus zweiter Hand medial über-schüttet. In Schweden ergab eine Untersu-chung bei Kindern im Alter von 6 bis 10Jahren, dass 40 Prozent von ihnen, ge-prägt durch Medienkonsum, glauben,Menschen würden nur aufgrund vonMord und Totschlag sterben.2 Die Primär-erfahrung fehlt. Erwachsene versuchen,ihre Kinder vor dem Tod abzuschirmen,weil sie selbst nicht damit umgehen kön-nen. Bei einer Kinderuni-Vorlesung an derUniversität Bamberg im Jahr 2004 zumThema „Ist Sterben wirklich so schlimm?“meldeten sich von den ca. 150 anwesen-den Kindern nur zwei auf die Frage, werschon einmal eine echte Leiche gesehenhabe. Der eine hatte im Museum eineMoorleiche besichtigt, die andere war einAussiedlerkind und hatte, noch in Ka-sachstan, ihren toten Opa gesehen.Die tiefer liegende Ursache für diese Ver-drängung des Todes und die Hilflosigkeit,die sich darin ausdrückt, liegt vermutlichin einer Verschiebung der kulturellenGrundtextur unserer Gesellschaft. Wäh-rend viele Jahrhunderte lang ein Leitbilddes „Menschen als Empfänger“ vor-herrschte, steht heute der „Mensch alsGestalter“ im Zentrum. In der Bibel findensich beide Dimensionen. Während in frü-heren Zeiten der Mensch als Empfänger

    IM BLICKPUNKTHeinrich Bedford-Strohm, Bamberg

    Was kommt nach dem Tod?1

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  • verabsolutiert wurde und ungerechte ge-sellschaftliche Zustände von kirchlicherSeite als Wille Gottes ausgegeben wur-den, der anzunehmen sei, ist das Pendelheute in Richtung einer Verabsolutierungdes Menschen als Gestalter ausgeschla-gen. Grenzen, wie sie etwa in der bibli-schen Geschichte vom Turmbau zu Babelkritisch thematisiert werden, gelten alsinakzeptabel. Trotz aller, zuweilen fastverzweifelter Versuche in der medizini-schen Forschung und Praxis, das Leben zuverlängern, bleibt die Grenze des Todes.Das Leitbild des Menschen als Gestalterversagt angesichts der Unkontrollierbar-keit des Todes. Es gilt, wieder neu zu ler-nen, „Mensch als Empfänger“ zu sein undLeiden und Tod auszuhalten und anzu-nehmen. Vieles spricht dafür, dass die reli-giöse Sprachhilfe, die das Christentum inseiner langen Geschichte dazu entwickelthat, dafür von bleibender, vielleicht sogarvon wieder zunehmender Bedeutung ist.Im Folgenden sollen dazu einige Orientie-rungen gegeben werden. Nach einer Re-flexion über den Stellenwert naturwissen-schaftlicher Erkenntnisse zu dieser Frageund einer Klärung des Stellenwerts bib-lischer Orientierungen für einen aufge-klärten Umgang mit dem Phänomen sollgenauer untersucht werden, was die bib-lische und theologische Tradition dazu zusagen hat.

    Gibt es ein Leben nach dem Tod? – Wissenschaftliche Erkenntnisse

    Immer wieder sind Forschungen zu Nah-toderlebnissen als Belege für ein Lebennach dem Tod gelesen worden. Patienten,die klinisch tot waren und später an sol-chen Studien teilnahmen, berichten, siehätten das Gefühl gehabt, ihren Körper zuverlassen; sie seien völlig schmerzfrei ge-wesen und hätten sich einem sehr hellenLicht genähert. Auch das Bild des Tunnels,

    an dessen Ende Licht sei, wird immer wie-der genannt.Dass es Nahtoderlebnisse gibt, die vonvielen Menschen mit verblüffender Über-einstimmung berichtet worden sind, kannangesichts einschlägiger empirischer Stu-dien als gesichert gelten.3 Wie sie zu in-terpretieren sind, ist strittig. Die einenwollen darin den Beweis dafür sehen,dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Dieanderen verweisen auf mögliche chemi-sche Prozesse beim Sterbeprozess im Ge-hirn, die – ähnlich den physiologischenProzessen beim Gebrauch von Drogen –entsprechende Halluzinationen erzeugen. Aus theologischer Sicht ist dazu zu sagen:Für die Nahtoderlebnisse gilt, was für dasVerhältnis Theologie-Naturwissenschaftengenerell festzustellen ist: Solche For-schungsergebnisse können Hinweise da-rauf sein, dass die Naturwissenschaftendie Möglichkeit für theologische Wirklich-keitsdeutung offen halten. Sie könnenaber nie Beweise für theologische Wirk-lichkeitsdeutung sein. Die theologischeRede vom ewigen Leben gründet auf derBeziehung zu Gott, der als Schöpfer derWelt auch Herr über Leben und Tod ist.Der naturwissenschaftliche Beweis ist alsBasis für ein Beziehungsgeschehen un-tauglich, dessen Grundlage und Ziel dasVertrauen ist. Die biblischen Texte sindeine Schule des Vertrauens und daher vielbesser geeignet, dem Phänomen Tod kon-struktiv zu begegnen, als die am Ende hilf-losen Versuche, ein Leben nach dem Todwissenschaftlich zu begründen. Aus drei Gründen widerspricht ein sol-cher biblisch gegründeter Umgang mitdem Tod keineswegs der Vernunft und dernaturwissenschaftlichen Erkenntnis: Ers-tens weiß die Vernunft gerade dann, wennsie aufgeklärte Vernunft ist, um ihre Gren-zen. Die Vernunft lässt jedenfalls die Mög-lichkeit definitiv offen, dass es einen Gottgibt und dass dieser Gott größer ist als die

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  • Zeit und seine Zeit weiter reicht als diemenschliche Zeiterfahrung, die in dem ir-dischen Leben des Menschen ihren Aus-druck findet. Wenn Gott wirklich Gott ist,also als Schöpfer des Menschen mehr istals das, was der Mensch erfassen kann,dann kann die menschliche Vernunft ihnsich nicht verfügbar machen. So wenigder Mensch beweisen kann, dass es Gottgibt, so wenig wäre der Mensch in derLage, Gott mit den Kategorien der Ver-nunft zu erfassen, wenn es ihn gäbe. Dasaber heißt: Der Raum für das Vertrauendafür, dass es einen Gott gibt, ist philoso-phisch offen. Zweitens muss die Totalisierung einer na-turwissenschaftlichen Perspektive, wie sieetwa in den aktuellen Thesen des Neo-Atheismus um Richard Dawkins4 zu iden-tifizieren ist, als ihrerseits religiös (ge-nauer: pseudoreligiös) verstanden wer-den. John Polkinghorne hat überzeugendaufgezeigt, dass die Aussagen der Neo-Atheisten, was das Verständnis von Reli-gion und Theologie betrifft, in vielen Hin-sichten auf Ignoranz beruhen und dass siesich über die Voraussetzungshaftigkeit ih-res eigenen naturwissenschaftlichen Den-kens hinwegtäuschen.5 Naturwissenschaftwird dann zur Religion, wenn alle Dimen-sionen der Wirklichkeit, die darüber hin-ausgehen, dogmatisch ausgeschlossenwerden. Welche Verarmung der Wirklich-keitswahrnehmung damit verbunden ist,mag ein Beispiel veranschaulichen, mitdem der amerikanische Theologe H. Ri-chard Niebuhr Bedeutung und Stellenwerteines auf Offenbarung basierenden Re-dens beschreibt: Über einen Blinden, derwieder sehen kann, können zwei Ge-schichten geschrieben werden. Eine na-turwissenschaftliche Beschreibung würdesich mit der Frage befassen, was mit sei-nem optischen Nerv passierte oder wel-che chemischen Prozesse sich in seinerNetzhaut abspielten, als er blind war. Sie

    würde dann erläutern, welche Technik derAugenchirurg anwandte, um in diese Pro-zesse einzugreifen, welche Medikamenteer vielleicht benutzte und wie sie funktio-nieren. Sie würde anschließend schildern,durch welche medizinischen Genesungs-phasen der Patient hindurchging und wiesein Auge nun wieder funktioniert. Eineautobiografische Geschichte würde dieseDinge vielleicht kaum erwähnen, sondernbeschreiben, was in einem Menschen vor-geht, der sein Leben in Dunkelheit ver-bracht hat und der nun Bäume, Vögel,den Himmel, den Sonnenuntergang sehenkann, die Gesichter von Kindern und dieAugen eines Freundes. Sie wäre eine Ge-schichte von Trauer, vielleicht von Ver-zweiflung, in die nun in einem ganz wört-lichen Sinne Licht kam; sie handelte vonGlück und Freude, von tiefer Dankbarkeit,vielleicht auch von einem Gefühl von Ge-borgenheit.6 Beide Perspektiven enthaltenwesentliche Dimensionen der Wirklich-keit. Christlicher Fundamentalismus spieltdiese Perspektiven ebenso gegeneinanderaus wie naturwissenschaftlicher Funda-mentalismus.Drittens spielt sich gelingendes Leben inGemeinschaft ab. Das gilt auch für dieGemeinschaft durch die Zeiten hindurch.Nichts anderes als eine solche Gemein-schaft meinen wir, wenn wir von „Tradi-tionen“ sprechen. So wie es Sinn hat, aufGemeinschaft in der Gegenwart zubauen, so hat es Sinn, sich auf Gemein-schaft durch die Zeiten hindurch einzulas-sen. Christlicher Glaube ist das bewussteSich-Einlassen auf eine Tradition, die sichviele Jahrhunderte lang bewährt hat. Ge-rade im Hinblick auf das Thema Tod hatsie eine besondere Kraft entwickelt. Sichauf sie einzulassen, gebietet die Vernunftnicht. Die Behauptung, die Vernunft ge-biete, sie zu verwerfen, ist aber Unsinn.Es ist deutlich geworden, dass es guteGründe gibt, die Sprachlosigkeit ange-

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  • sichts des Todes dadurch zu überwinden,dass wir die Bilder wieder neu zur Spra-che bringen, die die jüdisch-christlicheTradition für die Interpretation des Todesund des Lebens nach dem Tod gefundenhat. Eine Kritik der eschatologischen Ver-nunft à la Kant – so hat Michael Beintkerzu Recht festgestellt – „wird der Gefahrdes enthemmten Überschwangs eschato-logischer Bilder nicht dadurch auswei-chen, dass sie solche Bilder in der Nachtder Bildlosigkeit verschwinden lässt undsich auf das pure Faktum des KommensChristi zurückzieht“.7 Das klare Bewusst-sein dafür, dass es sich dabei nur um Bil-der für etwas handelt, was dem menschli-chen Erkennen empirisch-wissenschaft-lich nicht zugänglich ist, nimmt nichtsvon der Bedeutung des damit zum Aus-druck gebrachten Inhalts. Gelingendes Le-ben nährt sich aus der Inspiration der neuzur Sprache gebrachten biblischen Bilder.

