platon in sizilien und das problem der philosophenherrschaft () || vorwort

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Vorwort Als vor ca. 15 Jahren mein Buch über die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum 1 erschienen war, konnte man die Rezen- sionen mit ganz wenigen Ausnahmen in zwei Gruppen einteilen. Sie waren fast alle ziemlich positiv. Aber die von klassischen Philologen oder Althistorikern verfaßten pflegten so ungefähr zu sagen, in den ersten Kapiteln stünde allerhand Neues und Interessantes, aber da- neben doch etwas allzuvieles, das dem Spezialisten in alter Geschichte schon vorher bekannt gewesen sei, warum aber das letzte Kapitel unter anderem eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Staats- theorie von Thomas Hobbes bringe, sei bei dem Werk eines klas- sischen Philologen schlechterdings überhaupt nicht einzusehen. Die von Spezialisten der politischen Wissenschaft verfaßten Rezensionen umgekehrt erklärten die letzten Kapitel für recht interessant, fanden aber, die vorangehenden Kapitel enthielten so viele historische De- tails, daß man es einem Politologen nicht zumuten könne, sich da hindurchzuarbeiten, geschweige denn, das alles nachzuprüfen. Diese Tatsache scheint mir auf eine gewisse Schizophrenie in unserem heutigen Wissenschaftsbetrieb hinzudeuten. Es war für mich der erste Anstoß zur Abfassung meines Buches gewesen, daß ich im Zusammenhang mit der damals vor allem in den angelsäch- sischen Ländern geführten Debatte zwischen den Anhängern der Theorie von der Gewaltenteilung und den Anhängern der Hobbes' sehen Theorie von der absoluten und unteilbaren Souveränität unter den aus der römischen Geschichte geschöpften Argumenten für die eine oder die andere Seite eine große Menge allgemein und auch außerhalb dieser speziellen Diskussion verbreitete Irrtümer sowohl 1 K. von Fritz. The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity, New York, 1954. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:45 PM

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Vorwort

Als vor ca. 15 Jahren mein Buch über die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum1 erschienen war, konnte man die Rezen-sionen mit ganz wenigen Ausnahmen in zwei Gruppen einteilen. Sie waren fast alle ziemlich positiv. Aber die von klassischen Philologen oder Althistorikern verfaßten pflegten so ungefähr zu sagen, in den ersten Kapiteln stünde allerhand Neues und Interessantes, aber da-neben doch etwas allzuvieles, das dem Spezialisten in alter Geschichte schon vorher bekannt gewesen sei, warum aber das letzte Kapitel unter anderem eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Staats-theorie von Thomas Hobbes bringe, sei bei dem Werk eines klas-sischen Philologen schlechterdings überhaupt nicht einzusehen. Die von Spezialisten der politischen Wissenschaft verfaßten Rezensionen umgekehrt erklärten die letzten Kapitel für recht interessant, fanden aber, die vorangehenden Kapitel enthielten so viele historische De-tails, daß man es einem Politologen nicht zumuten könne, sich da hindurchzuarbeiten, geschweige denn, das alles nachzuprüfen.

Diese Tatsache scheint mir auf eine gewisse Schizophrenie in unserem heutigen Wissenschaftsbetrieb hinzudeuten. Es war für mich der erste Anstoß zur Abfassung meines Buches gewesen, daß ich im Zusammenhang mit der damals vor allem in den angelsäch-sischen Ländern geführten Debatte zwischen den Anhängern der Theorie von der Gewaltenteilung und den Anhängern der Hobbes' sehen Theorie von der absoluten und unteilbaren Souveränität unter den aus der römischen Geschichte geschöpften Argumenten für die eine oder die andere Seite eine große Menge allgemein und auch außerhalb dieser speziellen Diskussion verbreitete Irrtümer sowohl

