patientenversorgung in der nacht auf … · 2018-03-22 · patientenversorgung in der nacht auf...
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Patientenversorgung in der Nacht
auf akutpsychiatrischen Stationen
Zeitgebundene Kontrollgange oder individuelle
Kontaktmodi aufgrund von Risikoeinschätzungen
Autoren
Durrer Michael, MScN, arbeitet seit sieben Jahren auf einer der im Projekt involvierten
Akutstationen in der Luzerner Psychiatrie. Zum Zeitpunkt des Projekts als Pflegefachexperte
(BScN), aktuell als Pflegeexperte APN im Bereich Akutpsychiatrie.
Zemp Dominic, BScN, arbeitet seit vier Jahren auf einer der im Projekt involvierten
Akutstationen in der Funktion als Pflegefachexperte in der Luzerner Psychiatrie.
Korrespondenzadresse:
Luzerner Psychiatrie
Michael Durrer
Schafmattstrasse1
4915 St. Urban
Kontakt: [email protected], 0588564789
St. Urban: 05.12.2017
Zusammenfassung
Phänomen: In der Pflege herrscht das weitverbreitete Phänomen, dass in der Nacht alle
zwei Stunden ein „Kontrollgang“ durchgeführt werden muss. Der Nutzen dieser
Kontrollgänge wurde in Frage gestellt.
Ziele: Den Überwachungsmodus, mittels Einbezug der vorhandenen Fachliteratur,
Expertenmeinungen und Patientenpräferenzen zu überprüfen und zu optimieren.
Vorgehen: Im Rahmen der IST-Analyse wurden Interviews mit Patient/innen und Pflegenden
und eine Literaturrecherche durchgeführt. Die zusammengeführten Ergebnisse wurden in
einer interdisziplinären Fachgruppe diskutiert und im Anschluss daran ein neues Konzept
erstellt und eingeführt. Nach einer Durchführungsphase von 6 Monaten wurde das Konzept
mittels zwei Fokusgruppeninterviews evaluiert.
Konzept: Das Konzept beinhaltet eine neue Vorgehensweise der Einschätzung und
Kontaktierung der Patient/innen nach ihrer individuellen Situation und unter Einbezug ihrer
Präferenzen.
Evaluation: Die Kernaussagen der Fokusgruppeninterviews wurden kategorisiert und sind:
Partizipation, Sicherheit, Wohlbefinden und Privatsphäre, und weitere Veränderungen.
Schlussfolgerungen: Neu werden die Patient/innen in die Entscheidungsfindung über die
Festlegung des Kontaktmodus miteinbezogen. Durch das neue Konzept steht den
Pflegenden in ihrem Handeln mehr Eigenständigkeit und fachliche Kompetenz zu.
Zeitgebundene Kontrollgänge wie das „2-stündliche Runden“ in der Nacht bilden eine Illusion
von Sicherheit, welche bei genauerer Betrachtung keine ist. Die Evaluation zeigt, dass ein
individuelles, patientenorientiertes und sicherheitsorientiertes Konzept die Erwartungen an
die Patientenversorgung besser erfüllen kann.
Einleitung
In der Pflege herrscht das weitverbreitete Phänomen, dass in der Nacht alle zwei Stunden
ein „Kontrollgang“ bei den Patient/innen gemacht werden muss. Diese Regelung gilt aktuell
in mehreren psychiatrischen Kliniken in der Schweiz, auch in der Luzerner Psychiatrie.
Dieser Kontrollgang etablierte sich in der Pflege unter dem Begriff „Runden“. Für dieses
Vorgehen gibt es gegenwärtig keine genaue Rechtsgrundlage und auch dessen Zweck ist
unklar (Böhme, 2014). Der Zwei-Stunden- Turnus ist auf die Soldatenversorgung von
Florence Nightingale im Krimkrieg zurückzuführen.
In der Praxis der Akutpsychiatrie führte diese Regelung zu Diskussionen über die Diskrepanz
zwischen der damit gewährleisteten Sicherheit sowie der individuellen und
patientenorientierten Versorgung. Diese Haltungsänderungen können der Recovery-
Bewegung zugewiesen werden, die auch in der lups einen Teil der Unternehmensstrategie
darstellt. Dabei spielen Begriff e wie Selbstmanagement, Empowerment, Machtübertragung,
Aufbau von partnerschaftlichen Beziehungen und andere eine zentrale Rolle (Slade, 2009).
