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Projekt: Kollektives Arbeitsrecht
Erster Teil: Grundlagen
§ 1 Begriff und System des kollektiven Arbeitsrechts I. Begriffsbestimmung
Mit dem Begriff des kollektiven Arbeitsrechts bezeichnet man das Recht
der Koalitionen, ihrer Verträge und Auseinandersetzungen sowie das
Recht der Betriebsverfassung und der Beteiligung der Arbeitnehmer in
den Unternehmensorganisationen. Der Begriff fasst zwei Rechtsbereiche
zusammen, die auf einer unterschiedlichen Konzeption der
Interessenvertretung für die Arbeitnehmer beruhen. Das gemeinsame
Band ist ausschließlich, dass auf Seiten der Arbeitnehmer stets ein
Kollektiv besteht, entweder eine auf freiwilliger Grundlage beruhende
Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen oder ein durch die Betriebszugehörigkeit
vermittelter Zusammenschluss. Die Grundsätze und Formen der
Interessenvertretung sind dagegen völlig verschieden. Sie begründen eine
Zweigleisigkeit des kollektiven Arbeitsrechts, die den „Dualismus zwischen
der Gewerkschaftskonzeption und der Rätekonzeption, zwischen der
freiwilligen (auf Mitgliedschaft beruhenden) und der allgemeinen gleichen
(demokratischen) Interessenvertretung“ widerspiegelt.1
Die Gründe der Zweigleisigkeit liegen in der Sozialgeschichte
Deutschlands. Das Tarifvertragssystem und das Arbeitskampfrecht sind
aus dem allgemeinen, privatrechtliche geordneten Organisations- und
Verfahrenssystem hervorgegangen und deshalb auch heute noch
1 Ramm, JZ 1977, 1 ( 2).
1
weitgehend nicht durch die Gesetzgebung gestaltet. Die Mitbestimmung in
Betrieb und Unternehmen besteht dagegen nur nach Maßgabe des
Gesetzes.
II. System des kollektiven Arbeitsrechts Das Grundrecht der Arbeitsverfassung ist die in Art. 9 Abs. 3 GG
verankerte Koalitionsfreiheit. Die durch sie verfassungsrechtlich
gewährleistete Form für die Regelung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen sichert die Privatautonomie auf kollektiver Ebene.
Neben dem Koalitionsverbandsrecht bildet daher das Recht des
Tarifvertrags mit der Konfliktlösungsmöglichkeit durch Arbeitskampf und
Schlichtung einen auf denselben Leitprinzipien und Wertentscheidungen
beruhenden Regelungskomplex.
Die andere Form kollektiver Beteiligung zur Interessenwahrnehmung
enthält die gesetzliche Regelung der Mitbestimmung in Betrieb und
Unternehmen. Sie gliedert sich ihrerseits in die Betriebsverfassung, der für
den Bereich des öffentlichen Dienstes das Personalvertretungsrecht
zuzuordnen ist, und in die Gesetzesregelungen der
unternehmensbezogenen Mitbestimmung. Das Betriebsverfassungsgesetz
und die Personalvertretungsgesetze (Bundespersonalvertretungsgesetz
und Landespersonalvertretungsgesetze) geben der durch Wahl gebildeten
Vertretung der Beschäftigten (Betriebsrat bzw. Personalrat)
unterschiedlich abgestufte Beteiligungsrechte, die Mitwirkungs- und
Mitbestimmungsrechte, an bestimmten Maßnahmen der Betriebs- bzw.
Dienststellenleitung. Durch die Gesetzesregelungen der
unternehmensbezogenen Mitbestimmung werden Arbeitnehmervertreter in
die Unternehmensorgane einbezogen, die in den Kapitalgesellschaften
2
und Genossenschaften die Unternehmensleitung auswählen und
kontrollieren. Dieser Bereich ist der Sache nach
Unternehmensorganisationsrecht, dessen Regelungen das
Gesellschaftsrecht enthält.
Daraus ergibt sich ein System, das der Gliederung der folgenden
Darstellung zugrunde gelegt wird:
- Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Arbeitsverfassung;
- Koalitionsverbandsrecht;
- Tarifvertragsrecht;
- Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht;
- Betriebsverfassungsrecht;
- Personalvertretungsrecht;
- Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen (Mitbe-
stimmungsrecht).
III. Kollektives Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Abkommen und des Europäischen Gemeinschaftsrechts
Koalitionsfreiheit, Tarifvertrag und Arbeitskampf sind in vielfältiger Weise
Gegenstand internationaler Abkommen, die dem Völkerrecht angehören.
So hat die Koalitionsfreiheit als Grundrecht ihren Niederschlag in
mehreren internationalen Abkommen gefunden: der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, dem
Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem
Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention und der
Europäischen Sozialcharta. Besonders hervorgehoben wird sie im
Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Nr. 87 über die
3
Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts (1948).
Ergänzt wird letzteres Abkommen durch das Abkommen Nr. 98 über die
Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechts und des Rechts zu
kollektiven Verhandlungen (1949).2
Von den völkerrechtlichen Abkommen unterscheidet sich das Europäische
Gemeinschaftsrecht dadurch, dass es für die Mitgliedsstaaten unmittelbar
geltendes Recht festlegt. Durch Art. 139 EGV wird der Dialog zwischen
den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene institutionell gesichert. Die
Kommission fördert, wie sich aus Art. 140 EGV ergibt zur Verbesserung
und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der
Europäischen Gemeinschaft die Abstimmung auf dem Gebiet des
Koalitionsrechts und der Koalitionsverhandlungen zwischen Arbeitgebern
und Arbeitnehmern. Wenn man von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer
(Art. 39 EGV) und der Entgeltgleichheit für Frauen und Männer (Art. 141
EGV) absieht, ist die Kompetenz der Gemeinschaft für das Arbeitsrecht
(Art. 137 EGV) aber auf den Erlass von Richtlinien beschränkt, die sich an
die Mitgliedsstaaten richten. Sie sind, wie es in Art. 249 Abs. 3 EGV heißt,
für sie „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen
jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“. Für
das kollektive Arbeitsrecht ergibt sich dabei allerdings die Besonderheit,
dass die Kompetenz der Gemeinschaft nicht für das Arbeitsentgelt, das
Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht gilt (Art. 137
Abs. 5 EGV).
2 Vgl. zu den Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Gamillscheg, Kollektives
Arbeitsrecht, Bd. I S. 53 ff.
4
§ 2 Historische Grundlagen
I. Anfänge
Mit der Einführung der Gewerbefreiheit durch die Stein-Hardenberg’schen
Reformen hatte man für den gewerblichen Bereich die bisherige
genossenschaftliche oder staatliche Reglementierung der
Arbeitsverhältnisse durch den Grundsatz der Vertragsfreiheit ersetzt. Das
Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe usw. vom 7. 9.
1811 bestimmte in seinem § 8: „In diesem Falle, also bei Annahme von
Gewerbegehilfen und Lehrlingen, wird die Lehrzeit oder die Dauer des
Dienstes, das etwaige Lehrgeld, Lohn, Kost und Behandlung bloß durch
freien Vertrag bestimmt.“3 Von hier wandert die Formel in die Preußische
Gewerbeordnung von 1845 und von dort in die heute noch geltende
Gewerbeordnung, die in § 105 den für die Arbeitsverfassung wesentlichen
Grundsatz enthält: „Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den
selbständigen Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitnehmern
ist, vorbehaltlich der durch Bundesgesetz begründeten Beschränkungen,
Gegenstand freier Übereinkunft.“4
Das die Vertragsfreiheit beherrschende Prinzip paritätischer Verhandlung
und Einigung konnte aber wegen der Massenarmut in der Welt des 19.
Jahrhunderts nicht seine Funktion erfüllen. Die formale Gleichheit der
Vertragsparteien war durch ihre reale Imparität entwertet. Der Vertrag
verschuf dem Unternehmer, der die Verfügungsgewalt über die
Produktionsmittel hatte, faktisch ein Privileg zur Gestaltung der
Arbeitsbedingungen. Sozial- und ideengeschichtlich stand zur Debatte, ob 3 Gesetz-Sammlung für die Preußischen Staaten 1811, S. 263.
5
die Regelungsform des Vertrags zur Begründung und Regelung des
Arbeitsverhältnisses durch ein anderes System gesellschaftlicher Ordnung
zu ersetzen ist, wie dies in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in den
verschiedenen Diktaturen durchlitten wurde, oder ob die Lösung der
sozialen Frage innerhalb des Systems unter Aufrechterhaltung einer markt-
mäßig-rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens verwirklicht
werden kann.
Diese Möglichkeit eröffnete sich, als sich auf privatrechtlicher Grundlage
Gewerkschaften bildeten, die sich mit ihrer Forderung nach Abschluss von
Tarifverträgen durchsetzten. Neben ihnen, deren Legitimation auf dem
freiwilligen Verbandsbeitritt beruht, bildeten die zunächst freiwillig
eingerichteten Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben einen zweiten
Grundansatz für die Herstellung einer paritätischen Arbeitsverfassung. Der
kaiserliche Erlass vom 4. 2.1890, der einen Wandel in der
Arbeiterschutzgesetzgebung ankündigte,5 bezeichnete es als eine
Aufgabe der Staatsgewalt, „die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu
regeln, dass die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die
wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche
Gleichberechtigung gewahrt bleiben“. Vor allem der Anspruch auf
gesetzliche Gleichberechtigung war ein Postulat, auf das man sich in der
Folgezeit berief.
Neben der Einführung der Gewerbegerichtsbarkeit, aus der die moderne
Arbeitsgerichtsbarkeit hervorgegangen ist, war das beachtlichste Ergebnis
für die weitere Entwicklung des Arbeitsrechts die Große Novelle zur
Reichsgewerbeordnung vom 1.6.1891; sie enthält die Keimzelle für die
4 Durch die Lex Berlepsch vom 1.6.1891 (Arbeiterschutzgesetz) wurden nur die Worte
„vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen“ eingefügt.
6
betriebliche Mitbestimmung: Den Unternehmern von Fabriken machte das
Gesetz öffentlich-rechtlich zur Pflicht, eine Arbeitsordnung zu erlassen
(§ 134 a GewO). Sie musste Bestimmungen enthalten über Beginn und
Ende der täglichen Arbeitszeit, Zeit und Art der Abrechnung und
Lohnzahlung und, sofern es nicht bei den gesetzlichen Bestimmungen
bleiben sollte, über die Kündigungsfrist und die Gründe, aus welchen
Entlassungen und Austritt aus der Arbeit ohne Aufkündigung erfolgen darf,
sowie über Vertragsstrafen (§ 134 b Abs. 1 GewO). Außerdem blieb ihm
überlassen, noch weiter die Ordnung des Betriebs und das Verhalten der
Arbeiter im Betrieb betreffende Bestimmungen in die Arbeitsordnung
aufzunehmen (§ 134 b Abs. 2 Satz 1 GewO). Der Erlass der
Arbeitsordnung erfolgte zwar einseitig durch den Arbeitgeber; es war
aber ausdrücklich angeordnet, dass vor ihrem Erlass den Arbeitern
Gelegenheit zu geben ist, sich über den Inhalt zu äußern, und für
Fabriken, in denen ein ständiger Arbeiterausschuss bestand, wurde
„dieser Vorschrift durch Anhörung des Ausschusses über den Inhalt der
Arbeitsordnung genügt“ (§ 134 d GewO).