1 K. von Fritz. The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity, New York, 1954.

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VI Vorwort

hinsichtlich der Fakten wie auch hinsichtlich ihrer Interpretation zu entdecken glaubte. Da ferner der antike Historiker Polybius der erste gewesen war, der die Römische Verfassung in der Absicht analysiert hatte, allgemeine politikwissenschaftliche Schlüsse aus ihr, bzw. aus der, wie er meinte, durch diese vortreffliche Verfassung bewirkten besonderen Stabilität des römischen Staates zu ziehen, so war es mir ferner als notwendig erschienen, auch Polybius und seine Ante-zedenten innerhalb der griechischen Staatstheorie in den Kreis meiner Betrachtung zu ziehen. Im übrigen hatte ich jedoch im Vorwort zu meinem Buche ausdrücklich gesagt, daß es mir am liebsten gewesen wäre, wenn ich nur allgemein bekannte und anerkannte historische Fakten zu verwenden brauchte, daß ich, da dies nicht möglich ge-wesen war, einige wichtige Fakten in besonderen vorher veröffent-lichten Spezialarbeiten zu sichern versucht hatte, aber einige kürzere Untersuchungen dieser Art doch in das Buch hatte aufnehmen müs-sen, um den Leser nicht allzusehr von zusätzlicher Literatur abhängig zu machen. Dies waren also die Beiträge, die von den Spezialisten in Alter Geschichte anerkannt wurden. Diese Beiträge befanden sich aber nur notgedrungen und gegen meinen Wunsch in meinem Buch, dessen einziges Ziel es war, die Ergebnisse philologischer und histo-rischer Arbeit in den Dienst politikwissenschaftlicher Analysen zu stellen.

Neben dem ursprünglichen Ziel, zur Korrektur und Klärung der in dem Streit der Anhänger der Gewaltenteilung mit den Befürwor-tern der absoluten Souveränität gebrauchten historischen Argumente beizutragen, war es mein Hauptziel gewesen, ganz im Sinne der positivistischen Schule, der ich sonst nicht angehöre, Fälle aufzu-weisen, in denen politische Entscheidungen, die auf ein gewisses Ziel gerichtet gewesen waren, aus einsichtigen und nachweisbaren Grün-den genau das Gegenteil dessen bewirkt hatten, was intendiert ge-wesen war. Ich hatte gehofft, daß dieser von den reinen Historikern selten beachtete Aspekt doch auch für den Historiker ein gewisses Interesse besitzen würde. Er wurde jedoch von der Mehrzahl der Historiker unter den Rezensenten überhaupt nicht beachtet, während die Politologen sich zwar dafür interessierten, aber wegen der Fülle

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Vorwort VII

der historischen Details und der in einigen Fällen unvermeidlichen Langwierigkeit ihrer exakten Feststellung keinen vollen Gebrauch davon glaubten machen zu können. Es ist aber schwer zu sehen, wie die politische Wissenschaft in denjenigen ihrer Untersuchungen, die ganz und gar auf historische Analyse angewiesen sind, zu richtigen und brauchbaren Ergebnissen gelangen soll, wenn sie sich selbst dann scheut, die historischen Fakten, von denen sie ausgehen muß, in allen Details in Bezug auf ihre Bedeutung für den weiteren Verlauf der Dinge nachzuprüfen, wenn ihr das Material für diese Nachprü-fung in aller Fülle nebst zugehörigen Überlegungen angeboten wird. Die Abschließung der Grenzen der Wissenschaften gegeneinander, die von manchen geradezu als Kriterium der wahren Wissenschaft-lichkeit gepriesen wird, weil dann jeder nur mit dem umgeht, was er ganz genau kennt, kann sich hier nur zum Schaden der wissenschaft-lichen Einsicht auswirken.

Die wenigen Ausnahmen — um dies doch auch zu erwähnen — die nicht in eine der beiden Kategorien von Rezensionen fielen, waren in der Sache kritischer. Hier wurde z.B. der Einwand erhoben, ob ich nicht vielleicht die Auswirkungen der von mir hervorgehobenen Tatsache überschätzt habe, daß die offiziellen Leiter der römischen Politik, die Consuln, kein Kabinett hatten, sondern für Beratungen ganz auf das große Gremium des Senates angewiesen waren, und ob für die Folgen dieser Tatsache, die ich aufzuweisen versucht hatte, nicht noch andere Ursachen verantwortlich zu machen seien. Dies ist die Art der Kritik, über die jeder Autor sich freuen sollte, da sie mit vollem Verständnis genau auf seinen Gegenstand eingeht und das Erkannte über das vom Autor Erreichte hinaus weiter zu präzi-sieren versucht. Diese Kritik bewegt sich auch auf der Grenze zwischen zwei Gebieten, indem sie sowohl die geschichtlichen Tat-sachen weiter zu analysieren als auch die daraus zu ziehenden allge-meineren politikwissenschaftlichen Folgerungen genauer zu fassen versucht.

