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KAPITEL III Platonische politische Prinzipien und praktische Politik in den syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 1. Die Untersuchung bis zu diesem Punkte hat vollauf bestätigt, was schon H. Berve teils mit ähnlichen, teils mit etwas anderen Argumenten bewiesen hatte: daß Dion wirklich nicht danach strebte, sich als Tyrann an die Stelle Dionys' II. zu setzen, wie dieser bis zuletzt geargwöhnt hatte, sondern es ihm ehrlich darum gegangen war, bessere politische Zustände im Sinne Piatons herbeizuführen. Aber was heißt das in concreto? Weder aus Plutarch noch aus Diodor noch aus Cornelius Nepos noch aus irgendeinem anderen antiken Historiker ist etwas Genaueres, was zur Beantwortung dieser Frage dienen könnte, zu entnehmen. Man hat gemeint, einen Ansatz zu ihrer Beantwortung aus dem achten der unter Piatons Namen über- lieferten Briefe gewinnen zu können, da in diesem der Vorschlag gemacht wird 177 , 1. den Sohn des ermordeten Dion, 2. Hipparinos, den Halbbruder Dionys' II., Sohn Dionys' I. und von Dions Schwes- ter Aristomache, sowie endlich 3. Dionys II. selbst in Syrakus als Könige mit sehr stark eingeschränkten Rechten einzusetzen. Man brauche nur Dion selbst an die Stelle seines Sohnes zu setzen, um die Grundzüge des Verfassungsplanes Dions in Händen zu haben. Piaton, Epist. VIII, 355 d ff. Brought to you by | provisional account Unauthenticated Download Date | 10/26/14 10:05 AM

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KAPITEL III

Platonische politische Prinzipien und praktische Politik in den syrakusanischen Wirren

bis zum Tode Dions

1.

Die Untersuchung bis zu diesem Punkte hat vollauf bestätigt, was schon H. Berve teils mit ähnlichen, teils mit etwas anderen Argumenten bewiesen hatte: daß Dion wirklich nicht danach strebte, sich als Tyrann an die Stelle Dionys' II . zu setzen, wie dieser bis zuletzt geargwöhnt hatte, sondern es ihm ehrlich darum gegangen war, bessere politische Zustände im Sinne Piatons herbeizuführen. Aber was heißt das in concreto? Weder aus Plutarch noch aus Diodor noch aus Cornelius Nepos noch aus irgendeinem anderen antiken Historiker ist etwas Genaueres, was zur Beantwortung dieser Frage dienen könnte, zu entnehmen. Man hat gemeint, einen Ansatz zu ihrer Beantwortung aus dem achten der unter Piatons Namen über-lieferten Briefe gewinnen zu können, da in diesem der Vorschlag gemacht wird177, 1. den Sohn des ermordeten Dion, 2. Hipparinos, den Halbbruder Dionys' II., Sohn Dionys' I. und von Dions Schwes-ter Aristomache, sowie endlich 3. Dionys II. selbst in Syrakus als Könige mit sehr stark eingeschränkten Rechten einzusetzen. Man brauche nur Dion selbst an die Stelle seines Sohnes zu setzen, um die Grundzüge des Verfassungsplanes Dions in Händen zu haben.

Piaton, Epist. VIII, 355 d ff.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions Ю9

Diese ohne direkte Überlieferungsbasis erschlossene Rekonstruk-tion erscheint jedoch aus mancherlei zwingenden Gründen unmöglich. Die ganze Geschichte der Ereignisse von der Einnahme der Stadt Syrakus durch Dion bis zu seiner Ermordung zeigt, daß derjenige Faktor, der Dion die größten Schwierigkeiten bereitete, in dem unüberwindlichen und von Herakleides immer von neuem geschürten Mißtrauen des Volkes bestand, Dion könne sich selbst der Tyrannis bemächtigen oder mit Dionys II. zu einem Kompromiß gelangen, die Tyrannis mit ihm zu teilen. Unter diesen Umständen hätte Dion, wenn er sich selbst politisch die Kehle abschneiden wollte, nichts Wirksameres tun können als, sei es direkt, sei es durch Vermittlung seiner Werkzeuge in dem von ihm berufenen Synhedrion, Dionys II. zusammen mit sich selbst zu Königen vorzuschlagen. Das hat auch Berve offenbar gesehen178, wenn er die Möglichkeit, Dion hätte damals die Absicht haben können, Dionys II. neben sich selbst zum König zu machen, gar nicht erwähnt, sondern sich stattdessen über-legt, wer etwa sonst in dem ursprünglichen Plan neben Dion und Dionys' II. Halbbruder Hipparinos die dritte Stelle in dem dreifachen Königtum hätte einnehmen können, und dabei auf Dionys' II. Sohn Apollokrates verfällt. Dabei ist jedoch übersehen, daß Apollokra-tes, der längere Zeit die Festung Ortygia gegen Dion für seinen Vater Dionys II. verteidigt hatte, den Syrakusanern kaum willkomme-ner oder weniger verdächtig sein konnte als Dionys II. selbst (mit Hipparinos, dem Sohn Dionys' I., der immer liberale Tendenzen gehabt hatte, war es etwas anderes) und daß damit der einzige Faktor, der etwa für einen Vorschlag dieser Art überhaupt sprechen könnte - daß Dion, in den Anfängen der Unterhandlungen, dem Volk geraten hatte, Dionys II. gewisse Ehrenprivilegien ohne poli-tische Macht zu lassen - in Wegfall kommt.

Nach der Vertreibung der Mörder Dions aus Syrakus und dem Sieg der Dioneer in der Stadt, die damals zugleich wieder von einem Heere des jüngeren Dionys bedroht wurde, in einer Situation also, in der ein großer Teil der Bevölkerung von Syrakus der unaufhör-

178 H. Berve, Dion, S. 851.

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110 Piaton in Sizilien

liehen Unruhen, Kämpfe und Bedrohungen müde geworden sein mußte, konnte ein Vorschlag wie der im 8.platonischen Brief ge-machte allenfalls gemacht werden. In der völlig anderen Situation vor der Ermordung Dions war an einen analogen Vorschlag mit Dionys I I . oder Apollokrates als einem der Könige gar nicht zu denken. Wenn auch, wie sich gezeigt hat, Dion nicht immer eine besondere Begabung in politischer Psychologie bewiesen hat, so gibt die Überlieferung doch keinerlei Anlaß für die Annahme, daß er sich einen solchen Akt des politischen Wahnsinns hätte zu Schulden kom-men lassen. Im übrigen gibt es für die Tatsache, daß wir aus der an-tiken Literatur nichts Konkretes über die Einzelheiten der von Dion geplanten Verfassung erfahren, einen sehr einsichtigen Grund: den nämlich, daß Dion, wenn er auch seine eigenen Vorstellungen davon hatte, wie sie aussehen sollte, und diese zur Geltung zu bringen suchte, doch auf die aus den Diskussionen des von ihm berufenen Synhedrions hervorgehenden Vorschläge Rücksicht nehmen mußte und dieses wiederum nicht ohne Berücksichtigung der Stimmung im syrakusanischen Volke arbeiten konnte; sowie daß das Synhedrion vor dem Tode Dions und erst recht natürlich in den auf diesen folgenden Wirren nicht mehr dazu gekommen ist, seine Vorschläge fertig auszuarbeiten und der Öffentlichkeit vorzulegen. Mit anderen Worten: es gab die Verfassungsvorschläge nicht, die die antiken Historiker der Nachwelt hätten überliefern können.

So viel, scheint mir, kann mit Sicherheit gesagt werden und wird im Grunde auch durch den achten der unter Piatons Namen überlieferten Briefe, ob er nun wirklich Piaton zum Verfasser hat oder nicht, bestätigt. Der Brief ist wie der siebente an Dions An-hänger gerichtet, setzt jedoch, wie schon gesagt, eine ganz andere politische und militärische Situation voraus wie dieser. In der zweiten Hälfte dieses Briefes läßt der Verfasser Dion sozusagen aus dem Grabe heraus nicht nur an die Adressaten des Briefes, sondern an die Syrakusaner allgemein, einschließlich der verbannten Anhänger Dionys' I I . und des geflohenen Tyrannen selbst, Ermahnungen richten, in denen er ihnen auseinandersetzt, auf welche Weise sie die zerstörerischen Wirren, unter denen sie jetzt alle leiden, beenden,

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 111

zu einer glücklichen und gefestigten politischen Ordnung gelangen und das Griechentum des Westens vor der Bedrohung durch die „Barbaren", d.h. vor allem die karthagische Macht, bewahren können.

In dem ersten Abschnitt dieser Ermahnungen17' fordert der tote Dion die Syrakusaner auf, Geld und Reichtum nicht zu überschätzen und eine Verfassung anzunehmen, die einer solchen Überschätzung keinen Vorschub leiste. Durch die Überschätzung des Reichtums und der dolce vita seien sie in der Vergangenheit in die größte Gefahr gekommen, unter das Joch der Barbaren zu geraten. Aus dieser Ge-fahr sei die Tyrannis entstanden, die aber auch die Gefahr von außen abgewendet habe. Daraus könnten die Nachkommen und Familien derjenigen, denen dies Verdienst zukomme, d.h. die des Tyrannen Dionys I. sowie des Hipparinos, des Vaters Dions, der dabei in hohem Maße mitgeholfen habe, gewisse, nicht ganz unberechtigte Ansprüche herleiten. Denn wenn die Gefahr von außen damals nicht abgewendet worden wäre, dann gäbe es jetzt keine Gelegenheit, über eine freiheitliche Verfassung zu beraten. Daher sollten diejeni-gen, die die Herrschaft der Tyrannen unerträglich gefunden hätten, und diejenigen, die wegen der genannten Verdienste einen Anspruch auf Wiederherstellung ihrer Herrschaft zu haben glaubten, zum all-gemeinen und gemeinsamen Wohle ein Kompromiß miteinander schließen, bzw. einander auf halbem Wege entgegenkommen, indem die einen einer die Freiheit garantierenden Verfassung mit monar-chischer Spitze, die anderen einem konstitutionellen, d.h. durch Gesetze eingeschränkten, Königtum ihre Zustimmung gäben. Ver-wirklicht werden könne dies Kompromiß am besten durch das drei-geteilte Königtum des Dionys II., seines - wie anderweitig über-liefert, liberalen - Halbbruders Hipparinos und des Sohnes Dions, wenn die beiden erstgenannten zu einem solchen Kompromiß überre-det werden könnten. Das Kompromiß solle durch bevollmächtigte Vermittler zustandegebracht werden, die von beiden Parteien, sei es aus syrakusanischen Bürgern, sei es aus Bürgern anderer Städte, aus-gewählt werden sollten. Diese sollten auch die übrigen Grundzüge der künftigen Verfassung ausarbeiten und vorlegen.

" · Platon, Epist. VIII , 355 a/b ff.

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112 Piaton in Sizilien

Darauf folgen nähere Ausführungen über die durch das Kom-promiß herzustellende Teilung der Gewalten. Diese Bestimmungen gehen nicht sehr ins Detail, sind aber vor allem auch im einzelnen voll von Unklarheiten. Das Wichtigste und Hervorstechendste daran ist die außerordentlich starke Einschränkung der Befugnisse der Könige. Obwohl im ersten Teile des Briefes, in dem der Verfasser im eigenen Namen spricht, das spartanische Königtum und die Einschränkung seiner Macht durch die lykurgische Verfassung als vorbildlich erwähnt werden180, ist die Einschränkung der Macht der für Syrakus und Sizilien vorgesehenen Könige sehr viel größer als es diejenige der Macht der spartanischen Könige je gewesen ist. Sie sollen nur religiöse Funktionen haben und diejenigen Ehren ge-nießen, die Wohltätern (εύεργέτοα) des Staates zukommen. Von der Strafgerichtsbarkeit, vor allem in all den Fällen, in denen Tod, Ver-bannung und Freiheitsentzug als Strafen verhängt werden können, werden sie ausdrücklich ausgeschlossen mit der Begründung, daß sie als Priester ihre Hände nicht mit derlei Dingen beflecken sol-len181.