Damit waren erstmals in einem Gesetz Arbeiterausschüsse fakultativ
vorgesehen. Der Weg zur Betriebsverfassung war beschritten.
II. Räteartikel der Weimarer Reichsverfassung und Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 1920
Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs hatten, als noch unklar war,
wer Träger der Staatsgewalt wird, die Vertreter der Arbeitgeber und
Gewerkschaften ein Abkommen, das nach den Delegationsführern 5 Vgl. zur Bedeutung der beiden kaiserlichen Erlasse vom 4. 2. 1890 für die Entwicklung
des Arbeitsrechts Kaufhold, ZfA 1991, 277 ff.
7
benannte Stinnes-Legien-Abkommen vom 18.11.1918, geschlossen, in
dem die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft
anerkannt wurden. Außerdem wurde, soweit nach damaligem
Gesetzesrecht nicht bereits vorgeschrieben, die Bildung von
Arbeiterausschüssen in den Betrieben vereinbart, die zusammen mit dem
Arbeitgeber die Durchführung der mit den Gewerkschaften geschlossenen
Kollektivvereinbarungen überwachen sollten. Durch die
Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 legte der Gesetzgeber nicht nur
den Vorrang des Tarifvertrags gegenüber dem Einzelarbeitsvertrag durch
die Unabdingbarkeit der Tarifnormen fest, sondern er ordnete zugleich an,
dass in allen Betrieben mit mindestens zwanzig Arbeitern ein
Arbeiterausschuss und bei mindestens zwanzig Angestellten ein
Angestelltenausschuss gebildet wird.
Der sich in der Novemberrevolution ausbreitenden Rätebewegung war
dies zu wenig. Sie forderte die Errichtung einer Räterepublik. Die nach
Weimar einberufene Nationalversammlung entschied sich aber mit der
Reichsverfassung vom 11.8.1919 für die parlamentarisch-repräsentative
Demokratie. Bei ihren Bemühungen, die revolutionären Tendenzen der
Rätebewegung aufzufangen, hatte die Reichsregierung jedoch
vorgeschlagen, einen Räteartikel in die Verfassung zu verankern. Das
geschah durch Art. 165, dessen Bedeutung unklar blieb, weil er doppelt
strukturiert war. Sein Abs. 1 enthielt eine institutionelle Absicherung der
Koalitionsfreiheit; er lautete:
„Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der
Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven
Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“
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In den folgenden Abs. 2 bis 5 sah Art. 165 als wirtschaftliche
Interessenvertretung ein dreistufiges Rätesystem vor. Sein Abs. 2 hatte
den folgenden Wortlaut:
„Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen
gesetzliche Vertretungen in Bezirksarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten
Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeitsrat.“
Verwirklicht wurde nur die unterste Stufe durch das Betriebsrätegesetz
vom 4. 2. 1920. Zur Bildung der Mittelstufe ist es niemals gekommen, und
die oberste wurde nur in der Form eines Vorläufigen Reichswirtschaftsrats
gebildet.
Für die Arbeitsverfassung hat dennoch diese Weichenstellung
grundlegende Bedeutung erlangt. Durch sie wurde die Zweigleisigkeit des
kollektiven Arbeitsrechts, wie sie in der historischen Entwicklung angelegt
war, rechtlich abgesichert. Der Nationalsozialismus hat die Mitbestimmung
beseitigt. Aber nach dem Zusammenbruch 1945 ermöglichte schon das
Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10.4.1946 die Wahl von Betriebsräten und
schuf damit die Grundlage für eine Beteiligung der Arbeitnehmerschaft
innerhalb der Betriebsverfassung. Das Kontrollratsgesetz galt für ganz
Deutschland. Da es aber nur ein Rahmengesetz war, konnte es die
Rechtseinheit auf dem Gebiet der Betriebsverfassung nicht wahren. Die
Entwicklung ging in der Ostzone und in den Westzonen verschiedene
Wege.
9
III. Bestätigung der marktwirtschaftlichen Ordnung durch das Betriebsverfassungsgesetz vom 11.10.1952
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland herrschte zunächst
Streit über die Neuordnung der Wirtschaft. Trotz ihrer Entscheidung gegen
ein staatlich gelenktes Tarifrecht und für ein liberales Tarifvertragssystem,
wie sie es im Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949 durchgesetzt hatten,
ließen die Gewerkschaften sich in dem Kampf um die Mitbestimmung vom
Konzept einer organisierten Wirtschaft leiten. Nachdem Verhandlungen
mit den Unternehmern über die Mitbestimmung gescheitert waren, legten
sie einen Gesetzesvorschlag zur „Neuordnung der deutschen Wirtschaft“
vor,6 den die SPD mit wenig verändertem Inhalt aufgriff und als Antrag im
Juli 1950 in den Bundestag einbrachte.7 Der Gesetzesvorschlag befasste
sich in seinem ersten Teil mit dem Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer
im Unternehmen und regelte in einem zweiten Teil „das
Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in Organisationen der Wirtschaft“.
Im Gesetzgebungsverfahren scheiterte das Modell einer partizipatorisch-
korporatistischen Wirtschaftsverfassung. Das Paket wurde aufgeschnürt.
Für die Unternehmensebene entsprach nur das Gesetz über die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen
der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden
Industrie vom 21.5.1951 den gewerkschaftlichen Vorstellungen, während
mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes vom
11.10.1952 eine Mitbestimmungsordnung realisiert wurde, die auf dem
Prinzip unternehmerischer Entscheidungsautonomie beruht. Das Gesetz
regelte die Wahlorganisation der Betriebsräte und deren Beteiligung an
Entscheidungen der Betriebs- und Unternehmensleitung im Bereich der
Privatwirtschaft. Während das Betriebsrätegesetz vom 4.2.1920 den
6 Abgedruckt in: RdA 1950, 227 ff. 7 BT-Drucks. I/1229.
10
Betriebsvertretungen nur sehr allgemein gehaltene Aufgaben und
Befugnisse eingeräumt hatte, enthielt es eine klare Strukturierung des
Mitbestimmungsbereichs in soziale, personelle und wirtschaftliche
Angelegenheiten mit entsprechend abgestuften Beteiligungsrechten.
Durch diese Gestaltung traf es die normative Grundentscheidung für die
soziale Marktwirtschaft unter Zurückweisung einer vertikal gestuften
Wirtschaftsdemokratie.
IV. Weiterentwicklung der Mitbestimmung
Bei den Forderungen nach einem Ausbau der Mitbestimmung in den
sechziger Jahren stand die Struktur der Betriebsverfassung nicht mehr zur
Debatte. Das Betriebsverfassungsgesetz vom 15.1.1972, das nach
heftiger politischer Kontroverse erging, hielt an der bisherigen Konzeption
fest. Nachdem die Reform der Betriebsverfassung abgeschlossen war,
wandte sich die Gesetzgebung der Neugestaltung der Mitbestimmung in
den Organen der Großunternehmen zu. Es erging das Gesetz über die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz - MitbestG) vom
4.5.1976. Das Gesetz zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
(BetrVerf-Reformgesetz) vom 23.7.2001 hat die Struktur der
Betriebsverfassung beibehalten. Auf Grund seines Art. 13 wurde das
Betriebsverfassungsgesetz i. F. vom 25. 9. 2001 neu bekannt gemacht.
11
Zweiter Teil: Recht der Koalitionen
§ 3 Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Arbeitsverfassung
I. Koalitionsfreiheit als Grundrecht
Art. 9 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG bestimmt: "Das Recht, zur Wahrung und
Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu
bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die
dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf
gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig." Durch die Notstandsverfassung
1968 wurde diese Bestimmung durch den Satz ergänzt: "Maßnahmen
nach den Art. 12a, 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 dürfen sich
nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der
Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen i.S. des Satzes 1
geführt werden."
Die noch vor Gründung des Deutschen Reichs für den Norddeutschen
Bund erlassene Gewerbeordnung vom 21.6.1869 hatte in § 152 Abs. 1
angeordnet: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen
Gewerbetreibende, gewerbliche Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter
wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung
günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst
Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben.“
Es folgte in Abs. 2: „Jedem Theilnehmer steht der Rücktritt von solchen
Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder
Klage noch Einrede statt.“ Damit war – wenn auch zaghaft - eine
Grundentscheidung getroffen, Machtdefizit und Imparität, die auf Seiten
12
der Arbeitnehmer einer rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens
entgegenstanden, durch Assoziierung zu überwinden.
Durch die Reichsverfassung von Weimar wurde die Koalitionsfreiheit in
Art. 159 als Grundrecht für jedermann und für alle Berufe garantiert.
Ergänzend hieß es in dem sog. Räteartikel, dem Art. 165, dort in Abs. 1:
„Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in
Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und
Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung
der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und
ihre Vereinbarungen werden anerkannt."
II. Struktur der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Individualgrundrechts Die Koalitionsfreiheit ist eine besondere Erscheinungsform der
Vereinsfreiheit, die in Art. 9 Abs. 1 GG garantiert ist. Daraus ergibt sich,
dass Art. 9 Abs. 2 GG auch für die Koalitionen gilt. Koalitionen, deren
Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die
sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken
der Völkerverständigung richten, haben nicht den Schutz des Art. 9 Abs. 3
GG. Für sie besteht nur insoweit eine Besonderheit, als nach § 16 des
Vereinsgesetzes die Wirksamkeit eines Verbots davon abhängig ist, dass
das Gericht seine Rechtmäßigkeit bestätigt.
Der Unterschied zur Vereinsfreiheit besteht zum einen im verschiedenen
Umfang der grundrechtlichen Gewährleistung, zum anderen in der
ausdrücklichen Gewährleistung der Zweckbestimmung, nämlich der
Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen:
Während die Vereinsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG nur allen Deutschen
13
garantiert wird, besteht die Koalitionsfreiheit für jedermann, ist also
verfassungsrechtlich als Menschenrecht ausgestaltet. Art. 9 Abs. 3 GG gilt
deshalb auch für Ausländer. Das Vereinsgesetz hat zwar die
Vereinsfreiheit ebenfalls auf Ausländer erstreckt; sie gilt für sie aber nur
auf Grund einfachen Gesetzes.