Die hier vorliegende Abhandlung enthält prozentual mehr Unter-

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VIII Vorwort

suchungen, die zum engeren Interessengebiet des klassischen Philo-logen und des Althistorikers gehören als das frühere Buch. Aber das eigentliche Ziel und die eigentliche Absicht der Abhandlung ist auch hier nicht in erster Linie auf die hierher gehörigen Ergebnisse gerich-tet, sondern darauf, einen Beitrag zu liefern zur Lösung des Problems der Philosophenherrschaft oder des noch etwas weiteren in unserer Zeit sehr akuten Problems der Rolle der sogenannten „Intellektuel-len" im Staat und in der Politik.

Von außen gesehen scheint sich die Abhandlung ihrem eigent-lichen Thema nur ganz allmählich und auf großen Umwegen zu nähern, indem das erste Kapitel ein philologisches Problem, die Frage der Echtheit des siebenten der unter Piatons Namen erhaltenen Briefes, zu lösen versucht, das zweite den Versuch macht, das Schei-tern der Bestrebungen von Piatons Freund Dion, in Syrakus plato-nische politische Ideale zu verwirklichen, in seinem Verlauf und in seinen Ursachen genauer aufzuklären, das dritte endlich sich mit dem Zusammenhang zwischen Piatons Einwirkungen auf seinen Freund und dem Scheitern seiner Pläne beschäftigt und erst am Schluß expressis verbis auf das eigentliche Problem zu sprechen kommt. In Wirklichkeit steht jedoch dieses allgemeine Problem vom Anfang des ersten Kapitels an im Mittelpunkt der Untersuchung. Denn dieses Kapitel sucht zu zeigen, wie nur der siebte Brief erklärt, was, wenn man nur die Nachrichten der antiken Historiker über die objektiven Ereignisse hätte, ganz unerklärt bleiben müßte: wie es gekommen ist, daß Piaton, einer der größten Philosophen und der eindringendsten politischen Denker aller Zeiten, sich in ein Unter-nehmen hat verwickeln lassen, das mit einer Katastrophe für alle Beteiligten geendet hat. Die folgenden Kapitel suchen dann nur noch, die Ursachen dieses Scheiterns im Hinblick auf die allgemeine Frage der Beteiligung der „Philosophen" an der Politik im einzelnen nach-zuweisen.

Unter den Gründen des Scheiterns des Unternehmens Dions, an dem Piaton so stark beteiligt war, befanden sich, wie bei allen his-

