recht aktuell - lutz abel · 3. aktuelle entscheidung des eugh zum verfall von urlaubsansprüchen...
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Sie halten die druckfrische, nunmehr erstmals von der LUTZ | ABEL Rechtsanwalts PartG mbB verantwortete Ausgabe der Recht Aktuell in den Händen – in neuem Design und gewohnter Qualität. Informieren Sie sich auf den nachfolgenden Seiten über Neues aus unserer Kanzlei, den von uns betreuten Rechtsgebieten und anstehende Termine.
Das Thema Compliance ist heute für Unternehmen jeder Größe wichtiger denn je. Die Zeiten, in denen sich ausschließlich internationale Großkonzerne mit diesem Thema beschäftigen mussten, sind, falls es sie je gab, eindeutig vorbei. Vor diesem Hintergrund hat sich Dr. Kilian Eßwein, Leiter der Praxisgruppe Compliance, aus Unternehmenssicht mit dem Thema auseinandergesetzt. Lesen Sie in dem » Guide to Compliance, wie Sie Ihr Unternehmen, Ihre Mitarbeiter und nicht zuletzt sich selbst als Geschäftsführer oder Vorstand vor Haftung schützen: www.lutzabel.com/compliance.
Im Übrigen wurden unsere Kanzlei und Dr. Kilian Eßwein kürzlich von dem Magazin WirtschaftsWoche als „Spezialisten des Rechtsgebiets Compliance“ ausgezeichnet, worüber wir uns sehr freuen.
Gerne möchten wir Sie auch auf das eBook zum neuen Bauvertragsrecht hinweisen, das Sie auf unserer Website herunterladen können: www.lutzabel.com/real-estate. Dr. Wolfgang Abel und Dr. Thomas Schönfeld geben einen umfassenden Überblick zum Anordnungsrecht – damit Sie Risiken und Unsicherheiten besser einschätzen und vermeiden können.
Das Jahr 2019 steht bei LUTZ | ABEL für weiteres Wachstum. Vor diesem Hintergrund dürfen wir Ihnen eine Reihe neuer Kolleginnen und Kollegen vorstellen.
Seit Mitte April erweitert Dr. Sebastian Sumalvico die Praxisgruppe Venture Capital / M&A. Er ist Europajurist (Univ. Würzburg) und war bereits als Rechtsanwalt bei einer führenden deutschen Transaktionskanzlei tätig. Seit März verstärkt zudem Andreas Kössel das ArbeitsrechtsTeam in München. Er ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Wirtschaftsmediator und war zuvor mehrere Jahre Rechtsanwalt in der Arbeitsrechtspraxis einer internationalen Großkanzlei. Die Praxisgruppe Real Estate schließlich ist mit Steffen Krämer und Niklas Kröger um zwei Berufseinsteiger gewachsen.
Unser Stuttgarter Büro darf sich über drei neue Kollegen freuen: Seit 1. Mai verstärkt der auf Bau und Architektenrecht spezialisierte Partner Ulrich Eix das Team um Dr. Daniel Junk, in das zuletzt mit Iris Burkhard eine erfahrene Rechtsanwältin gewechselt hatte. Die Praxisgruppe Commercial wird seit April von dem erfahrenen Associate Dr. Benjamin Baisch unterstützt.
Wir laden Sie ein, die neuen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen unserer Veranstaltungen kennenzulernen.
Abschließend wünschen wir Ihnen eine bereichernde Lektüre. Für Fragen stehen Ihnen die Autoren und das gesamte LUTZ | ABEL Team gerne zur Verfügung.
Herzliche Grüße
Ihre Rechtsanwälte von LUTZ | ABEL
Zum Guide to Compliancevon Dr. Kilian Eßwein »
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VERANSTALTUNGEN
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Der neue BeschäftigtendatenschutzBECK Seminare27. September 2019 in Frankfurt am Main5. Dezember 2019 in MünchenReferent: Dr. Philipp Byers
Erste praktische Erfahrungen im Beschäftigtendatenschutz mit der DSGVORechtsanwaltskammer München5. November 2019 in MünchenReferent: Dr. Philipp Byers
Arbeitnehmerdatenschutz-FachtagungTÜV NORD Akademie26. November 2019 in MünchenReferent: Dr. Philipp Byers u.a.