Zudem nahmen die Pflegenden der Luzerner Psychiatrie zunehmend eine Abwägung
zwischen der möglichen Störung des Schlafs der Patient/innen und dem resultierendem
Nutzen des 2-stündlichen „Rundens“ vor. Bekanntlich weisen psychisch erkrankte Menschen
besonders häufig Schlafstörungen auf. In der Schweiz zeigen 90 % der Menschen mit
starken depressiven Symptomen diese Beschwerden (Baer, Schuler, Füglister-Dousse
&Moreau-Gruet, 2013). Um die aktuelle Praxis zu überprüfen, wurde in der Luzerner
Psychiatrie ein Projekt lanciert, um das scheinbar vorherrschende Problem zu deklarieren
und aufgrund dessen einen Veränderungsprozess eizuleiten.
Sicherheit wie individueller Situation entsprechen
Die vorgenommene Ist-Analyse bestätigte die Annahme des Bedarfs einer Veränderung der
bestehenden Regelung. Im Rahmen der Ist-Analyse ging aus den acht durchgeführten
Patienteninterviews hervor, dass Patient/innen einerseits eine Reduktion der Störungen
durch das „Runden“ auf ein Minimum erwarten und andererseits, dass die Betreuung der
Pflege nach ihrem individuellen Gesundheitszustand erfolgt.
Ein Patient äusserte in den Interviews, er erwartet jederzeit mit dem Nachtdienst
Fragen klären und Anliegen deponieren zu können, dass der Nachtdienst bei
Schlafstörungen Ideen habe diesen zu begegnen, und leise ins Zimmer gegangen
wird, um zu schauen, ob alles in Ordnung sei.
Die Patient/innen wollen in die Entscheidung über den festzulegenden Kontaktmodus mit
einbezogen werden.
Eine Patientin meinte auf die Frage, wie oft der Nachtdienst vorbeikommen soll, dass
es darauf ankomme, wie es ihr gehe. Es solle mit ihr abgemacht werden, wie oft
„Runden“ sinnvoll sei.
Nebst den Veränderungsvorschlägen der Patient/innen wünschen sich die Pflegenden mehr
Freiheit in der Entscheidungsbefugnis und im Anwenden ihrer Fachkompetenz. Sie wollen in
der Nacht eine Betreuung gewährleisten, die sowohl den Sicherheitsaspekten wie auch der
individuellen Patientensituation entspricht.
Ziele des Projekts:
Das Projekt beinhaltete folgende Hauptziele:
1. Der von der Pflege bis anhin geleistete Überwachungsmodus der Patient/innen während
der Nacht, wird mittels Einbezug der vorhandenen Fachliteratur, Expertenmeinungen und
Patientenpräferenzen überprüft und optimiert.
2. Es wird eine Empfehlung (Konzept „aktive Patientenkontakte in der Nacht“) erarbeitet,
welche Pflegende im Nachtdienst darin unterstutzt, eigene und individuelle Entscheidungen
bezüglich des Kontaktmodus zu treffen. Dabei sollen der Einbezug von rechtlichen und
fachlichen Aspekten, sowie Patientenpräferenzen eine zentrale Rolle spielen.