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Vorwort IX

torischen Ereignissen, natürlicherweise auch viele zufällige, die sich unter einer anderen historischen Konstellation nicht wiederholen würden. Aber ich glaube, der Verlauf des Geschehens gerade in diesem exemplarischen Falle läßt durch alle positiven und negativen Zufälligkeiten hindurch besonders deutlich erkennen, warum ent-gegen der Meinung Piatons der Versuch des „Philosophen", sich aktiv an der Politik zu beteiligen, notwendig scheitern muß. Piaton selbst in seinen „Gesetzen", Kant im „Streit der Fakultäten", Lord Acton und manche andere haben immer wieder ausgesprochen, daß — in der Formulierung Kants — „der Besitz der Gewalt den freien Gebrauch der Vernunft unvermeidlich verdirbt". Meist denkt man dabei — und Piaton selbst hat eben gerade dies mit den deutlichsten Worten aus-gesprochen — daran, daß der Besitz der Gewalt in demjenigen, der sie besitzt, die Lust an der Macht erwecke und daß diese Lust an der Macht es sei, die ihn veranlasse, entgegen den Interessen des Ge-meinwesens zu handeln, dem er dienen soll, um seiner Lust an der Macht frönen zu können. Aber Piaton selbst scheint von Versuch-ungen dieser Art in außergewöhnlichem Maße frei gewesen zu sein. Auch ist er nie „im Besitz der Gewalt" gewesen, sondern hat nur ganz indirekt durch seinen Freund Dion auf die Ereignisse einge-wirkt. Die Entwicklung der Dinge in Syrakus und der siebte Brief, der Piatons Verwicklung in sie erklärt, sind deshalb so interessant, weil sie zeigen, daß Piaton durchaus nicht aus „Lust an der Macht", sondern, weil er durch den ersten Anstoß, den er zu dem aktiven Eingreifen Dions in die Politik gegeben hatte, die Verpflichtung dazu eingegangen zu sein glaubte, entgegen seinem bessern Urteil sich persönlich an der ersten Phase von dessen Unternehmen beteiligt hat. Auch im weiteren Verlauf sind es immer wieder solche Verpflich-tungen gewesen, die ihn bewogen haben, entgegen seiner besseren Einsicht zu handeln. Dies scheint zu zeigen, daß das, was Kant mit so lapidaren Worten gesagt hat, weit über das hinaus gilt, was in diesen Worten unzweideutig ausgesprochen ist.

„Der Handelnde ist immer gewissenlos". Er muß es sein, weil er, ohne alle für die richtige Entscheidung notwendigen Erkenntnisse zu

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χ Vorwort

besitzen, handeln muß. Denn keine Entscheidung zu treffen kann in vielen Fällen auch eine Entscheidung von sehr gewichtigen Folgen sein; und es gibt Situationen, in denen es weniger schlimme Folgen hat, eine falsche Entscheidung zu treffen als gar nicht zu handeln. Nichts aber wird dem handelnden Politiker weniger verziehen als das, was den Menschen als Wankelmut erscheint. Darüber gibt es die höchst eindruckvolle Geschichte bei Herodot2, wo Xerxes, nachdem er den Zug gegen Griechenland, der dann mit einer großen Nieder-lage der Perser endete, öffentlich angekündigt hat, Bedenken be-kommt und beschließt, den Feldzug, zu dessen Vorbereitung er schon Anweisung gegeben hat, wieder abzublasen. Da erscheint ihm in der Nacht ein Traumbild, das ihm sagt: „wenn du das tust, wirst du in ebenso kurzer Zeit ganz klein sein, wie du nach dem Tode des Dareios groß geworden bist, und den, der dir das verzeihen wird, gibt es nicht". Man hat das mit den antiken Vorstellungen vom unentrinnbaren und unerforschlichen Schicksal in Verbindung gebracht. Aber das Traum-bild hat einfach recht. Die furchtbare Niederlage und der gewaltige Verlust an Menschenleben, den sie gekostet hat, hat den Thron des Xerxes nicht ins Wanken gebracht. Aber wenn er den pomphaft an-gekündigten Krieg wieder abgeblasen hätte, hätte er sich wegen seiner Schwäche und seines Wankelmuts die Verachtung auch derer zuge-zogen, die gegen den Krieg gewesen waren, wie es in dem letzten Teil des zitierten Satzes in unnachahmlicher Weise ausgesprochen ist. Das ist auch der Grund, weshalb Kriege, deren Sinnlosigkeit schon längst offenbar geworden ist und deren Fortsetzung entsetzliches Leiden über die Menschen bringt, sobald einmal mehr als bloße Berufsarmeen in ihnen engagiert sind, so selten beendet werden können, ehe eine Partei den „Endsieg" davongetragen hat, obwohl „Endsiege" in ihren weiteren Folgen, wie die Geschichte lehrt, dem Sieger kaum weniger verderblich zu sein pflegen als dem Besiegten die Niederlage und zu immer neuen Konflikten in der Zukunft Anlaß geben. Das ist eine der dunklen Grundrealitäten der Politik, solange die Menschen bleiben, was sie sind.