    Was kommt nach dem Tod? – Biblische Bilder

    Schon im Alten Testament finden sich Vor-stellungen von der Überwindung des To-des. Dabei spielt das Vertrauen auf dieTreue Gottes gegenüber seinem Volk einebesondere Rolle. „Den Tod verschlingt erauf ewig“, heißt es in der Jesaja-Apoka-lypse, „und der Herr wird die Tränen ab-wischen von jedem Gesicht, und dieSchmach seines Volkes wird er von derganzen Erde hinwegtun“ (Jes 25,8). Sogarvon Auferstehung ist die Rede: „Deine To-ten werden lebendig, meine Leichen[wieder] auferstehen. Wacht auf und ju-belt, Bewohner des Staubes!“ (26,19) Erst im Neuen Testament wird die Über-windung des Todes zur zentralen Vorstel-lung. Aber der Auferstehungsglaube –diese These hat Thomas Naumann plausi-bel gemacht – „tritt nicht von außen andie Religion Israels heran, sondern wächst

    aus ihr heraus, indem er grundlegendeEinsichten des überlieferten israelitischenGlaubens unter veränderten Bedingungenneu bedenkt“.8 Für Paulus steht und fälltder Christusglaube mit dem Auferste-hungsglauben: „Wenn aber gepredigtwird, dass Christus aus den Toten aufer-weckt sei, wie sagen einige unter euch,dass es keine Auferstehung der Totengebe? Wenn es aber keine Auferstehungder Toten gibt, so ist auch Christus nichtauferweckt; wenn aber Christus nicht auf-erweckt ist, so ist also auch unsere Predigtinhaltslos, inhaltslos aber auch euerGlaube“ (1. Kor 15,12-14).Paulus und die Evangelien bekräftigen:Der Tod hat durch Christus seine Machtverloren: „Ich bin die Auferstehung unddas Leben; wer an mich glaubt, wird le-ben, auch wenn er gestorben ist; und je-der, der da lebt und an mich glaubt, wirdnicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25f).Die Liebe ist eine Kraft der Beziehung, diestärker ist als der Tod: „Denn ich bin über-zeugt, dass weder Tod noch Leben, wederEngel noch Mächte noch Gewalten, we-der Gegenwärtiges noch Zukünftiges, we-der Hohes noch Tiefes, noch eine andereKreatur uns scheiden kann von der LiebeGottes, die in Christus Jesus ist, unseremHerrn“ (Röm 8,38f).Damit ist die grundlegende Basis für denAuferstehungsglauben beschrieben: Esgeht bei der Auferweckung der Toten umein Beziehungsgeschehen. Alles, was diebiblischen Texte über das Leben nachdem Tod sagen, ist in diesem Horizont zusehen. Im Horizont der Liebe Gottes le-ben heißt, die Grenze des Todes zu über-winden. Aber was kommt nach dem Tod?Anhand von sieben Dimensionen soll die-ser Frage nachgegangen werden.

    1. Aus dem Tod wächst neues Leben –Identität und Verwandlung: Für die pauli-nische Vorstellung vom Leben nach dem

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    Tod ist die spezifische Verbindung vonIdentität und Verwandlung charakteris-tisch. Paulus spricht von der Auferstehungdes Leibes (soma). Es ist nicht irgendeineGeistgestalt oder nur eine „Seele“, die imewigen Leben bleibt, sondern der ganzeMensch wird auferstehen. Damit ist indes-sen keineswegs eine Art wundersamerWiederbelebung gemeint. Die Identitätbleibt, aber sie wird verwandelt. Paulusnimmt zur Veranschaulichung das Bilddes Samenkorns, das nur dadurch, dass esstirbt, neues Leben schafft: „Es wird aberjemand sagen: Wie werden die Toten auf-erweckt? Und mit was für einem Leibkommen sie? Tor! Was du säst, wird nichtlebendig, es sterbe denn. Und was dusäst, du säst nicht den Leib, der werdensoll, sondern ein nacktes Korn, es sei vonWeizen oder von einem der anderen [Sa-menkörner]. Gott aber gibt ihm einenLeib, wie er gewollt hat, und jedem derSamen seinen eigenen Leib ... So ist auchdie Auferstehung der Toten. Es wird gesätin Verweslichkeit, es wird auferweckt inUnverweslichkeit ...; es wird gesät inSchwachheit, es wird auferweckt in Kraft;es wird gesät ein natürlicher Leib, es wirdauferweckt ein geistlicher Leib“ (1. Kor15,35-44). Auch wenn der Körper desMenschen im Grab verwest oder im Kre-matorium verbrannt wird, der Leib, alsodie Geschichte, zu der auch die körper-liche Existenz gehört, bleibt und wird ver-wandelt.

    2. Der ganze Kosmos wird neu – die Neu-schöpfung: Nicht nur der Mensch wirdverwandelt. Auch die Erde und der ganzeKosmos werden in Christus neu. „Das Alteist vergangen, und siehe, Neues ist gewor-den“ (2. Kor. 5,17). Der neue Himmel unddie neue Erde werden vom Geist Gottesdurchwirkt sein. Das Seufzen der Kreaturwird ein Ende haben. Jürgen Moltmannhat dieses „kosmische Richten“ und Neu-

    werden so beschrieben: „Alle zerrüttetenVerhältnisse in der Schöpfung müssen zuRecht gebracht werden, damit die neueSchöpfung auf dem festen Boden der Ge-rechtigkeit stehen und in Ewigkeit bleibenkann. Das sind die Verhältnisse zwischenden Menschen sowie zwischen den Men-schen und der Welt des Lebendigen in derirdischen Schöpfungsgemeinschaft undnicht zuletzt jene Zerrüttungen, die alleKreaturen auch ohne die Menschen nachErlösung seufzen und sich sehnen las-sen.“9 Der ganze Kosmos ist also an derVerwandlung in die neue Welt Gottes be-teiligt. Die Abwertung des Irdisch-Mate-riellen zugunsten eines Eschatologisch-Spirituellen liegt nicht in der Ziellinie desbiblischen Denkens. Die Erde – so LuziaSutter Rehmann – „muss nicht überwun-den werden. Der Unterschied zwischender jetzigen und der kommenden Welt istnicht dualistisch metaphysisch gedacht,sondern liegt in der realisierten Gerechtig-keit“.10

    3. Die Tränen werden abgewischt – Über-windung des Leidens: Die Überwindungdes Leidens gehört zu den wesentlichenDimensionen, die die Beschreibung desReiches Gottes und damit auch das ewigeLeben kennzeichnen. Jesu Heilungsge-schichten zeigen, wie eng dieses Themadie irdische Existenz und das Eschatonverbindet. Dass Jesus die Kranken heiltund die Ausgestoßenen wieder in die Ge-meinschaft hineinholt, sind Zeichen deseines Tages in aller Fülle sichtbar werden-den Reiches Gottes. Die Leidtragendenpreist er selig, „denn sie werden getröstetwerden“ (Mt 5,4). Die Offenbarung desJohannes, das letzte Buch der Bibel undso etwas wie ein „Schaufenster in dieEwigkeit“, hat die endzeitliche Überwin-dung des Leides besonders eindrucksvollzum Ausdruck gebracht: „Und ich hörteeine große Stimme von dem Thron her,

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    die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes beiden Menschen! Und er wird bei ihnenwohnen, und sie werden sein Volk seinund er selbst, Gott mit ihnen, wird ihrGott sein; und Gott wird abwischen alleTränen von ihren Augen, und der Tod wirdnicht mehr sein, noch Leid noch Geschreinoch Schmerz wird mehr sein ...“ (Offb21,3f).

    4. Unrecht und Leid werden nicht verges-sen – Jüngstes Gericht: Es wird ein Gerichtgeben. Alles andere wäre nicht mit derVorstellung von Gottes Liebe gerade zuden Schwachen und Entrechteten verein-bar. Den Opfern der Geschichte wider-fährt Gerechtigkeit. Was ihnen angetanworden ist, ist Christus selbst angetanworden und kann nicht ohne Folgen blei-ben (Mt 25,31-46). Das Gleichnis vomreichen Mann und armen Lazarus (Lk16,19-31) verbindet die Gerichtsdrohungmit dem Hinweis auf die rettende Funk-tion des Gesetzes. Die Täter der Barmher-zigkeit sind nach dem Tod mit dem armenLazarus in Abrahams Schoß. Der reicheMann bereut bitter, dass er dem armen La-zarus nicht geholfen hat, als er vor seinerTür lag. Seine noch lebenden Brüder willer warnen. Aber er muss einsehen, dassalles, was zu diesem Thema zu sagen ist,schon im Gesetz zu lesen ist: „Hören sieMose und die Propheten nicht, so werdensie sich auch nicht überzeugen lassen,wenn jemand von den Toten auferstünde.“Bei den biblischen Gerichtstexten geht esnicht um die Gewaltphantasien einesHerrschers, der um seine Autorität besorgtist. Es geht ausschließlich um Gerechtig-keit, noch präziser: um rettende Gerech-tigkeit. „Das Gottesgericht“ – so JürgenMoltmann – „war die Gegengeschichteund das Gegenbild der Unterdrückten zurWelt der triumphierenden Gewalttäter“.11Am besten lassen sich die Gerichtstexteder Bibel als Warnschilder verstehen. An

    dem Warnschild „Vorsicht Schleuderge-fahr“ sei das verdeutlicht. Man sieht da-rauf ein Auto, das ins Schleudern geratenist und wahrscheinlich gleich am nächs-ten Baum landet. Dieses Schild steht na-türlich nicht am Straßenrand, damit dieAutos ins Schleudern geraten, sondern da-mit sie sicher durch die kurvenreiche Stre-cke kommen und die Autofahrer am Le-ben bleiben. Die biblischen Texte wollenmit den Bildern vom ewigen Feuer undder Hölle gerade verhindern, dass dieMenschen so leben, dass das Leben zurHölle wird. Es gibt indessen auch Hoffnung für die Tä-ter des Unrechts, Gott hat nach paulini-scher Vorstellung in Christus die Welt mitsich selbst versöhnt (2. Kor 5). „Von Gottangeblickt“, so Eberhard Jüngel, „wirdauch der hässlichste Sünder schon jetztschön.“12 Jürgen Moltmanns Neuinterpre-tation des Fegefeuers kann helfen, besserzu verstehen, was mit dem Sünder amEnde passiert. Die Geschichte Gottes mitdem Menschen geht auch nach dem Todweiter. Es bleibt Raum für die Läuterungauch des schlimmsten Sünders. Das Lichtder ewigen Liebe zieht die Menschen „zuGott. Das Feuer der ewigen Liebe ver-brennt alles, was Gott widerspricht unddie Seele von Gott trennt“.13Was dabei geschieht, kann sich klar ma-chen, wer sich vorstellt, was passiert,wenn die Decke von unseren Augen ge-nommen ist, wenn alle Beschönigungenund Selbstrechtfertigungen an ihr Endegekommen sind, wenn wir unser Lebenmit Gottes Augen sehen. Auch das Un-recht, das wir anderen Menschen angetanhaben, ohne es überhaupt wahrzuneh-men, wird uns vor Augen treten. Und eswird uns eine unendliche Scham erfassen,die wirklich „die Hölle“ sein kann. DieBefreiung der Opfer von den sie bedrän-genden Erinnerungen – so hat Gregor Et-zelmüller zu Recht festgestellt – „folgt erst

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    ihrer Rechtfertigung in aller Öffentlichkeitund damit der Beschämung der Täter“.14Ebenso gilt indessen: Da, wo die Wahrheitans Licht kommt, ist Läuterung und Ver-söhnung möglich. Keiner ist verloren. Je-der darf hoffen.

    5. Tausend Jahre sind wie ein Tag –Eschatologie und Zeitlichkeit: Wann wirddas alles passieren? Im Neuen Testamentscheint es darüber unterschiedliche Aus-künfte zu geben. Im ersten Thessaloni-cherbrief geht Paulus von der Vorstellungaus, dass die Toten so lange schlafen, bisder Jüngste Tag anbricht und die Weltzeitzu Ende ist. Der Herr selbst, so Paulus,„wird, wenn der Befehl ertönt, wenn dieStimme des Erzengels und die PosauneGottes erschallen, herabkommen vomHimmel, und zuerst werden die Toten, diein Christus gestorben sind, auferstehen (1.Thess 4,16). Im Lukasevangelium dagegen scheintkeine Zwischenzeit angenommen zu wer-den. Dem Verbrecher, der mit Jesus amKreuz hängt und um Fürbitte nachsucht,antwortet Jesus: Noch heute wirst du mitmir im Paradiese sein“ (Lk 23.43).Was auf den ersten Blick unvereinbarscheint, hat Martin Luther mit einem Bildzu erklären versucht: Wer in der Nachtplötzlich aufwacht, weiß nicht, ob er Se-kunden oder Stunden geschlafen hat. Füreinen Moment verschwimmt die Katego-rie der Zeit. So – sagt Luther – ist es auchmit dem Leben nach dem Tod. Wenn dieToten am Jüngsten Tag von Christus aufer-weckt werden, dann wissen sie nicht, wielange sie geschlafen haben: „Sobald dieAugen sich schließen, wirst du auferwecktwerden. Tausend Jahre werden sein gleichals du ein halbes Stündlein geschlafenhast. Gleich wie wir nachts den Stunden-schlag hören und nicht wissen, wie langewir geschlafen haben, so sind noch viel-mehr im Tod tausend Jahre schnell weg.