Methode
Setting und Population:
Das Setting setzt sich aus vier stationären Akutstationen der Luzerner Psychiatrie am
Standort St. Urban (Pilotstationen) zusammen. Die vier Stationen sind allgemeine teiloffene
Akut-Aufnahmestationen mit je 17 Betten und einem Intensiv-Zimmer. Im Nachtdienst ist pro
Station eine Pflegefachkraft präsent. Diese wird bei Bedarf durch eine Pflegefachkraft
(„Laufnachtdienst“) unterstutzt. Nebst dem Pflegepersonal hat ein(e) Assistenzarzt/-ärztin
Pikettdienst und kann hinzugezogen werden. Auf den vier Akutstationen sind erwachsene
Patient/innen zwischen 18 und 65 Jahren stationiert und weisen nach ICD-10 F-Diagnosen
auf (Dilling & Freyberger, 2014)
Konzepterstellung
Zur Erstellung des Konzepts „Aktive Patientenkontakte in der Nacht“ wurden im Rahmen der
Ist-Analyse Interviews mit Patient/innen und Pflegenden durchgeführt. Anschliessend fand
eine Literaturrecherche statt. Die zusammengeführten Ergebnisse wurden in einer
interdisziplinären Fachdiskussion in Bezug auf Relevanz und Handhabbarkeit überarbeitet
und finalisiert. Teilnehmende an der Diskussion waren eine pflegerische Stationsleitung, eine
pflegende Nachtdiensthabende, ein Pflegefachexperte einer Akutstation, ein Pflegeexperte,
eine Expertin aus Erfahrung (PEER), ein Psychologe und ein Oberarzt. Die Moderation
führte die Projektleitung durch. Aus der Fachdiskussion resultierte eine Indikatoren-Liste für
die Einschätzung und Planung der Patientenbetreuung von Pflegenden in der Nacht.
Interviews der Ist-Analyse: Patient/innen und Pflegende
Es fanden acht semi-strukturierte Patienteninterviews (zwei von jeder Station) an je 15–20
Minuten statt. Dazu nahmen vier Frauen und vier Männer teil. Die Aufenthaltsdauer der
Patient/innen zum Zeitpunkt der Interviews lag zwischen 10 Tagen und 7 Monaten. Es
wurden ausschliesslich Patient/innen rekrutiert, welche sich in der Rehabilitationsphase
befanden. Die Patient/innen nahmen freiwillig teil und unterschrieben eine
Einverständniserklärung, nachdem sie über den Hintergrund des Projekts informiert wurden.
Mit fünf Pflegenden, welche ausschliesslich oder regelmässig Nachtdienste absolvieren,
wurden offene Interviews durchgeführt. Die Schwerpunkte dabei lagen einerseits auf der
Erfahrung mit der aktuellen Regelung und andererseits auf den Gefahren und Chancen für
eine Veränderung der bestehenden Regelung. Die Auswertung aller Interviews erfolgte
schriftlich.
Literaturrecherche
Um die Ergebnisse der Interviews zu ergänzen fand eine Literatursuche im Juni 2014 statt.
Diese erfolgte zum einen in Studiendatenbanken (PsycInfo, Pubmed und Cochrane Library)
und zum anderen auf Guideline Webseiten (Tripdata-base, NICE, Arztbibliothek und AWMF).
Unter Berücksichtigung der festgelegten Limitierungen und der Ein- und Ausschlusskriterien
aufgrund der Praxismerkmale der Akutstationen der Luzerner Psychiatrie, konnten
abschliessend eine systematische Review mit zwei Studien und eine Guideline verwendet
werden (Tab. 1). Alle Evidenzen wurden mittels Checklisten auf ihre methodologische
Qualität beurteilt.
Tabelle 1: Verwendete Evidenzen zur Erstellung des Konzepts „Aktive Patientenkontakte in der Nacht“
(Durrer & Zemp, 2014)
Art der Evidenz Titel der Evidenz
Guideline Assessment and care of adults at risk for suicidal ideation and behaviour5.
Systematische Review Die intensive Überwachung von Patienten in der stationären psychiatrischen Akutversorgung
6.
Einzelstudie Under the gaze of staff: Special observation as surveillance7.
Einzelstudie Continuous observation for psychiatric inpatients: a critical evaluation8.
Implementierung
Nach Fertigstellung des Konzepts „Aktive Patientenkontakte in der Nacht“ wurden die
Pflegeteams der Akutstationen in Bezug auf den Inhalt und die Handhabbarkeit des
Konzepts im November 2014 geschult. Die Schulungen führten die Projektleiter durch und
dauerten jeweils eine Stunde. Schwerpunkt dabei war die praktische Übung anhand aktueller
Patientenbeispiele. Nach den Schulungen trat das neue Konzept in Kraft. Nach dem ersten
Nachtdienst- Arbeitsblock gab die Projektleitung den Pflegenden ein schriftliches Feedback.