2 Herodot VII.

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Vorwort XI

Darum ist es so wichtig, daß es eine Gruppe von Menschen gibt, die nicht aktiv als politisch Handelnde, d.h. politische Entscheidungen Fällende engagiert sind, sondern, wie Kant sagt, es zu ihrem „Ge-schäfte" gemacht haben, über die Dinge nachzudenken. Es sind die-jenigen, die man im Altertum Philosophen genannt hat, was aber mehr umfaßt als was man heutzutage als professionelle Philosophen zu bezeichnen pflegt: alle diejenigen nämlich, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, jenen λόγσς περί τοϋ δικαίου και του άδικου, das Ge-spräch oder die Diskussion nicht nur über das was recht und unrecht, sondern auch über das was richtig oder unrichtig ist, aufrecht zu erhalten, von dem Aristoteles gesagt hat, daß er das ist, was eigent-lich den Menschen zum Menschen macht. Es ist die Aufgabe dieser „Philosophen", durch ständige Kritik, durch unaufhörliches Heraus-arbeiten von besseren Alternativen und Hinweis auf sie, eine Ände-rung im Bewußtsein ihrer Mitbürger herbeizuführen, die es dem Staatsmann, wenn diese Änderung einmal durchgedrungen ist, erlaubt, seine Richtung zu ändern, ohne des Wankelmuts und der Schwäche beschuldigt zu werden, oder wenn er dazu zu starr oder nicht stark genug ist, einen andern an seine Stelle bringt, der die notwendige Kursänderung vorzunehmen imstande ist.

Die handelnden Politiker pflegen — mit ganz wenigen Aus-nahmen — diese Kritik der „Philosophen" oder der „Intellektuellen" nicht zu lieben, und umso weniger, je weniger sie sich im „Besitz der Gewalt" sicher fühlen. Es ist daher wohl nicht von ungefähr, daß der unerbittliche Kritiker Sokrates gerade in einer exzessiven Demo-kratie, in der es keine Regierung gab, die sich auf eine Parteienkoa-lition stützen konnte, und „gestürzt" werden mußte, wenn ihr die Gewalt entzogen werden sollte, sondern in welcher der Politiker sich seinen Einfluß und seine „Macht" von Tag zu Tag vor der Volks-versammlung neu erkämpfen mußte, unter der Anklage, „die Jugend zu verderben", verurteilt und hingerichtet worden ist. So sind es auch die durch eine Umwälzung oder Revolution an die Macht ge-kommenen Regierungen, die ihrer Macht noch nicht sicher sind, welche jederzeit die stärkste Neigung zur Unterdrückung freier Kritik

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XII Vorwort

und Meinungsäußerung gezeigt haben. Aber der Logos, der Geist und die Rede, dringt, aller Unterdrückung und allem Terror zum Trotz, durch alle Ritzen. Plötzlich taucht er in den Köpfen der Re-gierenden und an der Macht Befindlichen selber auf — wenn nicht deren, die den Terror der Unterdrückung der Meinungsfreiheit ein-geführt haben, so doch ihrer Nachfolger, die noch unter dem Regime des Terrors „an die Macht" gekommen sind. Das ist die Macht des Logos, der durch keine Hinrichtungen getötet und durch keine Ge-walt auf die Dauer erstickt werden kann.

Gefährlicher für ihn ist die Korruption von innen heraus. Sie wird bezeichnet durch Kants Kritik an Piatons Theorie vom Philo-sophenstaat. „Daß die Philosophen Könige oder die Könige Philo-sophen würden ist nicht zu erwarten und vielleicht nicht einmal zu wünschen, da der Besitz der Gewalt den freien Gebrauch der Ver-nunft unvermeidlich verdirbt". Wie das geschieht, wird durch Piatons eigenen Versuch, sich an praktischer Politik zu beteiligen, sehr deut-lich illustriert. Ja, dieser zeigt, daß nicht erst der Besitz der Gewalt, sondern schon der Versuch der indirekten Teilnahme an ihr bei einem ganz großen Philosophen den freien Gebrauch der Vernunft gehindert und verdorben hat. „Aber daß", so fährt Kant fort, „die Könige oder königliche, d.h. sich nach Gesetzen der Freiheit selbst regierende Völker die Philosophen frei reden lassen und auf sie hören, ist ihnen (d.h. den Königen und königlichen Völkern) zur Beleuchtung ihres Geschäftes unentbehrlich". Auch hier kann man, wie gezeigt, noch einen Schritt darüber hinaus gehen und sagen, daß sie, wenn sie sich auch dagegen sträuben und die „Philosophen" zu unterdrücken suchen, schließlich doch auf sie hören müssen.