Die wichtigste Funktion im Staate ist einem Gremium von 35 Gesetzeshütern (νομοφύλακες) zugedacht. Doch sind die Bestim-mungen über sie eigentümlich unklar und unbestimmt182. Sie sollen πολέμου και ειρήνης άρχοντες sein μετά τε δήμου καΐ βουλής. Aber es ist nicht klar, ob dies heißt, sie sollten die Führung der Staats-geschäfte im Krieg und im Frieden haben, oder sie sollten die Ent-scheidung über Krieg und Frieden haben. Nimmt man das μετά τε δήμου καΐ βουλής als Forderung des Zusammenwirkens der drei Fak-toren, so muß es sich ja wohl um die Entscheidung über Krieg und Frieden handeln, da nicht recht zu sehen ist, wie Volk und Rat bei der Kriegsführung mitwirken sollten, es sei denn durch Weisungen an die Generale, wie es in Athen üblich war, womit aber wiederum die den νομοφύλακες zugedachte Führung im Staate ganz außer-ordentlich eingeschränkt gewesen wäre. Versteht man dagegen den 1 8 0 Piaton, Epist . V I I I , 354 b f f . 1 8 1 Ibid. 356 e/357 a. 1 8 2 Ib id . : πολέμου 8έ καΐ ειρήνης άρχοντας νομοφύλακας ποιήσααθαι αριθμόν

τριάκοντα καΐ πέντε μετά τε δήμου καΐ βουλής.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions И З

Ausdruck im ersteren Sinne, so müßten sich die Worte μετά τε δήμου καΐ βουλής wohl auf Auswahl und Einsetzung der νομοφύλακες beziehen. Das wäre eine sehr wichtige Bestimmung. Aber dann fehlen wieder nähere Angaben über den modus, nach dem dies geschehen soll.

Noch unklarer ist das, was folgt183. Als zweite wichtige Funktion des Gremiums der 35 νομοφύλακες erscheint die Gerichtsbarkeit in Fällen, in denen auf Tod oder Verbannung erkannt werden kann. Doch sollen außerdem (πρός τούτοις) aus den Magistraten (άρχοντες) des vorhergehenden Jahres je einer, d.h. der beste aus jeder Magistra-tur, zusätzlich als Richter für solche Fälle gewählt werden, wobei wiederum völlig unklar bleibt, ob die άρχοντες oder Magistrate mit den Nomophylakes identisch sind und auf welche Weise diese, wenn es der Fall ist, die Magistraturen - da ja von mehreren ver-schiedenen Magistraturen die Rede ist - unter sich verteilen sollen. Alles, was man bei so vielen Unklarheiten darüber sagen kann, ist, daß es sich um eine Verfassung handelt, die mit der von Piaton im dritten Buch der „Gesetze" geschilderten184 gemischten Verfassung der Spartaner und ihrem „system of checks and balances" eine ge-wisse Ähnlichkeit hat, nur daß an Stelle der zwei Könige der Spar-taner drei Könige eingesetzt werden sollen und das monarchische Element in seinen Machtbefugnissen sehr viel stärker eingeschränkt ist, das oligarchische Element in der Einrichtung der Nomophylakes sehr viel stärker hervortritt, die Funktion des ebenfalls vorhandenen demokratischen Elements, da es nur in den völlig unpräzisen Worten μετά τε δήμου και βουλής auftritt, völlig unklar bleibt.

Obwohl die Echtheit des achten Briefes meistens zusammen mit der des siebenten Briefes entweder angenommen oder bestritten wird, besteht in dieser Hinsicht zwischen den beiden Briefen doch ein sehr großer Unterschied. Das Kriterium, daß der Brief Dinge

183 Ер . VIII, 357a:δικαστήρια δέ άλλα μέν Λλλων, θανάτου δέ καΐ φυγής τους τε πέντε καΐ τριάκοντα ύπαρχε ι V πρ6ς δέ τούτοις τε έκλεκτοϋς γίγνεσθαι δικαστάς έκ τδν νδν del περυαινδν αρχόντων , Ινα άφ'Ικάατης τϊ]ς άρχ^ς τόν δριστον ϊόξαντ'είναι καΐ δικαιότατον' τούτους δέ τόν έπιόντα ένιαυτόν δικάζειν δσα θανάτου καΐ δεσμοδ καΐ μεταστάσεως τδν πολιτών.

184 Platon, Leges I I I , 691 d ff .

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114 Piaton in Süilien

erklärt, die unabhängig von ihm historisch feststehen, ohne ihn jedoch unerklärt bleiben würden, ist hier nicht anwendbar. Der Optimismus des Briefes sticht allzusehr ab von der Skepsis und dem Zögern in der Erteilung konkreter Ratschläge, die für den siebenten Brief charakteristisch sind. Das könnte man allenfalls aus der ver-änderten Situation erklären, obwohl es seltsam wäre, daß die Stim-mung des alten Piaton, der doch seine Erfahrungen gemacht hatte, auf Grund einer ganz temporären Besserung der Lage sich so ge-ändert haben sollte. Wenn der Verfasser des Briefes den toten Dion am Ende des Briefes sagen läßt, wenn sein Sohn Hipparinos und Hipparinos, der Sohn Dionys' I., übereinstimmten, würden auch die übrigen Syrakusaner, denen das Wohl der Stadt am Herzen liege, ihnen zustimmen, erscheint diese Zuversicht nach den Er-fahrungen, die Dion mit den Syrakusanern gemacht hatte, trotz der Einschränkung „denen das Wohl der Stadt am Herzen liegt" kaum begreiflich. Auch der Stil, obwohl er sich nicht allzusehr von dem des siebenten Briefes entfernt, hat eine leicht rhetorische Färbung, die Piatons echten Schriften einschließlich des siebenten Briefes fremd ist. Vor allem aber ist die Unklarheit, nicht in bezug auf schwierigste sachliche Probleme, wo sie durch die Schwierigkeit des Gegenstandes bedingt ist, sondern in bezug auf die konkretesten Dinge, wie sie in den Verfassungsvorschlägen des toten Dion zu be-obachten ist, ganz ohne Beispiel bei Piaton. Denn nicht darum handelt es sich ja, die Einzelheiten offen zu lassen, was in der ge-gebenen Situation sehr vernünftig wäre, und nur von den allgemein-sten Prinzipien zu reden: sondern es werden ziemlich detaillierte Vorschläge gemacht, von denen jedoch in mehrfacher Hinsicht völlig unklar ist, was sie heißen sollen.

Die Authentizität des achten Briefes unterliegt daher schweren Zweifeln von einer Art, wie sie für den siebenten Brief, der zudem durch positive Indizien als echt erwiesen wird, durchaus nicht gegeben ist. Immerhin steht der Inhalt des achten Briefes sowohl der Haltung, die Piaton nach dem Zeugnis des siebenten Briefes nach dem offenen Zerwürfnis zwischen Dion und Dionys II. eingenommen hat185, wie 185 Piaton, Epist. VI I 350 с ff.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions Ц 5

auch den von Piaton in den Gesetzen ausgesprochenen politischen Gedanken nahe genug, um sagen zu können, daß ähnliche Vorstel-lungen von einer möglichen Lösung des Konfliktes in Piaton nahe-stehenden Kreisen bestanden haben werden, daß der Brief daher vermutlich auf Reminiszenzen an Erörterungen, die in diesen Kreisen stattgefunden haben, beruht und daher, ob echt oder nicht, nicht ganz ohne Zeugniswert ist. Die Bemerkung des toten Dion im achten Brief180, er habe schon immer solche Pläne gehabt wie die jetzt von ihm aus dem Grab heraus vorgelegten, bestätigt dann auch, was vorher über das Nichtbestehen eines konkreten Verfassungsplanes Dions vor seinem Tode gesagt worden ist, da der oder die Verfasser des Briefes sonst kaum umhin gekonnt hätten, auf die durch die Verschiedenheit der Situation bedingten Verschiedenheiten der Pläne wenigstens etwas zu sprechen zu kommen.

An diesem Punkt lassen sich trotz der Unvollkommenheit der Zeugnisse doch einige vielleicht nicht ganz unwichtige vorläufige allgemeinere Schlüsse ziehen. Der siebente Brief, die Überlieferung bei den antiken Historikern und der achte Brief, soweit er als historisches Zeugnis betrachtet werden kann, zeigen übereinstim-mend, daß weder Dion noch Piaton daran gedacht haben, den Staat etwa von Piatons „Republik" oder auch die Verfassung der „Gesetze" ohne Rücksicht auf die besonderen historisch gegebenen Verhältnisse in Syrakus in die Wirklichkeit umzusetzen, sondern im Gegenteil bemüht gewesen sind, unter Berücksichtigung der bestehenden Machtverhältnisse eine durch das, was man im Altertum eine ge-mischte Verfassung genannt hat, garantierte haltbare gesetzliche Ordnung einzuführen. Wenn man dabei von Illusionen sprechen kann, so lagen sie nicht darin, daß Piaton oder Dion geglaubt hätten, eine abstrakt konstruierte Idealverfassung einführen zu können, sondern viel eher in dem Glauben der Verfasser des achten Briefes und derer, auf die die darin zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen und Vor-schläge zurückgehen, daß ein Kompromiß zwischen so verfeindeten und auseinanderstrebenden Kräften, wie er dort ins Auge gefaßt wird, in irgendeiner Weise Bestand haben könnte. Wichtig ist auch 1M Piaton, Epist. VIII, 357 a.

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116 Piaton in Sizilien

der erste Abschnitt der Rede des toten Dion im achten Brief187, sofern er einen Zeugniswert für unter den Anhängern Dions nach seinem Tode verbreitete Ansichten besitzt. Er bestätigt mit seiner Warnung vor der Überschätzung des Reichtums und seiner Mahnung, sich Gesetze gefallen zu lassen, die diesen einschränken, was auch aus dem siebenten Brief und allen politischen Schriften Piatons zu erschließen ist, daß weder Piaton noch Dion noch ihre Anhänger bestrebt gewesen sein können, die enorme Kluft zwischen Reich und Arm, die in Sizilien und Unteritalien seit alters bestanden hatte, unvermindert bestehen zu lassen, sondern auch Reformen in dieser Hinsicht ins Auge gefaßt haben müssen, ein absoluter Gegensatz zwischen der Mehrheit der syrakusanischen Bürgerschaft und Dion in dieser Hinsicht trotz Dions Gegnerschaft gegen den Volksbeschluß über die Neuverteilung des Landes also nicht bestanden haben kann. Eben dies letztere führt nun jedoch auf ein höchst interessantes und zentrales Problem.