Es wurde Stellung zur Umsetzung der neuen Strukturen und der vorgenommenen
Patientendokumentation bezogen. Nach Abschluss der Feedbackrunde übergab die
Projektleitung das weitere Monitoring den jeweiligen Pflegefachexperten/innen der Stationen.
Zudem wurde den Stationen ein FAQ zur Verfügung gestellt, welches fortlaufend aktualisiert
wurde.
Evaluation
Nach einer Durchführungsphase von sechs Monaten fand im Mai 2015 die Evaluation des
Projekts statt. Dazu führte die Projektleitung zwei Fokusgruppeninterviews durch, eines mit
Patient/innen und eines mit Pflegenden. Die Ergebnisse beider Interviews wurden analysiert
und kategorisiert.
Fokusgruppeninterviews
Die Ein- und Ausschlusskriterien sind analog zu den Interviews der Ist-Analyse. Es wurden
sechs Teilnehmer/innen angefragt, über das Projekt informiert und eine schriftliche
Einwilligung zur Teilnahme eingeholt. Das Fokusgruppeninterview erfolgte mit einem
semistrukturierten Interviewleitfaden unter der Moderation der Projektleitung. Am Interview
nahm ebenfalls eine Expertin aus Erfahrung (PEER) teil. Zwei Personen fungierten als
Beobachter/in und notierten die Inhalte der Diskussion. Im Rahmen von 60 Minuten
schilderten die Interviewteilnehmenden ihre Erfahrungen in Bezug auf den Nachtdienst.
Anschließend wurde dasselbe Procedere mit sechs Pflegenden, welche ausschließlich oder
regelmässig Nachtdienste absolvieren, durchgeführt.
Ergebnisse/Erfahrungen
Der Tabelle 2 sind die finalen Indikatoren aus der interdisziplinären Gruppendiskussion zu
entnehmen.
Tabelle 2: Indikatoren zur Risikoeinschätzung und Planung der aktiven Patientenkontakte (Durrer & Zemp,
2014)
Wunsch der Patient/innen
besondere Anliegen zu Kontakten
Fachwissen, Erfahrung, Intuition
Risikokriterien
Zustandsveränderung
somatisch / psychisch → Verwirrtheit, Desorientierung, Krisen am Tag, Medikamentenneueinstellung
Instabiler Zustand
akutes Delir, akuter Entzugsverlauf, Sturzgefahr
Einschätzung Tagesdienst
Fürsorgerische Unterbringung vorhanden, geschlossener Status, kein Ausgang, noch kein Wochenende zu Hause geschlafen
Nächtlicher Grundpflegebedarf
Inkontinenz
Neueintritte
Erste Nacht im Arbeitsblock
Fluchtgefahr oder besondere Aufsichtspflicht
Potenzielle Selbst- und Fremdgefährdung
Brœset-Summenscore
Zurückweisung der Fix- oder Reservemedikation
Suizidalität, Isolation und Fixation → Anwendung der lups -Standards → Das Konzept „aktive Patientenkontakte in der Nacht“ kommt nicht zur Anwendung.
Schlafstörungen, unruhiger Schlaf / qualitativ tiefer Schlaf, keine Schlafstörungen
Reizüberflutung von der Umwelt
Bei diesen beiden Kriterien ist je nach Situation "mehr" oder "weniger" Kontakt angebracht. Es gilt situativ in Bezug des vorhandenen Kontexts zu beurteilen.
Definition „Aktive Patientenkontakte“
Unter aktivem Patientenkontakt ist das Aufsuchen der Patient/innen durch die diensthabende
Pflegende in Form von (a) akustischem (Atmung, Geräusch, Schnarchen etc.), (b) Sicht-
und/oder (c) Sprechkontakt zu verstehen. Zweck des aktiven Patientenkontakts ist die
Einschätzung des Zustands der Patient/innen.
Neue Regelung und Anwendung der Indikatorenliste
Zum Auftakt des Nachtdienstes sind die Patient/innen aufzusuchen. Gleichfalls am Ende des
Dienstes vor dem Übergaberapport. Zwischenzeitlich wird die Anzahl der aktiven
Patientenkontakte durch die systematische Einschätzung anhand individueller
Risikokriterien, Erfahrungswerten und unter Einbezug des Patientenwunsches durchgeführt
(Indikatorenliste). Die Risikoeinschätzungen werden im ersten Nachtdienst des
Arbeitsblocks, bei Neueintritten und Zustandsveränderungen durchgeführt und dokumentiert
(siehe Abb. 1).