    Ehe sich einer umsieht, ist er schon einschöner Engel.“15

    6. „Ihr Mund wird voll Lachens sein“ –das endzeitliche Freudenmahl: In der Be-schreibung des Lebens nach dem Tod fin-den sich im Neuen Testament immer wie-der Bilder von Feiern, Freude und Lob-preis. Die in der Kunstgeschichte so ver-breitete Darstellung der himmlischen En-gelchöre ist eine besonders sichtbare Kon-sequenz dieser biblischen Bilder. Die aufdie Befreiung des Volkes Israel bezogeneVision des 126. Psalms, dass wir sein wer-den „wie die Träumenden“ und „unserMund voll Lachens sein“ wird, ist einefrühe Beschreibung eschatologischer Bil-der, wie sie im Neuen Testament kraftvollentfaltet werden. Zum endzeitlichen Freu-denmahl (Lk 14,16-24) sind gerade dieeingeladen, die in der Gesellschaft nichtsgelten. „Wir haben es bei diesem Bild“ –so Michael Beintker – „mit dem tiefstenAusdruck für gelingende Kommunikationzu tun, die dem antiken Denken vorstell-bar war“.16 Das Abendmahl, das überallin den Kirchen regelmäßig gefeiert wird,kann als Vorgeschmack dieses endzeit-lichen Freudenmahls verstanden werden.Und auch die festliche Musik, die in denKirchen erklingt, lässt ahnen, was uns imewigen Leben erwartet. Das Lob im ReichGottes, so hat Eberhard Jüngel – an KarlBarth anknüpfend – formuliert, wird soheiter sein wie bei Mozart: „... das LobenGottes wird dann gleichzeitig ganz kon-zentriert und ganz locker, ganz ernst undganz heiter, ganz andächtig und ganzspielend sein – so als hätte WolfgangAmadeus Mozart die Töne vorgegeben.“17

    7. Wir dürfen hoffen, uns wiederzusehen– Ewigkeit und Identität: Werden wir un-sere Lieben wiedersehen? Diese Frage be-wegt viele Menschen, die einen Angehöri-gen verloren haben. Niemand kann da-

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  • Anmerkungen

    1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Au-tor am 2.3.2010 aus Anlass der Ausstellung „Nocheinmal leben vor dem Tod“ in der Villa Dessauer inBamberg gehalten hat.

    2 Christoph Scheilke / Friedrich Schweitzer (Hg.),Musst du auch sterben? Kinder begegnen dem Tod,Gütersloh / Lahr 2000, 56.

    3 Vgl. dazu Hubert Knoblauch, Berichte aus dem Jen-seits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung,Freiburg i. Br. u. a. 2002; Günter Ewald, Nahtoder-fahrungen. Hinweise auf ein Leben nach dem Tod?,Kevelaer 32008.

    4 Dazu v. a. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Ber-lin 2007.

    5 John Polkinghorne, Naturwissenschaft und Theolo-gie auf der Suche nach Wahrheit, in: EvTh 70(2010), 313-319, 313f.

    6 H. Richard Niebuhr, The Meaning of Revelation,New York / London 1941, 44.

    7 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt,in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Lebender zukünftigen Welt”. Von Auferstehung und Jüngs-tem Gericht, Neukirchen-Vluyn 2007, 14-29, 14.

    8 Thomas Naumann, „... es wird kein Leid mehrsein“. Biblische Bilder von Auferstehung und Ge-richt, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... unddas Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O., 48-64, 48und, wortgleich in der Zusammenfassung, 63.

    rauf eine definitive Antwort geben. KarlBarth sagte mit einer heilsamen PortionHumor: „Ja, aber die anderen auch!“ Essprechen tatsächlich gute Gründe dafür,mit dem christlichen Glauben auch dieHoffnung auf ein solches „Wiedersehen“zu verbinden. Wenn Gott der Schöpferunseres Lebens ist und uns in unserer irdi-schen wie ewigen Existenz „bei unseremNamen ruft“ (Jes 41), dann verschwindetauch unsere Identität im Eschaton nicht.„Die konkret gelebte biografische Exis-tenz des Menschen wird vom Osterlichtdes auferstandenen Christus nicht wegge-blendet, sondern heilsam eingeholt.“18Wir werden – so haben wir anhand desersten Korintherbriefes gesehen, „verwan-delt“ sein (1. Kor 15,51). Unsere Identitätgeht nicht verloren, sondern wird ins Lichtder Liebe Gottes gestellt. Wenn aber dieIdentitäten nicht verloren gehen, dannmuss es so sein, dass wir die Verstorbe-nen, die wir lieb gehabt haben, wiederse-hen. Identitäten können sich begegnen,wie auch immer diese Begegnungen imEschaton aussehen mögen.

    Lebenskunst im Angesicht der letztenDinge

    Die sieben Dimensionen sollten zeigen,mit welchen Vorstellungen und Bildern

    das Neue Testament die letzten Dinge be-schreibt. Es sind nur Bilder, die dort vor Augen ge-malt werden, aber im Bewusstsein der Be-grenztheit der Aussagemöglichkeiten dür-fen und sollen Christenmenschen sich aufdiese Bilder einlassen. Denn die Aussichtauf das Reich Gottes wirkt schon heute:„Wer dahin unterwegs ist, der fängt ...schon auf Erden an, wenigstens versuchs-weise wie ein Bürger des Reiches Gotteszu leben.“19So ist das bewusste Leben mit der Mög-lichkeit des Todes keine Minderung desLebensgenusses; der Tod ist kein Damo-klesschwert, sondern, ganz im Gegenteil,es öffnet sich im bewussten Umgang da-mit ein Fenster zur wahren Lebenskunst.Angesichts der Endlichkeit des Lebens je-den Tag bewusst als Geschenk sehen zukönnen; die Zeit mit den Menschen, dieeinem lieb sind, als etwas Kostbares zu er-leben; nicht erst bei der Beerdigung zumAusdruck zu bringen, wie wertvoll dieseMenschen waren, sondern es ihnen schonjetzt zu sagen – das sind Beispiele für einesolche wahre Lebenskunst. Das ist eswahrscheinlich auch, was der Psalmbetergemeint hat, wenn er, damals wie heuteaktuell, formulierte: „Lehre uns bedenken,dass wir sterben müssen, auf dass wir klugwerden!“ (Ps 90,12).

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    9 Jürgen Moltmann, Sonne der Gerechtigkeit. DasEvangelium vom Gericht und der Neuschöpfung aller Dinge, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O.,30-47, 41.

    10 Luzia Sutter Rehmann, Die Heilung der Welt. Vongeöffneten Büchern, der sich öffnenden Erde unddem wägenden Engel im Weltgericht, in: HeinrichBedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zu-künftigen Welt”, a.a.O., 65-76, 74.

    11 Jürgen Moltmann, Sonne der Gerechtigkeit, a.a.O.,36f.

    12 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und dieFrage nach Tod und ewigem Leben, in: Das Wesendes Christentums in seiner evangelischen Gestalt.Eine Vortragsreihe im Berliner Dom, Neukirchen-Vluyn 2000, 112-132, 128.

    13 Jürgen Moltmann, Im Ende – der Anfang. Einekleine Hoffnungslehre, Gütersloh 2003, 123.

    14 Gregor Etzelmüller, Die Bedeutung der Weltge-richtsrede Jesu (Mt 25,31-46) für eine realistischeRede vom Jüngsten Gericht, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigenWelt”, a.a.O., 90-102, 98.

    15 Zitiert bei Jürgen Moltmann, Im Ende – der Anfang,a.a.O., 124.

    16 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt,a.a.O., 26.

    17 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und dieFrage nach Tod und ewigem Leben, a.a.O., 129.

    18 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt,a.a.O., 29.

    19 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und dieFrage nach Tod und ewigem Leben, a.a.O., 131.

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    Judith Müller, Berlin

    Grundlagen des ÄußerungsrechtsRechtliche Beurteilung kirchlicher Sektenwarnungen1

    Immer wieder werden die evangelischeund die katholische Kirche bzw. ihre Mit-arbeiter von Sekten oder deren Mitglie-dern auf Unterlassung2 von (negativen)Äußerungen über die entsprechendenGlaubensgemeinschaften in Anspruch ge-nommen. Die in diesem Zusammenhangaufgeworfenen rechtlichen Fragestellun-gen sollen im Folgenden erörtert werden.

    Verfassungsrechtliche Grundlagen

    Das Äußerungsrecht hat vornehmlich dieAufgabe, Spannungen zwischen verschie-denen grundrechtlichen Positionen aufzu-lösen. Es ist durch die Abwägung kollidie-render Freiheitsrechte geprägt. Währendder Äußernde sich auf seine Meinungs-freiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG und gege-benenfalls – insbesondere im Fall von Äu-ßerungen durch Kirchenmitarbeiter –auch auf seine Glaubensfreiheit aus Art. 4GG berufen kann, bezieht sich der von ei-ner Äußerung (negativ) Betroffene auf seinallgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art.2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG sowie gegebenen-falls – wenn es um negative Äußerungenüber Glaubensgemeinschaften geht –ebenfalls auf seine Glaubensfreiheit ausArt. 4 GG. Ein derartiger Konflikt verschiedenerGrundrechte kann nur durch eine Abwä-gung der konfligierenden Positionen imEinzelfall gelöst werden. Denn keinGrundrecht – mit Ausnahme der Men-

    schenwürde – besteht schrankenlos. AlleGrundrechte können zugunsten andererRechte beschränkt, d. h. ihre Inanspruch-nahme kann eingeschränkt werden. Einefür alle Fälle geltende Patentlösung, wel-ches Recht Vorrang genießt, gibt es nicht.Aus diesem Grund ist es auch nicht mög-lich, generell darzulegen, welche Äuße-rungen über Sekten zulässig und welcheunzulässig sind. Der vorliegende Beitragkann lediglich einige Leitlinien an dieHand geben, mit deren Hilfe eine bessereEinschätzung der (Un-)Zulässigkeit von Äußerungen erfolgen kann. Um eine Ein-schätzung vornehmen zu können, ist dieKenntnis der betroffenen Grundrechteunerlässlich.

    MeinungsfreiheitDas Grundrecht der Meinungsfreiheit istfür ein freiheitliches, demokratisches Ge-meinwesen konstituierend.3 Erst die Mei-nungsfreiheit ermöglicht die geistige Aus-einandersetzung, die für das Funktionie-ren eines demokratischen Systems unab-dingbar ist.4 Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GGgewährt daher das Recht, eine Meinung inWort, Schrift und Bild frei zu äußern undzu verbreiten, unabhängig von dem be-nutzten Medium.5 Der Begriff der Mei-nung ist grundsätzlich weit zu verstehen.6Er umfasst im Kern die Äußerung und Ver-breitung von Werturteilen. Dabei handeltes sich um Aussagen, die durch ein Ele-ment der Stellungnahme, des Dafürhal-

    BERICHTE

    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 412

  • tens, des Meinens geprägt sind.7 Sie sinddem Wahrheitsbeweis nicht zugänglich,nicht als richtig oder falsch zu qualifizie-ren. Meinungsäußerungen genießen denSchutz der Meinungsfreiheit unabhängigvon ihrer inhaltlichen Qualität. Es kommtnicht darauf an, ob sie wertvoll oder wert-los, rational oder emotional, begründetoder grundlos, nützlich oder schädlichsind.8 Der Schutz der Meinungsfreiheitschließt die Form der Meinungsäußerungein9, weshalb auch polemische oder be-leidigende Äußerungen in den Schutzbe-reich fallen.10Auch Tatsachenbehauptungen sind unterbestimmten Voraussetzungen vom Schutzdes Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG umfasst.Es handelt sich dabei um Aussagen überGeschehnisse der Gegenwart oder Ver-gangenheit, die dem Wahrheitsbeweis zu-gänglich sind.11 Sie stehen unter demSchutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG,wenn und soweit sie Voraussetzung derBildung von Meinungen sind oder eineuntrennbare Verknüpfung mit der Äuße-rung einer Meinung besteht.12 Tatsachen-behauptungen gelangen somit (erst) überdie „Brücke der Meinung“ in den Schutz-bereich der Meinungsfreiheit.13 Als un-wahr erwiesene oder bewusst unwahreTatsachenbehauptungen sind nach derRechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts nicht vom Schutzbereich der Mei-nungsfreiheit umfasst, da unrichtige Infor-mationen nicht zur Meinungsbildung bei-tragen können.14Die in Art. 5 GG garantierten Rechte sindsogenannte „Jedermann-Rechte“. IhrSchutz ist nicht abhängig von Alter, Ge-schäftsfähigkeit oder Nationalität. Auchjuristische Personen können sich auf Art. 5GG berufen.