Compliance im Mittelstand: Pflichten des Managements und WhistleblowingKooperationsveranstaltung mit EQS23. Mai 2019 in MünchenReferenten: Dr. Kilian K. Eßwein, Prof. Dr. Hauser (Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur)
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Gesellschafterstreit: Typische KonfliktfelderBECK Seminare21. November 2019 in MünchenReferenten: Dr. Reinhard Lutz, Dr. Christian Dittert
Gesellschafterstreit im ProzessVerlag C.H. BECK22. November 2019 in MünchenRefrenten: Dr. Reinhard Lutz, Dr. Christian Dittert
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Die neue VOB/A 2019: Vergabe von Bauleistungenvhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V.22. und 23. Mai 2019 in MünchenReferent: Tobias Osseforth, Mag. rer. publ.
10. Österreichischer Vergaberechtstag4. Juni 2019 in WienReferent: Tobias Osseforth, Mag. rer. publ. u.a.
13. Vergaberechtsforum Südvhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V.15. – 16. Juli 2019 in LindauReferent: Tobias Osseforth, Mag. Rer. publ. u.a.
Verhandlungsvergabe und Verhandlungsverfahrenvhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V.19. September 2019 in MünchenReferent: Tobias Osseforth, Mag. Rer. publ. u.a.
141. ERFA-Kreis-Nord VeranstaltungKooperationsveranstaltung mit der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e.V.13. Juni 2019 in Hamburg
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Update Ziviles Baurecht 2019LUTZ | ABEL Frühstück6. Juni 2019 in MünchenReferent: Dr. Rainer Kohlhammer
Störungen im BauablaufVerlag Dashöfer17. Juni 2019 in Leipzig13. November 2019 in BerlinReferent: Dr. Daniel Junk
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Für Fragen zu den Veranstaltungen und zur Anmeldung stehen Ihnen die Referenten sowie Amelie Schlemmer (Telefon: +49 89 544 1470, EMail: [email protected]) gerne zur Verfügung.
Weitere Informationen unter www.lutzabel.com/termine
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INHALTSVERZEICHNIS
01 ARBEITSRECHT
Das deutsche Urlaubsrecht und der EuGH: Neues zum Verfall von UrlaubsansprüchenJustine Luterbach
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GESELLSCHAFTSRECHT
Zur Legitimationswirkung der Gesellschafterliste gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG bei Einziehung von GeschäftsanteilenAnna Zaprutckaja
KARTELLRECHT
Gut für Kartellbeteiligte - schlecht für Geschädigte: Bundesgerichtshof erschwert die Durchsetzung von KartellschadensersatzansprüchenChristoph Richter
ÖFFENTLICHES RECHT
Das gemeindliche Vorkaufsrecht im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung – Para-digmenwechsel in der Vorkaufsrechtspraxis der Landeshauptstadt MünchenDr. Thomas Schönfeld
Bundesverwaltungsgericht erweitert NachbarrechtsschutzDr. Christian Braun
REAL ESTATE
Bauunternehmer haftet nicht für Beschädigung des Nachbargebäudes durch Unter-fangungSteffen Krämer
Photovoltaikanlagen – findet die fünfjährige Verjährung Anwendung?Vera Lederer
Der Anfang vom Ende des Preisrechts der HOAI?Katharina Bold
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ARBEITSRECHT
DAS DEUTSCHE URLAUBSRECHT UND DER EUGH: NEUES ZUM VERFALL VON
URLAUBSANSPRÜCHEN
In arbeitsrechtlicher Hinsicht ist kaum ein anderes Rechtsgebiet von den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) so maßgeblich beeinflusst wie das deutsche Urlaubsrecht. Jüngst hat der EuGH wieder einmal neue Anforderungen an den Verfall von Urlaubsansprüchen gestellt und seine Rechtsprechung zum Schicksal von Urlaubsabgeltungsansprüchen bei Tod des Arbeitnehmers nuanciert (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, Az.: C684/16).