Macchiavelli schreibt im 18. Kapitel seines „Principe": „Quanto sia laudabile in uno principe mantenere la fede e vivere con inte-gritä e non con astuzia, ciascuno lo intende, non di manco si vede per esperienza ne' nostri tempi quelli principi avere fatto gran cose che della fede hanno tenuto poco conto e che hanno saputo con l'astuzia aggirare e' cervelli delli uomini; et alia fine hanno superato quelli che si sono fondati in sulla lealtä." Und etwas weiter: „A uno principe, adunque, non e necessario avere tutte le soprascritte qualitä, ma e bene necessario parere di averle. Anzi ardiro di dire questo che, avendole, et asservandole sempre, sono dannose, e, parendo di averle, sono utili; come parere pietoso, fedele, umano, intero, religioso et essere: ma stare in modo edificato con l'animo, che besognando non essere, tu possa e sappi matare el contrario. Et hassi ad intendere questo, che uno principe, e massime uno principe nuovo, non puö asservare tutte quelle cose per le quali Ii uomini sono tenuti buoni, sendo spesso necessitato, per mantenere lo stato, operare contro alla fede, contro alla caritä, contro alia umanitä, contro alla religione. Ε pero bisogna che elli abbiano animo disposto

187 Piaton, Epist. VIII, 355 b.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions \ \ η

a volgersi secondo che e' venti e le variazioni della fortuna li com-mandono, e, come di sopra dissi, non partirsi dal bene, potendo, ma sapere intrare nel male, necessitato."

Die gesamte politische Tätigkeit Piatons und Dions in Sizilien vom Tode Dionys' I. bis zur Ermordung Dions repräsentiert bis zur Seltsamkeit das genaue Gegenteil dessen, was Macchiavelli hier als die grundlegendste Voraussetzung für den Erfolg eines Herrschers, vor allem eines neu zur Herrschaft gelangten, bezeichnet. Statt, wie Macchiavelli es fordert, auf das sorgfältigste den Schein zu erwecken zu versuchen, als ob sie die von diesem aufgezählten Tugenden be-säßen, in der Praxis dagegen, wo immer es zur Erreichung ihrer Ziele notwendig oder vorteilhaft erschien, sich von ihrer praktischen Aus-übung zu dispensieren, haben sie diese Tugenden, wie eine genauere Untersuchung gezeigt hat, unaufhörlich praktiziert und sich dabei unaufhörlich dem Verdacht ausgesetzt, ja sich geradezu in den Ver-dacht gebracht, das Gegenteil zu tun. Manches an diesem seltsamen Ergebnis war zweifellos durch Umstände bewirkt, die von außen gegeben waren und kaum oder jedenfalls nicht völlig in der Macht der Handelnden lagen, wie z.B. daß Dion, wenn er später zum Handeln imstande sein wollte, schon unter Dionys I. die Grundlagen dafür legen mußte und sich dadurch das Mißtrauen seines Nachfolgers zuzog, wobei freilich auch nicht zu leugnen ist, daß Dion in ein-zelnen Fällen vielleicht hätte vorsichtiger und klüger handeln können. Noch mehr waren Dions verwandtschaftliche Beziehungen zu der Familie des Tyrannen, wenn auch nicht völlig, so doch weitgehend vorgegeben, die ihn dann später dem „Volk" von Syrakus suspekt erscheinen ließen und dem Herakleides eine so wirksame Handhabe gegen ihn gaben. Aber die aus diesen Umständen entstehenden Schwierigkeiten wurden doch auch gewaltig vergrößert durch Hand-lungen, die keineswegs aus diesen mit Notwendigkeit folgten. Das eklatanteste Beispiel ist die öffentliche Verlesung des scheinbar von seinem Sohn, in Wirklichkeit von Dionys II., an ihn gerichteten Briefes, die, wie sich gezeigt hat, nicht von diesem beabsichtigt oder vermutet worden sein kann, faktisch aber ihm so in die Hände arbeitete, daß die Dion wohlgeneigten antiken Historiker sich den

von Fritz, Plato 9

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118 Piaton in Sizilien

Vorgang nur aus einer listigen Absicht des Dionys erklären konnten. Hier ist es die bis ins Extrem getriebene Demonstration des Prinzips der integritä und lealtä, die zur Folge hatte, daß Dion des Gegenteils verdächtigt wurde.

Dies ist jedoch nicht das einzige Mal, daß gerade die Ehrlichkeit und Offenheit des Verfahrens Dions der Erreichung seiner Ziele im Wege gestanden ist. Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß es gewiß nicht der Wunsch Piatons gewesen sein kann, die enorme Kluft zwischen Reich und Arm, die in Westgriechen-land bestand, aufrecht zu erhalten, und daß eine Neuregelung der Besitzverhältnisse, nur nicht mit Hilfe einer einfachen Aufteilung der großen Güter unter die Besitzlosen, sondern unter sorgfältiger Kontrolle des Staates, in der Richtung seiner Reformideen gelegen hat. Wenn er sich im Staat heftig gegen das Versprechen von γης άναδασμοί ausspricht188, so deshalb, weil dies von alters her ein Schlagwort von Demagogen gewesen war, mit dem diese zur Macht zu kommen suchten, wonach dann faktisch von einer Neu-verteilung des Grundbesitzes in der Regel nicht mehr die Rede war. Ebenso war Piaton jedes anarchische Vorgehen verhaßt, also eine Neuverteilung des Bodens, wo jeder, nachdem sie einmal öffentlich erklärt worden ist, sich bedient, wo er gerade zugreifen kann. Das alles hatte Piaton schon ausgesprochen, lange bevor sein Freund Dion in Sizilien mit solchen Problemen in der Praxis konfrontiert war. Im Einklang damit hat dann Dion die anarchische Besitzer-greifung der Güter der Großgrundbesitzer durch die ärmere Be-völkerung inhibiert und auch die Annullierung des Volksbeschlusses, der ihr eine gewisse Legalität zu geben schien, vorgenommen oder durchgesetzt. Er hat sich damit naturgemäß alle diejenigen, die bei einer solchen anarchischen Verteilung des Grundbesitzes etwas zu gewinnen hofften, zu Gegnern gemacht und der Demagogie des Herakleides gegen ihn eine weitere Handhabe gegeben.

Es ist nun höchst interessant, damit das Verhalten der russischen Revolutionäre in einer ähnlichen Situation zu vergleichen. Wie schon erwähnt, haben sie den Beschluß des Petrograder Sowjets vom 188 Piaton, Staat VIII, 365 e/366 a.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions Ц 9

August 1917, der in ähnlicher Weise ein anarchisches Vorgehen der Bauern zu legalisieren schien, nicht offiziell aufgehoben, aber eine völlig anarchische Ausführung durch den neuen Beschluß einzu-dämmen versucht, der die Regulierung der Neuverteilung des Be-sitzes den Dorfsowjets übertrug, die als unmittelbare Vertretung der Bauern jedoch immer noch deren Wünsche, soweit es ohne völlige Anarchie möglich war, zu befriedigen suchten. So gelang es ihnen, das Gros der Bauern in den Kämpfen um die Macht im Staate auf ihre Seite zu bringen und bis zur Erringung der effektiven Kontrolle über den Staat auf ihrer Seite zu behalten. Während dieser Zeit hüteten sie sich wohl, es den Bauern bekannt werden zu lassen, daß sie nicht die Absicht hatten, das zum Staatsbesitz erklärte Land auf die Dauer den Bauern als Privatbesitz zu überlassen. Erst als sie ihre Macht so weit befestigt hatten, daß sie der Unterstützung der Bauern nicht mehr bedurften, begannen sie damit, den Bauern das in den Ta-gen der Revolution in Besitz genommene Land und darüber hinaus wieder abzunehmen und die Bauern in Kolchose zu zwingen. Es ist eine vollständige Illustration für die allgemeine Darlegung Macchia-vellis, wie die aktuelle Bewahrung von fede, integritä und lealtä den Beherrschten gegenüber die Erreichung der politischen Ziele, von denen in beiden Fällen ehrlich geglaubt wird, daß sie letzterdings dem Wohle der Beherrschten dienen, verhindert, ihre grobe Ver-letzung dagegen sie ermöglicht.

Aber dies ist nur ein, wenn auch ein wichtiger Aspekt des Kon-fliktes verschiedener Prinzipien bei dem Versuch, politische Theorie in die Praxis umzusetzen. Die vor allem in den angelsächsischen Ländern auf Grund von modernen Überzeugungen in neuerer Zeit an Piaton geübte scharfe Kritik hat die Tendenz, Piatons politische Philosophie mit gewissen politischen Phänomenen neuerer Zeit in enge Beziehung zu setzen. Die „Wissenschaft", jedenfalls soweit sie von klassischen Philologen und professionellen Althistorikern ausgeübt wird, pflegt sich zu vornehm vorzukommen, um sich mit dieser Art von Kritik auseinanderzusetzen. Man darf demgegenüber aber vielleicht doch die Frage auf werfen, ob es wirklich die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, Diskussionsthemata für esoterische

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120 Piaton in Sizilien

Zirkel zu stellen, die dann, wie die Ereignisse der letzten vergangenen Jahrzehnte zeigen, trotz ihres angeblichen oder wirklichen Wissens den Stürmen der praktischen Politik keinerlei Widerstand entgegen-zusetzen haben, und ob es nicht vielmehr gerade Aufgabe der Wissenschaft ist, sich rechtzeitig mit den gewaltsamen Vereinfa-chungen und Irrtümern der politisch Engagierten auseinanderzu-setzen und, soweit wie möglich, zu ihrer Korrektur und Aufklärung beizutragen. Dazu ist es freilich notwendig, die Dinge nicht nur im luftverdünnten Raum der reinen Spekulation zu betrachten, sondern den harten Tatsachen des politischen Lebens, wie sie im Altertum nicht anders als in unserer Zeit bestanden haben, Rechnung zu tragen. Tut man dies, so kann man gerade auch von der Kritik sehr oberfläch-licher Theorien ausgehend zu dem Kern der Probleme gelangen.

Eine vor allem in den angelsächsischen Ländern verbreitete Kritik an Piaton pflegt ihm den Vorwurf des Feudalismus und des Faschismus zu machen: offenbar zwei verschiedene Dinge, die aber in dieser Art von Kritik nicht immer klar unterschieden werden. Dagegen findet man höchst selten auch nur eine Andeutung der Meinung, daß Piaton ein Vorläufer des modernen Kommunismus gewesen sei, obwohl doch Piaton für die regierende Schicht seines Idealstaates in der „Republik" einen Kommunismus fordert, der weit über das hinausgeht, was die modernen Kommunisten in ihren kühnsten Träumen zu verwirklichen hoffen, und obwohl die Staats-konstruktionen Piatons sowohl in der Republik wie auch in den Gesetzen zwei sehr wesentliche Charakteristika mit dem modernen Kommunismus gemeinsam haben: 1. das, was man den totalitären Aspekt der platonischen Idealstaatskonstruktionen nennen kann: die außerordentlich weitgehende Kontrolle des Staates über das Leben des einzelnen Bürgers, und 2. die außerordentlich starke Einschränkung der Eigentums- und Einkommensentwicklung der Familien und Individuen durch den Staat, die selbst in den „Ge-setzen" weiter geht als in den meisten modernen kommunistischen Staaten. Der Grund, warum diese Gemeinsamkeiten meistens als nebensächlich betrachtet werden, ist offensichtlich. Es ist aber doch fraglich, ob damit der Kern des Sache getroffen wird. Nichts hat

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 121

gewiß Piaton ferner gelegen als das Streben nach einer „Diktatur des Proletariats"; und er hätte gewiß nicht bei der Auswahl und Aus-bildung einer Elite für die Lenkung des Staates die Söhne der Mit-glieder der bisher „herrschenden Klasse" benachteiligt, um den Söhnen von einfachen Bauern und „Arbeitern", in der antiken Gesellschaft von Handwerkern, den Vorzug zu geben. Aber in der Praxis sind auch die kommunistischen Regierungssysteme wie die von Piaton befürworteten im höchsten Maße elitär, so daß die Auswahl aus besonderen bevorzugten Klassen nur eine vorübergehen-de Erscheinung ist, und ist umgekehrt auch bei Piaton die Auswahl der Regierenden ganz durch die άρετή, die Tüchtigkeit, bestimmt und wird die Auswahl auf Grund der Abstammung von Mitgliedern der regierenden Schicht sowie die Erblichkeit der Zugehörigkeit zu bestimmten Klassen, die den Feudalismus charakterisieren, von Piaton ausdrücklich abgelehnt.