Die Koalitionsfreiheit erhält ihre eigenständige Bedeutung durch die
Gewährleistung der Zweckbestimmung. Dadurch wird garantiert, dass die
Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch kollektive
Interessenwahrnehmung erfolgen kann. Art. 9 Abs. 3 GG schützt insoweit
nicht nur die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, sondern in gleicher
Weise und mit gleichem Rang auch die Koalitionsfreiheit des
Arbeitgebers. Damit wird verfassungsrechtlich gewährleistet, dass eine
verbandsautonome Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
die soziale Ordnung beherrscht. Darin liegt ein fundamentaler Gegensatz
zur Marktordnung für Güter und selbständige Dienstleistungen. Hier
sichert nämlich insbesondere das Kartellverbot die
Funktionsvoraussetzungen für eine Ordnung nach dem Prinzip der
Vertragsfreiheit. Im Arbeitsrecht wird dagegen eine entgegengesetzte
Entscheidung getroffen, aber nicht zur Verwirklichung eines anderen
Ordnungsziels, sondern im Gegenteil zur Sicherung desselben
Ordnungsziels, nämlich zur Schaffung und Bewahrung einer
rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens.
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bindet nicht nur die staatlichen
Gewalten (Art. 1 Abs. 3 GG), sondern es ist darüber hinaus - bereits nach
dem Text des Grundgesetzes - als Grundrecht mit Drittwirkung gestaltet
(Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Nichtig sind nicht nur rechtsgeschäftliche
Abreden, die den Beitritt zu einer Gewerkschaft verbieten, sondern auch
bereits Abreden, die das Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu behindern
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suchen. Darüber hinaus sind alle Maßnahmen, die hierauf gerichtet sind,
rechtswidrig. Es handelt sich also um unerlaubte Handlungen, die eine
Schadensersatzpflicht auslösen.
Die Koalitionsfreiheit ist "für jedermann und für alle Berufe gewährleistet"
(Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG). Sie gilt für alle Beschäftigungsverhältnisse,
nicht dagegen für die Erbringung selbständiger Dienstleistungen durch
Unternehmer und Angehörige freier Berufe. Als Grundrecht der
Arbeitsverfassung bezieht sie sich auf den sozialen Tatbestand
unselbständiger Arbeit. Keine Voraussetzung ist allerdings, dass die
Beschäftigung auf arbeitsvertraglicher Grundlage erfolgt; sie kann
vielmehr auch nach öffentlich-rechtlichen Grundsätzen geordnet sein.
Deshalb gilt die Koalitionsfreiheit auch für Beamte, Richter und Soldaten.
Grenzen ergeben sich aus der öffentlich-rechtlichen Gestaltung des
Dienstes erst für die Koalitionsbetätigung.
Keine Arbeitnehmer im Sinne des koalitionsrechtlichen Grundrechtsstatus
sind dagegen Personen, die nicht in einem privatrechtlichen oder
öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, wie Schüler und Studenten.
Wer dagegen seine Ausbildung durch Arbeit im Dienst eines anderen
erhält, wie Berufsauszubildende, ist Grundrechtsträger i.S. des Art. 9 Abs.
3 GG.
Schwierigkeiten bereitet, wie der Arbeitgeberbegriff für die
Koalitionsfreiheit zu bestimmen ist. Während man sich sonst im
Arbeitsrecht damit begnügt, im Arbeitgeber den Korrelatbegriff zum
Arbeitnehmer zu sehen, genügt diese formale Betrachtungsweise hier
nicht; der Begriff des Arbeitgebers ist vielmehr für Art. 9 Abs. 3 GG
materiell zu bestimmen. Grundrechtsberechtigter Träger der
Koalitionsfreiheit ist derjenige, der über die formelle Position als
15
Arbeitgeber hinaus auch Inhaber des die Arbeitgeberschaft vermittelnden
Produktiveigentums ist. Bei einer Kapitalgesellschaft ist daher
arbeitgeberisch legitimierter Grundrechtsträger nicht nur die Gesellschaft
als solche, sondern auch der einzelne Gesellschafter; denn das
Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt nicht nur die Koalitionstätigkeit im
Außenverhältnis, sondern auch die "Selbstbestimmung der Koalitionen
über ihre eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die
Führung ihrer Geschäfte" vor einer "Fremdbestimmung durch die
Gegenseite". 8
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt das Recht des Einzelnen,
Koalitionen zu gründen, bestehenden Koalitionen beizutreten und in ihnen
zu verbleiben (positive Koalitionsfreiheit). Es umfasst aber auch die
"Freiheit des Austritts und des Fernbleibens".9 Tarifverträge, die einen
Arbeitgeber zwingen, Leistungen organisierten Arbeitnehmern
vorzubehalten, verletzen daher die negative Koalitionsfreiheit.10
III. Bestands- und Betätigungsschutz der Koalitionen
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gewährleistet nicht nur die
individuelle Koalitionsfreiheit, sondern schützt, wie die historische
Ausgangslage und der Zweck der Koalitionsfreiheit es gebieten, auch die
Koalition in ihrem verbandsautonomen Bestand
(Koalitionsbestandsgarantie) und ihrer Freiheit, durch spezifisch
koalitionsmäßige Betätigung den Koalitionszweck zu verfolgen
(Koalitionsbetätigungsgarantie). Durch die Einbeziehung der kollektiven
8 BVerfGE 50, 290 (373). 9 BVerfGE 50, 290 (367); bestätigt BVerfGE 55, 7 (21); 57, 220 (245). 10 So jedenfalls BAG (GS) 29.11.1967, AP GG Art. 9 Nr. 13.
16
Koalitionsfreiheit in den Grundrechtsschutz entsteht aber kein
Doppelgrundrecht. Sie ergibt sich vielmehr aus der gemeinsamen
Ausübung des auf Vereinigung zur kollektiven Interessenwahrnehmung
gerichteten Grundrechts. Wie ihre Tragweite zu bestimmen ist, fällt in die
Kompetenz des Gesetzgebers. Bei fehlenden oder unzureichenden
gesetzlichen Vorgaben, muss die Rechtsfindung wie auch sonst bei einer
Regelungslücke im Gesetzesrecht aus den allgemeinen
Rechtsgrundlagen mit den anerkannten Methoden
rechtswissenschaftlicher Erkenntnis abgeleitet werden. Im Rechtsstreit
fällt diese Aufgabe den Gerichten zu.11
1. Erhalt und Sicherung einer Koalition, insbesondere Mitgliederwerbung
Die Koalitionsbestandsgarantie sichert, dass der Staat die Existenz als
Koalition nicht von Voraussetzungen abhängig machen kann, auf die der
Verband keinen Einfluss hat. Eine Koalition ist daher in der Wahl ihrer
Organisationsform und in der Ausgestaltung ihrer verbandsinternen
Organisation frei. Geschützt sind aber auch Tätigkeiten, die dem Erhalt
und der Sicherung einer Koalition dienen; denn durch sie erhält eine
Gewerkschaft das Fundament für die Erfüllung der Mitgliederinteressen im
Arbeitsleben. Einbezogen in den Grundrechtsschutz ist deshalb die
Mitgliederwerbung und Informationstätigkeit im Betrieb.12 Bei deren
Durchführung ist eine Gewerkschaft auf die Mitwirkung des
Betriebsinhabers angewiesen. Weder das in Art. 13 GG garantierte
Hausrecht noch die in Art. 14 GG enthaltene Eigentumsgewährleistung
geben ihm das Recht, die Werbe- und Informationstätigkeit zu verbieten; 11 Vgl. BVerfGE 84, 212 (226 f.).
17
er kann aber die Einhaltung von Grenzen verlangen und braucht
insbesondere kein „wildes Plakatierungen“ im Betrieb zu dulden. Er kann
auch Tätigkeiten verbieten, die den Arbeitsablauf und Betriebsfrieden
stören.
Da der Arbeitnehmer seine im Arbeitsvertrag mit dem Arbeitgeber
festgelegte Arbeitspflicht im Betrieb zu erfüllen hat, ist bereits Teil der ihm
verfassungsrechtlich gewährleisteten individuellen Koalitionsfreiheit, dass
er dort für seine Gewerkschaft tätig werden darf, sofern er dabei seine
Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nicht verletzt. Aus dem Sinn und
Zweck des Grundrechtsschutzes ergibt sich, dass den Anspruch auf
Duldung gegen den Betriebsinhaber auch seine Gewerkschaft hat. Nach
Ansicht des BAG hat sie sogar grundsätzlich ein Zutrittsrecht zum Betrieb,
um dort auch durch betriebsfremde Beauftragte Mitglieder zu werben.13
Doch bestehen insoweit enge Grenzen, deren Nichtbeachtung das BAG
veranlasste, die Klage abzuweisen. Ein Arbeitgeber braucht den Zugang
zum Betrieb nicht zu dulden, wenn ihm Notwendigkeiten des
Betriebsablaufs entgegenstehen oder der Betriebsfrieden gefährdet wird,
z. B. „wenn Werbemaßnahmen in einer Häufigkeit, in einem Umfang
(Anzahl der betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten) oder in einer Art
und Weise erfolgen sollen, die im Betrieb zu Auseinandersetzungen mit
oder zwischen Arbeitnehmern oder mit einer anderen, dort ebenfalls
Werbung treibenden Gewerkschaft führen“. Außerdem besteht - wegen
der Bindungswirkung an den Beschluss des BVerfG vom 17.2.198114
12 BVerfGE 93, 352 ff. 13 AP GG Art. 9 Nr. 127; verneinend aber BVerfGE 57, 220 ff.; s. dazu
Richardi, RdA 2007, xxx. 14 BVerfGE 57,220 ff.
18
nach § 31 BVerfGG – kein gewerkschaftliches Zugangsrecht zu
kirchlichen Einrichtungen.15
2. Garantie staatsfreier Koalitionsbetätigung, vor allem verfassungsrechtliche Gewährleistung des Tarifvertragssystems
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt vor allem das Recht der
Koalitionen, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9
Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, nämlich die Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Unter
die Verfassungsgarantie fällt deshalb die Tarifautonomie. Das gilt aber nur
für die privatrechtliche Ordnung des Arbeitslebens. Bei öffentlich-
rechtlicher Gestaltung der Dienstverhältnisse findet das
Tarifvertragssystem keine Anwendung. Für Beamte besteht keine
Tarifautonomie.
Das Tarifvertragssystem wird zwar nicht in seiner positiv-rechtlichen
Gestalt, die es durch das Tarifvertragsgesetz erhalten hat,
verfassungsrechtlich garantiert; der Staat muss aber frei gebildeten
Koalitionen die Möglichkeit eröffnen, "insbesondere Löhne und sonstige
materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei
gelassenen Raum in eigener Verantwortung im wesentlichen ohne
staatliche Einflussnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen
sinnvoll zu ordnen".16 Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers findet
deshalb ihre Grenzen an der "Garantie eines gesetzlich geregelten und
15 BAG 28.2.2006, AP GG Art. 9 Nr. 127. 16 BVerfGE 44, 322 (340 f.); bestätigt BVerfGE 58, 233 (246 f.); ebenso
bereits BVerfGE 4, 96 (106, 108).