Der vorliegende Beitrag nimmt dies zum Anlass, die bisherige Entwicklung des deutschen und europäischen Urlaubsrechts kurz zusammenzufassen. Im Anschluss werden die aktuelle Entscheidung des EuGH zum Urlaubsverfall analysiert und die Konsequenzen für die arbeitsrechtliche Praxis dargestellt.
RAin Justine Luterbach | [email protected]
1. Einführung
Das Urlaubsrecht ist in der Rechtsprechung einem ständigen Wandel unterzogen, ohne dass das seit 1963 geltende Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) bisher grundlegend vom deutschen Gesetzgeber geändert worden ist. Diese für Arbeitgeber und Arbeitnehmer wenig transparente Entwicklung beruht maßgeblich auf den Vorgaben des EuGH. Gerade die Bestimmungen in Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG zur Gewährleistung eines vierwöchigen Jahresurlaubs haben zu zahlreichen Entscheidungen des EuGH geführt, die das deutsche Urlaubsrecht nachhaltig prägen. Dies ist bemerkenswert, da Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie lediglich die knappe Regelung einer vierwöchigen Mindesturlaubsdauer enthält und ansonsten hinsichtlich der Bedingungen für die Inanspruchnahme und Gewährung des Urlaubs auf die gesetzlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten verweist.
2. Die bisherige Entwicklung zum Verfall von Ur-laubsansprüchen
a) Die Entscheidung „Schultz-Hoff“
Der Umbruch des deutschen Urlaubsrechts wurde maßgeblich durch die „SchultzHoff“Entscheidung des EuGH im Jahr 2009 eingeläutet (EuGH, Urteil vom 20.01.2009, Az.: C350/06 – SchultzHoff). Das Bundesarbeitsgericht (BAG) war lange Zeit davon ausgegangen, dass der Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG auf das jeweilige Kalenderjahr befristet ist und lediglich unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG auf das folgende Kalenderjahr (bis zum 31.03.) übertragen werden kann. Nach Ablauf des Bezugs bzw. Übertragungszeitraums erlosch der Urlaubsanspruch. Dies galt auch, wenn der Arbeitnehmer aufgrund längerer Krankheit gehindert war, den Urlaub zu nehmen.
Der EuGH hat entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einer solchen arbeitsrechtlichen Regelung bzw. Gepflogenheit im Falle langandauernder Krankheit entgegensteht. Wichtigste Folge dieser Rechtsprechung ist, dass der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers nicht erlischt, wenn er aufgrund längerer Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage gewesen ist, den bezahlten Jahresurlaub während des Bezugszeitraums bzw. des Übertragungszeitraums zu nehmen. Die Verfallregelung in § 7 Abs. 3 BUrlG bleibt insoweit unangewendet. Unklar war allerdings zunächst, ob die fehlende Anwendbarkeit der Verfallregelung in § 7 Abs. 3 BUrlG eine unbegrenzte Ansammlung und Übertragbarkeit des Urlaubsanspruchs zur Folge hat.
b) Die Entscheidung „KHS“
In der Entscheidung „KHS“ begegnete der EuGH (Urteil vom 22.11.2011, Az.: C214/10 – KHS) den aus der Entscheidung „SchultzHoff“ resultierenden Bedenken der „unbegrenzten“ Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen und setzte dieser zeitliche Grenzen. Bei der Festlegung des Übertra
gungszeitraums blieb der EuGH allerdings recht vage. Erforderlich ist danach, dass der Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreitet. Eine Übertragung des Erholungsurlaubs auf einen Zeitraum von 15 Monaten – wie in dem beim EuGH zu Grunde liegenden Fall – erfüllt jedenfalls diese Anforderungen. Der EuGH hat dies damit begründet, dass bei einer längeren Übertragbarkeit der mit der Gewährung von Urlaub verbundene Erholungszweck nicht mehr erreicht werden kann und diese daher nicht geboten sei.
