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Peter Strasser Idioten des Absoluten

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Peter StrasserIdioten des Absoluten

Peter Strasser

Idioten des Absoluten

Über das Weltfremde in uns

Wilhelm Fink

Umschlagabbildung:Felix Esterl, Stillleben mit Totenkopf und Pfingstrosen (ca. 1928)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich

zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenHerstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6259-6

Thomas Macho, dem Freund, zugeeignet

Wir sind am Grund einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist.E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung, 1969, dt. 1979

***

„It’s just an ordinary diary then, Father? It isn’t about your spiritual life?“„This is the spiritual life; the ordinary things one does from hour to hour.“

P. D. James: The Black Tower, 1975

Inhalt

PROLOG

Wir Idioten des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. WELTFREMDE NÄHE ZUR WELT

Anmerkungen zu einem Existenzradikal (Idiotenbücher / Lasst die Kinder zu mir kommen! / Es wird alles gut) . . . . . . . . . 15

II. IDIOTEN DES ABSOLUTEN

Eine metaphysische Revue (Alles fließt, nichts fließt / Tempora mutantur / Egge und Mistkäfer / Das aufgespießte Sein) . . . . . . 33

III. AUGENAUFSCHLAG BEI OFFENEN AUGEN

Der Augenblick der Philosophie (Le Christ ne compris pas / Geborgenheit im Schlechten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

IV. DER HIMMEL DES IDIOTEN

Lehrfabel über das Diesseits im Jenseits (Welt, gute Nacht? / Die Liebe von Oben / Mein Omen / Die Demiurgen / Die Großen Götter / Hortus Conclusus / Eine Zeit in der Hölle) . . . . . . . . . . . 83

V. MEIN JENSEITS IM DIESSEITS

Epilog beim Orchideengärtlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Prolog Wir Idioten des Absoluten

Heute weniger denn je wissen wir, was die Welt ihrem Wesen nach ist. Die wissenschaftliche Theorie fasst zunehmend ins Leere, ob es sich um dunkle Energie oder Materie, um das Quantenvakuum oder die Multiversen handelt, deren Ursprung im Urknall gelegen haben soll. Auch der „Weg nach draußen“, hinaus aus der Wunderkammer unseres Gehirns, endet bei der Erkenntnis (falls es denn eine ist), dass uns die zerebrale Chemie bloß vorspiegelt, es gäbe einen Weg – hin zur Wirklichkeit, zur Wahrheit, zur Welt an und für sich.

Es scheint, als ob unser sicherster Rückhalt dasjenige wäre, was uns unmittelbar vor die Sinne tritt, die Phänomene, vom gestirnten Himmel abwärts bis hin zum Erdfloh. Künden nicht gerade diese Phänomene, im Wechsel der Bilder, Farben und Gestalten, von ei-nem zeitlosen Reich hinter allem Wandelwerk, auf das sich, in gro-ßem Bogen, noch die schwindelerregendste wissenschaftliche Spe-kulation stützt? Sind es nicht die Phänomene, die uns endlichen Geschöpfen Kunde geben  – Kunde von einem Absoluten, „Göttli-chen“, hinter allem Begriffswerk der bemühten Vernunft?

Heute mehr denn je scheinen wir auf eine Urdialektik verwiesen, die unsere Stellung im Ganzen markiert. Während die Wissenschaft, als die höchste Denkleistung, deren wir fähig sind, uns der Welt im-mer weiter entfremdet und uns selbst noch als Fremde vor uns führt, die nichts mehr von dem an sich haben, was wir einst als menschlich und mitmenschlich erkannten – während all dieses Entfremdungs-werk voranschreitet, nähert sich uns der Mythos, in den Erscheinun-gen bei Tag und bei Nacht, ohne Pomp und Gewalt: Allerleimythos.

Die Dinge, die unseren Alltag füllen, ihn grau und leuchtend ma-chen, uns dabei bedrängen und erfreuen – sie erst formen unsere

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Wirklichkeit, ohne die Phänomene in abstrakter Begrifflichkeit auf-zulösen, zu „dekonstruieren“. Freilich, durch die Phänomene scheint gleichsam etwas hindurch, was auf einen Grund und Abgrund ver-weist, aus dem uns traumhafte Ahnungen eines Letzten, einer bo-denlosen Tiefe erwachsen. Darüber lässt sich philosophierend nur handeln, indem wir uns einer Metaphorik des Ersten und Letzten und letztlich des Bodenlosen bedienen. Und eben darin liegt die permanente Wiederkehr des Mythos, seine Präsenz, ob bedacht oder unbedacht, im Kaleidoskop unserer Lebensräume.