Einander entgegengesetzt scheinen auch der „Materialismus" der modernen kommunistischen Doktrin und der „Idealismus" Piatons zu sein. Aber auch hier sind die Dinge weniger einfach als die poli-tischen Schlagworte sie erscheinen lassen. Dem Kommunismus marxistischer Observanz scheint ein Endziel allgemeiner materiell-ökonomischer Prosperität vorzuschweben, was jedoch mit der Forderung verbunden ist, die gegenwärtige Generation müsse bereit sein, für die Erreichung dieses Zukunftszieles schwere Opfer zu bringen, während Piaton gerade in zu großer materieller Prosperität, auch wenn sie von allen Bürgern geteilt würde, eine Ursache der Korruption des menschlichen Lebens gesehen hat. Aber gerade in ihrer jüngsten und radikalsten Form beginnt die kommunistische Theorie die materielle Prosperität als Ideal zu verwerfen und durch ein Ideal permanenter tugendhafter Armut zu ersetzen, das plato-nischen Idealen sehr nahe steht. Gemeinsam ist ferner Piaton und allen modernen kommunistischen Doktrinen der Glaube an die durchgreifende Wirksamkeit staatlicher Erziehung und an die Mög-lichkeit, den Menschen durch eine Reformierung der gesellschaft-lichen und staatlichen Einrichtungen von Grund auf umzubilden. Was Piaton vom modernen Kommunismus am wesentlichsten und

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122 Piaton in Sizilien

radikalsten unterscheidet, ist eben das, wovon am Anfang dieser Erörterung die Rede gewesen ist: das Zurückschrecken vor dem Gebrauch von Täuschung18' und Gewalt, worin zugleich auch offen-bar wird, daß Piatons Theorie und Praxis sich von dem die Gewalt anbetenden und die Täuschung der Massen zum Prinzip erhebenden Faschismus mehr als von allem anderen unterscheidet. Es zeigt sich also, daß die Elemente bei Piaton anders gemischt sind und alle die Identifizierungen mit Erscheinungen der neueren und neuesten Geschichte irreführend sind und an der Oberfläche bleiben.

Es ist nun aber möglich, eben von dem zuletzt betrachteten Faktor aus zu einem der wirklichen Kernprobleme zu gelangen. Gegen die Behauptung, Piatons politische Theorie und Praxis un-terscheide sich von modernen politischen Bewegungen durch das Zurückschrecken vor dem Gebrauch der Gewalt, kann eingewendet werden, gerade Piaton spreche doch in seinem Dialog vom Staats-mann die Meinung aus190, der wahre Staatsmann, d.h. derjenige, der die wahre politische Ιπιστήμη und Einsicht besitze, sei in seinen Entscheidungen weder an die Zustimmung seiner Mitbürger noch an etwa bestehende Gesetze gebunden. Es komme nur darauf an, daß er „das Richtige", das im wahren Interesse des Staates Gelegene, tue; wenn das aber der Fall sei, dann schließe das Gesagte auch das Recht ein, diejenigen, die sich seiner besseren Einsicht widersetzen, zu verbannen und sogar zu töten"1. Gerade hinsichtlich des Rechtes zum Gebrauch der Gewalt stimme Piaton mit den radikalsten Ver-tretern des modernen Totalitarismus, die sich ja ebenfalls, welcher speziellen Observanz sie auch sind, einbilden, genau zu wissen, was den Menschen frommt, völlig überein. Diese Stelle in dem Dialog „Politikos" spielt denn auch in der modernen Diskussion des Ver-

189 Vgl. darüber unten S. 138. » » Piaton, Politikos 293 с ff . m Ibid.: 293d. καΐ έάντε γε άποχτεινΰντες τ ίνας ή καΐ έκβάλλοΜτες καθαί-

ρωοιν έπ'δγαθφ τήν πάλιν (sc. ot δρχοντες), ε ίτε καΐ άποικίας οίον ομήνη μελιττδν έκπέμποντές ποι σμικροτέραν ποιβσιν, ή τινας Ιπεισαγόμενοί πό-θεν δλλους Ιξωθεν πολίτας ποιοΒντες αδτήν αδξωσιν, Ιωσπερ δν Ιπιστήμη καΐ xffi δικαίψ προσχρώμενοι σφζοντες Ικ χείρονος βελτίω ποιβοι κατά δΰνα-μιν, ταύτην τότε καΐ κατά τοίις τοιούτους Βρους ήμϊν μόνην δρθήν πολιτείαν είναι ρητέον.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 123

haltens Dions nach der Eroberung von Syrakus eine beträchtliche Rolle. Man hat gemeint, Dion habe eben von daher sich das Recht genommen, sich über bestehende Gesetze hinwegzusetzen, und auch für die Ermordung des Herakleides hätte er darin eine Rechtfertigung finden können, so daß man sich sogar auf Grund dessen gewundert hat, daß Dion sich das mit der „Liquidierung" des Herakleides be-gangene „Unrecht" dann nach dem Zeugnis der Historiker doch so sehr zu Herzen genommen zu haben scheint.

Angesichts dieser und ähnlicher Überlegungen ist nun aber doch mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß die vielberufene Stelle von der Berechtigung des Gebrauchs der Gewalt nicht als der Weisheit letzter Schluß am Ende des Dialoges steht, sondern in eine lange Erörterung eingebettet ist, durch die sie qualifiziert wird, so daß die wahre Meinung Piatons ohne die Berücksichtigung der gesamten Erörterung schlechterdings nicht verstanden werden kann. Was un-mittelbar auf die zitierte Stelle folgt, scheint allerdings zunächst das dort Gesagte zu bekräftigen und näher zu begründen. Denn hier wird sehr eindrucksvoll gezeigt1"2, daß jedes Gesetz, weil es notwendiger-weise allgemein formuliert sein muß, sich der ungeheueren Mannig-faltigkeit der Inzidentien des menschlichen Lebens gegenüber als un-zulänglich erweisen muß. Die Entscheidung gemäß den Besonder-heiten des individuellen Falles, die nur durch einen mit voller Ein-sicht in eben diese Besonderheiten Ausgestatteten vorgenommen werden kann, ist daher dem Versuch, allgemein formulierte starre Regeln darauf anzuwenden, vorzuziehen. Nur so ist auch eine fort-dauernde Anpassung an die sich unaufhörlich im Ablauf der Ge-schichte vollziehenden Änderungen der menschlichen Verhältnisse möglich. Man könnte diesen allgemeinen Betrachtungen hinzufügen, daß eben aus diesem Grunde immer wieder im Laufe der Zeiten, sobald wirtschaftliche, kulturelle oder andere Änderungen eingetreten waren, welche die überlieferten und traditionellen Gesetze und Ver-haltensregeln als inadäquat erscheinen ließen, alsbald der Ruf nach dem starken Mann ertönte, der das Netz der einschränkenden und die freie Tat behindernden Gesetze zerreißt und das Notwendige

192 Piaton, Politikos 294 ff.

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124 Piaton in Sizilien

und Rettende tut. АБег das ist, wie Piaton selbst gerade im „Politikos" auf das

eindringlichste zeigt, nur die eine Seite der Sache. Schon ganz zu Beginn des Dialoges wird gegenüber der beliebten Vergleichung des Königs oder leitenden Staatsmannes mit dem Hirten darauf hin-gewiesen1'3, daß der Hirte einer höheren Spezies angehört als die seiner Pflege anvertrauten Tiere, der Staatsmann oder Völkerhirte dagegen nicht. Der Herrschaft eines Hirten über die Herde würde die Herrschaft eines Gottes über die Menschenherde entsprechen, was dann in dem seltsamen Kronosmythos des zweiten Viertels des Dialo-ges weiter ausgeführt wird1®4. Hier und im folgenden wird auch noch eine wichtige Folge dieses Unterschiedes erörtert. Der Hirte sorgt für alle Bedürfnisse der Herde; für ihre Nahrung und für Schutz gegen die Unbilden der Witterung. Er betätigt sich in der Regel im Altertum auch als Arzt für die Tiere. Der menschliche Staatsmann dagegen muß die Sorge für diese Dinge anderen überlassen: gemäß jener notwendigen Teilung der Arbeit und Aufgaben unter den Menschen, aus der Piaton schon im „Staat" die Notwendigkeit des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenschlusses der Menschen, da kein Mensch imstande ist, für sich allein seine mannigfaltigen Be-dürfnisse adäquat zu befriedigen, abgeleitet hatte. Der Staatsmann oder Herrscher kann nur die oberste Leitung des Ganzen auf sich nehmen. Damit übt Piaton, was selten beachtet wird, trotz seiner totalitären Tendenzen wohl doch implicite eine gewisse Kritik an dem modernen Ideal des Wohlfahrtstaates, der, ob kommunistisch oder nicht, sich die Erfüllung auch jener Aufgaben des einer höheren Spezies angehörigen Hirten zum Ziele gesetzt hat. Auch das zeigt wieder, wie unmöglich es ist, Piaton ohne weiteres mit bestimmten modernen politischen Erscheinungen und Tendenzen zu identifizieren. Aber von dieser Seite der Sache soll an dieser Stelle zunächst nicht weiter die Rede sein. Jedenfalls lassen die erwähnten Erörterungen in der ersten Hälfte des Dialoges es als zweifelhaft erscheinen, wie-weit die volle βασιλική έταστήμη, welche die Voraussetzung für die

193 Piaton, Politikos 267 e ff. Ibid. 269 a ff.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 125

Rechtfertigung des an keinerlei formulierbare Regeln gebundenen Handelns des Königs ist, in einem Menschen verwirklicht sein kann.

Nun findet sich allerdings im zweiten Teil des Dialoges noch ein Abschnitt185, in dem diese Rechtfertigung auch auf den kundigen menschlichen Staatsmann ausgedehnt zu werden scheint. Er wird dort - im Gegensatz zu dem die Welt lenkenden Gott, der jederzeit an jeder Stelle wirken kann - mit einem Arzt verglichen, der nicht unaufhörlich am Bette des Kranken sitzen kann, da er sich auch um andere kümmern muß, und der daher, wenn er den Kranken ver-läßt, den Verwandten und Pflegern des Kranken seine Vorschriften gibt, die diese streng zu befolgen haben, der aber selbst vernünftiger-weise nicht an seine eigenen Vorschriften gebunden sein kann, son-dern, wenn er wieder kommt, die Freiheit haben muß, je nach dem Zustand, in dem er den Kranken vorfindet, seine Vorschriften zu ändern. So kann der Staatsmann nicht unaufhörlich seine Aufmerk-samkeit allen Einzelheiten im Staatswesen zuwenden. Er wird daher als Gesetzgeber Regeln erlassen, aber diese auch abändern oder von ihnen abweichen können, wenn die Situation es erfordert. Damit scheint also auch der menschliche Staatsmann höchsten Ranges bis zu einem gewissen Grade von der strikten Bindung an feste Gesetze emanzipiert zu werden.