c) Auswirkungen auf das deutsche Urlaubsrecht
Das BAG hat die grundlegenden Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen „SchultzHoff“ und „KHS“ aufgegriffen und in das deutsche Urlaubsrecht übertragen. Die Verfallvorschrift des § 7 Abs. 3 BUrlG ist danach grundsätzlich europarechtskonform und im „Normalfall“ weiterhin anwendbar. Sie ist jedoch dergestalt auszulegen, dass Urlaubsansprüche eines langzeiterkrankten Arbeitnehmers erst 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfallen (vgl. BAG, Urteil vom 07.08.2012, Az.: 9 AZR 353/10). Dies ist auch konsequent. Eine Beschränkung des Übertragungszeitraums auf 12 Monate würde der dargestellten Rechtsprechung des EuGH entgegenstehen. Der Bezugszeitraum des BUrlG ist das Kalenderjahr. Würde der übertragene Urlaub bereits am Ende des Folgejahres, mithin am 31.12. verfallen, würde der Übertragungszeitraum dem Bezugszeitraum entsprechen und diesen daher nicht deutlich überschreiten.
3. Aktuelle Entscheidung des EuGH zum Verfall von Urlaubsansprüchen
Die Prägungen des deutschen Urlaubsrechts durch die Rechtsprechung des EuGH sind bei weitem noch nicht abgeschlossen. Der EuGH hat sich erst jüngst erneut mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen ein Urlaubsanspruch verfällt, und insoweit grundlegend neue Anforderungen an die Urlaubsgewährung aufgestellt (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C684/16).
a) Sachverhalt
Der Kläger war bei dem Beklagten aufgrund mehrerer befristeter Arbeitsverträge bis zum 31.12.2013 als Wissenschaftler angestellt. Im Oktober 2013 bat der Beklagte den Kläger schriftlich, noch vorhandene Urlaubstage vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses zu nehmen. Die zeitliche Lage des Urlaubs wurde dabei nicht verbindlich festgelegt. In der Folge nahm der Kläger insgesamt zwei Tage Urlaub.
Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte der Kläger noch 51 Resturlaubstage. Der Aufforderung des Klägers, ihm die noch offenen Urlaubstage abzugelten, kam der Beklagte nicht nach. Er war der Auffassung, der Kläger hätte seinen Urlaub im Hinblick auf das bekannte Arbeitsvertragsende am 31.12.2013 rechtzeitig einbringen müssen. Daraufhin er
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hob der Kläger entsprechende Zahlungsklage.
Die Vorinstanzen gaben der Klage statt. Das BAG hat hingegen die Auffassung vertreten, die fraglichen Urlaubsansprüche des Klägers seien gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen, da der Urlaub nicht im Urlaubsjahr genommen worden sei. Die Regelung könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, dem Arbeitnehmer die bezahlte Freistellung aufzuzwingen, um den Urlaubsverfall zu verhindern. Ob eine solche Regelung allerdings mit dem Europarecht vereinbar ist, wurde vom EuGH bisher nicht eindeutig beantwortet. Das BAG hat dem EuGH daher diese Frage im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.
b) Entscheidung des EuGH
Nach Ansicht des EuGH ist eine nationale Regelung, nach welcher der Urlaubsanspruch automatisch verfällt, wenn der Arbeitnehmer im betreffenden Bezugszeitraum keinen Urlaubsantrag gestellt hat, mit der Richtlinie 2003/88/EG unvereinbar.
Ein Verfall des Urlaubsanspruchs trete nach europäischem Recht nur dann ein, wenn der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dies ergebe sich unter anderem aus Art. 7 der Richtlinie. Der Arbeitgeber sei verpflichtet, den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er habe ihn insoweit – erforderlichenfalls förmlich – aufzufordern, den Urlaub zu nehmen. Zudem müsse er dem Arbeitnehmer klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums verfällt. Die Beweislast hierfür trage der Arbeitgeber.