    Allgemeines PersönlichkeitsrechtDas allgemeine Persönlichkeitsrecht,ebenfalls ein „Jedermann-Recht“, ist ein

    von der Rechtsprechung entwickelter undunter besonderen Schutz gestellter Teilbe-reich der Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1GG15. In Konkretisierung der Würde desMenschen gewährleistet es die engere per-sönliche Lebenssphäre und die Erhaltungihrer Grundbedingungen.16 Das allge-meine Persönlichkeitsrecht, das als soge-nanntes Rahmenrecht bezeichnet wird,gewährt Schutz jedoch nur in den Gren-zen der Sozialgebundenheit des Einzel-nen.17 Das bedeutet, dass nicht jeder Ein-griff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht– beispielsweise durch eine negative Äu-ßerung – rechtswidrig ist, sondern viel-mehr stets eine Güter- und Interessenab-wägung zwischen dem allgemeinen Per-sönlichkeitsrecht als dem Recht, in daseingegriffen wird, und dem „eingreifen-den“ Recht – meist Art. 5 GG – vorzuneh-men ist. Nur wenn bei der Abwägung diepersönlichkeitsrechtlichen Belange stärkerins Gewicht fallen als die von der Mei-nungsfreiheit geprägten Belange, ist eineÄußerung unzulässig. Die Rechtsprechunghat im Laufe der Jahre einzelne Ausprä-gungen des allgemeinen Persönlichkeits-rechts entwickelt, die sich mittlerweile zufesten Fallgruppen etabliert haben. Hiersollen lediglich die mit Blick auf Sekten-warnungen besonders relevanten Fallgrup-pen dargestellt werden, nämlich der so-ziale Geltungsanspruch und die Ehre.Der Einzelne soll grundsätzlich selbst da-rüber befinden dürfen, wie er sich gegen-über Dritten oder der Öffentlichkeit dar-stellen will, was seinen sozialen Gel-tungsanspruch ausmachen soll.18 Das all-gemeine Persönlichkeitsrecht bietetSchutz vor verfälschenden oder entstel-lenden Darstellungen der eigenen Personin der Öffentlichkeit, die von nicht ganzunerheblicher Bedeutung für die Persön-lichkeitsentfaltung sind.19 Der Schutz giltallerdings nicht unbeschränkt. Der Ein-zelne hat keinen Anspruch darauf, in der

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    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 413

  • Öffentlichkeit nur so dargestellt zu wer-den, wie er sich selbst sieht oder von an-deren gesehen werden möchte.20 Es istdem menschlichen Zusammenleben in ei-ner sozialen Gemeinschaft immanent,dass der Einzelne und sein Verhalten auchohne sein Wissen und Wollen von ande-ren erfahren und geschildert werden.21Werden einer Person jedoch beispiels-weise Äußerungen in den Mund gelegt,die diese weder wörtlich noch sinngemäßgetätigt hat, ist der selbst definierte sozialeGeltungsanspruch verletzt.22Eng mit dem Recht auf den sozialen Gel-tungsanspruch verbunden ist das Rechtder persönlichen Ehre.23 Es schützt insbe-sondere vor Herabsetzung und Krän-kung.24 Geschützt sind die „innere Ehre“,d. h. der dem Einzelnen aufgrund seinerMenschenwürde zukommende Achtungs-anspruch, sowie die „äußere Ehre“, d. h.der gute Ruf innerhalb der Gemein-schaft.25 Während früher der Ehrschutz re-lativ stark ausgeprägt war, muss er heuteoftmals hinter der Meinungsfreiheit zu-rücktreten, da die Rechtsprechung zuneh-mend anerkennt, dass auch die Form ei-ner Äußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GGgeschützten Meinungsfreiheit unterliegt.26Wegen der grundlegenden Bedeutung derMeinungsfreiheit sowohl für die Selbstver-wirklichung des Einzelnen als auch fürden Bestand der Gemeinschaft ist der Ein-satz starker Ausdrücke, polemisierenderWendungen und überspitzter und plakati-ver Wertungen nicht unzulässig, solangeder Kritiker hierdurch nur dem eigenenStandpunkt Nachdruck zu verleihensucht.27 Insbesondere wer sich im Wirt-schaftsleben oder in der (Verbands-)Politikbetätigt, muss sich in weitem Umfang derKritik aussetzen.28

    GlaubensfreiheitArt. 4 GG schützt die Freiheit des Glau-bens, des Gewissens und die Freiheit des

    religiösen und weltanschaulichen Be-kenntnisses. Da Religion und Weltan-schauung in gleicher Weise geschütztwerden, bedürfen sie keiner Abgrenzung.Beiden liegt eine Gewissheit über be-stimmte Aussagen zum Weltganzen sowiezur Herkunft bzw. zum Ziel menschlichenLebens zugrunde.29 Geschützt ist nebender inneren Freiheit, religiöse und weltan-schauliche Überzeugungen zu bilden undzu haben, auch die äußere Freiheit, dieseÜberzeugungen bzw. Entscheidungen zubekennen und zu verbreiten. Geschütztsind insbesondere kultische Handlungensowie religiöse oder weltanschaulicheFeiern und Gebräuche. Geschützt ist fer-ner die Gründung religiöser oder weltan-schaulicher Vereinigungen ebenso wie dieWerbung für einen Glauben oder das Ab-werben von einem anderen Glauben. Ge-schützt wird weiter die religiöse Erzie-hung von Kindern, die Einhaltung derSonntags- bzw. Sabbatruhe, das Tragenbesonderer Kleidung bzw. Haartracht so-wie das Begräbnis.30Nicht nur der Einzelne, sondern auch einereligiöse oder weltanschauliche Vereini-gung kann sich auf den Schutz des Art. 4GG berufen. Vom Schutzbereich erfasstwerden u. a. die eigene Organisation,Normensetzung und Verwaltung ebensowie nach außen gerichtete Tätigkeiten, z. B. der Bau von Kirchen, Moscheen, dasGlockengeläut, der muslimische Gebets-ruf oder das Verwalten eines Friedhofs.31

    Rechtsweg

    Nachdem geklärt ist, welche Rechtsposi-tionen im Fall von (negativen) Äußerun-gen der Kirchen und ihrer Mitarbeiterüber Sekten und deren Mitglieder eineRolle spielen, stellt sich die Frage, welcheGerichte – Verwaltungsgerichte oder Zivil-gerichte – für die Klärung etwaiger äuße-rungsrechtlicher Streitigkeiten zwischen

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    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 414

  • Kirchen und Sekten zuständig sind. Dassdiese Frage nicht klar zu beantworten ist –und von den Gerichten auch unterschied-lich beantwortet wird –, liegt an der be-sonderen Stellung der Kirchen als Körper-schaften des öffentlichen Rechts. Damitwerden sie – anders als beispielsweise pri-vate Unternehmen – in eine gewisse Nähezum Staat gerückt. Daher genießen Kir-chen auch das Privileg, in bestimmten Be-reichen hoheitlich tätig werden zu dürfen,sich also in ein Über-Unter-Ordnungsver-hältnis zum Bürger zu begeben (z. B. beider Erhebung von Kirchensteuern).Diese besondere Stellung der Kirchenführt dazu, dass die Gerichte zum Teil da-von ausgehen, dass kirchliche Mitarbeiter,insbesondere Sektenbeauftragte, hoheit-lich handeln, wenn sie in Wahrnehmungihrer Funktion Äußerungen über Sektentätigen. Entsprechend halten sie den Ver-waltungsrechtsweg, der – vereinfacht aus-gedrückt – für Streitigkeiten zwischen Bür-gern und Staat gegeben ist, für eröffnet.32Die Gegenauffassung sieht den Zivil-rechtsweg, der – ebenfalls vereinfachtausgedrückt – für Streitigkeiten zwischenBürgern, also Gleichgeordneten, eröffnetist, als gegeben33, da die Kirchen bei Äu-ßerungen über Sekten lediglich wie jederBürger von ihren Grundrechten aus Art. 4und 5 GG Gebrauch machten.In der rechtlichen Prüfung ergeben sichdurch diese Differenzierung nur wenigeUnterschiede (siehe dazu unten), sodassdie Frage nur von geringer praktischer Re-levanz ist. Dies gilt zumal für die Kirchen,da diese regelmäßig nicht diejenigen sind,die die Gerichte anrufen – und dahernicht das Gericht wählen müssen, vorwelches sie ziehen –, sondern diejenigensind, gegen die gerichtlich vorgegangenwird, sodass sie allenfalls gegen die Zu-ständigkeit des von der Gegenseite ange-rufenen Gerichts protestieren können. Dadas Gericht, sofern es sich für unzuständig

    hält, jedoch an das zuständige Gerichtverweisen muss34, können die Kirchenauch dadurch einer rechtlichen Auseinan-dersetzung nicht entgehen.

    Voraussetzungen des Unterlassungs-anspruchs35

    Vor den ZivilgerichtenIn den meisten Fällen machen die betrof-fenen Sekten und / oder ihre MitgliederUnterlassungsansprüche geltend, d. h.die Forderung, dass eine bestimmte Äuße-rung künftig nicht mehr wiederholt (bzw.gar nicht erst getätigt) wird. Dieser An-spruch wird gestützt auf §§ 823, 1004BGB36. Danach müssen folgende Voraus-setzungen erfüllt sein:

    a) Eingriff in das allgemeine Persönlich-keitsrecht als sonstiges Recht: Diese Vor-aussetzung ist immer schon dann zu beja-hen, wenn sich eine Äußerung auf einebestimmte Person bezieht und diese da-durch in ihrem allgemeinen Persönlich-keitsrecht (negativ) berührt wird. Nur ganzausnahmsweise wird dieses Tatbestands-merkmal zu verneinen sein, wenn undweil jemand von einer (negativen) Äuße-rung nicht betroffen ist. So hatte der Ver-waltungsgerichtshof München37 über denAntrag einer Glaubensgemeinschaft zuentscheiden, die sich dagegen gewandthatte, dass über die der Glaubengemein-schaft vorstehende „Prophetin“ behauptetworden war, sie sei öfter in psychiatri-scher Behandlung gewesen. Hier könntenZweifel an der Betroffenheit der Glau-bensgemeinschaft bestehen, da sich dieÄußerung nicht direkt auf diese, sondernlediglich auf die ihr vorstehende „Prophe-tin“ bezog. Dennoch bejahte der Verwal-tungsgerichtshof München die Betroffen-heit der Glaubensgemeinschaft, da schondurch die Bezeichnung als „Prophetin“statt der Verwendung des bürgerlichen

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  • Namens ein Bezug zu der Glaubensge-meinschaft hergestellt worden sei, sodassauch die Glaubensgemeinschaft durch dienegative Äußerung betroffen sei.

    b) Rechtswidrigkeit des Eingriffs: Wieoben dargestellt, ist ein Eingriff in das all-gemeine Persönlichkeitsrecht nur dannrechtswidrig, wenn bei der Abwägung dervon dem allgemeinen Persönlichkeitsrechtgeschützten Belange mit den durch dieMeinungsfreiheit geschützten Belangenerstere überwiegen. Für diese Abwägunghat die Rechtsprechung einige Leitlinienaufgestellt:• Meinungsäußerungen sind grundsätz-lich zulässig, d. h. reine Wertungen kön-nen regelmäßig nicht untersagt werden.38Eine Ausnahme ist bei Schmähkritik gege-ben, d. h. bei Kritik, die nicht nur scharf,schonungslos oder ausfällig, aber den-noch sachbezogen ist, sondern deren (al-leiniger) Zweck in der vorsätzlichen Ehr-kränkung liegt.39 Der Begriff der Schmäh-kritik ist zum Schutz der Meinungsfreiheitallerdings eng auszulegen.40• Wahre Tatsachenbehauptungen sindgrundsätzlich zulässig. Eine Ausnahmebesteht nur dann, wenn wahre Tatsachenaus einem Bereich berichtet werden, überden grundsätzlich nicht berichtet werdendarf, z. B. über die Intimsphäre einesMenschen, oder wenn der drohende Per-sönlichkeitsschaden außer Verhältnis zudem Interesse an der Verbreitung derWahrheit steht. • Bewusst unwahre Tatsachenbehauptun-gen sind immer unzulässig, da Art. 5 GGdie Lüge nicht schützt.• Tatsachenbehauptungen, bei denenzum Zeitpunkt der Äußerungen nicht klarist, ob sie wahr oder falsch sind, bedürfeneiner differenzierteren Betrachtung.Grundsätzlich liegt die Beweislast für dieWahrheit bei diffamierenden Äußerungenbeim Äußernden. Allerdings findet eine

    Umkehr der Beweislast statt, wenn derÄußernde nachweist, dass er sorgfältigund ordnungsgemäß recherchiert hat unddas Ergebnis seiner Recherchen bezogenauf eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit präsentiert.41Kann der Äußernde diesen Nachweis füh-ren, obliegt dem Betroffenen der Nach-weis der Unwahrheit der Äußerung.