Aber auch das ist nicht das Ende der Erörterung. Im folgenden Teil des Dialogs werden neue Bedenken erhoben. Was, wenn der Herrscher, dem die Gewalt über die Menschen anvertraut ist, korrupt ist, wenn er zwar die Heilmittel kennt und die Gifte sowie diejenigen Heilmittel, die, wenn sie nicht in der richtigen Dosierung angewendet werden, wie Gifte wirken, und diese Kenntnis, weil er von Feinden oder Erben des Kranken bestochen ist, dazu benutzt, den Kranken zu vergiften statt ihn zu heilen?196 Was, wenn der Herrscher die wahre Erkenntnis zu besitzen glaubt, aber sie nicht wirklich besitzt, und nun nach seiner eingebildeten falschen Erkenntnis handelt?1®7

Angesichts solcher Möglichkeiten erscheint immer noch besser der

195 Politikos 294 e/295 a ff. "« Politikos 269 d ff., 298 a ff. und 301 b/c. 107 Ibid. 300 d/e.

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126 Piaton in Sizilien

δεύτερος πλους einer starren Gesetzesherrschaft1®8, bei der alles nach festen Gesetzen und Vorschriften geregelt ist, von denen niemand, auch von den Regierenden, sich nur um einen Schritt entfernen darf, so inadäquat ein solches System sich auch der Mannigfaltigkeit des menschlichen Lebens gegenüber erweist und so sehr - was von Piaton besonders hervorgehoben wird - es jedem Fortschritt der Erkenntnis oder zum mindesten ihrer praktischen Anwendung im Wege steht.

Es ist dieses niemals vollständig überwindbare Dilemma einer jeden menschlichen politischen Ordnung, das von Piaton in dem ganzen Dialog und besonders in seinem letzten Teil mit unüber-bietbarer Schärfe und Klarheit herausgestellt wird. Die Erkenntnis, daß, wenn es den vollkommen guten und mit vollkommener Einsicht ausgestatteten Staatsmann gäbe, es das beste wäre, ihn ohne jede Beschränkung durch Vorschriften, Regeln und Gesetze handeln zu lassen, ist, so sehr sie als rein abstrakte Erkenntnis gültig bleibt, nur e i n Horn dieses Dilemmas und kann daher nicht für sich genommen als Regel oder auch nur Rechtfertigung praktischen Handelns ver-standen werden. Die natürliche Schlußfolgerung aus der schroffen Gegenüberstellung der beiden Extreme ist die, daß es notwendig ist, zwischen diesen Extremen der absolut starren, wie Piaton selbst ausführt, alles Leben ertötenden Gesetzesherrschaft und einer Frei-heit der Regierenden von gesetzlichen Bedingungen, die es auch denen, die sich nur einbilden oder nur vorgeben, die wahre Einsicht zu haben, ermöglicht, schrankenlos ihre Einfalle in die Tat umzu-setzen, einen Mittelweg zu finden. In dem großen Alterswerk der „Gesetze" hat Piaton ein solches politisches System, mit dem Nach-druck auf der gesetzlichen Regelung, nicht auf der Freiheit des Han-delns, zu konstruieren versucht. In dem Dialog vom Staatsmann, der nach der Herausstellung des Dilemmas seinem Ende entgegeneilt, wird dieses den „Gesetzen" zugrundeliegende Prinzip nur noch an-deutungsweise behandelt1"9.

Der Dialog enthält jedoch an seinem Ende noch einen kurzen

198 Politikos 301 d/e ff. ιββ Vg] d a s Politikos 302 e ff. über die konstitutionelle, d. h. durch Gesetze

eingeschränkte und an sie gebundene Monarchie Gesagte.

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Die syrakusanischen Wirten bis zum Tode Dions 127

Abschnitt200, der, indem et über das Prinzip gleich noch um einen Schritt hinausgeht, dieses doch implicite zugleich mit enthält. Der „Fremdling", der in diesem Dialog die Rolle, die Sokrates in den meisten Dialogen einnimmt, vertritt, kommt zum Schluß noch einmal auf das Gleichnis von der Webkunst zurück, das in dem Dialog schon mehrfach herangezogen worden ist, und bezeichnet es als eine der wichtigsten Künste des Staatsmannes als Gesetzgeber, die beiden Tugenden der άνδρεία und der σωφροσύνη, die Tugenden der Tat-kräftigen und Draufgängerischen und die Tugend der Vorsichtigen und Zurückhaltenden, wie Kette und Einschlag miteinander zu ver-knüpfen, so daß ein solides und haltbares staatliches und gesellschaft-liches Gewebe entsteht. Daß dies mit der Frage von Gesetzesherr-schaft und Freiheit des Handelns eng zusammenhängt, ergibt sich daraus, daß der Vorschlag im Zusammenhang mit der Frage der Änderung bestehender Gesetze gemacht wird und daß die Zurückhal-tenden und Besonnenen naturgemäß diejenigen sein werden, die zögern, von geltenden Gesetzen und Bräuchen abzuweichen, während die Kühnen und Tatkräftigen geneigt sein werden, Gesetze und Ge-bräuche zu ändern, um, da die menschlichen Verhältnisse nun einmal dem Wandel unterworfen sind, die überkommenen Regeln durch Änderung den bestehenden realen Umständen anzupassen. Was Pia-ton hier empfiehlt, ist also ein Mittelweg zwischen dem, was wir Konservatismus und Fortschrittsgeist zu nennen pflegen.

Die Voraussetzung aber, von der Piaton hier ausgeht, ist die, daß die beiden Tugenden der άνδρεία und σωφροσύνη naturgemäß bei verschiedenen Menschen als angeborene Anlagen gegeben sind, die dann nur durch Erziehung und Lebenserfahrung weiter entwickelt und ausgebildet werden. Darin liegt nun wieder eine höchst interes-sante Abweichung von einem sokratischen Prinzip, das Piaton selbst in einem frühen Dialog, dem „Protagoras", mit großer Klarheit ent-wickelt hat. Dort wird zu zeigen versucht, daß alle άρεταί letzter-dings auf Einsicht beruhen und, da die wahre Einsicht e i n e ist, auch selbst eine Einheit bilden müssen, so daß eine wahre άνδρεία ohne σωφροσύνη und eine wahre σωφροσύνη ohne άνδρεία

Piaton, Politikos 308 d ff.

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128 Piaton in Sizilien

nicht möglich ist. Die Neigung zum kühnen Drauflosgehen oder zur vorsichtigen Zurückhaltung wird dort gerade nachdrücklich von den άρεταί der άνδρεία und σωφροσύνη unterschieden. Dieser Unterschied zwischen dem frühen sokratischen Dialog „Protagoras" und dem späten Dialog „Politikos", in dem der „Fremdling" die Rolle der Führung des Dialoges übernommen hat, macht noch einmal sehr deutlich, wie bei Sokrates alles auf den Einzelnen abgesehen ist, in dem die Einsicht, die zur einen und einheitlichen άρετή führt, er-zeugt werden soll, während Piaton immer mehr sein Augenmerk auf das Zusammenwirken der Menschen in Staat und Gesellschaft gerichtet hat, wobei, da es unmöglich ist, in allen Menschen die gleiche Einsicht zu erzeugen, gerade auch die natürlichen Anlagen und Neigungen der Menschen in Betracht gezogen werden müssen. Doch hat der alte Piaton, wie sich zeigen wird, doch auch die eigent-lich sokratischen Prinzipien daneben nicht ganz aufgegeben.

2.

Kehrt man nun von diesem Versuch, zunächst einmal Piatons theoretische Positionen etwas zu klären, zu den konkreten Schwie-rigkeiten Dions mit den Syrakusanern und mit Herakleides zurück, so sehen sich die Dinge doch sehr anders an als wenn der Satz von der Befugnis des mit der wahren Herrscherweisheit ausgestatteten Staatsmannes, sich über Gesetze hinwegzusetzen und Bürger, die sich ihm widersetzen, in die Verbannung zu schicken oder zu töten, absolut genommen wird. Was zunächst Piatons persönliches Ver-hältnis zu Dion angeht, so verteidigt er - wie sich gezeigt hat201, mit Recht - im siebenten Brief die Reinheit seiner Absichten. Aber nichts spricht dafür, daß er in Dion einen Staatsmann von gottähnlicher Weisheit gesehen hätte, der die βασιλική επιστήμη im vollsten Aus-maße besitzt. Im Gegenteil: die mehrfache Kritik, die er an ihm übt, zeigt aufs deutlichste, daß er davon weit entfernt gewesen ist. Schon deshalb kann der Satz auf ihn keine Anwendung gefunden 201 Vgl. oben S. 104 ff.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 129

haben. Es gibt auch kein Anzeichen dafür, daß Dion ihn für sich in Anspruch genomen hätte. Er hat sich ja ganz ausdrücklich als Be-freier von Syrakus nicht das Recht genommen, nun auf Grund seiner höheren politischen Weisheit zu entscheiden, was für die Syrakusaner in ihrem Verhältnis zu Dionys II. zu tun das Richtige sei, sondern hat sich in dieser Hinsicht ganz auf gute Ratschläge beschränkt. Ebensowenig konnte er den platonischen Vergleich mit dem Arzt auf sich anwenden, da er ja nicht wie dieser die Anordnungen selbst gegeben hatte, die er dann auf Grund einer neuen Situation hätte wieder aufheben oder von denen er hätte abweichen können.

Damit gelangt man wieder zu dem Punkt zurück, der schon in dem Kapitel über Dions praktische Politik diskutiert worden ist. Doch können die Dinge nun vom Standpunkt platonischer Theorien aus präziser gefaßt werden. Ein großer Teil des syrakusanischen „Volkes" war offenbar der Meinung, daß nun, da „die Stadt vom Tyrannen befreit" war, jede beliebige Entscheidung durch einfachen Mehrheitsbeschluß in der Volksversammlung getroffen werden könne. Dion hat, wie die vorangegangene Analyse ergeben hat, dem Volke dies zugestanden ungefähr in allen den Angelegenheiten, die auch in Athen durch einen einfachen Volksbeschluß hätten entschieden werden können, aber nicht, wo, wie bei dem Beschluß der Toten-schändung an dem verstorbenen Dionys I., ein höheres Prinzip verletzt wurde, noch in den Fällen, wo ein Volksbeschluß in Athen einer Klage παρανόμων ausgesetzt gewesen wäre und wo, obwohl wir darüber keine genauere Überlieferung besitzen, kaum daran gezweifelt werden kann, daß er auch in Syrakus mit vor der Tyrannis bestanden habenden gesetzlichen Ordnungen in Widerstreit geriet. Mit seinem Widerstand gegen Entscheidungen dieser Art durch ein-fache Volksbeschlüsse befand sich Dion in Übereinstimmung mit den Überlieferungen so ziemlich aller griechischen Staaten mit einer höhe-ren politischen Organisation, soweit wir davon etwas wissen, in Übereinstimmung mit Sokrates, der sich eben auf Grund seines Glaubens an übergeordnete Gesetze hartnäckig widersetzt hatte, als die athenische Volksversammlung sich die absolute Souveränität der Entscheidung auch in einem Falle anmaßen wollte, der nach der

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geltenden gesetzlichen Ordnung nur durch eine ordentliche Gerichts-verhandlung entschieden werden konnte, und in Übereinstimmung mit Piaton. Betrachtete man durch den Sturz der Tyrannis nicht nur diese selbst, sondern auch die vor ihr bestanden habende gesetzliche Ordnung als aufgehoben oder aufhebbar, so kam alles darauf an, so bald wie möglich zu einer neuen in sich zusammenhängenden poli-tischen Ordnung zu kommen. Das ist es eben, worauf Dion, nachdem er durch die Verhandlungen mit Gaisylos und seine erneute Wahl zum στρατηγός αυτοκράτωρ dazu autorisiert worden war, hingear-beitet hat.