c) Konsequenzen der Entscheidung
Nach deutschem Recht verfällt der Urlaubsanspruch grundsätzlich mit dem Ende eines Kalenderjahres oder – soweit die Übertragungsvoraussetzungen vorliegen – mit dem Ende des Übertragungszeitraums am 31. März des folgenden Kalenderjahres. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer zuvor keinen Urlaubsantrag gestellt hat. Der EuGH hat nunmehr klargestellt, dass eine solche Regelung gegen Unionsrecht verstößt. Der Arbeitgeber hat seine Arbeitnehmer vielmehr aufzufordern, noch offenen Resturlaub zu nehmen. Zudem sind die Arbeitnehmer über die Konsequenzen des Verlusts des Urlaubsanspruchs aufzuklären, sollten sie dieser Aufforderung nicht nachkommen. Das BAG hat diese Rechtsprechung in einer aktuellen Entscheidung konsequent umgesetzt (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15). Noch bleibt allerdings offen, welche Anforderungen die Rechtsprechung an die konkreten Aufklärungs und Informationspflichten des Arbeitgebers stellt. Insbesondere stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber durch einen einzelfallunabhängigen Hinweis – beispielsweise im Arbeitsvertrag – seinen Pflichten gerecht wird oder aber eine jähr
liche Wiederholung erforderlich ist. Hier wird eine weitere Klarstellung durch die Rechtsprechung abgewartet werden müssen.
d) Praxistipp
Arbeitgebern ist jedenfalls aus Nachweisgründen zu raten, die betreffenden Arbeitnehmer rechtzeitig vor Ablauf des Urlaubsjahres bzw. im Falle der Übertragung (erneut) rechtzeitig vor Ablauf des Übertragungszeitraums schriftlich aufzuklären und zu informieren. Zudem sollten sich Arbeitgeber den Empfang dieser Informationen vom jeweils betroffenen Arbeitnehmer bestätigen lassen. Um personelle Engpässe am Jahresende zu vermeiden, bietet es sich an, bereits zu Jahresbeginn, spätestens jedoch drei Monate vor Ablauf des Bezugs bzw. Übertragungszeitraums, der arbeitgeberseitigen Aufklärungs und Informationspflicht nachzukommen. Ein allgemeiner Hinweis sollte bereits in den Arbeitsvertrag aufgenommen und ergänzend über die betriebsüblichen Kommunikationskanäle („Schwarzes Brett“, Intranet etc.) veröffentlicht werden. Vorsorglich ist bis zu einer Klärung dieser Frage durch die Rechtsprechung allerdings ergänzend eine jährliche Information zu empfehlen.
4. Fazit
Die spektakuläre Entscheidung des EuGH führt – ebenso wie die bereits vorangegangen Entscheidungen zum Verfall der Urlaubsansprüche – zu einem grundlegenden Wandel des bisherigen deutschen Urlaubsrechts. Arbeitgeber müssen sich bei der Urlaubsgewährung nun komplett neu aufstellen. Es wäre wünschenswert, wenn der Gesetzgeber die bisher ergangene Rechtsprechung des EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit und Transparenz in das deutsche Recht einpflegen würde und die – gerade für Laien – kaum überschaubare Entwicklung des Urlaubsrechts in kodifizierter Form an die geltende Rechtslage anpasst.
GESELLSCHAFTSRECHT
ZUR LEGITIMATIONSWIRKUNG DER GESELLSCHAF-TERLISTE GEM. § 16 ABS. 1 S. 1 GMBHG BEI EINZIE-
HUNG VON GESCHÄFTSANTEILEN
RAin Anna Zaprutckaja | [email protected]
Bereits mit Wirkung zum 01.11.2008 hat der Gesetzgeber die Bestimmung des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG neu gefasst. Diese regelt, dass im Verhältnis zur Gesellschaft im Fall einer Veränderung in den Personen der Gesellschafter oder des Umfangs ihrer Beteiligung als Inhaber eines Geschäftsanteils als Gesellschafter nur gilt, wer als solcher in der im Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste eingetragen ist. Nun musste sich der Bundesgerichtshof (BGH) erstmals mit der Frage beschäftigen, ob die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG auch bei eingezogenen Geschäftsanteilen Anwendung findet (BGH, Urteil vom 20.11.2018, Az.: II ZR 12/17).