19
geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete
Koalitionen i.S. des Art. 9 Abs. 3 GG sein müssen".17
Zu den Funktionsvoraussetzungen der Tarifautonomie gehört der
Arbeitskampf. Könnten die Gewerkschaften um den Abschluss eines
Tarifvertrags keinen Streik führen, so wären weder das Zustandekommen
noch die inhaltliche Sachgerechtigkeit tariflicher Regelungen
gewährleistet. Das Streikrecht ist zwar kein Grundrecht; es fällt aber unter
die Koalitionsbetätigungsgarantie, soweit es der Herstellung und
Sicherung des Verhandlungsgleichgewichts dient, ohne dass die
Tarifautonomie nicht funktionieren kann. Die Parität erfordert jedoch auch
die Anerkennung der Aussperrung als Kampfmittel der Arbeitgeber; denn
"wäre der Arbeitgeber auf ein Dulden und Durchstehen des
Arbeitskampfes beschränkt, so bestünde die Gefahr, dass die Regelung
der Arbeitsbedingungen nicht mehr auf einem System freier
Vereinbarungen beruht, das Voraussetzung für ein Funktionieren und
innerer Grund des Tarifvertragssystems ist".18 Tarifvertrag und
Arbeitskampf stehen also in einem Funktionszusammenhang. Sie sind als
Grundrechtsfunktion der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert.
Der Gesetzgeber kann, wie es durch das Betriebsverfassungsgesetz, die
Personalvertretungsgesetze und die Mitbestimmungsgesetze geschehen
ist, eine Mitbestimmungsordnung in Betrieb, Dienststelle und
Unternehmen schaffen. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet nämlich die
Tarifautonomie nicht als ausschließliche Form der Förderung der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen.19 Da die Mitbestimmung aber in eine
Antinomie zur Koalitionsfreiheit treten kann, ist sie mit Art. 9 Abs. 3 GG
17 BVerfGE 4, 96 (108); 50, 290 (369); 58, 233 (248). 18 BAG (GS) 21.4.1971 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 43. 19 Ebenso BVerfGE 50, 290 (371).
20
nur vereinbar, wenn eine durch sie herbeigeführte Gewichtsverlagerung
nicht die Funktionsunfähigkeit des Tarifvertragssystems zur Folge hat.20
Es ist weiterhin verfassungsrechtlich garantiert, dass die
Koalitionsbetätigung auch im Bereich der gesetzlich geregelten
Mitbestimmungsordnung wirksam werden kann. Die Koalitionsbetätigung
ist also nicht nur verfassungsrechtlich gewährleistet, um durch
Regelungen vertraglicher Verhandlung und Einigung (Tarifvertragssystem
mit arbeitskampfrechtlicher Konfliktlösung) Einfluss auf die Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen zu nehmen, sondern sie wird auch dort garantiert,
wo der Gesetzgeber intervenierend ein Mitbestimmungsstatut verwirklicht.
Deshalb ist den Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet,
Einfluss auf die Wahl der Betriebs- und Personalräte sowie der
Arbeitnehmerrepräsentanten in der mitbestimmten
Unternehmensorganisation zu nehmen.21 Der Gesetzgeber ist jedoch
nicht verpflichtet, für die Koalitionen Befugnisse zu schaffen, sondern es
geht ausschließlich darum, dass die kommunikative Funktion der
Koalitionsfreiheit auch in diesem Bereich zu respektieren ist, die Koalition
also durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung Einfluss auf die
Auswahl der Personen nehmen kann, die in der Mitbestimmungsordnung
die Arbeitnehmer repräsentieren.
20 Vgl. BVerfGE 50, 290 (377). 21 So für die Personalvertretung BVerfGE 19, 303 (312 ff.); für die
Betriebsverfassung BVerfGE 50, 290 (372); für die Unternehmensmitbestimung BGHZ 84, 352 (357 f.).
21
§ 4 Koalitionsverbandsrecht
I. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
1. Begriffsbestimmung
Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gestalten als
marktmächtige Organisationen die Arbeitsentgelte und
Arbeitsbedingungen. Sie legen auch dort, wo die von ihnen geschaffenen
Regelungen nicht normativ wirken, die maßgeblichen Daten für den Inhalt
der Arbeitsverhältnisse fest. Dennoch fehlt für sie eine gesetzliche
Begriffsbestimmung, wie auch für ihre Verbandsorganisation keine
besondere Gesetzesregelung besteht.
Bei der Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der
Bundesrepublik mit der DDR traf deshalb der Staatsvertrag vom 18.5.1990
im gemeinsamen Leitsatzprotokoll die folgende Bestimmung: ,,Tariffähige
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen frei gebildet,
gegnerfrei, auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und unabhängig
sein sowie das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerkennen;
ferner müssen sie in der Lage sein, durch Ausüben von Druck auf den
Tarifpartner zu einem Tarifabschluß zu kommen.“ Diese aus dem
Funktionszusammenhang mit der Tarifautonomie entwickelte
Begriffsbestimmung darf jedoch nicht das Grundrecht der Koalitionsfreiheit
verletzen. Die für die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems
notwendige Bereitschaft zum Streik ist deshalb keine Voraussetzung der
Gewerkschaftseigenschaft, wenn dem Arbeitskampf besondere
22
Gesichtspunkte entgegenstehen.22 Entsprechend scheitert auch die
Gewerkschaftseigenschaft der Beamtenverbände nicht daran, dass der
Inhalt des Beamtenverhältnisses nicht durch Tarifvertrag geregelt werden
kann, sondern durch Gesetz festgelegt ist.
2. Geschichtliche Entwicklung und Organisationsstruktur der Gewerkschaften
Die Gewerkschaften etablierten sich als Teil der deutschen
Arbeiterbewegung endgültig in den sechziger Jahren des 19.
Jahrhunderts. Sie wurden 1868 als "Freie Gewerkschaften" von den
Sozialdemokraten und als Hirsch-Duncker'sche Gewerkvereine von den
Liberalen gegründet, zu denen wenig später die unter dem Einfluss der
Zentrumspartei stehenden Christlichen Gewerkschaften hinzutraten.
Erleichtert wurde ihre Gründung durch die Aufhebung der
Koalitionsverbote für den gewerblichen Bereich durch die
Gewerbeordnung vom 21.7.1869. Da sie aber Richtungsgewerkschaften
waren, unterlagen sie den zahlreichen Beschränkungen der
Vereinsfreiheit, die für die politischen Vereine galten.
Vor allem das Sozialistengesetz vom 21.10.1878 hat mit der
Sozialdemokratischen Partei auch die Freien Gewerkschaften verfolgt.
Erst mit dem Ablauf des Sozialistengesetzes 1890 entfiel diese Schranke.
Aber auch das Selbstverständnis der Gewerkschaften wandelte sich.
Standen die Gewerkschaften, die sich unter sozialistischem Einfluss
gebildet hatten, zunächst im Bann der politischen Arbeiterbewegung, die
unter dem Einfluss der Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels eine
Besserung der Lage der Arbeiter nur dann verwirklicht sah, wenn im 22 So für einen Verband katholischer Hausgehilfinnen und
23
Klassenkampf die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt wird, so
setzte sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis durch,
dass es möglich ist, sich durch kollektiven Zusammenschluss an den
ökonomischen Marktgesetzen der liberalen Ordnung zu beteiligen und den
Erfolg durch Tarifverträge dauerhaft zu sichern.
Die Struktur als Berufsverbände und als Richtungsgewerkschaften
behielten die Gewerkschaften noch während der Weimarer Zeit. Nach der
nationalsozialistischen Machtergreifung wurden sie aufgelöst. Bei ihrer
Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Sowjetischen
Besatzungszone, aus der die DDR hervorging, mit dem Freien Deutschen
Gewerkschaftsbund (FDGB) eine zentralistische Einheitsorganisation
aufgebaut, in der die maßgeblichen Leitungsfunktionen den Kommunisten
zufielen. In den westlichen Besatzungszonen bestand auf deutscher Seite
Einigkeit darüber, nicht mehr die Richtungsgewerkschaften wieder
aufleben zu lassen.
Vor allem unter dem Einfluss der amerikanischen Militärregierung wurden
die Gewerkschaften überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip
organisiert. Bei den Industriegewerkschaften sind die Arbeitnehmer eines
Wirtschaftszweiges zusammengefasst, unabhängig von der Arbeit, die sie
ausüben, ohne Rücksicht darauf, ob sie als Arbeiter oder Angestellte
beschäftigt sind, und im Prinzip auch ohne Festlegung auf eine bestimmte
politische oder weltanschauliche Richtung. Neben den
Industriegewerkschaften gibt es allerdings nach wie vor Gewerkschaften
mit einem anderen Organisationsprinzip. Das galt vor allem für die
Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, die nur Angestellte organisiert und
ca. 500.000 Mitglieder hatte. Sie gehörte nicht zum DGB, zu dem die
Hausangestellten BVerfGE 18, 18 ff.
24
Industriegewerkschaften sich unter dem maßgeblichen Einfluss von Hans
Böckler 1959 in München zusammengeschlossen haben.
Zum DGB gehörten noch 1995 16 Gewerkschaften: IG Metall,
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, IG Chemie-
Papier-Keramik, IG Bau-Steine-Erden, Deutsche Postgewerkschaft,
Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherung, IG Bergbau und Energie,
Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, Gewerkschaft Textil-
Bekleidung, Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft, Gewerkschaft der Polizei, Gewerkschaft
Holz und Kunststoff, Gewerkschaft Medien (IG Druck und Papier und
Gewerkschaft Kunst), Gewerkschaft Leder, Gewerkschaft Gartenbau,
Land- und Forstwirtschaft.
Seitdem sind aus einer Fusion die folgenden Gewerkschaften
hervorgegangen: Die IG Bergbau und Energie und die IG Leder wurden
mit der IG Chemie-Papier-Keramik zur IG Bergbau-Chemie-Energie
zusammengeschmolzen. Die IG Bau-Steine-Erden wurde durch
Verschmelzung mit der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und
Forstwirtschaft zur IG Bau-Agrar-Umwelt, und die Gewerkschaft Textil-
Bekleidung und die Gewerkschaft Holz und Kunststoff sind in der IG Metall
aufgegangen. Am 18.5.2001 fand der bisher größte und bedeutendste
Zusammenschluss statt: Die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG),
die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die Gewerkschaft Handel, Banken
und Versicherungen (HBV), die IG Medien und die ÖTV schlossen sich zu
der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zusammen.
Die Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund hatten am
31.12.1994 9.768.373 (am 31.12.1991 sogar 11.800.412) Mitglieder. Am
31.12.2005 gehörten ihnen 6.778.429 Mitglieder an.
25
Die zweitgrößte Gewerkschaftsorganisation ist der Deutsche
Beamtenbund. Er ist die Spitzenorganisation von 40 Gewerkschaften des
öffentlichen Dienstes und des privatisierten Dienstleistungssektors und
vertritt die Interessen von 1,25 Millionen Mitgliedern.