In Piatons „Politikos" erscheint, dem Titel und Gegenstand des Dialoges entsprechend, der vollendete Staatsmann auch als Gesetz-geber. Aber die Möglichkeit des Zusammenarbeitens mehrerer in ei-nem gesetzgebenden Gremium wird nicht ausgeschlossen202. So waren ja auch in dem Lauf der griechischen Geschichte sowohl einzelne Gesetzgeber wie die halbmythischen Charondas und Zaleukos oder der unzweifelhaft historische, von den streitenden Parteien zur Her-beiführung eines Ausgleichs durch eine neue politische Ordnung und die Schaffung eines Gesetzeskodex berufene, Solon aufgetreten wie auch Verfassungen oder deren Änderungen durch Zusammenwir-ken mehrerer zustande gekommen. Piaton selbst hatte gewünscht, daß eine neue politische Ordnung in seinem Sinne durch einen schon an der Macht Befindlichen, durch einen Philosophen Belehrten und Instruierten ohne gewaltsame Auseinandersetzung eingeführt werden könnte. Das war durch das offene Zerwürfnis zwischen Dion und Dionys II., über das Piaton daher so unglücklich war, verhindert worden. Darüber, was in einem Übergangsstadium von einer durch Gewalt aufgehobenen Herrschaftsform zu einer neuen im strikten Sinne legal sei oder nicht, hat Piaton, soviel sich erkennen läßt, eben-sowenig genaue Regeln aufstellen können, wie moderne Juristen dazu imstande sind205. Was er im siebenten Brief auf das schärfste

202 Ygi Jag Politikos 300b über die νόμοι Ix πείρας πολλές κείμενοι Gesagte. 203 Einen Teil der vorliegenden Untersuchung habe ich im Oktober 1967 in

einer Sitzung der philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Aka-demie der Wissenschaften vorgetragen und im Anschluß daran an die ju-

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 131

betont, ist, daß so schnell wie möglich eine neue gesetzliche Ordnung geschaffen werden soll und daß sich dann alle, ohne Rücksicht auf bestehende Machtverhältnisse im Innern des Staates oder auf frühere Streitigkeiten oder Parteizugehörigkeiten, auf das strikteste daran halten sollen204. In der Lage Dions ergab sich die Notwendigkeit, nicht selbst als Gesetzgeber aufzutreten, sondern zur Ausarbeitung einer neuen Ordnung ein Gremium zu berufen von Männern, die eine gewisse persönliche Autorität in Anspruch nehmen konnten, aus seiner Lage, d.h. der starken Opposition, die sich gegen ihn erhob, von selbst. Die Frage ist also vor allem, welche allgemeineren Prin-zipien für das Verhalten in der Auseinandersetzung mit widerstreben-den Kräften in einem Übergangszustand, wo sich „Legalität" in po-litischen Entscheidungen nicht eindeutig bestimmen ließ, vikari-ierend an die' Stelle von festen Regeln der Legalität treten konnten.

Darüber läßt sich aus der historischen Überlieferung über Dions faktisches Verhalten und aus dem siebenten platonischen Brief einiger Aufschluß gewinnen. Das eine ist das Prinzip der möglichsten Ver-meidung gewaltsamer Auseinandersetzungen, das im siebenten Brief in der Klage darüber, daß Dion und Dionys II. sich nicht doch noch vertragen haben205, zum Ausdruck kommt, vor allem aber im achten Brief, ob dieser nun von Piaton stammt oder nur der Reflex ist von Plänen, die bei den Dioneern eine Rolle gespielt haben, in dem vor-geschlagenen Kompromiß zwischen Männern und Kräften, die zu

ristischen Kollegen die Frage gestellt, ob ihrer Meinung nach in der ge-gebenen Situation der Volksbeschluß über die Neuverteilung des Grund-besitzes oder seine Aufhebung durch Dion legal gewesen sei. Soweit sie sich zu der Frage äußerten, waren sie der Meinung, daß in einer solchen Übergangszeit in Fällen wie dem gegebenen nicht entschieden werden könne, was legal sei oder nicht, da erst aufgrund der Machtverhältnisse eine neue feste Ordnung geschaffen werden müsse, die es erlaube, solche Fragen eindeutig zu beantworten. Niemand hat sich für die unbezweifelbare Legalität weder des einen noch des anderen ausgesprochen.

204 Piaton, Ер. VII , 334c: ταΟτα εΤρηται πάντα τί)ς συμβουλές Ινεκα xffiv Διωνείων φίλων καΐ ουγγενδν συμβουλεύω δέ δή τι πρδς τούτοις τήν αδτήν συμβοϋλήν καΐ λόγον τόν αδτδν λέγων ήδη τρίτον τρίτοις δμΐν. μή δοολοδαθαι Σικελίαν δπ'άνθρώποις Βεσπόταις, μηδέ δλλην πόλιν, 8 γ'έμός λόγος, ά λ λ' 6 π ό ν ό μ ο ι ς" οδτε γάρ τοις δοϋλουμένοις οδτε τοις δουλωθεΐοιν δμεινον.

205 Ibid. 350 d f.

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132 Piaton in Sizilien

harmonischem Zusammenwirken zu bringen nach allem, was wir über die vorangegangenen Ereignisse wissen, als fast unmöglich erscheinen muß. Höchst interessant ist aber auch, was Dion nach Plutarch206

zu seiner Rechtfertigung gesagt haben soll, als seine Freunde und Anhänger ihn zu einem früheren Zeitpunkt als dies dann wirklich geschah dazu aufforderten, Herakleides politisch unschädlich zu ma-chen: er habe in der Akademie gelernt, seinen Zorn zu bezwingen: das aber zeige sich darin, daß man, wenn einem Unrecht geschehen sei, sich versöhnlich zeige und mild gegenüber dem, der gefehlt habe. Denn die Begründung, welche die Freunde Dions für ihre Aufforde-rung geben, man müsse dieses Krebsgeschwür (έπιμανές νόσημα) aus dem politischen Körper herausschneiden, und Dions Antwort darauf sind in gewisser Weise beides Anwendungen platonischer Prinzipien. Hier wird besonders deutlich, daß Piaton die Dinge von zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten aus betrachtete, ohne daß die von diesen beiden Gesichtspunkten aus gewonnenen Erkenntnisse oder Anschauungen völlig miteinander zur Integration gebracht wor-den sind. Auf der einen Seite steht die Auffassung von der staatlichen Gemeinschaft als einem großen Organismus, von dem die einzelnen Menschen nur winzige Teile sind. Sie kommt sehr deutlich zum Ausdruck in Sokrates' Antwort in Piatons „Staat" auf den Einwand, gerade die höchste und führende Schicht in dem dort konstruierten Idealstaat, die φύλακες, dürften, wenn sie so vom Staate in An-spruch genommen würden, wohl nicht sehr glücklich sein: wie es bei einem menschlichen Körper nicht auf die Schönheit eines einzelnen Teiles, sondern auf die Harmonie des Ganzen ankomme, so komme es auch im Staat mehr auf die glückliche Harmonie des Ganzen als auf das völlig ungehinderte Glück des Einzelnen an. Aus einer solchen Anschauung vom Staate konnte man sehr wohl die Folgerung ziehen, welche die Freunde Dions nach dem Zeugnisse Plutarchs gezogen haben: daß man das Krebsgeschwür aus dem Leibe des Staates her-ausschneiden müsse, wenn dieser gesunden solle.

Aber das Krebsgeschwür in diesem Fall ist nicht ein Stück aus-geartetes und wucherndes Zellgewebe, sondern ein lebendiger

»о» Plutarch, Dion 47.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 133

Mensch mit Namen Herakleides. Hinsichtlich des Verhaltens gegen-über lebendigen Menschen hat Dion nach dem Zeugnis Plutarchs in der Akademie etwas anderes gelernt: daß man dem, von dem einem Unrecht widerfahren ist, gegenüber, wenn er sein Unrecht bekennt - was Herakleides ja zunächst getan hatte - großmütig sein solle und den Versuch machen, ihn durch immer wiederholte Großmut für sich zu gewinnen. Offenbar sind beides platonische Prinzipien, die aber hier in der konkreten Anwendung miteinander in Konflikt geraten.

Vielleicht sind diese einander entgegengesetzten platonischen Prin-zipien in concreto in noch viel akuterer Form miteinander in Kon-flikt geraten, als auf den ersten Blick offensichtlich ist, und erklärt sich daraus wieder einiges an unbezweifelbar überlieferten histori-schen Ereignissen, das sonst unerklärt bleiben müßte. Im siebenten Brief207 leugnet Piaton, ohne den Namen des Kallippos zu nennen - er spricht nur von zwei Brüdern (gemeint sind Kallippos und sein Bruder Philostratos), die Dion von Athen mitgenommen habe und die dann an ihm Verrat begingen und ihn ermorden ließen -, daß dieser mit Dion durch die Philosophie verbunden gewesen sei. Aber nach einer verbreiteten Überlieferung208 war Kallippos ein Schüler Piatons gewesen und Mitglied der Akademie. Dies wird von Piaton bemerkenswerterweise nicht ausdrücklich geleugnet. Denn man kann die Bemerkung im siebenten Brief auch so verstehen, daß Kal-lippos trotz seiner zeitweiligen äußerlichen Schülerschaft bei Piaton kein wirklicher Philosoph gewesen sei. Er mag auch, da er an man-cherlei politischen Unternehmungen beteiligt war, nur vorübergehend der Akademie angehört haben, wie es ja vielfach vorgekommen ist. Aber das Ganze ist doch höchst interessant. Denn es finden sich auch sonst Anzeichen dafür, daß unbezweifelbar wirkliche Schüler Piatons und Mitglieder der Akademie sowohl zu der Zeit, als Dionys II . noch in Syrakus regierte, als auch nach der Befreiung der Stadt durch Dion für eine rücksichtslosere und skrupellosere Politik eingetreten sind. Das gilt schon für die Tätigkeit Speusipps unter Dionys II . während Piatons drittem syrakusanischen Aufenthalt, die, wenn sie sich auch

2<" Piaton, Ер. VII, 333 d/e. 108 Athenaeus XI, 508 c; Diog. Laert. III, 43; Suda, s. ν. Κάλλιππος. von Fritz, Plato 10

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134 Piaton in Sizilien

formell auf das Befragen der Bürger nach ihrer Stellung gegenüber dem Tyrannen beschränkte, doch einer Aufwiegelung der Bevölke-rung durch ihre Implikationen ziemlich nahe kam. Etwas ähnliches kann man beobachten im Anschluß an jenen Passus im siebenten Brief209, wo Piaton sich weigert, an Dions Unternehmen gegen Dionys II. auch nur durch moralische Unterstützung teilzunehmen, aber, wie man sagt, es den Mitgliedern der Akademie „freistellt"210, ihrerseits, wenn sie wollen, daran teilzunehmen. Da zeigt der Tenor des Ganzen deutlich, daß Piaton diese Teilnahme seiner Schüler an dem Gebrauch der Gewalt keineswegs gern gesehen hat. Es haben aber dann doch eine ganze Reihe davon direkt oder indirekt daran teilgenommen.