    Die Gerichte legen für den Nachweis derErfüllung der Sorgfaltspflicht bei der Re-cherche z. T. für die Kirchen engereMaßstäbe an als bei Äußerungen von Pri-vatpersonen. Begründet wird dies mit derStellung der Kirchen als öffentlich-recht-liche Körperschaften, von denen höhereRechtstreue erwartet werden könne.42 Da-her seien an Kirchen höhere Sorgfaltsan-forderungen zu stellen als an den „Nor-malbürger“. Kirchen seien besondersdazu aufgerufen, die Grundrechte Dritter– hier Art. 4 GG und Art. 2 GG – zu ach-ten und zu schützen.

    c) Wiederholungs- bzw. Erstbegehungsge-fahr: Für einen Unterlassungsanspruchmuss zudem die Gefahr der Wiederho-lung der Äußerung bzw. der erstmaligenÄußerung bestehen. Ist eine rechtswidrigeÄußerung erst einmal getätigt, besteht diedadurch begründete Gefahr, dass sie wie-derholt wird. Diese Gefahr kann grund-sätzlich nur durch eine sogenannte straf-bewehrte Unterlassungserklärung – d. h.eine Erklärung, in der der Äußernde sichverpflichtet, eine bestimmte Äußerung zuunterlassen und für jeden Fall der Zuwi-derhandlung eine Vertragsstrafe zu zahlen– ausgeräumt werden. Ist eine Äußerung noch gar nicht getätigt,muss die Gefahr bestehen, dass dies ge-schieht, d. h. es müssen Indizien dafürvorliegen, dass eine bestimmte Äußerunggetätigt werden soll. Dies kann z. B. dannder Fall sein, wenn jemand von einer ihn

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  • betreffenden bevorstehenden Veröffent-lichung erfährt.

    d) Anspruchsverpflichteter: In Anspruchgenommen werden kann immer der Äu-ßernde selbst. Gegebenenfalls muss dane-ben auch die Kirche dafür einstehen,wenn sie sich die konkreten Äußerungenzurechnen lassen muss.

    Vor den VerwaltungsgerichtenDer öffentlich-rechtliche Unterlassungs-anspruch, dessen Herleitung umstritten43,dessen Existenz jedoch unbestritten ist,hat im Wesentlichen dieselben Vorausset-zungen wie der zivilrechtliche Anspruch.Der erforderliche drohende oder noch an-dauernde Eingriff in ein subjektiv-öffent-liches Recht liegt regelmäßig in einemEingriff in Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG bzw.Art. 4 GG. Dieser Eingriff muss durch ho-heitliches Handeln geschehen. Ein hoheit-liches Handeln kann dann in einer Äuße-rung eines kirchlichen Mitarbeiters gese-hen werden, wenn und weil das Handelnder Kirchen als hoheitlich eingestuft wird,da es sich bei ihnen um öffentlich-rechtli-che Körperschaften handelt (siehe dazuoben). Hinsichtlich der Wiederholungs-bzw. Erstbegehungsgefahr ergeben sich

    keine Unterschiede zum zivilrechtlichenAnspruch. Auch ist im Rahmen derRechtswidrigkeit wie beim zivilrecht-lichen Anspruch eine Abwägung der wi-derstreitenden Interessen vorzunehmen.Mit Blick auf den Anspruchsverpflichtetenergibt sich allerdings eine Besonderheit,da hinsichtlich des öffentlich-rechtlichenUnterlassungsanspruchs stets nur die Kir-chen verpflichtet sind, nicht aber die sichäußernden Mitarbeiter. Nur der Hoheits-träger, nicht jedoch der kirchliche Mitar-beiter selbst haftet im öffentlich-recht-lichen Sinne, da das Handeln der kirch-lichen Mitarbeiter stets der Kirche als Ho-heitsträger zugerechnet wird.

    Fazit

    Solange sich Kirchen und ihre Mitarbeiterim Bereich reiner – nicht schmähender –Meinungsäußerung halten, ist die Gefahreiner (erfolgreichen) Inanspruchnahmegering. Werden Tatsachenbehauptungenaufgestellt, sollte gerade in Anbetracht dererhöhten Anforderungen, die an Kirchengestellt werden, besondere Sorgfalt beider Recherche aufgewendet werden.(Nur) dann ist das Risiko einer (erfolgrei-chen) Inanspruchnahme überschaubar.

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    Anmerkungen

    1 Der Text beruht auf einem Vortrag im Rahmen des„Curriculums Religions- und Weltanschauungsfra-gen“ (berufsbegleitende Fortbildung für Pfarrerin-nen und Pfarrer) der EZW am 10.2.2010 in der Bun-desakademie für Kirche und Diakonie, Berlin.

    2 Seltener werden Schadensersatz, Richtigstellungoder Gegendarstellung begehrt. Diese Ansprüchekönnen hier aufgrund des begrenzten Umfangs derAusführungen nicht dargestellt werden.

    3 BVerfGE 62, 230, 247.4 BVerfGE 5, 85, 205; 7, 198, 208; 12, 113, 125; Ja-

    rass / Pieroth, GG, 102009, Art. 5 Rdnr. 2. 5 BVerfGE 85, 1, 11ff.6 BVerfGE 61, 1, 9. 7 BVerfGE 61, 1, 8; Grimm, NJW 1995, 1697, 1698.

    8 Vgl. BVerfGE 30, 336, 347; 61, 1, 8; 93, 266, 289;Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 5 Rdnr. 3; Maunz / Dü-rig / Herzog, GG, 54. Ergänzungslieferung, Januar2009, Art. 5 Abs. I, Abs. II Rdnr. 55 e.

    9 BVerfGE 54, 129, 138f; Grimm, NJW 1995, 1697,1698; Wenzel / Burkhardt, Das Recht der Wort-und Bildberichterstattung, 52003, 1. Kapitel Rdnr.18.

    10 BVerfGE 61, 1, 7f. 11 Vgl. Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 5 Rdnr. 5 m.w.N.;

    Merten, DÖV 1990, 761f. 12 BVerGE 61, 1, 8f; 94, 1, 7. 13 Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 14 BVerfGE 61, 1, 8; 90, 241, 247f m.w.N.; Jarass /

    Pieroth, a.a.O., Art. 5 Rdnr. 4.

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  • 15 Art. 2 Abs. 1 GG: Jeder hat das Recht auf die freieEntfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht dieRechte anderer verletzt und nicht gegen die verfas-sungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz ver-stößt. Art. 1 Abs.1 GG: Die Würde des Menschenist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen istVerpflichtung aller staatlichen Gewalt.

    16 BVerfG, NJW 1980, 2070. 17 Wenzel / Burkhardt, a.a.O., 5. Kapitel Rdnr. 9f.18 BVerfGE 63, 131, 142; 35, 202, 220; 54, 148, 155;

    vgl. Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 2 Rdnr. 42; Damm /Rehbock, Widerruf, Unterlassung und Schadenser-satz in den Medien, 32008, Rdnr. 30ff.

    19 BVerfGE 99, 185, 194; Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 2Rdnr. 42.

    20 BVerfGE 99, 185; Wenzel / Burkhardt, a.a.O., 5.Kapitel Rdnr. 20.

    21 Damm / Rehbock, a.a.O., Rdnr. 31.22 BVerfGE 54, 148, 155f; Damm / Rehbock, a.a.O.,

    Rdnr. 32.23 BVerfGE 54, 208, 217; 93, 266, 290; 97, 125, 147;

    Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 2 Rdnr. 43.24 BVerfGE 82, 272, 282; Prinz / Peters, Medienrecht,

    1999, Rdnr. 89.25 BGHSt 1, 288, 289; 11, 67, 70f; 36, 145, 147,

    3028; Prinz / Peters, a.a.O., Rdnr. 89.26 BVerfGE 60, 234; Wenzel / Burkhardt, a.a.O., 5.

    Kapitel Rdnr. 96.27 BGH NJW 1981, 2117; Wenzel / Burkhard, a.a.O.,

    5. Kapitel Rdnr. 96.28 BGH NJW-RR 1995, 301, 304; Wenzel / Burkhardt,

    a.a.O., 5. Kapitel Rdnr. 96.29 Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 4 Rn. 8.30 Ebd., Art. 4, Rn. 10.31 Ebd., Art. 4, Rn. 15.32 So VGH München, NVwZ 1994, 787ff; VGH Mün-

    chen, VGHE BY 59, 104ff.33 So OVG Bremen, NVwZ 1995, 793; OLG Bremen

    NVwZ 2001, 957ff.34 Vgl. § 17a GVG.

    35 Beispiele aus der Rechtsprechung zu „Sektenwar-nungen“ durch Kirchen sind u. a. BVerwG, Be-schluss vom 3.4.2006 – 7 B 95.05; OLG Hamburg,NJW-RR 1993, 1056; OLG München, Urteil vom17.4.2008 – 1 U 5608/06; OLG München, Urteilvom 8.2.2002 – 21 U 3532/01; BVerfG, NVwZ1994, 159; OLG Saarbrücken, NJW-RR 1998,1479; OLG Hamburg, NJW 1992, 2035.

    36 § 823 Abs. 1 BGB: Wer vorsätzlich oder fahrlässigdas Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit,das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines ande-ren widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Er-satz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.§ 1004 Abs. 1 BGB: Wird das Eigentum in andererWeise als durch Entziehung oder Vorenthaltung desBesitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer vondem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigungverlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu be-sorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassungklagen.

    37 VGH München, Beschluss vom 5. September 2008– 7 CE 08.2158.

    38 Als Meinungsäußerung hat die Rechtsprechung bei-spielsweise die Äußerung angesehen: „Rechtlichnicht hinreichend geklärt ist bisher die Frage derVerfassungswidrigkeit der U...-Schule, für die esdeutliche Hinweise gibt“ (VGH München, KirchE47, 372ff); auch die Bezeichnung als „Nazi-Sekte“(OLG Hamburg, NJW 1992, 2035), „vermeintlicheSekte“ (OLG Saarbrücken, NJW-RR 1998, 1379ff)sowie ein Boykottaufruf (OLG München, r + s 2004,214ff) wurden als Meinungsäußerungen angesehen.

    39 BGH, NJW 1974, 1762.40 BVerfG, NJW 1993, 1462.41 Palandt, BGB, 69. Aufl., § 823, Rn. 101 a. 42 Vgl. BGH, NJW 2003, 1308; VGH München,

    NVwZ-RR 2006, 587.43 Z. T. wird auf die Abwehrfunktion der Grundrechte

    abgestellt, z. T. auf das Rechtsstaatsprinzip, z. T.werden §§ 823, 1004 BGB analog angewendet.