Mit ca. 300.000 Mitgliedern ist der Christliche Gewerkschaftsbund
Deutschlands der drittgrößte Gewerkschaftsdachverband in der
Bundesrepublik Deutschland. Ihm gehören 16 Einzelgewerkschaften an,
unter ihnen die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM), deren
Tariffähigkeit das BAG nach einem Jahre währenden Rechtsstreit mit der
IG Metall im Beschluss vom 28.3.2006 anerkannt hat.23
Keiner Spitzenorganisation gehört der Marburger Bund an, der als einzige
tariffähige Ärztegewerkschaft in Deutschland angestellte und beamtete
Ärzte vertritt. Mit rund 100.000 Mitgliedern ist er Europas größte Ärzte-
Organisation auf freiwilliger Grundlage. Bestritten ist die
Gewerkschaftseigenschaft der 2003 gegründeten Gewerkschaft der
Flugsicherung, die Fluglotsen und Flugsicherungstechniker organisiert.24
Ein Spitzenverband ist der Deutsche Führungskräfteverband (ULA). Unter
seinem Dach sind fünf Verbände zusammengeschlossen, die rund 50.000
Führungskräfte der privaten Wirtschaft vertreten. Zu diesen
Führungskräften zählt der Verband Leitende Angestellte im Rechtssinn,
also insbesondere die leitenden Angestellten, die nach § 5 Abs. 3 BetrVG 23 NZA 2006, 1112 ff. 24 Bejahend LAG Hessen 22.7.2004 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 168;
verneinend LAG Rheinland-Pfalz 22.6.2004 AP GG Art. 9 Arbeitskampf
Nr. 169.
26
nicht zu der vom Betriebsrat repräsentierten Belegschaft gehören, und
außertariflich entlohnte Angestellte mit Leitungsverantwortung. Der größte
Führungskräfteverband ist der Verband angestellter Akademiker und
leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA), der die Interessen
von über 27.000 Mitgliedern aus der chemischen Industrie und den
angrenzenden Branchen vertritt.
3. Geschichtliche Entwicklung und Organisationsstruktur der Arbeitgeberverbände
Die Arbeitgeberverbände sind in Reaktion auf die Gewerkschaften
entstanden. Der erste Arbeitgeberverband, der im Januar 1869 gegründet
wurde, ist der Deutsche Buchdruckerverein gewesen. Ursprünglich
verstanden die Arbeitgeberverbände sich lediglich als Abwehrorganisation
gegenüber den Gewerkschaften. Die Idee des Tarifvertrages ist nicht von
ihnen, sondern von den Gewerkschaften durchgesetzt worden. Das
Verhältnis zu den Gewerkschaften änderte sich erst während des Ersten
Weltkrieges, vor allem erst durch das Stinnes-Legien-Abkommen vom
15.11.1918, in dem die Arbeitgeber die Gewerkschaften als berufene
Vertreter der Arbeitnehmer anerkannten.
Nachdem in der Zeit des Nationalsozialismus mit den Gewerkschaften
auch die Arbeitgeberverbände beseitigt waren, konnten sie nach 1945 nur
langsam und unter erheblichen Schwierigkeiten durch die
Besatzungsmächte gebildet werden. Unterstützt wurde ihr Entstehen vor
allem durch die Gewerkschaften, da ohne eine Verbandsorganisation der
Arbeitgeber auch eine Beteiligung der Gewerkschaften an der
27
Arbeitsverfassung nicht funktionieren kann. Spitzenorganisation der
Arbeitgeberverbände ist die Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände, die 1949 aus der Sozialpolitischen
Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes
hervorging.
Die Arbeitgebervereinigungen sind in erheblichem Maße zersplittert. Auf
unterster Ebene bestehen fachlich und gemischt gewerbliche Verbände.
Sie haben sich zumeist in einer Landesvereinigung
zusammengeschlossen, z.B. der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in
Bayern. Daneben besteht aber teilweise auch ein überregionaler
Zusammenschluss der Fachverbände, z.B. der Gesamtverband der
Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie (GESAMTMETALL),
der Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie und die
Vereinigung der Arbeitgeberverbände der Deutschen Papierindustrie
(VAP). Die Landesverbände und Fachverbände sind in der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
zusammengefasst.
Nicht zur Bundesvereinigung gehören namentlich folgende Verbände:
Tarifgemeinschaft Deutscher Länder, die Vereinigung der kommunalen
Arbeitgeberverbände, die Arbeitgeberverbände der Eisen- und
Stahlindustrie e.V. (weil in ihre Organe Personen berufen werden, die von
Arbeitnehmerorganisation abhängig sind - Prinzip der Unabhängigkeit von
der Gegenseite).
II. Begriffsmerkmale und Organisationsrecht
Für das Verbandsrecht der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gibt
28
es keine besondere Gesetzesregelung. Ihre Organisation richtet sich nach
dem Vereinsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Da mit ihnen vom
Grundrecht der Koalitionsfreiheit Gebrauch gemacht wird, müssen sie die
folgenden Voraussetzungen erfüllen:
• Die Vereinigung muss als freiwilliger Zusammenschluss mit
korporativer Organisation auf der Ebene des Privatrechts errichtet
sein. Sie kann als Verein mit nichtwirtschaftlicher Zielsetzung die
Rechtsfähigkeit durch Eintragung im Vereinsregister erlangen.
Doch ist sie – wie aus traditionellen Gründen für Gewerkschaften
im DGB – keine Voraussetzung, um den kollektivrechtlichen Status
der Koalition in der Arbeitsverfassung anzuerkennen.
• Die Vereinigung muss dem Gebot der Koalitionsreinheit
entsprechen. Es dürfen in einer Gewerkschaft keine Arbeitgeber
und in einem Arbeitgeberverband keine Arbeitnehmer organisiert
sein. Die Vereinigung muss außerdem in ihrer Willensbildung frei
und unbeeinflusst von der Gegenseite sein.
• Zweck der Vereinigung muss sein, die Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder durch den Einsatz
spezifisch koalitionsgemäßer Gestaltungsmittel wahrzunehmen. Für
Arbeitnehmer folgt daraus, dass sie nach ihrer Satzung tariffähig
ist. Keine notwendige Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft
zum Arbeitskampf. Das BAG macht aber die Tariffähigkeit und
damit die Anerkennung einer Arbeitnehmervereinigung als
Gewerkschaft im arbeitsrechtlichen Sinne davon abhängig, dass
der Verband durch die Zahl seiner Mitglieder oder deren Stellung
im Arbeitsleben einen wirkungsvollen Druck und Gegendruck auf
seinen sozialen Gegenspieler auszuüben vermag.25
25 BAG 9.7.1968 AP TVG § 2 Nr. 25; 15.3.1977 AP GG Art. 9 Nr. 24;
29
• Schließlich muss die institutionelle Selbständigkeit gegenüber den
politischen Parteien und Religionsgesellschaften gewahrt sein,
auch wenn eine Neutralität zu ihnen nach der Ausrichtung in der
Satzung nicht besteht. Notwendig ist aber in jedem Fall, dass die
Koalitionsleitung mitgliedschaftlich, also durch eine entsprechend
gestaltete Wahl legitimiert ist. Man spricht insoweit von einer
demokratischen Binnenorganisation. Sie ergibt sich aber nicht aus
einem Demokratisierungsgebot, wie es Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG für
die Parteien enthält, sondern beruht auf dem grundrechtlichen
Charakter der Koalitionsfreiheit, der auch die Organisation einer
Koalition zu beherrschen hat.
Beschränkungen, die sich aus einem Fehlen der Rechtsfähigkeit eines
Verbands ergeben, sind für die Koalitionen weitgehend weggefallen.
Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie
Zusammenschlüsse solcher Verbände sind kraft ausdrücklicher
Bestimmung ohne Rücksicht auf die Rechtsfähigkeit parteifähig im
arbeitsgerichtlichen Verfahren (§ 10 ArbGG). Ansonsten sind
nichtrechtsfähige Vereine grundsätzlich nur passiv parteifähig (§ 50 Abs. 2
ZPO). Gewerkschaften sind jedoch darüber hinaus im Zivilprozess
allgemein aktiv parteifähig; denn eine Beschränkung auf die passive
Parteifähigkeit widerspricht der Rechtsstellung, die die Gewerkschaften in
der Arbeitsverfassung erhalten haben.26 Eine weitere Angleichung an das
Recht des rechtsfähigen Vereins ergibt sich daraus, dass für die
Verbindlichkeiten einer Gewerkschaft nur das Gewerkschaftsvermögen
haftet, die Mitglieder also nicht persönlich in Anspruch genommen werden
zuletzt vor allem BAG 28.3.2006 NZA 2006, 1112 ff. Das gilt aber nicht
für einen Arbeitgeberverband, BAG 20.11.1990 AP TVG § 2 Nr. 40.
30
können. Rechtsträger des Vereinsvermögens ist zwar bei einem
nichtrechtsfähigen Verein nicht der Verein selbst, sondern es sind die
Mitglieder, die eine Gesamthand bilden (§ 54 Satz 1 i. V. mit § 718 BGB);
die Gesamthand ist aber, obwohl nicht juristische Person, eine rechtlich
verselbständigte Organisations- und Wirkungseinheit.
Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband
richtet sich nach dem Vereinsrecht des bürgerlichen Rechts. Sie wird
durch den freiwilligen Beitritt zum Verband erworben, wobei ein
Aufnahmeanspruch sich daraus ergeben kann, dass der Verband im
wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung
inne hat und ein schwerwiegendes Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft
besteht. Bei den großen, repräsentativen Verbänden hat daher einen
Anspruch auf Aufnahme, wer die satzungsmäßigen Voraussetzungen
erfüllt.
Wie jeder Verband hat auch eine Gewerkschaft oder ein
Arbeitgeberverband nach allgemeinem Vereinsrecht die Möglichkeit, ein
Mitglied auszuschließen, wenn es seine Pflichten als Mitglied verletzt hat.
Die Rechtsgrundlage muss in der Satzung enthalten sein; jedoch ist auch
ohne besondere Satzungsbestimmung ein Ausschluss aus wichtigem
Grund zulässig. Probleme hat immer wieder die Praxis der
Gewerkschaften aufgeworfen, Mitglieder, die bei einer Betriebs- oder
Personalratswahl auf einer nicht von ihnen unterstützten Liste kandidiert
haben, wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens auszuschließen.
Den Gewerkschaften ist zwar durch Art 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich
garantiert, Einfluss auf die Wahl der Betriebs- und Personalräte zu
nehmen; sie haben aber die Freiheit der Wahl zu respektieren. Da der
26 Vgl. BGHZ 50, 325 ff.
31
Ausschluss aus der Gewerkschaft für den betroffenen Arbeitnehmer einen
sehr erheblichen Nachteil darstellt, kommt ein Ausschluss nur in Betracht,
wenn ein Mitglied sich durch sein Verhalten bei einer Betriebs- oder
Personalratswahl in einer für die Gewerkschaft unzumutbaren Weise
generell mit deren Zielsetzung in Widerspruch setzt. Das ist der Fall, wenn
ein Arbeitnehmer auf einem Wahlvorschlag kandidiert, der von einer
konkurrierenden Gewerkschaft unterstützt wird, oder sich auf einer Liste
nominieren lässt, die von dem Programm bestimmt wird, die
Gewerkschaften allgemein oder die Grundordnung, die ihre freie
Betätigung garantiert, zu bekämpfen.