Denn das Absolute ist das Bodenlose jenseits aller Begriffe, mit denen wir im Endlichen, Bedingten wurzeln. In den Phänomenen zeigt es sich als die Fülle der Welt, die uns gerade dadurch beheima-tet, dass sie uns nicht nur von hier sein lässt. Erst das Weltfremde in uns ermöglicht uns Beheimatung in der Welt. Die Wissenschaft hinge-gen baut an einer Leere, in der wir verschwinden, sobald das sub-jektlose Draußen ontologisch herrscht.

Auf diese und auf jene Weise – und dabei unauflösbar ineinander verschränkt – erfahren wir unsere Lage im „Kosmos“. Dessen Schau geleitete bereits die Antiken zum Sein und zum Nichts: zum geist-erfüllten Ursprung jenseits des Sagbaren. Und es führte sie, nicht weniger traumwandlerisch und zwingend, zurück zur Welt der Phä-nomene, zum Hortus Conclusus unserer Sinne, dem eingehegten Garten der einfachen Dinge, der uns vor dem Blendwerk der Großen Theorie, gar der Weltformel, schützt.

Wir sind Phänomene unter Phänomenen, aber wissend, dass wir nichts wissen im andrängenden Rund unserer Ahnungen: Im An-fang war das unentzifferbare Wort, und das Wort wächst in uns. Es treibt aus. Die Bäume des Lebens und der verbotenen Frucht setzen Epochenringe an. Jede Epoche formuliert unsere Sehnsucht neu: Weltfremd auf Erden, sind wir hier dennoch zuhause und sehnen uns dabei nach dem Garten Eden, von dem uns nur noch der Ab-grund blieb, der unsere Seelen lockt. Abyssus abyssum invocat.

Seither, vom Beginn unseres Menschseins an, fühlen wir die Tiefe unseres Lebendigseins. Indem wir uns danach sehnen, hinter den Spiegel der Phänomene zu blicken – „von Angesicht zu Angesicht“ (facie ad faciem) –, lässt uns das Weltfremde in uns welteinverstän-dig werden. Im Nichtbegreifen begreifen wir. Wir begreifen den Sinn unseres Nichtbegreifens. Wir begreifen, dass es keinen begreifbaren Sinn gibt, nur die Sehnsucht danach: Paradieses-Sehnsucht.

PROLOG 13

Wir sind, als Sinnende, Idioten des Absoluten  – begriffsstutzig und weltfremd –, und so erst wird uns die Welt, das metaphysische Exil, zur sterblichen Heimat.

I. Weltfremde Nähe zur Welt

Anmerkungen zu einem Existenzradikal

Idiotenbücher

Es gibt ein literarisches Genre, bestehend aus Schriften, die selten ohne philosophischen Ehrgeiz geschrieben wurden. Ich nenne die Produkte dieser Anstrengung Idiotenbücher.

Das entspricht nicht der Etymologie des Idiotenbegriffs, der ur-sprünglich, in klassischer Tradition, als idiotes, den Mann ohne Äm-ter, den einfachen Bürger meint. Doch langlebige Begriffe haben ihr eigenes Leben. Und es ist gewiss eine Ironie, die politisch nicht be-deutungslos scheint, wenn „Idiot“ heute, wegen des abwertenden Klanges, zu jenen Wörtern gehört, die unter dem Vorzeichen der Po-litical Correctness auf Menschen, die Idioten im gewöhnlichen Sin-ne sind, nicht angewendet werden sollten.

Die Idioten der Idiotenbücher sind indessen keine gewöhnlichen Idioten. Sie sind nicht einfach mentally challenged. Den wohl be-kanntesten Beleg liefert Der Idiot von Dostojewskij. Und neuerdings hat Botho Strauß das Genre durch seine literarische Reflexionen-sammlung Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit (München 2013) bereichert. Haben diese ganz unterschiedlichen Werke etwas ge-meinsam? Die Frage ist, glaube ich, zu bejahen. Der Idiot der Idio-tenbücher – man könnte alle Romane von Walker Percy daraufhin analysieren – ist zwar nervlich oder psychisch krank, zumindest la-bil; aber sein Leiden verdankt sich nicht bloß seiner persönlichen Pathologie, sondern mindestens gleichgewichtig dem Zustand der Welt.

Ja, das Leiden des Idioten im hier gemeinten Sinne ist eine exis-tenzielle und metaphysische Spiegelung seiner Einstellung zur Welt, die, als brutum factum, als die Realität des Realisten genommen, in-tolerabel und unerträglich wäre. „Wie sind am Grund einer Hölle“, schreibt E. M. Cioran am Schluss seiner Verfehlten Schöpfung – und er fügt hinzu: „… einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist“. Diese letzte Einsicht ist es denn auch, welche aus dem welttüch-tigen Misanthropen einen Idioten macht, der weise ist.