Die Indikatorenliste ist nicht als Checkliste zu verwenden, sondern hat einen reflektierenden
Charakter und soll den Pflegenden als Unterstützung für die Einschätzung und
Dokumentation der klinischen Zustandsbilder der Patient/innen dienen. Weitere fachliche
Argumente, die von Pflegenden angewendet werden können, sind damit nicht
ausgeschlossen.
Evaluation des Projekts
Die Kernaussagen der Fokusgruppeninterviews können in vier Kategorien eingeteilt werden
(Abb. 2); Partizipation, Sicherheit, Wohlbefinden und Privatsphäre sowie Veränderungen aus
Sicht der Pflege. Die ersten zwei Kategorien entstanden aus Aussagen von Pflegenden und
Patient/innen. Die zweite Kategorie aus dem Interview mit den Patient/innen und die letzte
Kategorie aus dem Interview mit Pflegenden.
Grafik 2: Kategorien zum Erleben des Nachtdienstes (Durrer & Zemp, 2014).
Partizipation
Der Einbezug der Patient/innen in die Planung der pflegerischen Betreuung wurde in beiden
Interviews stark hervorgehoben. Patient/innen nehmen die Betreuung sehr unterschiedlich
und personenabhängig wahr,
„bei mir ist es sehr unterschiedlich, ein Pfleger hat gesagt, er kommt nicht mehr zu
mir schauen aber die anderen Nachtwächter sagen jeweils sie kommen ab und zu, zu
mir schauen, es ist so wie individuell (…)‟
jedoch fühlen sie sich allgemein ernst genommen und betrachten den Nachtdienst als
aufmerksam.
„Absprechen wenn nötig (…) sie schauen sehr gut, wenn ich dann [ins Bett] gehe,
kommen sie dann halt mehr, sie sprechen das schon immer situativ ab (…)‟.
Partizipation
Sicherheit
Wohlbefinden und Privatsphäre
Veränderungen aus Sicht der Pflege
Übergabe - Risikoeinschätzung - aktive Patientenkontakte - Übergabe
Dokumentation Dokumentation
Grafik 1: Neugestaltung des Nachtdienstes (Durrer & Zemp, 2014).
Pflegende fühlen sich freier in der Patientenbetreuung und die Legitimation, die Patient/innen
mit einbeziehen zu können, ist sehr wertvoll. So können beispielsweise individuelle
Abmachungen und Absprachen mit Patient/innen getroffen werden.
Dem obligatorischen Erstkontakt des Nachtdienstes wird ebenfalls beiderseits eine große
Bedeutung zugeschrieben. Zu Beginn waren Patient/innen teilweise erstaunt und überfordert
damit, dass der Nachtdienst nach ihren Präferenzen fragte.
„Am Anfang war ich ziemlich erstaunt gewesen, als sie die Frage gestellt haben, weil
man irgendwie annimmt oder auch vom Spital her, dass halt jemand kommt und das
anders, habe ich mir noch gar nicht überlegt, dass das eigentlich auch geht (…)‟.
Mit der Zeit jedoch vermittelt das aktive auf Patient/innen Zugehen mehrheitlich Sicherheit.
Es gibt Orientierung und die Patient/innen wissen, wer für sie da ist.
„Bei mir auch, also einfach das wissen dass regelmässig [kontaktiert wird], so wie
man es halt abgemacht hat, wenn etwas wäre oder so (…)‟.
„Einfach dass jemand da ist, dass man weiss dass wenn man Probleme hat, dass
man sich melden kann (…)‟.
Pflegende nutzen beim Erstkontakt sogleich die Gelegenheit, sich einen Eindruck zu
verschaff en und können darauf basierend die Betreuung planen. Sie fragen, wie viele
Kontakte gewünscht sind oder wie allgemein die Betreuung in der Nacht gestaltet werden
soll. Dabei kommt es vor, dass es unterschiedliche Ansichten gibt. In dem Fall gehen
Pflegende dem Wunsch der Patient/innen nach mehr Kontakten eher entgegen als dem
Wunsch nach weniger Ansprache. Obwohl Erstkontakt und Begrüssungs-Runde geschätzt
werden, gilt es anzumerken, dass es nicht von allen Patient/innen und Pflegenden als
elementar angesehen wird. Dies ist vor allem bei selbständigen Patient/innen, die sich selber
melden können der Fall.