32
Dritter Teil: Tarifvertragsrecht
§ 5 Begriff und Bedeutung des Tarifvertrags für die Ordnung des Arbeitslebens
I. Begriff Der Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag, der von einer Gewerkschaft
mit einem Arbeitgeberverband oder einem einzelnen Arbeitgeber
abgeschlossen wird. Er enthält, wie es in § 1 Abs. 1 TVG heißt,
Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von
Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche
Fragen ordnen (normativer Teil) und regelt die Rechte und Pflichten der
Tarifvertragsparteien (schuldrechtlicher Teil).
Die Besonderheit des Tarifvertrags wird durch seinen normativen Teil
geprägt, der bei Tarifgebundenheit eine normative Wirkung auf die
Arbeitsverhältnisse entfaltet. Aber auch er verdankt seine
Rechtsverbindlichkeit dem Vertragsschluss, durch den zwischen den
Tarifvertragsparteien eine Bindungswirkung eintritt, wie sie auch sonst
jeden privatrechtlichen Schuldvertrag auszeichnet. Zu ihr gehört, ohne
dass es einer ausdrücklichen Vereinbarung bedarf, die sog.
Friedenspflicht, die den Tarifvertragsparteien gebietet, die von ihnen
vereinbarten Regelungen als rechtsverbindlich anzuerkennen, und ihnen
daher verbietet, sie während der Dauer des Vertrags durch
Kampfmaßnahmen zu ändern. Ergänzt wird diese Friedenspflicht vielfach
durch die sog. Durchführungspflicht, die es den Tarifvertragsparteien zur
Aufgabe macht, darauf einzuwirken, dass die von ihnen vereinbarten
Regelungen durchgeführt werden. Dieser Pflichtenkreis stellt nichts
33
anderes dar, als das Spiegelbild des Grundsatzes der Vertragstreue; er ist
deshalb jedem Tarifvertrag immanent.
Die Tarifvertragsparteien können darüber hinaus Rechte und Pflichten
zwischen ihnen vereinbaren (schuldrechtlicher Teil). Dazu gehört
insbesondere die Vereinbarung, dass einem Arbeitskampf ein
Schlichtungsverfahren vorgeschaltet wird. Möglich ist weiterhin, dass ein
Tarifvertrag während der Dauer des Tarifvertrags Kampfmaßnahmen auch
zur Durchsetzung von Regelung enthält, also die jedem Tarifvertrag
immanente relative Friedenspflicht zu einer absoluten Friedenspflicht
ausgebaut wird.
II. Geschichtliche Entwicklung
Nach 1890 entdeckten die Gewerkschaften den Tarifvertrag als Instrument
ihrer Lohnpolitik. Sie hatten damit Erfolg, so dass man vom Siegeszug der
Tarifvertragsidee sprach. Ende 1913 hat es, wie berichtet wird, 13.446
Tarifverträge für 170.000 Betriebe mit 2.072.456 Arbeitern gegeben. Eine
gesetzliche Regelung erhielt der Tarifvertrag erst durch die
Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918. Von Bedeutung war aber vor
allem, dass sich die durch Abkommen vom 15.11.1918 gegründete
Arbeitsgemeinschaft zwischen den Spitzenverbänden der
Unternehmerschaft und der Gewerkschaften sich zum Prinzip des
Tarifvertrags bekannt hatten, den das Reichsgerichts bereits zuvor als
rechtsverbindlichen Schuldvertrag anerkannt hatte. Von Tarifverträgen
wurden daher im Jahre 1922 nicht weniger als 890.000 Betriebe mit 14,2
Mio. Arbeitnehmern erfasst.
34
Nach der Beseitigung des kollektiven Arbeitsrechts in der
nationalsozialistischen Zeit traten an die Stelle der Tarifverträge
Tarifordnungen, die von Treuhändern der Arbeit auf Grund des Gesetzes
zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 erlassen wurden; sie
waren Rechtsverordnungen. Zunächst legten sie nur
Mindestarbeitsbedingungen rechtsverbindlich fest; aber sehr bald wurde
die Ermächtigung durch Rechtsverordnungen zunächst im öffentlichen
Dienst, dann aber auch im Bereich der Privatwirtschaft auf die Festlegung
von Höchstarbeitsbedingungen erweitert. Die Lohnstoppverordnung vom
12.10.1939 beseitigte sodann allgemein die vertragliche
Gestaltungsfreiheit für die Regelung des Arbeitsverdienstes.
Nach dem Kriegsende blieben die alten Tarifordnungen in Kraft. Neue
Tarifordnungen konnten aber nicht mehr erlassen werden, seitdem das
Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit und das Gesetz zur Ordnung
der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben durch die
Kontrollratsgesetze Nr. 40 vom 30.11.1946 und Nr. 56 vom 30.7.1947
aufgehoben wurden. Mit dem Wiederaufbau der Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände war die Möglichkeit geschaffen, Tarifverträge
abzuschließen. Diese erlangten jedoch erst wirtschaftliche Bedeutung als
der Lohnstopp aufgehoben wurde.
Eine Gesetzesregelung erhielt das Tarifvertragsrecht durch das
Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949, das noch für die Amerikanische und
Britische Besatzungszone, das sog. Wirtschaftsgebiet, erging. Es wurde
nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland Bundesrecht und 1953
auf die Länder der Französischen Besatzungszone erstreckt. Seit der
Wiedervereinigung bildet es die Gesetzesgrundlage für das
Tarifvertragsrecht in Gesamtdeutschland.
35
III. Bedeutung für die wirtschaftliche Ordnung Die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände legen durch den
Abschluss von Tarifverträgen den Ordnungsrahmen für den Inhalt der
Arbeitsverhältnisse, insbesondere für die Arbeitsentgelte und sonstigen
materiellen Arbeitsbedingungen fest. Sie erfüllen damit eine Aufgabe, die
im öffentlichen Interesse liegt, weil die Gestaltung der Arbeitsbedingungen
wegen der instrumentalen Schwäche des Einzelarbeitsvertrages für einen
gerechten Interessenausgleich nicht dem individuellen Wettbewerb
überlassen bleiben kann. Die Besonderheit der Tarifautonomie liegt aber
gerade darin, dass die Aufgabe verfassungsrechtlich den frei gebildeten
Koalitionen zugewiesen ist, die Arbeitsbedingungen "in einem von
staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung
und im wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare
Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen" .27
Die Koalitionen erfüllen damit eine Aufgabe, die für die Existenz einer
freiheitlichen Gesellschaftsordnung wesentlich ist; denn der
Funktionsverlust des Tarifvertragssystem hätte zur Folge, dass die
Tarifautonomie durch eine autoritäre oder korporative Gestaltung der
Arbeitsverhältnisse zu ersetzen wäre, um einen sozialen
Interessenausgleich zu gewährleisten. Dennoch nehmen sie kein
staatsbezogenes, sondern ein durch den Willen ihrer Mitglieder
legitimiertes Mandat wahr.
27 BVerfGE 44, 322 (340 f.); so bereits BVerfGE 18, 18 (28); weiterhin
BVerfGE 50, 290 (367); 58, 233 (246).
36
Der Tarifvertrag wird in seiner den Wettbewerb beschränkenden Wirkung
anerkannt und ist insoweit sogar durch Art. 9 Abs. 3 GG
verfassungsrechtlich gewährleistet. Er sichert dem Arbeitnehmer, dass er
Mindestbedingungen festlegt. Für den Arbeitgeber bietet er den Vorteil,
dass hinsichtlich der Löhne und Arbeitsbedingungen die
Kalkulationsgrundlage konstant bleibt. Der Grundsatz der Vertragstreue
gibt dem Tarifvertrag zugleich den Charakter eines Friedensvertrages.
Soweit eine Angelegenheit geregelt ist, kann um sie kein Arbeitskampf
geführt werden. Außerdem schafft der Tarifvertrag, sofern er mit einem
Arbeitgeberverband abgeschlossen wird, im Verhältnis zu anderen
Unternehmen eine gleichmäßige Wettbewerbsausgangslage.
§ 6 Tariffähigkeit und Tarifgebundenheit
I. Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit
1. Tariffähigkeit
Partei eines Tarifvertrags können auf der Arbeitnehmerseite nur
Gewerkschaften, auf der Arbeitgeberseite einzelne Arbeitgeber und
Vereinigungen von Arbeitgebern sein (§ 2 Abs. 1 TVG). Auch
Zusammenschlüsse von Gewerkschaften und entsprechend
Zusammenschlüsse von Arbeitgebern (Spitzenorganisationen) können
selbst Parteien eines Tarifvertrags sein; jedoch muss ausdrücklich in
der Satzung vorgesehen sein, dass der Abschluss von Tarifverträgen
zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben gehört (§ 2 Abs. 3 TVG). Fehlt
diese Festlegung in der Satzung, so sind sie nicht tariffähig, sondern
37
können lediglich im Namen der ihnen abgeschlossenen Verbände
Tarifverträge abschließen, wenn sie eine entsprechende Vollmacht
haben (§ 2 Abs. 2 TVG). Der DGB und die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände sind nicht tariffähig; denn der
Abschluss von Tarifverträgen gehört nicht zu ihren satzungsgemäßen
Aufgaben.
Ein Verband ist nur tariffähig, wenn er als Arbeitgeber- oder als
Arbeitnehmervereinigung sich selbst zur Aufgabe gesetzt hat,
Tarifverträge abzuschließen. Der Abschluss von Tarifverträgen muss
also zu seinen satzungsmäßigen Aufgaben gehören. Mit Ausnahme
der Spitzenorganisationen (§ 2 Abs. 3 TVG) braucht aber keine
ausdrückliche Satzungsbestimmung vorzuliegen, sondern es genügt,
dass der Verband die Interessen seiner Mitglieder bei der Gestaltung
der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen durch den Abschluss
von Tarifverträgen wahrnimmt.
Nach geltendem Recht kann den Koalitionen keine tarifliche Regelung
gegen ihren Willen aufgezwungen werden. Wenn ein Verband nach
seiner Satzung zum Abschluss von Tarifverträgen nicht berechtigt ist,
kann er keinen Tarifvertrag wirksam abschließen.
2. Tarifzuständigkeit
Mit der Feststellung, dass eine Vereinigung tariffähig ist und daher
Tarifverträge abschließen kann, ist noch nicht die Frage beantwortet, ob
sie auch für den Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags zuständig ist.
Diese Befugnis bezeichnet man als Tarifzuständigkeit. Sie darf nicht mit
dem Geltungsbereich eines bestimmten Tarifvertrags verwechselt werden,
sondern ist im Gegenteil die Fähigkeit, Tarifverträge mit dem in ihm
38
festgelegten Geltungsbereich abschließen zu können Welchen
räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich
ein Tarifvertrag hat, wird in ihm festgelegt. Ob er aber den vorgesehenen
Geltungsbereich haben kann, beantwortet die Tarifzuständigkeit. Da den
Verbänden koalitionsrechtlich gewährleistet ist, ihren Organisationsbereich
selbst festzulegen, ist auch die Tarifzuständigkeit ihrer Selbstbestimmung
überlassen. Maßgeblich ist daher die Satzung einer Vereinigung.