Dieselbe Tendenz zeigt sich dann in verstärktem Maße in dem Rat der Freunde Dions, die doch alle mehr oder minder unter dem Einfluß platonischer Ideale standen, das „Krebsgeschwür" Hera-kleides zu beseitigen. Da kann es dann in gewisser Weise als eine, wenn auch ins Extreme gehende Fortsetzung derselben Entwicklung erscheinen, wenn Plutarch, obwohl er Kallippos einen Schurken ersten Ranges nennt, doch als Erklärung seines Verhaltens hinzu-fügt"1, Kallippos habe, als er die Syrakusaner (infolge der Apathie, in die Dion nach der Ermordung des Herakleides verfallen war) ohne Führer sah und die Anhänger Dions ( ! ) vor allem auf ihn (offen-sichtlich als auf den einzigen, der die Führung übernehmen könnte) sahen, beschlossen, Dion aus dem Wege zu räumen. Auffallend ist auch gegenüber der heftigen Verdammung des Kallippos in der späteren platonfreundlichen Literatur das außerordentlich milde Ur-teil, das Aristoteles in der Rhetorik212 über Kallippos fällt: er sei wenn man die Umstände berücksichtige, dem Nicht-Unrecht-Tun (μή άδικείν) ziemlich nahe gekommen. Das alles scheint zu bestäti-

2 M Piaton, Ер. V I I , 350 с f. 210 Vgl. oben S. 59 mit Anm. 96. 211 Plutarch Dion 54: ΈπεΙ 8έ iffiv πρώτων καΐ βέλτιστων φίλων τοΰ Δίωνος

άνηλωμένων δπ6 τοΟ πολέμου καΐ τεθνηκότος Ήρακλείδου, τ ό ν τ ε δ fj μ ο ν έ ώ ρ α τ δ ν Σ υ ρ α κ ο σ ί ω ν I ρ η μ ο ν ήγεμόνος δντα καΐ τούς στρατιώτας τούς μετά Δίωνος προσέχοντας αϋτφ μάλιστα, μιαρώτατος άνθρώπων γενόμενος .. . διέφθειρε κτλ.

212 Aristoteles, Rhet. I , 1373a, 19 ff. οίον Κάλλιππος έποίησεν τά περί Δίωνα-

καΐ γάρ τά τοιαΟτα έγγί>ς τοΰ μή άϊ ικειν φαίνεται.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 135

gen, daß hier tatsächlich zwei platonische Prinzipien miteinander im Streite gelegen sind. Auf der anderen Seite ist offenbar, daß Piaton, wo es sich um ihre konkrete Anwendung gehandelt hat, von Anfang bis zu Ende auf der Seite der Vermeidung der Gewaltanwendung gestanden hat. Der Widerstreit muß aber mitten durch die Seele Dions gegangen sein. Nur so erklärt sich auch, daß er einerseits in einer verzweifelten Situation als Platoniker seine Zustimmung zu der Ermordung des Herakleides gegeben und sich andererseits dann die Tat doch so zu Herzen genommen hat, daß er die Fähigkeit zum Handeln verlor.

Fragt man nun nach Wesen und Herkunft derjenigen platonischen Prinzipien, die der Anwendung der Gewalt „zum Wohle" oder „zur Rettung" des Staates entgegenstanden, so ist auch hier wiederum die Antwort nicht eine ganz einfache. Einiges davon ist zweifellos genuin sokratisch: so vor allem das Prinzip, unter keinen Umständen je-mandem Unrecht zu tun, auch nicht in der Form des άνταδικεΐν (der Heimzahlung von erlittenem Unrecht). Das Rechttun innerhalb der staatlichen Gemeinschaft war aber für Sokrates, wie viele Bei-spiele zeigen, ganz stark mit der Beachtung bestehender (und daneben wohl allgemein gültiger ungeschriebener) Gesetze verbunden. Gegen eine gerichtliche Verurteilung des Herakleides, auch zum Tode, nach einsichtigen Gesetzen, hätte Sokrates gewiß nichts einzuwenden ge-habt. Aber seine Ermordung ohne Gerichtsverhandlung, zu der Dion sich wohl entschloß, weil er eine Verurteilung nicht durchsetzen zu können hoffte, hätte Sokrates ganz unzweifelhaft als άδικεΐν be-trachtet, auch in einem Übergangsstadium zwischen zwei Verfas-sungen, wie sein Verhalten bei der Verurteilung des Theramenes zeigt. Eine Gesetzesverletzung vermöge des Prinzips der „Staats-raison" hätte er nicht als gerechtfertigt gelten lassen, weil der Scha-den, der dadurch dem Staat getan wird, ihm immer größer erschien als irgendein temporärer Vorteil für die Erhaltung des Staates, der daraus entspringen konnte. Auch was Dion über die Beherrschung des Zornes und das Sich-Erheben über empfangenes Unrecht zur Verteidigung seiner Milde gegenüber Herakleides nach dessen mili-tärischer und moralischer Niederlage sagt, ist natürlich durchaus

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136 Piaton in Sizilien

sokratisch. Dagegen ist für das, was Dion bei Plutarch über seine Hoffnung sagt213, daß auch ein ehrsüchtiger und schwieriger Mensch durch immer erneute Milde und Entgegenkommen gewonnen und in seiner Gesinnung gewandelt werden müsse, in dem, was über den historischen Sokrates überliefert ist, kaum irgendeine Analogie zu finden. Es gehört viel eher zu jenen aristokratischen Vorstellungen von den Tugenden der Großmut dem Unterlegenen und der unbe-dingten Loyalität den Freunden gegenüber, von denen die letztere in Piatons Verhältnis zu Dion und seiner persönlichen Verwicklung in sizilische Politik, wie sich gezeigt hat, eine so große und für Piaton verhängnisvolle Rolle gespielt hat.

Überall zeigt sich also ein Widerstreit in den Theorien Piatons und auch gerade des späten Piaton hinsichtlich des Verhältnisses des Einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft, und des Staates oder der Regierenden zum einzelnen Bürger, ein Widerstreit jedoch, der nicht auf der mangelnden Einsicht oder gar Denkfähigkeit Piatons be-gründet, sondern in den fundamentalsten Tatsachen der condition humaine beschlossen ist. Zum Teil, wie in den Abschnitten des Poli-tikos, in denen die freie Entscheidung des wahrhaften Staatsmannes und die starre Gesetzesherrschaft einander entgegengesetzt werden, hat Piaton selbst diesen Gegensatz bewußt auf das schärfste herausge-arbeitetem auf die Notwendigkeit hinzuweisen, einen-notwendig pre-kären und mit UnVollkommenheiten behafteten - Mittelweg zu finden. In anderen Fällen scheint er sich des Widerstreites nicht in gleichem Maße bewußt gewesen zu sein. So vor allem in der Frage der Führung des Einzelnen zur άρετή und zu einem für das Zusammenleben in der Gemeinschaft förderlichen Verhalten. Nicht nur im „Staat", son-dern auch in der späten Schrift der „Gesetze" wird eine autoritäre Erziehung der Jugend von Kindheit auf gefordert, eine Erziehung, die auch dadurch charakterisiert ist, daß sie von der Jugend und darum überhaupt aus dem Staate fernzuhalten sucht, was der Jugend mora-lisch schaden kann. Auf der anderen Seite hat Piaton doch auch bis

213 Plutarch, Dion 47, 979: 'Ανθρώπου δέ κακία ν, εί καΐ χαλεπόν έστιν, ούχ οδτως ίγριον είναι παντάπασι καΐ δύσκολον, ώοτε μή μεταβάλλειν χάριτι νικηθεΐααν δπ6 των πολλάκις εδ ποιούντων.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 137

•in sein Lebensende jene sokratische Methode des Fragens fortgesetzt, die immer wieder von neuem fragt, was denn eigentlich das Gute und das Gerechte oder die 'Tugend' ist, womit deren Inhalt doch immer wieder in Frage gestellt wird: daher sich auch der reaktio-näre Politiker und Historiker Theopomp über diese 'zersetzende' Tä-tigkeit in der platonischen Akademie erregte214: „als ob nicht jeder anständige Mensch (im Sinne überkommener Anschauungen) ganz genau wüßte, was gut und anständig ist". Diesen Widerstreit hat Piaton nicht in einer Schrift ausdrücklich herausgestellt und erörtert. Aber daß er doch auch nicht ganz blind dagegen gewesen ist, zeigt wohl jene Stelle in den Gesetzen215, wo, nachdem des längeren von den Vorzügen der strengen spartanischen Erziehung die Rede ge-wesen ist, der Spartaner Megillos sagt, aber das sei doch auch wahr, was oft gesagt werde, daß, wenn ein Athener vortrefflich sei, er es in außergewöhnlichem Maße sei: denn die Athener allein (bei denen es den Erziehungszwang nicht gibt) seien ohne Zwang ganz aus eigenem Wuchs durch göttliche Hilfe wahrhaft und nicht durch künstliche Formung vortrefflich (natürlich: f a l l s sie vortrefflich seien). Das ist aber jene Einsicht, auf Grund deren man nicht ohne Berechtigung sagen kann, Piaton habe im 'Staat' einen Staat kon-struiert, in dem Sokrates nicht hingerichtet worden wäre, aber in dem es einen Sokrates gar nicht geben, in dem er gar nicht hätte entstehen können.

Aber auch das ist nicht eine von Pia ton geschaffene, sondern in der condition humaine begründete Antinomie. Diese ist ihrem Wesen nach sehr nahe verwandt der von Piaton selbst im Politikos mit so unvergleichlicher Schärfe herausgestellten Antinomie zwischen der Wünschbarkeit, jeden speziellen Fall nach seinen ihm innewoh-nenden Besonderheiten entscheiden zu können, was nur durch ein Individuum geschehen kann, das an keine abstrakten und allge-meinen Regeln gebunden ist, und der Notwendigkeit, diejenigen, welche die Entscheidungen zu treffen haben, an gewisse Regeln und Gesetze zu binden, wenn die Entscheidungsfreiheit nicht in anarchi-

214 FGrH 115 F 175. 215 Piaton, Leges II, 642 e.

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sehe Willkür und Ordnungslosigkeit ausarten soll. Die außerordent-liche faktische Gewalt dieser Antinomie im geschichtlichen Leben zeigt sich auch darin, daß, wie wir es gerade in unserer Zeit erfahren haben, diejenigen, die eine bestehende und starr gewordene Ordnung durch eine Revolution durchbrochen und zerstört haben, es sehr eilig zu haben pflegen, sogleich nach ihrem Sieg den Menschen noch engere Regeln und Gesetze nebst der dazugehörigen Erziehung aufzuzwingen, die das lebendige Leben von neuem auf eine andere Art vergewaltigen.

In denselben Zusammenhang gehört auch die Zulassung der Lüge in gewissen Fällen und unter gewissen Umständen im 'Staat'21', wor-über sich die modernen Antiplatoniker besonders ereifert haben. Diese Zulassung ist jedoch bei Piaton einer sehr starken Einschrän-kung unterworfen. Die einzige konkrete Anwendung, die sich bei Piaton findet, ist, daß den jungen Leuten, wenn sie auf ihre Eignung für die höheren Stände geprüft werden, gesagt wird217, sie würden darauf geprüft, ob das Gold oder das Silber oder das Kupfer in ihnen überwiege, was ein symbolischer Ausdruck für die Verschiedenheit ihrer intellektuellen und charakterlichen Qualitäten ist. Das Be-zeichnende ist jedoch, daß trotz dieser theoretischen Duldung der staatlichen Zwecklüge Dion, im Gefolge Piatons, in der Praxis in der Anwendung des Prinzipes absoluter Ehrlichkeit und Offenheit weiter gegangen ist als irgendein bekannter Staatsmann irgendeiner Zeit und eben dadurch zu seinem eigenen Untergang beigetragen hat, wie er auch trotz des platonischen Bildes vom Herausschneiden des Krebsgeschwüres aus dem Körper des Staates Herakleides gegenüber das ebenfalls platonische Ideal der Großmut dem unterlegenen Gegner gegenüber zur Anwendung gebracht hat, bis er dann im ungeeignetsten Augenblick in der Verzweiflung doch zum Skalpell des staatlichen Chirurgen gegriffen hat.