„Bei mir ist es eine Ausnahme, zum Beispiel, bei mir muss sie sich auch nicht
vorstellen, weil ich weiss, dass immer irgendjemand da ist. Ich muss nicht wissen
wer. Ich weiss einfach, dass wenn ich etwas benötige, kann ich nach vorne gehen
und fragen (…)‟.
Es kommt vor, dass Patient/innen bereits schlafen, wenn der Nachtdienst mit dem Dienst
beginnt und deshalb auch keine Kontakte wahrgenommen wurden.
Sicherheit
Die Einführung des Konzepts zeigte, dass ein hohes Sicherheitsgefühl, sowohl für
Patient/innen, als auch für Pflegende entstanden ist. Was Pflegenden Sicherheit vermittelt,
ist der erste Patientenkontakt mit der anschliessenden Dokumentation, wie auch die
Selbstreflexion, die während dessen geschieht. Bei der Durchführung spielen Intuition und
Erfahrung eine zentrale Rolle.
Bei Patient/innen sind es das aktive Nachfragen, der Einbezug, das Anbieten von
Abmachungen und das Wissen, dass jemand da ist, was Sicherheit vermittelt.
„Dann kann man zwischen durch aufstehen, wenn es einem nicht gut ist und kann mit
der Pflegerin hinsitzen und diskutieren. Das finde ich noch ganz gut, dass sie sich
dann noch Zeit nimmt für einem (…)‟.
Bereits zu sehen, dass jemand da ist, kann ausreichen sowie die Frage an sich, ob sie sich
selber melden können. Die Betreuung wird je nach Zustandsbild der Patient/innen
angepasst. Diese flexible Vorgehensweise in der Handhabung des Konzepts gibt Sicherheit.
Wohlbefinden und Privatsphäre aus Sicht der Patient/innen
Allgemein wird der Privatsphäre grosse Beachtung geschenkt und individuelle Anliegen vom
Pflegepersonal respektiert, wie beispielsweise jene der Abend- oder Morgenrituale. Der
einflussreichste Faktor für Wohlbefinden und Privatsphäre der Patient/innen ist die
allgemeine Geräuschkulisse auf der Station. Als störend werden schnarchende
Zimmernachbarn, laut sprechende Pflegende auf dem Gang, Zimmertüren und weitere
Beispiele genannt.
„Wenn sie mit dem Zimmernachbar redet, muss das nicht so laut sein, dass ich es
auch höre und erwache (…)‟.
Zum Wohlbefinden tragen noch verschiedene weitere Faktoren bei. Eine ruhige
Stationsatmosphäre und eine angenehme Personendynamik, sowie
Schlafhygienemassnahmen können unterstützend wirken. Als wünschenswert wird
geäussert, dass vom Nachtdienst vielseitigere Massnahmen angeboten werden sollten, wie
beispielsweise Wickel, Aromatherapie und Kirschsteinkissen. Alternative Angebote wie Tee
und pflanzliche Arzneimittel wurden ebenfalls genannt.
„Es wäre schön, wenn man – gerade die Nachtwache arbeitet ja mit Ruhe und
Geborgenheit – dass man wie von ihnen das Angebot bekommt; es gibt noch
Sandsäcke oder wir haben noch Düfte (…) oder ein Wickel machen (…) einfach als
Möglichkeit mal sagen (…)‟.
Weitere Veränderungen aus Sicht der Pflegenden
Es wurde berichtet, dass Pflegende zum Teil Mühe mit der Anwendung der neuen Regelung
hatten. Ein erhöhter Aufwand durch die systematische Einschätzung und der Dokumentation
wurde während der Startphase erwähnt. Nach einer gewissen Zeit wurden zunehmend die
Vorteile als überwiegend angesehen und der Aufwand reduzierte sich durch die Übung.