Die Tarifzuständigkeit ist für den Tarifvertrag eine
Wirksamkeitsvoraussetzung. Wegen des Vertragscharakters müssen
beide Vertragsparteien tarifzuständig sein. Fehlt auch nur einer
Tarifvertragspartei die Tarifzuständigkeit, so ist der Tarifvertrag nicht
wirksam.
3. Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers
Nach § 2 Abs. 1 TVG sind tariffähig nicht nur die Gewerkschaften und
Vereinigungen von Arbeitgebern, sondern auch einzelne Arbeitgeber. Vom
Verbandstarifvertrag unterscheidet man daher den Firmentarifvertrag, der
mit einem Arbeitgeber abgeschlossen. Vielfach bezeichnet man ihn auch
als Haustarifvertrag.
Die Tariffähigkeit ist dem einzelnen Arbeitgeber um der Achtung seiner
negativen Koalitionsfreiheit willen beigelegt worden. Der Abschluss von
Tarifverträgen soll nicht dadurch unmöglich gemacht werden, dass ein
Arbeitgeber keinem Arbeitgeberverband beitritt. Aber auch der
Arbeitgeber, der sich einer Koalition anschließt, bleibt tariffähig. Der Große
Senat des BAG hat in seinem Beschluss zur Aussperrung vom 21.4.1971
zwar offen gelassen, ob die gesetzliche Regelung des § 2 Abs. 1 TVG in
jedem denkbaren Fall anwendbar sei, insbesondere bei den "kleinen"
39
Arbeitgebern, die nicht in der Lage seien, einen wirkungsvollen Druck oder
Gegendruck auszuüben.28 Bezweifelt wird jedoch nicht die Tariffähigkeit;
der Hinweis kann vielmehr nur dahin verstanden werden, dass ein
"kleiner" Arbeitgeber möglicherweise nicht durch einen Streik zum
Abschluss eines Firmentarifvertrages gezwungen werden kann.
Vom Firmentarifvertrag. ist der firmen-, betriebs- oder
unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag zu unterscheiden, der mit
einem Arbeitgeberverband abgeschlossen wird, in seinem
Geltungsbereich aber auf einen bestimmten Betrieb oder ein bestimmtes
Unternehmen beschränkt wird. Durch diese Begrenzung im
Geltungsbereich unterscheidet er sich von dem sog. Flächentarifvertrag.
Ein derartiger Verbandstarifvertrag ist grundsätzlich zulässig. Allerdings
darf der Arbeitgeberverband durch seinen Abschluss nicht die gegenüber
dem Mitglied bestehende Pflicht zur Gleichbehandlung verletzen.
II. Tarifgebundenheit als Voraussetzung der unmittelbaren und zwingenden Geltung 1. Tarifgebundenheit und Satzungsautonomie
Während die Tariffähigkeit regelt, wer einen Tarifvertrag abschließen
kann, bestimmt die Tarifgebundenheit, wer den tarifvertraglichen
Rechtsnormen unterliegt. Sie ist vom persönlichen Geltungsbereich, den
die Tarifvertragsparteien für ihre Regelung vereinbaren, zu unterscheiden.
Sie setzt der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis eine personelle
Schranke.
28 AP GG Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 43.
40
Tarifgebunden sind im gesetzlichen Regelfall der Arbeitgeber, der selbst
Partei des Tarifvertrags ist, und die Mitglieder der Tarifvertragsparteien (§
3 Abs. 1 TVG). Die Tarifgebundenheit ist insoweit das Spiegelbild der
Tariffähigkeit. Sofern der Tarifunterworfene nicht, wie nur dem Arbeitgeber
möglich, selbst Partei des Tarifvertrags ist, knüpft die Tarifgebundenheit
an die Verbandszugehörigkeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ohne
weitere Angaben zu machen. Wie bei der Tariffähigkeit stellt sich deshalb
auch hier die Frage, wer über die Tarifgebundenheit entscheidet. Da
tariffähig nur ein freiwilliger Zusammenschluss ist, kann auch die
Tarifbindung sich grundsätzlich nur auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer
erstrecken, die dem Verband freiwillig beigetreten sind. Da die
Mitgliedschaft sich ausschließlich nach dem Vereinsrecht, insbesondere
also nach der Satzung, richtet, wird die Tarifgebundenheit der
organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer erst durch deren
Unterwerfung unter die tarifvertragliche Gestaltungsmacht begründet. Die
Befugnis der Tarifvertragsparteien zu autonomer Rechtsetzung ist
mitgliedschaftlich legitimiert.
Tarifgebunden ist deshalb nur, wer durch seinen Beitritt zu dem
tarifschließenden Verband zugleich den Zweck der Vereinigung billigt,
Tarifverträge für seine Mitglieder abzuschließen, und sich auch insoweit
der Vereinsgewalt unterwirft. Das BAG hat deshalb die Tarifgebundenheit
verneint, wenn jemand lediglich "Gastmitglied" eines tariffähigen
Arbeitgeberverbandes ist; denn die Tarifbindung setze den Willen zum
Erwerb der Vollmitgliedschaft mit den sich aus ihr ergebenden
tarifrechtlichen Wirkungen voraus.29
29 BAG 16.2.1962 AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12.
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Sieht ein Arbeitgeberverband nach seiner Satzung vor, dass er keine
Tarifverträge im eigenen Namen schließt, so z. B. der Bayerische
Unternehmensverband Metall und Elektro e. V. (BayME), so begründet die
Mitgliedschaft in diesem Verband keine Tarifgebundenheit.
Ausgeschlossen ist durch die Satzung bereits die Tariffähigkeit des
Verbands. Von diesem Fall zu unterscheiden ist, dass ein
Arbeitgeberverband neben der Mitgliedschaft, die eine Tarifgebundenheit
begründet, eine sog. OT-Mitgliedschaft (Ohne-Tarifbindung-Mitgliedschaft)
anbietet. Bei dieser verbandsinternen Lösung ist der Verband nach seiner
Satzung tariffähig und auch tarifzuständig.30 Die von ihm geschlossenen
Tarifverträge gelten aber nicht für die Arbeitgeber, die dem Verband auf
Grund einer OT-Mitgliedschaft angehören. Das gilt jedenfalls, wenn diese
Arbeitgeber nach der Satzung des Verbands keinen Einfluss auf dessen
Tarifpolitik nehmen.
2. Beginn und Ende der Tarifgebundenheit
Zum Verständnis der gesetzlichen Regelung muss man zwischen der
potentiellen und der aktuellen Tarifgebundenheit unterscheiden. Die
potentielle Tarifgebundenheit bedeutet, dass jemand der tariflichen
Rechtsetzungsgewalt unterworfen ist, während mit der aktuellen
Tarifgebundenheit die Bindung an einen bestimmten Tarifvertrag gemeint
ist. Die potentielle Tarifgebundenheit beginnt mit dem Beitritt zu einem
tarifschließenden Verband; sie endet mit dem Ausscheiden aus diesem
Verband. Wird während der Verbandszugehörigkeit ein Tarifvertrag
abgeschlossen, so tritt mit Inkrafttreten seiner Regelung die aktuelle
30 BAG 18.7.2006, NZA 2006, 1225 ff.
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Tarifgebundenheit ein. Für bereits bestehende Tarifverträge beginnt sie
mit dem Verbandsbeitritt. Eröffnet die Satzung die Möglichkeit, dem
Verband rückwirkend beizutreten, führt dies nicht zu einem rückwirkenden
Beginn der Tarifgebundenheit.
Wenn das Mitglied aus dem tarifschließenden Verband ausscheidet, endet
die potentielle, nicht aber die aktuelle Tarifgebundenheit, also die Bindung
an einen bestimmten Tarifvertrag. Diese bleibt vielmehr, wie sich aus § 3
Abs. 3 TVG ergibt, bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Die aktuelle
Tarifgebundenheit kann also nicht durch Austritt aus dem
tarifschließenden Verband beseitigt werden (sog. Nachbindung). Sie
endet, wenn der Tarifvertrag geändert wird). Keine Nachbindung tritt ein,
wenn eine Tarifvertragspartei aufgelöst wird.
III. Bezugnahme auf einen Tarifvertrag im Arbeitsvertrag Sind die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden, so haben die
Tarifnormen, wenn wie im Regelfall der Tarifvertrag nicht für
allgemeinverbindlich erklärt ist oder auf Grund einer Rechtsverordnung
Anwendung findet, für den Inhalt des Arbeitsverhältnisses keine
Tarifgeltung. Da die Vielzahl der Arbeitsverhältnisse aber heute in ihrer
Eigenart und Besonderheit nicht durch Gesetz, sondern durch Tarifvertrag
geregelt ist, werden Tarifverträge, die innerhalb eines Wirtschaftszweiges
die maßgebliche Ordnung für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen
festlegen, im allgemeinen auch den Arbeitsverhältnissen mit nicht
tarifgebundenen Arbeitnehmern zugrunde gelegt. Die Tarifnormen gelten
in diesem Fall aber nicht normativ, sondern entweder als Bestandteil des
Einzelarbeitsvertrags oder auf Grund betrieblicher Übung. Sie haben
deshalb auch keinen Vorrang vor einer abweichenden Vertragsgestaltung,
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sondern gelten im Gegenteil nur nach Maßgabe des Arbeitsvertrags für
den Vertragsinhalt.
Die Gestaltung der Bezugnahme kann sehr verschieden sein. Möglich ist,
dass eine Tarifvertragsregelung nur inhaltsgleich in den
Einzelarbeitsvertrag übernommen wird. Sonderregelungen für den
Tarifvertrag im Gesetzesrecht wie die Öffnungsklauseln finden auf diesen
Fall allerdings keine Anwendung. Sie kommen nur in Betracht, wenn auf
den Tarifvertrag durch Einbeziehungsabrede Bezug genommen wird.
Die Arbeitsvertragsparteien können frei darüber bestimmen, ob ein bereits
bestehender Tarifvertrag einbezogen werden soll (statische Verweisung)
oder ob die jeweils gültige Fassung eines bestimmten Tarifvertrags
maßgebend sein soll (dynamische Verweisung). Die dynamische
Verweisung kann darin bestehen, dass auf den Tarifvertrag in seiner
jeweils gültigen Fassung Bezug genommen wird, in dessen
Geltungsbereich der Arbeitnehmer bei Begründung des
Arbeitsverhältnisses fällt (kleine dynamische Bezugnahmeklausel), oder
es wird der für den Betrieb jeweils einschlägigen Tarifvertrag für
anwendbar erklärt (große dynamische Bezugnahmeklausel). Bei
Betriebsinhaberwechsel ist dieser Unterschied von Bedeutung, weil nur im
letzteren Fall bei einem Wechsel des Betriebs in einen anderen
Geltungsbereich ein Tarifwechsel eintritt.