Daraus resultiert außerdem die Weltfremdheit des Idioten, der weder dumm noch dement ist. Im Gegenteil: Es ist die Entfremdung

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zur Welt, so wie sie faktisch betrachtet zu sein scheint, die aus dem Idioten eine seltsam hybride Figur macht. Diese leidet besonders darunter, dass die Welt eine Hölle voller Wunder ist; doch in dieses Leiden mischt sich eine spezifische Empfänglichkeit für die Tiefe der Erscheinungen: dafür, dass sie, als die einzigartigen sinnlichen Phänomene, die sie sind  – ob als Gänseblümchen oder gestirnter Himmel, ob als dahinschmelzende Schneeflocke oder feuerspeien-der Vulkan –, von etwas jenseits der Hölle aus lauter Kontingenzen künden, einem Absolutum oder, wenn wir die Sprache der Wunder bevorzugen, Göttlichen.

Es ist, als ob im Sein der Dinge, jenseits aller Daseinssorge, das stille Versprechen einer Transzendenz läge, von der aus gesehen die Welt unter einer befriedeten Perspektive erscheint: Es ist, wie es ist, und es ist gut. Auf solch eigentümliche Weise verknüpft die Gestalt des Idioten, welche uns in den Idiotenbüchern nahegebracht wird, die Weltfremdheit mit der Evidenz, der zufolge die gewöhnlichen Dinge die spirituellen sind. Ich habe diese eigentümliche, irreduzib-le Anschauungsevidenz als „intime Transzendenz“ charakterisiert und mich damit selbst auf die Seite des Idioten gestellt, ja mehr noch, mich selbst als Idiot – nämlich: als Idiot des Absoluten – kennt-lich zu machen bemüht.

Mein eigenes Idiotenbuch handelt von Einsichten ohne genorm-tes Vokabular, von sprachlosen Ahnungen und begriffslosen Phanta-sien, die einzig dem Idioten des Absoluten, der durchaus im Heili-gen Narren seinen Ursprung haben mag, vorbehalten sind. Doch jener meist zungenfertige Narr war dem Mythos verpflichtet, seine Ekstase entstammte einer Lustqual, der alles Natürliche, besonders das Menschliche übel roch. Er scherte sich gleichsam einen Teufel um die zarten Wesen, die er, mit verdrehten Augäpfeln hüpfend, sich auf dem Boden windend und der Glossolalie hingegeben, unter sei-nen Füßen zermalmte.

Inzwischen haben epochale Umwälzungen unsere Sensibilität für das, was man heute „Transzendenz“ nennt, verändert. Die Götter ha-ben sich von der Welt zurückgezogen, und das Göttliche, einst aus archetypischen Träumen geboren, ist zu einer blassen begrifflichen Abstraktion geworden. Auf diese Weise wurde endlich offenbar, dass die Welt nicht unsere metaphysische Urheimat ist, während doch das Metaphysische – jenseits des Einbruchs göttlicher Gewalten – sich als die Poesie der Welt realisiert. Sie liegt als Ewigkeitsglanz über

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den Dingen, wohnt ihnen inne, ist der geistige Ursprung ihrer Le-bendigkeit, und zwar der schönen wie der hässlichen, der schreckli-chen nicht weniger als der friedfertigen Dinge.

Es liegt (zum grundsätzlichen Unterschied von Peter Sloterdijks Abhandlung über Weltfremdheit aus dem Jahre 1993) in der Natur der Episoden und Reflexionen meines Idiotenbuchs, dass sie nach keiner philosophischen Systematik des schlechthin Antisystemati-schen – der „Idiotennatur“ des Absoluten – streben. Das wäre, man verzeihe das Wortspiel, schlicht idiotisch. Stattdessen soll die innere Wahrheit der weltfremden Nähe zur Welt schlaglichtartig erhellt wer-den. Dazu dienen dem Autor typische Gegenbilder und eingeübte Klischees, vom Stillstehenden Pfeil bis zur Himmelsreise, aber auch höchstpersönliche Erlebnisse, denen er, zwischen erster Person („ich“) und quasi dritter Person („der Berichterstatter in mir“) pen-delnd, mehr zumutet als eine bloß literarische oder gar biographi-sche Signifikanz. Es handelt sich um die Zumutung einer allgemei-nen Tiefenbedeutung, die sich im zuinnerst Singulären der Seele erfüllt.

***

Wollte mich jemand fragen, worin das eigentümlich Menschliche des Homo Sapiens zu suchen sei, sein geistiger Lebensnerv und sei-ne metaphysische Potenz, dann würde ich antworten: darin, dass er begabt ist, sich die Welt anzuverwandeln – aber eben nur als Idiot des Absoluten. Ihm und bloß ihm ist die Welt, Austragungsort des ewigen Kampfes ums Überleben und Wohlleben, zuinnerst ein Platz mit Horizont: dem nahen und doch unerreichbaren Horizont der Beheimatung.