Übergaberapporte gestalten sich nun effizienter mit direktem Bezug zu den Risikokriterien.
Es wird weniger ausschweifend, dafür gezielter rapportiert, Unwichtiges für die Nacht wird
weggelassen. Der Übergaberapport dient als Basis für die Einschätzung. Der erste
Patientenkontakt wird als wichtigster Faktor zur Einschätzung angesehen. Es wird schon
beim Rapport überlegt, wie viele Kontakte gemacht werden sollen und auch aktiv beim
Spätdienst nachgefragt, wie viele Kontakte sie empfehlen würden.
Ein weiterer positiver Effekt des neuen Konzepts ist die Definition der Kontaktformen. Das
Bewusstsein für die verschiedenen Kontaktformen bietet neue Möglichkeiten in der
Patientenbetreuung.
Von Pflegenden wird die Strukturänderung generell als sehr positive Entwicklung
wahrgenommen. Der Nachtdienst kann somit individueller und persönlicher durchgeführt
werden. Zudem ist es nun offiziell, da vorher teilweise bereits so gearbeitet wurde. Dadurch
hat sich die Kommunikation über den Nachtdienst am Tag verändert. Ein negativer Effekt der
erwähnt wurde, ist, dass die vorgegebene Struktur wegfällt und die Pflegenden sich selber
strukturieren müssen.
Diskussion
In der Erarbeitung des Vorliegenden Projekts konnten Patientenpräferenzen, Fachliteratur
und lokale Expertenmeinungen zusammengeführt werden. Daraus entstand ein
patientenorientiertes und auf Sicherheitsaspekte bezogenes Konzept. Dieses unterstützt
Pflegende, eigene, individuelle und fachliche Entscheidungen bezüglich der Betreuung der
Patient/innen während der Nacht zu treffen. Die eingangs definierten Zielsetzungen konnten
somit erfolgreich erreicht werden.
Die befragten Patient/innen fühlen sich einerseits bei der Festlegung der Anzahl Kontakte
während der Nacht stark einbezogen. Andererseits schenken die Pflegenden dem Einbezug
der Patient/innen viel mehr Aufmerksamkeit und sehen dieses Vorgehen als Bereicherung in
der pflegerischen Tätigkeit an. Der beschriebene Einbezug der Patient/innen ist ein Prinzip
der Millieutherapie (Abderhalden, 2011), in der die Partizipation das Ermöglichen von
Mitentscheidungen, Mitverantwortung und Autonomie der Patient/innen fördert. Diesen
Aspekt verfolgt ebenfalls die Recovery-Bewegung. Das Recovery Modell stellt u. a. die
Wichtigkeit heraus, dass die Patient/innen möglichst viel Kontrolle auf ihr eigenes Leben und
dem Krankheitsmanagement haben (Farkas, 2013). Der Einbezug wird von Patient/innen
unterschiedlich und auch personenabhängig wahrgenommen. Dies deutet daraufhin, dass
sich die neue Arbeitsweise der Pflegenden weiterhin etablieren muss. Stellt aber auch
gleichzeitig dar, dass individuelles, auf die Patientensituation abgestimmtes Handeln
umgesetzt wird. Das individuelle Vorgehen in der Nacht stärkt die Pateinten-Pflege-
Beziehung. Pflegende können somit situationsgerecht auf Patient/innen eingehen, um
Arbeitsbündnisse herzustellen.