Der Satz ist aber mit den beiden zitierten Stücken noch nicht ganz zu Ende. Er geht noch weiter mit den Worten „und wegen der Nachrede der Propaganda unverdächtig". Auch davon spricht Kant ferner, daß die Philosophen ihrer Natur nach der „Zusammenrottung" schlimmsten Korruption. Der Philosoph, wenn er sein Streben nach nicht fähig seien. Damit deutet er zugleich auf die Möglichkeit der

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Vorwort XIII

Erkenntnis rein halten will, kann nicht Staatsmann sein, weil er als solcher an die Konsequenzen eines aufgrund unvollkommener Er-kenntnis erfolgten Handelns gebunden ist. Die Propaganda ist das Gegenteil des freien λόγος περί του δικαίου και του άδικου, indem sie eine Meinung unter Ausschaltung der Diskussion den Menschen einzuhämmern sucht. Der Propagandist ist in noch viel höherem Maße als der handelnde Staatsmann an die Folgen seines Handelns gebunden. Wenn er auch nur zum geringsten Teil das, was er den andern einzuhämmern versucht hat, in seinen extremen Konsequenzen zurückzunehmen sucht, ist er sofort in Gefahr, seine Gefolgschaft zu verlieren. Das zwingt ihn fast mit Notwendigkeit zur unaufhörlichen „Eskalation". Kommt es dabei zur Gewalt, in diesem Falle einer nicht wie bei dem Staatsmann durch Befehle und autoritative Anord-nungen ausgeübten, sondern durch Aufreizung von Emotionen ver-anlagen Gewalt, so erzeugt diese natürlicherweise Gegengewalt und durch die dadurch von Neuem aufgereizten Emotionen am Ende die Zerstörung jeder zur Einsicht führenden Überlegung.

Es ist die natürliche Aufgabe der Philosophen, d.h. der freien „Intellektuellen", das Gewissen der Regierenden und der Regierten zu sein, nicht nur im moralischen Sinn, sondern auch in dem Sinn, daß sie unaufhörlich neue Einsicht oder „Wissen" zu gewinnen und es zur Geltung zu bringen suchen. Der Propagandist dagegen, der aufgrund eines notwendig unvolkommenen und einseitigen Wissens zur Gewalt aufruft, ist in ganz anderem Sinne gewissenlos als der Staatsmann, der als Handelnder in dem angegebenen Sinne notge-drungen „gewissenlos" sein muß, aber die Verantwortung für sein Handeln hat und seine Folgen zu spüren bekommt, während der Propagandist in der Regel die Verantwortung für die oft durchaus voraussehbaren Folgen seiner Propaganda abzulehnen und auf andere abzuwälzen sucht3. Er ist nicht wie der Staatsmann und Politiker s Auch das läßt sich sehr schön aus der Alten Geschichte illustrieren. Es

wurde schon damals oft bemerkt, daß die attischen Demagogen, wenn man ihnen vorwarf, daß Entscheidungen, zu denen sie mit heftigen Reden ge-drängt hatten, verhängnisvolle Folgen gehabt hatten, darauf zu antworten pflegten: „ihr hättet ja auf meine Reden nicht zu hören brauchen".

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XIV Votwort

die — da es nun einmal in der condition humaine gelegen ist, daß der Mensch aufgrund unvollkommener Einsicht zu handeln gezwungen ist — notwendige Ergänzung zu dem nur auf Erkenntnis gerichteten, politisch nicht handelnden „Philosophen", sondern praktiziert die wahre Verkehrung ins Gegenteil von all dem, was die wahre und eigentliche Aufgabe des Philosophen oder „Intellektuellen" ist. Das ist im übrigen von Piaton selbst in seinem Dialog „Gorgias" auf das Eindringlichste durchdiskutiert und sichtbar gemacht worden.

München, den 21.5.1968. Kurt von Fritz

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