Das alles zeigt, wie oberflächlich die Ausführungen der modernen Anti-Platoniker sind, die nur die eine Seite der platonischen Staats-philosophie in grellen Farben herausstellen und gegen ihre andere

2l« Piaton, „Staat", II, 377 a ff. 217 Ibid. 415 a ff.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 139

Seite die Augen verschließen218. Es ist das Große und des immer erneuten Durchdenkens Werte der platonischen Staatsphilosophie, daß Piaton die niemals ganz zu überwindenden Antinomien in dem Verhältnis des Individuums zu dem Staat, dem es angehört, und des Staates zu den Individuen teils in seinen späteren Staatsschriften mit unvergleichlicher Schärfe bewußt herausgestellt hat, teils in dem Widerstreit der verschiedenen von ihm vertretenen Prinzipien des Handelns theoretisch und in der von Dion geübten, durch sie offen-bar weitgehend bestimmten,politischen Praxis zur Anschauung bringt.

Nur in e i n e m allerdings scheint das, was sich nun als Resultat ergeben hat, eindeutig einer Überzeugung zu widersprechen, die Piatons ganzer erster Idealstaatkonstruktion zugrunde liegt und an der er nach Ausweis des siebenten Briefes219 auch in hohem Alter wenigstens im wesentlichen noch festgehalten hat: der Überzeugung, daß es mit den menschlichen Staatswesen nicht besser werden könne, wenn nicht die 'Könige' oder führenden Staatsmänner Philosophen oder die Philosophen Könige würden. Kant hat dem bekanntlich in seiner Schrift vom Streit der Fakultäten die Meinung entgegengesetzt, daß die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen würden, sei nicht zu erwarten, aber vielleicht auch nicht einmal zu wünschen, „weil der Besitz der Gewalt den freien Gebrauch der Vernunft un-vermeidlich verdirbt". Den Inhalt des begründenden Nebensatzes 218 Popper, der Piaton sorgfältig gelesen hat, wird trotz seiner heftigen An-

griffe auf ihn doch fast wider seinen Willen dazu zurückgeführt, ein für alle Zeiten Wertvolles bei Pia ton anzuerkennen. Der Popper-Verehrer George Sarton in seiner History of Science, Harvard Univ. Press, 1952, S. 410/11 dagegen hat keinerlei Bedenken, Piaton genau das Gegenteil von dem zuzuschreiben, was er wirklich sagt: 410: „In the Statesman the rulers are likened to sheperds of men the rulers are sheperds, the guardians are the dogs, the masses are the herd. The art of ruling men is not essentially different from that of managing and breeding cattle." Der ganze Dialog ist im Gegensatz zu dieser Behauptung dem Beweis gewidmet, daß der viel gebrauchte Vergleich unrichtig ist, und dem Versuche, die Unterschiede so deutlich wie möglich zu machen. S. 411: Plato must have witnessed many illustrations of the statement often attributed to Lord Acton „Power corrupts, absolute power corrupts absolutely", yet there is no evidence (vgl. unten S. 140 mit Anm. 221), that he ever drew that conclusion.

2,9 Platon, Ер. VII, 326 a/b.

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140 Piaton in Sizilien

am Ende hat Piaton an zwei Stellen seiner 'Gesetze'220 vorwegge-nommen, an deren zweiter und prägnanteren er sagt, daß „keine menschliche Natur, wenn sie alle menschlichen Dinge mit uneinge-schränkter Gewalt regelt (bzw. regeln darf), imstande ist, nicht mit Überhebung und Ungerechtigkeit angefüllt zu werden"221. Das ist die Behauptung 'power corrupts, absolute power corrupts absolu-tely' in schärfster Ausprägung; und wenn hier von „keiner mensch-lichen Natur" die Rede ist, so scheint damit auch ausgeschlossen zu sein, daß die Seelen der Philosophen davon eine Ausnahme bildeten. Der korrumpierende Effekt des Besitzes der Gewalt besteht hier in der Überhebung und „Ungerechtigkeit", die sie in der Seele dessen, der sie besitzt, erzeugt. Vielleicht wäre es jedoch dem Phi-losophen höchsten Ranges, der seine Augen auf die ιδέα του άγαθοϋ gerichtet hält, sogar möglich, d i e s e r Art der Korruption seiner Vernunft bis zu einem gewissen Grade zu widerstehen. Aber Piatons persönliche Abenteuer in Verbindung mit seiner Verwicklung in sizilische Politik legen sehr anschauliches Zeugnis ab noch von einer anderen und vielleicht noch ausgedehnteren Verderbnis des freien Gebrauchs der Vernunft, die nicht erst aus dem Besitz un-eingeschränkter Macht hervorgeht, sondern schon mit der Assozia-tion mit politischer Macht verbunden ist. Sie zeigt sich vor allem darin, daß sich Piaton, wie der siebente Brief im einzelnen zeigt, wider bessere eigene Voraussicht durch das Gefühl der Verpflichtung dem Freunde Dion gegenüber und dann von neuem durch das Drän-gen der Freunde in die politischen Intrigen am Hofe des jüngeren Dionys hat hineinziehen lassen, aber auch in dem durch die Rücksicht auf den Menschen Herakleides veranlaßten Zögern Dions, diesen rechtzeitig aus dem politischen Körper zu entfernen.

Die dezidierten Demokraten unter den modernen Piatongegnern werden an dieser Stelle sofort darauf aufmerksam machen, daß nach dem Ergebnis meiner eigenen Analyse es nicht im eigentlichen Sinne philosophische Prinzipien waren, die zur Verzerrung des

220 Piaton, Leges IV, 713 с; vgl. auch III , 691 c/d. 221 ώς άνθρωπεία φύσις ούδεμία Ικανή τά άνθρώπινα διοικοϋσα αυτοκράτωρ

πάντα, μή ούχ δβρεώς τε καΐ άδικίας μεστοδαθαι.

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 141

Ergebnisses rein „vernünftiger" Erwägungen führten, sondern ein-gestandenermaßen Prinzipien, die aus der aristokratischen Tradition Piatons stammten und daher ipso facto minderen Ranges, wenn nicht a priori völlig zu verwerfen sind. Dem läßt sich jedoch zwei-erlei entgegenhalten. Das erste ist, daß nicht nur nach einer in Piatons Gesetzen erörterten Theorie, sondern in Wirklichkeit es nur den wenigsten, wenn überhaupt jemandem, jedenfalls aber nicht dem Durchschnitt der Menschen, gegeben ist, sich bei jeder Hand-lung und Entscheidung selbständig durch Nachdenken — wie So-krates einmal eine ganze Nacht an einem Platze stehen geblieben sein soll, um über einen solchen Punkt nachzudenken — über das, was in dem besonderen Falle das Rechte und wahrhaft Richtige ist, zu orientieren, sondern daß sie eines Haltes an von außen gegebenen Regeln und Geboten bedürfen, wenn sie nicht jede feste Richtung verlieren sollen. Diese von außen gegebenen Regeln aber sind immer bis zu einem gewissen Grade zeitbedingt und unvollkommen. Wie das Metall Gold läßt sich auch das Gold der reinen und absoluten Ethik nur mit einem Zusatz unedlerer Metalle praktisch verwerten.

Das zweite ist, daß die aristokratischen Prinzipien innerhalb von Piatons Ethik sich in diesen beiden Fällen als „humaner", d.h. mit mehr Respekt für den einzelnen Menschen als menschliches Wesen und für die menschlichen Bindungen zwischen Mensch und Mensch durchdrungen erweisen als es die Prinzipien radikaler Demokraten, von den totalitären Volksdemokraten zu schweigen, zu sein pflegen. Trotzdem erwiesen sie sich in den früher diskutierten konkreten Fällen als verderblich, was nicht bedeutet, daß sie es unter allen Umständen zu sein oder zu werden brauchen. Aber auch die Prin-zipien der reinen und absoluten philosophischen Ethik des Sokrates zeigen sich in der praktischen Politik als undurchführbar, wie es in der früher zitierten Äußerung des Sokrates bei Piaton zum Ausdruck kommt, daß er mit seinen Prinzipien schon lange tot und gar nicht zu der Wirkung, die er wirklich ausgeübt hat, gekommen wäre, wenn er versucht hätte, eine aktive politische Rolle zu spielen.

Angesichts dieser historischen Tatsachen, die in gewisser Weise die Unbrauchbarkeit der Philosophie in der Politik und für die

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142 Piaton in Sizilien

Politik zu erweisen scheinen, stellt sich dann die Frage, ob Kant mit dem zweiten Teile seiner Ausführungen im Streit der Fakultäten recht hat, wo er sagt, „daß aber die Könige und königliche, d.h. sich nach Gesetzen der Freiheit selbst regierende Völker die Philosophen frei reden lassen und auf sie hören, ist ihnen zur Beleuchtung ihres Geschäftes unentbehrlich". Die Politiker aller Zeit haben die Neigung gehabt, auf die Philosophen und auf die Intellektuellen wegen des unpraktischen und oft widerspruchsvollen Charakters ihrer Prinzi-pien und Argumentationen herabzusehen. Sie haben diese außerdem als störend empfunden. So haben sie Sokrates angeklagt und seine Verurteilung zum Tode durchgesetzt, weil er mit seinen „zersetzen-den" Fragen die Jugend verdorben hat. So haben sie in dem „revo-lutionären" Osten, der von der rasanten Bewegung der Revolution sehr schnell zur Erstarrung übergegangen ist, die er noch immer als „revolutionär" bezeichnet, aber doch auch im Westen immer wieder den Versuch gemacht, die freie Meinungsäußerung und Diskussion mit Mitteln der staatlichen Macht zu unterdrücken. Und doch hat sich diese, gerade wo die Unterdrückung am stärksten war, immer wieder mit elementarer Gewalt durchgesetzt. Sie scheint damit einem letzterdings ununterdrückbaren Bedürfnis des Menschen zu ent-sprechen.

Der Grund für dieses ununterdrückbare Bedürfnis liegt in der notwendigen Verderbnis des freien Gebrauchs der Vernunft nicht nur durch den vollen Besitz, sondern schon durch die Teilhabe an der Gewalt, von der Piaton, Kant, Lord Acton und andere in ver-schiedener Weise gesprochen haben. Da es in der condition humaine gelegen ist, daß das menschliche Handeln, selbst da, wo es nicht durch irrationale Leidenschaften beherrscht wird, sondern auf ein wirkliches, nicht nur scheinbares „Gut" gerichtet ist, von zwei bis zu einem gewissen Grade widerstreitenden Prinzipien bestimmt wird: die Rücksicht auf das Wohl und die freie Entfaltung des einzelnen, ohne die das Ganze nicht gedeihen kann, und die Rücksicht auf das Wohl, d.h. den Zusammenhalt des Ganzen, ohne den der Ein-zelne sich nicht als Mensch entwickeln kann, und da das politische Handeln unaufhörlich zu einer προαίρεσις, einer Wahl zwischen

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Die syrakusanischen Wirren bis zum Tode Dions 143

diesen Prinzipien zwingt, die einmal eingeschlagene Richtung aber einen eigenen Impuls mit sich bringt, bis zum verderblichen Extrem in ihr fortzufahren, ist ein Korrektiv unentbehrlich, das die Wirkung hat, die Bewegung immer wieder nach der richtigen Mitte, dem μέσον des Aristoteles, zurückzulenken. Dieses Korrektiv ist das, was Aristoteles den λόγος περί τοΰ δικαίου και του άδικου genannt hat, die Auseinandersetzung darüber, was recht und was unrecht ist, eine Diskussion, die aus den angegebenen Gründen niemals zu Ende kommen und zu einer endgültigen Lösung kommen kann, von der aber Aristoteles mit Recht gesagt hat, daß sie es ist, die den Menschen zum Menschen macht, d.h. ohne die er nicht zum voll-gültigen Menschen werden kann. Zu dieser Auseinandersetzung hat Piaton bewußt und unbewußt und gerade auch da, wo er mit seinen Bemühungen in der Praxis gescheitert ist, einen unvergänglichen Beitrag geliefert.

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