Das Sicherheitserleben stellt ein Grundbedürfnis der Menschen dar und ist für eine
erfolgreiche therapeutische Beziehung grundlegend (Schalast, Redies, Collins, Stacey &
Howells, 2008; Maslow, 1943). Sicherheit in der Nacht erlangen die befragten Pflegenden
durch den Erstkontakt mit den Patient/innen (Einbezug), dem anschließenden Reflektieren
der Patientensituation und der Möglichkeit nach eigener Kompetenz die Anzahl der Kontakte
festzulegen. Die Patient/innen fühlen sich durch die Gewissheit sicher, dass im Nachtdienst
jederzeit der Kontaktmodus durch die Pflegenden angepasst werden kann. Auch die
Absprachen, ob sich die Patient/innen selbstständig melden können, tragen dazu bei. Zudem
wird den Patient/innen dadurch die Möglichkeit geboten Selbstverantwortung zu
übernehmen. Die Ängste der Patient/innen nehmen ab, wenn starre Regeln vermehrt in den
therapeutischen Kontext gestellt werden (Lang, 2012). In der Nacht sind die Möglichkeiten
zur Beziehungsgestaltung im Vergleich zum Tagesdienst beschränkt. Durch den Erstkontakt
haben Pflegende wie auch Patient/innen die Gelegenheit sich näher kennenzulernen. Dieses
Vorgehen ermöglicht eine Art von Beziehungsaufbau. Das dadurch geschaffene Vertrauen
kann sich positiv auswirken, wenn es darum geht, dass sich Patient/innen bei Anliegen oder
Problemen getrauen zu melden und auf die Pflegenden zuzugehen.
Die Verletzung der Privatsphäre in der Pflege ist nach wie vor unumgänglich (Bauer, 1996).
Häufig aber geschehen sie aus bloßer Gedankenlosigkeit was zu unnötigem Stress führt und
den Genesungserfolg beeinträchtigt. Das vorliegende Projekt zeigt auf, dass vor allem der
Lärmpegel personen- und stationsbedingt, zu minimieren ist.
Grenzen des Projekts
Im Rahmen des Praxisprojekts und der Gegebenheiten der Institution wurden
wissenschaftliche Methoden lediglich ansatzweise durchgeführt. Dies zeigt sich an der
verhältnismäßig kleinen Zahl der Teilnehmenden in den Interviews der Ist-Analyse. Auch
bestand in der Evaluation kein Anspruch auf eine Datensättigung. Um die Ergebnisse weiter
zu bestätigen, sollte erneut eine Patienten- sowie Personalbefragung zu einem späteren
Zeitpunkt erfolgen. Bei der Patientenauswahl für die Interviews wurde der Fokus auf die
Zustandsstabilität gelegt, was das Erleben von Patient/innen in akuten Krankheitsphasen
ausschliesst.
Schlussfolgerung
Die Umsetzung des Projekts ist überwiegend positiv ausgefallen. Allem voran ist der
Einbezug der Patient/innen in die Entscheidungsfindung über die Festlegung des
Kontaktmodus zu nennen. Durch die neue Vorgehensweise steht den Pflegenden in ihrem
Handeln mehr Eigenständigkeit und fachliche Kompetenz zu. Negative Aspekte des Projekts
sind lediglich auf individuelle Situationen bezogen und nicht auf die Grundsätze des
Konzepts zurück zu führen.
Es gibt keine Evidenz für den Nutzen zeitgebundener Kontrollgänge in der Nacht. Alle
Ergebnisse aus Analyse, Entwicklung, Implementierung und Evaluation weisen einheitlich
darauf hin, dass Regelungen wie jene des Zwei- Stunden-Kontrollgangs, die Erwartungen
die an sie gestellt werden nicht erfüllen. Die Evaluation zeigt, dass ein individuelles,
patientenorientiertes und sicherheitsorientiertes Konzept diese Erwartungen besser erfüllen
kann.
Literatur
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Baer, N., Schuler, D., Fuglister-Dousse, S. & Moreau-Gruet, F. (2013). Depressionen in der Schweiz – Daten zur Epidemiologie, Behandlung und sozial-beruflichen Integration (Obsan Bericht 56). Neuchatel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
Bauer, I. (1996). Die Privatsphäre der Patienten. Bern: Huber.
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Stewart, D., & Bowers, L. (2012). Under the gaze of staff: special observation as surveillance. Perspectives in psychiatric care, 48(1), 2–9.
Eigenständigkeitserklärung
Name, Vorname Michael Durrer
Dominic Zemp
Hiermit erklären wir, dass wir die vorliegende Arbeit bzw. Leistung eigenständig, ohne
fremde Hilfe und nur unter Verwendung der angegebenen Hilfsmittel angefertigt haben. Alle
sinngemäß und wörtlich übernommenen Textstellen aus der Literatur bzw. dem Internet
haben wir als solche kenntlich gemacht.
St. Urban, den 20.12.2017
Unterschrift Michael Durrer & Dominic Zemp