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  • 419MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    INFORMATIONENISLAM

    Neuer Vorsitzender des Zentralrats derMuslime: Wer ist Aiman Mazyek? AimanA. Mazyek ist neuer Vorsitzender des Zen-tralrats der Muslime in Deutschland(ZMD). In einer Kampfabstimmung setztesich der 41-jährige bisherige Generalse-kretär gegen Ayyub Axel Köhler (72)durch, der seit 2006 den Vorsitz als Nach-folger von Nadeem Elyas innehatte. Mazyek, Sohn eines aus Syrien stammen-den Ingenieurs und einer deutschen Jour-nalistin, hat nach eigenen Angaben Ara-bistik in Kairo, später Philosophie, Wirt-schafts- und Politikwissenschaft in Aachenstudiert und gibt als Tätigkeit „freier Publi-zist und Medienberater“ an. Er ist Chefder vom Zentralrat der Muslime schonfrüh eingerichteten Internetseite www.is-lam.de, eines der bekanntesten deutsch-sprachigen islamischen Internetportale.Mit dem Cap-Anamur-Gründer RupertNeudeck rief er 2003 das christlich-musli-mische Friedenskorps „Grünhelme“ insLeben. Aiman Mazyek ist Sprecher des„Islamischen Wortes“ (SWR, s. dazu MD5/2008, 174ff) und tritt beim „Forum amFreitag“ (ZDF) auf.Mazyek war schon bisher eine treibendeKraft im ZMD, der mit seinen 18 Vollmit-gliedsorganisationen zwar weniger als einProzent der Muslime in Deutschland re-präsentiert, jedoch als Gründungsmitglieddes Koordinationsrates der Muslime inDeutschland (KRM) und – in der öffent-lichen Wahrnehmung – als Vertreter vorallem nichttürkischer Muslime neben dengrößeren türkisch geprägten Verbändenein eigenes Gewicht beansprucht. (Tatsa-che ist gleichwohl, dass mit ATIB, der„Union der Türkisch-Islamischen Kultur-vereine in Europa“, eine türkische Organi-

    sation der zahlenmäßig mit Abstandgrößte Mitgliedsverband des ZMD ist.) Sobetrieb Mazyek den Ausstieg des ZMDaus der Deutschen Islamkonferenz, die erals „Debattenspektakel“ abtat. Zuvor warder Islamrat vorerst ausgeschlossen undauf inhaltliche Forderungen des ZMDnicht vollumfänglich eingegangen wor-den.Wie kaum ein zweiter Verbandsvertreterversteht es Mazyek, politisch zu agierenund medienwirksam in Erscheinung zutreten. Dazu gehört für ihn freilich auch,aktuelle Ereignisse so zu wenden, dasshauptsächlich seine Lieblingsthemen lautwerden: mangelnde Anerkennung derMuslime, Islamkritik, „Islamophobie“ –kurz: die Kultivierung der eigenen Opfer-rolle. Als Mitte August öffentlich um mehrSpenden für die Flutopfer in Pakistan ge-worben wurde, beklagte Mazyek nichtetwa das insgesamt eher überschaubareEngagement muslimischerseits, sondernsah hinter der geringen Spendenbereit-schaft der Deutschen „eine zunehmendislamfeindliche Öffentlichkeit“.Nachdem Ende letzten Jahres in Malaysiaein islamischer Vorstoß gescheitert war,Christen den (selbstverständlich auchchristlich verwendeten) Gottesnamen Al-lah zu verbieten, äußerte sich Mazyeknicht zur zunehmenden Radikalisierungdes Islam in Malaysia, sondern er kehrteden Spieß um: Die Debatte habe „er-staunliche Parallelen in Deutschland“,denn „christliche Fundis“ wetterten „aus-schließend, verletzend und aggressiv“ ge-gen Muslime, ja sogar EKD-Vertreter be-haupteten, Gott sei nicht Allah, wo dochselbstverständlich arabische Christen Gottmit „Allah“ anriefen. Es werde mithin von„christlich fundamentalistischen Kreisen“in Deutschland ähnlich wie in Malaysiaimmer militanter versucht, „Identitätdurch Abgrenzung zu den Muslimen zuerzeugen“ (Tagesspiegel, 14.1.2010).

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  • 420 MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    FREIGEISTIGE BEWEGUNG

    Humanistischer Verband Hannover wirdMitglied im Forum der Religionen Han-nover. Seit 20 Jahren arbeiten Christen,Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten undBaha’i in Hannover in einem interreligiö-sen Forum zusammen. Gegründet als„Aktionskreis der Religionen und Kultu-ren“, nennt sich der Kreis seit dem Jahr2009 „Forum der Religionen“. In diesemKreis treffen sich Delegierte aus einer Viel-zahl religiöser Gemeinschaften und Grup-pen, darüber hinaus Repräsentanten derStadtgesellschaft, die vom Forum zur Teil-nahme eingeladen werden, insbesondereaus den Bereichen Religionswissenschaft,Kultur und Politik.Aus dem Forum ist das „Haus der Religio-nen“ in der Südstadt Hannovers hervorge-gangen, das zum Evangelischen Kirchen-tag im Jahr 2005 eröffnet wurde. Es wirdvon einem interreligiösen Verein getragen,der 2008 entstand. Gründungsmitglieder

    Als der Kopftuchstreit die öffentliche Dis-kussion beherrschte, stellte Mazyek inUmkehrung der Frauen- und Menschen-rechtsdiskussion provokant die Frage, obim Namen dieser Rechte „Diskriminierun-gen gegen Muslime salonfähig gemachtund der Missbrauch dieser hohen Wertedadurch in Kauf genommen“ werden sol-len.Es bleibt zu hoffen, dass Aiman Mazyek inseiner Funktion als Vorsitzender des ZMDvon argumentationsfreier polemischerRhetorik und „plumpen Ablenkungsma-növern“, die er nicht selten anderen vor-wirft und doch selbst demonstriert, ver-stärkt zu einer sachbezogenen Auseinan-dersetzung übergeht. Andernfalls mussman eher auf weitere „Debattenspekta-kel“ aus dieser Richtung gefasst sein.

    Friedmann Eißler

    waren neben Einzelpersonen der Evange-lisch-lutherische StadtkirchenverbandHannover, der Gesamtverband der Katho-lischen Kirche in der Region Hannover,die Liberale Jüdische Gemeinde Hanno-ver e.V. und der Geistige Rat der Baha’i inHannover. 2009 haben die im Forum vertretenen Re-ligionsgemeinschaften einen „Rat der Re-ligionen“ gewählt, dem zwölf Mitgliederaus sechs Religionsgemeinschaften ange-hören. Dieser Rat leitet das Haus der Reli-gionen. Er versteht sich als Ansprechpart-ner für Politik und Stadtgesellschaft in Fra-gen, die das Zusammenleben der Religio-nen betreffen (www.haus-der-religionen.de).Im Juni 2006 bekundete der Humanisti-sche Verband Hannover sein Interesse aneiner Mitarbeit im seinerzeitigen „Akti-onskreis der Religionen und Kulturen“.Man sei der Auffassung, so die Begrün-dung, dass die große Gruppe der nicht re-ligiös gebundenen Menschen in dieseminterreligiösen Forum nicht fehlen dürfe.Der Verband habe seine Ursprünge in der1948 gegründeten „Freireligiösen Landes-gemeinschaft Niedersachsen“. Er seiebenso wie die großen religiösen Ge-meinschaften mit Staatsvertrag und Kör-perschaftsrechten ausgestattet. Das LandNiedersachsen habe ihn ausdrücklich als„Religions- und Weltanschauungsgemein-schaft“ anerkannt. Im Übrigen sei die Zeit,in der sich der Verband lediglich als Kriti-ker der Kirchen verstanden habe, „imGroßen und Ganzen vorbei“. In Hanno-ver jedenfalls suche man die vertrauens-volle Zusammenarbeit. Nach intensiven Gesprächen entschiedder Aktionskreis im Februar 2007, die Hu-manisten zunächst „für eine 2-jährigebeidseitige Orientierungsphase“ in denKreis aufzunehmen. Vor einer endgültigenEntscheidung wollte man sich genauerkennenlernen. Die Entscheidung warnicht unumstritten. Einige Mitglieder

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  • stimmten gegen die Aufnahme. Sie hattenZweifel, ob sich die Hannoverschen Hu-manisten tatsächlich von der scharfen Re-ligions- und Kirchenkritik distanzierenwürden, die den freireligiösen Verbandeinst ausgezeichnet hatte. Nach dem Ende der Probephase im Jahr2009 kam das Thema wieder auf die Ta-gesordnung. Viele Mitglieder des Forumsder Religionen votierten in Vorgesprächengrundsätzlich für die Aufnahme. Ihr standallerdings entgegen, dass sich die Zweifelder Skeptiker zu bestätigen schienen.Denn nach wie vor äußerte sich der Ver-band in seiner Selbstdarstellung im Inter-net scharf religionskritisch. So fand sichunter der Überschrift „Geschichte, Wur-zeln und Traditionen des Humanismus“der folgende Abschnitt: „Religionen hem-men die Entwicklung ... [D]ie Bräucheund die Religion ... stärkten das Zusam-mengehörigkeitsgefühl, vertieften aberauch die Kluft zu Angehörigen anderer ...Völker. Besonders die Religionen habenhier eine unheilvolle Rolle gespielt ... Inder Geschichte der Menschheit habensich die Religionen als das stärkste Hin-dernis für gegenseitiges Kennenlernen,Verstehen und Achten erwiesen – stärkerals unterschiedliche Sprachen, Sitten undHautfarben. Das gilt besonders für die sogenannten ,Weltreligionen’, die jede fürsich den Anspruch erheben, ihre Glau-benslehre sei für alle Menschen gleicher-maßen verbindlich. Die Religionen Asienssind in dieser Hinsicht nicht anders alsdas Christentum.“ Auf Nachfrage zeigte sich der Landesge-schäftsführer des Humanistischen Verban-des Niedersachsen, Jürgen Steinecke,überrascht davon, dass dieser „längstüberholte Text“ immer noch auf der Inter-netseite stand. Er sicherte dem Forum derReligionen zu, dafür zu sorgen, dass dieSelbstdarstellung des Verbandes überar-beitet wird. Nochmals versicherte er, dass

    NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

    Weiterhin interne Richtungskämpfe inder NAK. (Letzter Bericht: 8/2010, 302ff)Das im Juni 2010 veröffentlichte überar-beitete, „neue“ Glaubensbekenntnis derNeuapostolischen Kirche (NAK) sowie diedazugehörigen Erläuterungen (vgl. MD7/2010, 272f; 8/2010, 298ff) rufen weiter-hin interne Spannungen hervor. 22 Mit-glieder der als progressiv geltenden Ge-meinde Hannover-Mitte – sie war imFrühjahr als Gastmitglied in die örtlicheArbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen(ACK) aufgenommen worden – hatten ineinem Brief an ihren Stammapostel Kritikan der Neufassung der Glaubensartikelausgedrückt. Sie wären enttäuscht, weilsie die Glaubensartikel als einen Rück-schritt im Blick auf den Ökumenegedan-ken und als eine gewollte und verletzende

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    die niedersächsischen Humanisten sichvon dieser Art Religionskritik abgewandthätten. So habe der Verband es unter an-derem abgelehnt, sich an der Buskampa-gne „Es gibt keinen Gott“ zu beteiligen.Derlei Polemik führe zu nichts. Bei allerKonkurrenz sei es im Gegenteil wichtig,dass sich alle Menschen, seien sie religiösoder „freireligiös“, gemeinsam für denFrieden einsetzen. Mittlerweile wurde dieInternetseite überarbeitet und die zitiertePassage ersatzlos gestrichen (www.freie-humanisten.de/index.php?id=321). Auchandernorts betont der Verband, dass er diePhase des Gegeneinanders hinter sich ge-lassen habe. So stand einer Aufnahme desHumanistischen Verbandes Hannover indas Forum der Religionen nichts mehr imWege. Am Ende votierten sowohl die Mit-glieder des Forums (bei einer Gegen-stimme) als auch die des Rates der Reli-gionen (einstimmig) dafür.