Das BAG hat die Bezugnahmeklausel, wenn der Arbeitgeber
tarifgebunden ist, als Gleichstellungsabrede interpretiert, d. h. der
Arbeitnehmer wird so gestellt, als wäre er tarifgebunden.31 Bei
dynamischer Verweisung auf einen Verbandstarifvertrag sollte daher bei
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einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers wegen der dadurch
eingetretenen Beendigung der Tarifgebundenheit die Bezugnahmeklausel
ihre Dynamik verlieren. Wenn dagegen der Arbeitgeber bei Vereinbarung
der Bezugnahmeklausel nicht tarifgebunden ist, entfällt die Möglichkeit
einer Interpretation als Gleichstellungsabrede. Bei dynamischer
Verweisung richtet sich deshalb ausschließlich nach dem Wortlaut der
Bezugnahmeklausel, ob die Dynamik bei einer Änderung des Tarifvertrags
bestehen bleibt. Nichts anderes kann aber auch bei Tarifgebundenheit des
Arbeitgebers gelten, so dass durch dessen Verbandsaustritt allein keine
Änderung der Rechtslage eintritt.32
§ 7 Abschluss und Beendigung von Tarifverträgen I. Abschluss Der Tarifvertrag ist, auch soweit er Rechtsnormen enthält, ein
rechtsgeschäftlicher Tatbestand. Er kommt durch Vertrag zustande
(§§ 145 ff). Partner des Tarifvertrages kann aber nur eine tariffähige
Person oder Vereinigung sein.
Eine weitere Besonderheit ergibt sich daraus, dass der Tarifvertrag
Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen gestaltet. Wird er zwischen
mehreren Personen oder Vereinigungen abgeschlossen, so kann es sich
stets nur darum handeln, dass der Vertrag auf der einen oder der anderen
Seite mehrere Parteien aufweist (mehrgliedriger Tarifvertrag).
Beispielsweise ist der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst´(TVöD) auf
der Arbeitgeberseite mit der Bundesrepublik Deutschland und der
31 Vgl. BAG 26.9.2001, 27.11.2002 und 19.3.2003 AP TVG § 1
Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 21, 28 und 33. 32 So nunmehr auch BAG 14.12.2005 NZA 2006, 607.
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Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände abgeschlossen. Bei
mehreren Parteien auf der einen, der anderen oder beiden Seiten besteht
zwischen den Vertragspartnern keine rechtliche Gemeinschaft,
insbesondere keine Gesamthand. Die Rechtslage ist vielmehr im
Allgemeinen so, als handelte es sich um mehrere selbständig
abgeschlossene Tarifverträge.
Der Tarifvertrag bedarf der Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG). Lediglich
mündlich geschlossene Tarifverträge sind nichtig (§ 125 BGB).
II. Geltungsbereich eines Tarifvertrags Die Tarifvertragsparteien legen den Geltungsbereich ihrer Regelung selbst
fest, dürfen dabei aber nicht ihre Tarifzuständigkeit überschreiten.
Voraussetzung der normativen Wirkung ist weiterhin, dass die Personen,
auf die der normative Teil des Tarifvertrags sich erstrecken soll,
tarifgebunden sind.
Man unterscheidet den räumlichen, betrieblichen, fachlichen, persönlichen
und zeitlichen Geltungsbereich. Mit dem räumlichen Geltungsbereich ist
die Unterscheidung nach dem Tarifgebiet gemeint. Beim betrieblichen
Geltungsbereich geht es um die Art des Betriebs. Er ist von besonderer
Bedeutung, weil die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind. Mit dem
fachlichen Geltungsbereich wird der betriebliche Geltungsbereich
eingeschränkt. Bei ihm geht es um die Art und Tätigkeit, also darum, ob
der Tarifvertrag für technische oder kaufmännische Angestellte gilt. Mit
dem persönlichen Geltungsbereich wird festgelegt, welche Merkmale
persönlicher Art ein Arbeitnehmer erfüllen muss. Hierher gehört, dass ein
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Tarifvertrag nur für Arbeiter oder Angestellte gelten soll. Schließlich wird
mit dem zeitlichen Geltungsbereich festgelegt, wann der Tarifvertrag in
Kraft tritt und wann er sein Ende finden soll.
III. Beendigung des Tarifvertrags Für die Beendigung gelten die allgemeinen Grundsätze, die für vertraglich
begründete Dauerrechtsbeziehungen entwickelt sind. Grundsätzlich
werden die Tarifverträge auf bestimmte Zeit abgeschlossen. Sie sollen
aber regelmäßig mit Ablauf dieser Frist nicht ihr Ende finden, sondern es
wird im Allgemeinen nur ein Termin bestimmt, zu dem frühestens
gekündigt werden kann. Der Tarifvertrag kann auch durch einen
Aufhebungsvertrag beendet werden. Ebenso wie die Kündigung bedarf
der Aufhebungsvertrag keiner besonderen Form.
Nach Beendigung des Tarifvertrags gelten die Rechtsnormen weiter, bis
sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 TVG).
IV. Publikation der Tarifverträge Gemäß § 6 TVG wird beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein
Tarifregister geführt, in das der Abschluss, die Änderung und die
Aufhebung der Tarifverträge sowie Beginn und Beendigung einer
Allgemeinverbindlicherklärung eingetragen werden (vgl. zu den
Übersendungs- und Mitteilungspflichten der Tarifvertragsparteien § 7
TVG). Auf die Wirksamkeit des Tarifvertrages hat die Beachtung dieser
Bestimmung keinen Einfluss; es genügt die Einhaltung der Schriftform (§ 1
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Abs. 2 TVG).
Nach § 8 TVG sind die Arbeitgeber verpflichtet, die für ihren Betrieb
maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen.
Die Bekanntgabe im Betrieb ist aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung.
§ 8 TVG ist eine reine Ordnungsvorschrift, aus deren Verletzung keine
Schadensersatzansprüche hergeleitet werden können.
§ 8 Rechtsnormen des Tarifvertrags (Tarifvertrag als Normenvertrag) Während die Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 es nur ermöglicht
hatte, Arbeitsbedingungen mit normativer Kraft festzusetzen, hat das
Tarifvertragsgesetz den Bereich des normativen Teils erheblich erweitert:
Zu ihnen gehören Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die
Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und
betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können (§ 1 Abs. 1 TVG),
und außerdem Rechtsnormen, die gemeinsame Einrichtungen der
Tarifvertragsparteien regeln (§ 4 Abs. 2 TVG).
I. Verhältnis des Tarifvertrags zu höherrangigem Recht 1. Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
Bereits in dem grundlegenden Urteil vom 15.1.1955 zum Grundsatz der
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Lohngleichheit von Mann und Frau begründete das BAG seine
Entscheidung mit der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien.33 Zu
diesem Ergebnis gelangte es unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 3 GG, nach
dem die Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes
Recht binden. Zur Gesetzgebung in diesem Sinne zählte es die
Tarifverträge, weil sie objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der
Beteiligten setzten. Diese Begründung wird nicht mehr aufrechterhalten.34
Das BAG sieht nunmehr als entscheidend an, dass die Tarifnormen auf
kollektiv ausgeübter Privatautonomie beruhen. Die Tarifvertragsparteien,
die im Rahmen des durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit
gewährleisteten Bereichs tätig werden, greifen nicht hoheitlich in
Grundrechte ein. Die Grundrechte setzen nur mittelbar Grenzen, weil den
Staat die Schutzpflicht trifft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor einer
unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Grundrechte durch
tarifvertragliche Regelungen zu bewahren.
Das Grundrecht der freien Arbeitsplatzwahl (Art. 12 Abs. 1 GG) ist daher
auch gegenüber den Tarifvertragsparteien gewährleistet. Die Begründung
des Arbeitsverhältnisses sowie die Art der zugesagten Tätigkeit und deren
Umfang sind der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis vorgegeben. Sie
festzulegen, ist Sache der Arbeitsvertragsparteien.
2. Verhältnis zum Gesetz
Soweit eine Gesetzesregelung zwingend ist, sind auch die
Tarifvertragsparteien an sie gebunden. Eine Besonderheit ergibt sich
allerdings daraus, dass bei einer Vielzahl zwingender 33 AP GG Art. 3 Nr. 4.
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Gesetzesbestimmungen eine Abweichung nicht nur zugunsten, sondern
auch zu Lasten der Arbeitnehmer durch Tarifvertrag gestattet wird
(tarifdispositives Gesetzesrecht; so in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB, § 13
Abs. 1 und 2 BUrlG, § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG, §§ 8 Abs. 4 Satz 3, 12
Abs. 3 Satz 1, 13 Abs. 4 Satz 1, 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG, § 17 Abs. 3
Satz 1 BetrAVG, § 7 ArbZG, § 21a JArbSchG). Soweit Gesetze
tarifdispositiv sind, berücksichtigt der Gesetzgeber, dass das
Tarifvertragssystem vom Verhandlungsgleichgewicht der Koalitionen
ausgeht. Er lässt daher die von ihm gesetzte Regelung zurücktreten,
soweit eine tarifvertragliche Regelung gilt.
Sind die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden, so ist den Parteien
des Einzelarbeitsvertrags im allgemeinen gestattet, dass sie im
Geltungsbereich des Tarifvertrags die Anwendung der von dem
zwingenden Gesetzesrecht abweichenden tarifvertraglichen
Bestimmungen vereinbaren (vgl. § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1
Satz 2 BUrlG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG, §§ 8 Abs. 4 Satz 4, 12 Abs. 3 Satz
2, 13 Abs. 4 Satz 2, 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG, § 17 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG).
Es müssen, wie im allgemeinen festgelegt wird (z. B. § 622 Abs. 4 Satz 2
BGB), die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:
-- Das Arbeitsverhältnis muss bei Tarifgeltung unter den räumlichen,
sachlichen und personellen Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen.
-- Notwendig ist weiterhin, dass die Anwendung der tarifvertraglichen
Bestimmungen vereinbart wird, wobei nicht erforderlich ist, dass auf den
gesamten Tarifvertrag Bezug genommen wird, sondern es genügt die
Übernahme des Regelungskomplexes aus dem einschlägigen
Tarifvertrag. Keineswegs reicht es aus, dass die Tarifvertragsregelung nur
inhaltsgleich in den Einzelarbeitsvertrag übernommen wird. Nur bei
34 Vgl. BAG vom 25.2.1998 AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 11.
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Bezugnahme auf den Tarifvertrag, nicht schon bei inhaltsgleicher
Regelung tritt bei tarifdispositiven Gesetzen die tarifvertragliche an die
Stelle der gesetzlichen Regelung.
Die für allgemeine Vertragsbedingungen geltende Gesetzesregelung (§§
305 ff. BGB), insbesondere die Bestimmungen über ihre Angemessenheit,
finden auf Tarifverträge keine Anwendung (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB). Das
gilt nicht nur, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind,
sondern auch, wenn ein Tarifvertrag allein auf Grund einer
Einbeziehungsabrede im Arbeitsvertrag Anwendung findet. Allerdings
muss es sich insoweit um einen einschlägigen Tarifvertrag handeln.
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