    Wolfgang Reinbold, Hannover

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  • Abgrenzung der NAK gegenüber anderenChristen empfänden. Besonders diestrenge Auslegung der Glaubensartikel inden Erläuterungen stieß auf ihr Unver-ständnis. Die Enttäuschung war so groß,dass zwei ehrenamtliche Gemeindeleiterihr Amt des „Hirten“ niedergelegten. Zunächst konnte Stammapostel WilhelmLeber die unzufriedenen Gemeindemit-glieder in einem Antwortbrief beschwich-tigen: Die Erläuterungen seien speziell fürdie Veröffentlichung im Internet geschrie-ben worden. Sie hätten keine übergeord-nete Bedeutung und würden in dieserForm auch nicht in den Katechismus über-nommen. Jetzt wurde aber bekannt, dassexakt dieselben Erläuterungen in den„Leitgedanken zum Gottesdienst“ abge-druckt wurden. Diese monatlich erschei-nende Schrift ist exklusiv für die Amtsträ-ger der NAK bestimmt und wird vomStammapostel selbst herausgegeben. Auferneute Rückfragen aus Hannover hin gabLeber nach Angaben des Glaubenskultur-Magazins (www.glaubenskultur.de) zu:„Ich stelle zerknirscht fest, dass ich michgeirrt habe. Tatsächlich haben die Erläute-rungen Eingang in den Katechismus ge-funden, was ich nachträglich festgestellthabe ... Ich bitte um Entschuldigung fürmeinen Irrtum.“ Die Betreiber des Inter-net-Portals „Glaubenskultur“ sind kritisch-wohlwollende NAK-Mitglieder und erklä-ren die ungewöhnliche Korrektur der Aus-sage eines Stammapostels mit einem„nicht unerheblichen Streit“ in der Be-zirksapostelversammlung. Die Versamm-lung aller 19 Bezirksapostel tagt mehr-mals im Jahr und wird vom Stammaposteleinberufen. In diesem Gremium werdendie wesentlichen Richtungsentscheidun-gen gefällt. Skeptisch fragen die Glau-benskultur-Macher nach, inwiefern derStammapostel „noch Herr des Verfahrensin Sachen neuer Katechismus ist“.

    Michael Utsch

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    ESOTERIK

    Am Anfang war das Licht – ein Film überdas „Phänomen“ Lichtnahrung. (LetzterBericht: 1/2007, 31f) „Am Anfang war dasLicht“, behauptet der österreichische Fil-memacher und Filmkritiker im österrei-chischen Rundfunk Peter Arthur Straubin-ger. Angeregt durch eine Dokumentationüber den schweizerischen Nationalheili-gen Nikolaus von der Flüe, der über Jahreohne Nahrung gelebt haben soll, versuchter, dem Phänomen Lichtnahrung auf dieSpur zu kommen. Der Film ist nach derEigenbeschreibung eine „faszinierendeReise, die P. A. Straubinger zu Yogis undQuantenphysikern, zu Fastenärzten undSchulmedizinern, zu Psychiatern und Be-wusstseinsforschern, zu Qigong-Meistern,Hausfrauen und Lebenskünstlern, alsogleichermaßen zu Wissenschaftlern undzu Esoterikern quer über den ganzen Erd-ball führt“ (http://amanfangwardaslicht.at/inhalt.html).Protagonisten des Films sind u. a. der 83-jährige Yogi Prahlad Jani, der seit einergöttlichen Eingebung im Alter von achtJahren angeblich keine Nahrung mehr zusich nimmt, die Australierin Ellen Greve(Jasmuheen), deren „21-Tage-Lichtnah-rungsprozess“ einigen Nachahmern dasLeben gekostet hat, die russische Pensio-nistin Zinaida Gregorieva Baranova, dienach eigenen Angaben seit 2000 keineNahrung mehr zu sich nimmt, derSchweizer Chemiker Michael Werner, derseit neun Jahren nahezu ohne Nahrungausgekommen sein will, und der Österrei-cher Walter „Omsa“ Rohrmoser, der an-geblich zwischen 1999 und 2008 weitge-hend ohne physische Nahrung gelebt hat.Immer wieder kommen auch Expertenund Expertinnen aus Medizin, Ernäh-rungswissenschaften und Biologie zuWort, die sich kritisch mit dem Phänomenauseinandersetzen.

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  • 423MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    Nach der ersten Hälfte des Films ist fürStraubinger die Frage, ob es das Phäno-men Lichtnahrung gibt, klar mit „ja“ be-antwortet, und es wird anschließend nachErklärungen für das Wie gesucht. Das ge-schieht, indem Experten mit dem Phäno-men konfrontiert werden. Bei der Auswahlder Gesprächspartner kann man sich demEindruck nur schwer entziehen, dass hierin erster Linie auf das „Who is Who“ derEsoterik geschaut wurde und man Perso-nen ausgewählt hat, die in ihren Diszipli-nen als Außenseiter gelten – so etwa derPhysiker Fritz-Albert Popp, der Arzt Rüdi-ger Dahlke oder der Biochemiker RupertSheldrake. Für den Regisseur lässt sich dasPhänomen durch Quantenphysik, Bio-Fo-tonen und Bewusstseinsforschung erklä-ren. Anfang Oktober 2010, knapp drei Wo-chen nach dem Kinostart in Österreich,haben nach Angaben der Produktions-firma 40 000 Personen den Film gesehen.Die Filmkritik reagierte sehr unterschied-lich. Nach teilweise unkritischen Rezen-sionen in manchen Medien und vor allemim Österreichischen Rundfunk meldetensich skeptische Stimmen zu Wort. Dabeiwird nicht nur die Wissenschaftlichkeitdes als Dokumentation bezeichnetenFilms infrage gestellt, sondern auch die finanzielle Förderung durch Mittel desÖsterreichischen Filminstituts, des Film-fonds Wien und des ÖsterreichischenRundfunks.Die Jugendmedienkommission des Bun-desministeriums für Unterricht, Kunst undKultur hat dem Film eine sogenannte Posi-tivkennzeichnung als „Diskussionsfilm ab12 Jahren“ gegeben und damit zum Aus-druck gebracht, dass dieser Film beson-ders für Kinder und Jugendliche geeignetsei. Als Begründung schreibt die Kommis-sion: „P. A. Straubinger hat sich eines sehrinteressanten Themas angenommen undes von jeder Seite beleuchtet und detail-

    liert erklärt. Dabei ergeben sich Botschaf-ten, dass die Form der Weltbetrachtungder letzten 400 Jahre ins Wanken gerät,weil durch Versuche bewiesen wurde,dass wir mit unserem Bewusstsein mehrbewirken können als wir glauben und so-mit die Gesellschaft mitgestalten können“(www.bmukk.gv.at). Diese Begründunglöst doch ein gewisses Erstaunen aufseitendes kritischen Zuschauers aus.

    Stefan Lorger-Rauwolf, Wien

    NEUE RELIGIÖSE BEWEGUNGEN

    Sant Rajinder Singh in Berlin. Nach überzwölf Jahren stattete der Lebende Meisterder „Wissenschaft der Spiritualität“(WdS), Sant Rajinder Singh, Berlin wiedereinen Besuch ab. Das großspurige Auto,das beim Postbahnhof im Osten der Stadtvorfährt, passt nicht so recht zu derfreundlich lächelnden kleinen Gestalt, dievon Hunderten von Menschen ehrfürchtigerwartet und fast feierlich empfangenwird. Der Satguru steht konkurrenzlos imMittelpunkt – nicht nur dieser Veranstal-tung, wie man im Gespräch mit Teilneh-menden erfährt. Dennoch setzt der 64-jährige Inder, dem man sein Alter kaumansieht, offenbar nicht auf Showeffekte.Lehre steht im Vordergrund, tatsächlich.Ziemlich genau eine Stunde lang sprichtder weiß gewandete Turbanträger (mitperfekter Übersetzung aus dem Engli-schen) über die glückverheißende und le-benswichtige Bedeutung der Meditation,ein häufiges Thema öffentlicher Vorträge.In der riesigen bestuhlten Halle wird dasGeschehen in Großbild auf seitliche Lein-wände projiziert. Alle Hautfarben, fastalle Altersstufen und wer weiß wie vieleNationalitäten sind im aufmerksam lau-schenden Publikum vertreten. Ein Besu-cherprofil würde wohl allenfalls für hö-here Bildung einen besonderen Schwer-

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  • 424 MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    punkt ausweisen. Viele verfolgen jedesWort, indem sie mit zusammengelegtenflachen Händen in Gebets- und Konzen-trationshaltung verharren. Meditation zur Stressreduzierung, zur Er-höhung der Konzentration, zur Besserungder Gesundheit und als Erfolgsrezept – alldies seien, so erfahren wir, mögliche posi-tive Nebenwirkungen von Meditation,aber nicht eigentlich ihr Sinn und Ziel.Ziel sei es vielmehr, von den äußeren Sin-neseindrücken quasi umzuschalten aufdas Innere, auf die Seele, auf das, was dieMenschen letztlich mit Gott bzw. demGöttlichen verbindet. Wir seien wie beimFernsehen ständig äußerlich am Zappen,vergäßen aber meist, uns innerlich aufden „Kanal Gottes“ einzustellen, der rundum die Uhr erreichbar sei und fließe.Über den „Augenbrennpunkt“ bzw. das„Dritte Auge“ zwischen den Augenbrauenfinde die Verbindung mit dem göttlichenLicht- und Klangstrom statt. Denn als sol-cher sei die ursprüngliche Lebensenergiezu verstehen, wie auch die moderne Phy-sik mit ihrer Elementarteilchenlehre be-weise (Rajinder Singh ist studierter Elek-trotechniker). Alle Menschen wie auchalle Religionen sind dadurch verbunden,letztlich eins. Einige eklektisch zusam-mengelesene Zitate aus verschiedenenheiligen Schriften sollen das belegen.Dass es auch um eine äußerst komplexeKosmologie geht, um Karma, das der Le-bende Meister übernimmt, und Karma,das fortan zu vermeiden ist, um Astralrei-sen und eine recht asketische Lebens-weise, ja schlicht um rund zweieinhalbStunden Meditation täglich (Aussage einesTeilnehmers), das erfährt der Zuhörerdiesmal nur andeutungsweise. Auf die Verpflichtung zum (sattvischen)Vegetarismus macht ein Ansager nachdem Vortrag aufmerksam. Er lädt aber vorallem dazu ein, zur Initiation zu bleiben,die wie häufig im Anschluss an Einfüh-

    rungsvorträge angeboten wird. Dabeiwerden fünf Mantras mitgeteilt, göttlicheNamen, die wie Passworte zum Aufstei-gen der „Seele“ in die fünf höheren Sphä-ren befähigen und deren jeweiliger Gott-heit zugeordnet sind. Die Öffnung des„Augenbrennpunkts“ bzw. „Dritten Au-ges“ zwischen den Augenbrauen durchden Guru persönlich soll erste Erfahrun-gen mit dem göttlichen Licht ermög-lichen, die letztlich auf die Verbindungmit der höchsten Gottheit („Radhasoami“)zielen. Ich ziehe es vor, mich nicht initiieren zulassen. Leider verpasse ich dadurch auch,wie die im Erdgeschoss zeitgleich angebo-tene „Kinderinitiation“ vonstatten geht,bei der es zuvor lebendig wie in jeder grö-ßeren Kinderbetreuung zugegangen war.Ich sehe mich auf den Büchertischen um(„Die Weisheit der erwachten Seele“ vonRajinder Singh; „Die Quelle aller Liebe“von Darshan Singh; „Der Pfad nach in-nen“ von Kirpal Singh) und bei den Vi-deos, die von allen Auftritten angefertigtwerden. Draußen auf dem Parkplatz ste-hen Busse aus Ungarn, Österreich und derganzen Bundesrepublik. Und der flotteBMW steht wieder für den Guru und sei-nen Tross bereit.Die „Wissenschaft der Spiritualität“ (Sci-ence of Spirituality) mit Sitz in Münchenbetreibt keine Wissenschaft, sondern ver-breitet mit über 70 „Zentren“ in Deutsch-land, einem guten Dutzend in Österreichund einigen mehr in der Schweiz die Bot-schaft des Sant Mat, der „Lehre der Heili-gen“. WdS ist eine von mindestens vierNachfolgeorganisationen des von SantKirpal Singh (1894-1974), dem GroßvaterRajinders, gegründeten Ruhani Satsang.Der Lebende Meister (und er allein) leitetzum „Meditationspfad des inneren Licht-und Tonstroms“ (Surat Shabd-Yoga) an, ei-nem Erkenntnisweg der reinen Innerlich-keit. Dabei soll religiöses Urwissen der

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  • Menschheit zum Zug kommen, das nichtnur zum Frieden und der Einheit der ge-samten Menschheit zu führen, sondernletztlich auch von der Vorläufigkeit derverfassten Religionen zu befreien ver-spricht.

    Friedmann Eißler

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    Der Dokumentarfilm „Guru – Bhagwan,His Secretary & His Bodyguard”. (LetzterBericht: 7/2000, 238ff) Im September2010 ist in Deutschland der Dokumentar-film „Guru“ angelaufen. Der Film voll-zieht die Entwicklung der Bewegung umBhagwan Shree Rajneesh (Osho) von denAnfängen in Bombay über Poona bis nachOregon nach. Zu Wort kommen zwei An-hänger aus dem nächsten UmfeldRajneeshs: die Inderin Ma Anand Sheela,die als seine Sekretärin die neue Kom-mune „Rajneeshpuram“ in Oregon führte,sowie sein Leibwächter, der Schotte HughMilne. Untermalt und ergänzt wird dieDarstellung durch historische Filmaufnah-men aus Poona und Oregon. Für beide Er-zähler endete ihre Episode mit derRajneesh-Bewegung in einer persönlichenKatastrophe. Als bei Milne die Zweifel ander Entwicklung der Gemeinschaft in Ore-gon wuchsen und er Kritik äußerte, wurdeer von Sheela öffentlich verleumdet undaus der Bewegung ausgeschlossen. Er ge-riet in eine tiefe Krise mit Selbstmordver-suchen und einem freiwilligem Aufenthaltin einer psychiatrischen Klinik. Sheelawurde 1985 verhaftet und saß dreieinhalbJahre in den USA im Gefängnis. Vorge-worfen wurden ihr unter anderem Vergif-tung und Mordversuch, Wahlmanipula-tion und das Abhören von Mitgliedern derBewegung. Der Film der beiden Schweizer RegisseureSabine Gisiger und Beat Häner fragt, wieMenschen, die Freiheit suchen, in Abhän-gigkeiten enden können und wie eine Ge-

    meinschaft, die Individualismus verwirk-lichen möchte, sich zu einem stark regle-mentierten und hierarchischen Unterdrü-ckungssystem entwickeln kann. Die Fil-memacher geben den Erfahrungen undGeschichten der beiden Erzähler Raumund halten sich mit eigenen Wertungenzurück. Im distanziert beobachtendenBlick auf die Bewegung der Sannyasinsum Rajneesh wirken die Anhänger und ihrTun fremd, ohne dass sie verurteilt wer-den. Rajneesh wird nur aus ihrer Perspek-tive gezeigt. Er ist der Guru, dem ekstati-sche Verehrung entgegengebracht wird.Für einen Außenstehenden bleibt esschwer nachvollziehbar, was diesenMann anziehend gemacht hat. Umsodeutlicher kommt die Rolle der Gruppen-dynamik und der Sexualität zum Aus-druck. Sichtbar wird in den Filmsequen-zen auch das Wechselspiel zwischen ei-nem Meister, der sich geschickt selbst in-szeniert und als Projektionsfläche anbie-tet, und einer Gruppe von Anhängern, diedurch ihre Erwartungen und Bedürfnisseden Meister zu dem machten, was er war.Undeutlich bleibt die Rolle Rajneeshs inOregon. Überließ er zynisch die Bewe-gung sich selbst und seiner Sekretärin, gabsich Luxus und Drogen hin und „beob-achtete das dumme Spiel nur“, wie erselbst behauptete? Inwieweit gingen Shee-las Anweisungen auf ihn zurück? Die Berichte Sheelas und Hugh Milnessind ein glaubwürdiges und exemplari-sches Zeugnis von Menschen, die all ihreErwartungen und Hoffnungen aufRajneesh und seine Vision eines „neuenMenschen“ und einer neuen Gemein-schaft setzten. In Sheela wird eine abso-lute Liebe und Hingabe an den Meisterdeutlich, aus der heraus sie alles für ihngetan hat. Bis heute zeigt sie nur eine be-schränkte Schuldeinsicht. Verantwortungfür Fehlentwicklungen in Oregon treffennicht sie oder Rajneesh, sondern die „In-

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  • 426 MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    stitution“. Erschütternd für AnhängerRajneeshs dürften Aufnahmen sein, in de-nen er offensichtlich lügt und Sheela kri-mineller Machenschaften beschuldigt, umalle Verantwortung von sich zu weisen.Der Film ist über den konkreten Kontextder Rajneesh-Bewegung hinaus ein beein-druckendes Dokument der Jugendbewe-gung in den 1970er und 1980er Jahren.

    Claudia Knepper

    ALTERNATIVE MEDIZIN

    Norwegische Behörden überprüfen Ha-mer. (Letzter Bericht: 9/2010, 355ff) Nachkritischen Berichterstattungen deutscherund norwegischer Medien hat nun dasnorwegische Gesundheitsamt eine Unter-suchungskommission beauftragt, die Akti-vitäten des Gründers der „GermanischenNeuen Medizin“ zu untersuchen. RykeGeerd Hamer (75) hatte Anfang 2008 un-ter dem Namen „Universität Sandefjord“einen Buchverlag in Norwegen angemel-det. Er bezeichnet sich selbst als Rektorund sieht sich dadurch berechtigt, trotzverlorener Approbation medizinische Be-handlungen durchzuführen oder Gutach-ten zu erstellen. Zuletzt hatte er einschwer krebskrankes 12-jähriges Mäd-chen aus Hamburg behandelt. Die Mutterwar mit ihrem Kind zu ihm geflohen, weilihr das Sorgerecht entzogen werdensollte, da sie notwendige medizinischeBehandlungen verweigert hatte und Hei-lung von der Germanischen Neuen Medi-zin erhoffte. Die Behörden sammeln nunInformationen über weitere Behandlun-gen dieses dubiosen Wunderheilers.Nachdem Hamer schon aus anderen eu-ropäischen Nachbarländern ausgewiesenworden ist und dort zum Teil noch Haftbe-fehle offenstehen, wird dieser gefähr-lichen Pseudomedizin nun hoffentlichbald das Handwerk gelegt. Ob sich an-

    dere esoterische Heiler wie RüdigerDahlke, Lothar Hirneise oder der Begün-der der Synergetik-Therapie, BerndJoschko (vgl. MD 4/2006, 141ff), dannvon Hamer distanzieren, nachdem sie ihnfrüher protegiert haben, bleibt abzuwar-ten.

    Michael Utsch

    JUGEND

    „Mäßig religiös“. Zur Shell-Jugendstudie2010. Die 16. Shell-Jugendstudie be-schreibt charakteristische Sichtweisen,Stimmungen und Orientierungen heutigerJugendlicher. Repräsentativ befragt wur-den 2604 Jugendliche im Alter von 12 bis25 Jahren. Die qualitative Vertiefungsstu-die bezieht sich auf 20 Fallstudien auf derBasis von explorativen Interviews mit Ju-gendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren.Am 14. September 2010 wurden die Er-gebnisse vorgestellt:• Die junge Generation bleibt zuversicht-lich. Ihr Optimismus ist eher gestiegen alszurückgegangen. Zugleich gehen die Le-benswelten Jugendlicher weiter auseinan-der. Bei solchen, die aus sozial schwa-chen Milieus kommen, hat die Zuversichtabgenommen. • Es zeigt sich, dass Bildung und ein guterSchulabschluss einen Schlüssel für dieweitere Biografie darstellen. Wie schon infrüheren Studien beobachtet, wird auchdeutlich, dass junge Frauen ihre männli-chen Altersgenossen beim Thema Bildungüberholt haben.• Die junge Generation ist familienorien-tiert. Sie hat ein gutes Verhältnis zu deneigenen Eltern, die ihnen angesichts stei-gender Anforderungen in Schule und Aus-bildung Rückhalt und emotionale Unter-stützung geben.• Was tagtäglich beobachtet werdenkann, wird in der Studie bestätigt: „Fast

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  • alle Jugendlichen (96 Prozent) haben mitt-lerweile Zugang zum Internet. Nicht nurdie Zahl der Internetnutzer ist damit ge-stiegen, sondern auch die Zahl der Stun-den, die Jugendliche im Netz verbringen:im Schnitt fast 13 Stunden pro Woche.“• Das politische Interesse Jugendlicher istleicht gestiegen. Zahlreiche Jugendlichesind sozial engagiert (39 Prozent).• Wie in der Erwachsenenwelt gibt es un-ter Jugendlichen „Globalisierungsbefür-worter, Globalisierungsgegner und denGlobalisierungs-Mainstream“. Die Befür-worter sind in der Mehrzahl. Man erwar-tet wirtschaftlichen Wohlstand, Friedenund Demokratie. Die Gegner verbindenGlobalisierung mit Umweltzerstörung, Ar-mut und Unterentwicklung.• Das Thema Klimawandel spielt für vieleJugendliche eine wichtige Rolle. „Zweivon drei Jugendlichen sehen durch dassich verändernde Klima die Existenz derMenschheit bedroht.“ Ein Teil der Jugend-lichen zieht daraus Konsequenzen für dieeigene Lebensgestaltung und verhält sichumweltbewusst.• Religiöse Fragen spielen für die Mehr-zahl der Jugendlichen nur eine mäßigeRolle. Drei verschiedene religiöse Kultu-ren lassen sich beobachten: „WährendReligion für junge Menschen in denneuen Bundesländern zumeist bedeu-tungslos geworden ist, spielt sie in den al-ten Bundesländern noch eine mäßigeRolle ... Ganz anders sieht es hingegenbei Jugendlichen mit Migrationshinter-grund aus: Sie haben einen starken Bezugzur Religion, der in diesem Jahrzehnt so-gar noch zugenommen hat.“• Die Werte und Lebenseinstellungen Ju-gendlicher werden als „pragmatisch, abernicht angepasst“ beschrieben. Jugend-lichen geht es nicht nur „um ihr persön-liches Vorankommen, sondern auch da-rum, ihr soziales Umfeld aus Familie,Freunden und Bekannten zu pflegen.

    427MATERIALDIENST DER EZW 11/2010

    Viele interessieren sich dafür, was in derGesellschaft vor sich geht“.Die Ergebnisse sind eine Momentauf-nahme, die auch zeigt, in welchem Zu-sammenhang die Welt der Jugendlichenund die Welt der Erwachsenen stehen.Jede weitergehende Interpretation der Stu-die wird berücksichtigen müssen, dass dieJugend immer auch Projektionsfeld für dieErwachsenen ist und umgekehrt. Jugendist heute keine genau festlegbare und ab-grenzbare Lebensphase mehr, sondern einlanger und manchmal durch Brüche undDiskontinuitäten gekennzeichneter Weg,der mindestens die Lebensjahre 10 bis 30umfassen kann. Diese zunehmende Un-eindeutigkeit des Jugendalters steht inKorrespondenz zu dem Phänomen, dassAltersfragen im Blick auf Wertorientierun-gen und Lebensformen nur noch eine be-grenzte Rolle spielen.

    Reinhard Hempelmann

    RELIGIÖSE LANDSCHAFT

    „Kraftwerk Religion“ – eine Ausstellungin Dresden „über Gott und die Men-schen“. Das Deutsche Hygienemuseumin Dresden (www.dhmd.de) widmet sichnach seinem Selbstverständnis der condi-tio humana. Dazu gehört die Fähigkeitdes Menschen, sich in Religionen auf et-was Transzendentes, Unverfügbares zubeziehen oder auch nicht religiös zu sein.Die seit Oktober 2010 gezeigte Ausstel-lung „Kraftwerk Religion. Über Gott unddie Menschen“ stellt entsprechend denMenschen mit seinem Glauben oder auchUnglauben ins Zentrum. Eine religions-kundliche Schau will die Ausstellung aus-drücklich nicht sein. Eine Herausforde-rung der Ausstellung liegt darin, im starksäkularisierten ostdeutschen Kontext glei-chermaßen religiöse wie nichtreligiöseMenschen anzusprechen. Der Wunsch

    inhalt1110.qxp 21.10.2010 14:14 Seite 427

  • der Kuratorin Petra Lutz ist es, dass Men-schen am Ende weniger feste Vorstellun-gen von Religionen haben und nachdenk-licher sind. Man möchte differenzierenund dabei Verwirrung zulassen. Tatsäch-lich ist es erstaunlich, wie viele Themenaufgegriffen werden.Die Ausstellung ist in drei Räumen alsLandschaft gestaltet. Am Boden erhebensich Berge und Inseln aus grauem Filz, da-rüber erstrecken sich Stoffsegel wie Wol-ken unter der Decke, auf die weiß leuch-tende kontroverse Zitate zur Religion pro-jiziert werden. Die Ausstellung kombinierteine wissenschaftlic