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1. Rechtliche Grundlagen
Die Einziehung von Geschäftsanteilen ist in § 34 GmbHG geregelt. Sie darf nur erfolgen, wenn sie im Gesellschaftsvertrag zugelassen ist und entweder ein sachlicher Grund für die Einziehung gegeben ist (Zwangseinziehung) oder der Betroffene zustimmt (freiwillige Einziehung). Übliche satzungsmäßige Einziehungsgründe sind beispielsweise die Insolvenz des Gesellschafters, die Pfändung des Geschäftsanteils, das Erreichen eines bestimmten Alters, die Beendigung der Organstellung im Falle des sog. Managermodells oder das Vorliegen eines wichtigen Grunds in der Person des betroffenen Gesellschafters. Wird ein Geschäftsanteil eingezogen, so geht dieser unter.
Die Einziehung erfolgt auf der Grundlage der Satzungsregelung durch Beschluss der Gesellschafterversammlung. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Einziehung erst mit Zahlung der Abfindung an den Betroffenen aus ungebundenem Vermögen der Gesellschaft wirksam wird (frühere sog. „Bedingungslösung“). In seiner Entscheidung vom 24.01.2012 (Az.: II ZR 109/11) hat der BGH dagegen klargestellt, dass die Einziehung bereits mit der Mitteilung des Beschlusses an den Gesellschafter Wirkung entfaltet, wenn er weder nichtig ist noch für nichtig erklärt wird. Nichtig ist der Einziehungsbeschluss beispielsweise dann, wenn bereits bei Beschlussfassung feststeht, dass das Einziehungsentgelt nicht aus freiem Vermögen der Gesellschaft gezahlt werden kann. Ob dies der Fall ist, kann im Einzelfall schwer zu beantworten sein und führt zugleich zu Unsicherheit bei der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Einziehung wirksam wird.
In seiner neueren Entscheidung vom 20.11.2018 (Az.: II ZR 12/17) hat sich der BGH nunmehr mit der Frage beschäftigt, ob für die Beurteilung der Gesellschafterstellung im Verhältnis zur Gesellschaft auch für den Fall der Einziehung allein auf die im Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste abzustellen oder ob die materielle Rechtslage maßgeblich ist.
2. Sachverhalt und Verfahrensgang
Der Kläger, sein Vater und W waren Gesellschafter der beklagten GmbH. Der Kläger hielt 31%, sein Vater 20% und W 49% der Geschäftsanteile an der Beklagten. Am 05.03.2014 übertrug der Vater des Klägers seinen 20%Geschäftsanteil auf den Kläger. Die entsprechend angepasste Gesellschafterliste wurde aber erst am 13.03.2014 ins Handelsregister aufgenommen. Vor der Aufnahme der aktualisierten Gesellschafterliste ins Handelsregister fand am 07.03.2014 eine Gesellschafterversammlung der Beklagten statt, in der u.a. die Einziehung des Geschäftsanteils des Vaters des Klägers beschlossen wurde. Die Klage des Vaters des Klägers gegen die Einziehung seines Geschäftsanteils war erfolglos. Die insoweit aktualisierte Gesellschafterliste wurde am 15.08.2016 ins Handelsregister aufgenommen.
Mit seiner Klage vor dem Landgericht Köln begehrte der Kläger die Nichtigerklärung und hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit mehrerer Beschlüsse der Gesellschafterversammlung vom 28.07.2015. Im Zeitpunkt der Gesellschafterversammlung vom 28.07.2015 verfügte der Kläger materiellrechtlich nur über einen 31%Geschäftsanteil an der Beklagten, da der Geschäftsanteil des Vaters des Klägers wirksam eingezogen worden war. Laut der noch im Handelsregister hinterlegten Gesellschafterliste verfügte er aber nach der Anteilsübertragung durch seinen Vater über einen 51%Geschäftsanteil an der Beklagten. Für die Frage der Wirksamkeit der Gesellschafterbeschlüsse war daher die richtige Beurteilung der Mehrheitsverhältnisse maßgeblich.
3. Entscheidung des BGH vom 20.11.2018
Der BGH (Az.: II ZR 12/17) hielt in seiner Entscheidung vom 20.11.2018 fest, dass die Legitimationswirkung der im Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG nicht nur bei der Übertragung, sondern auch im Falle der Einziehung von Geschäftsanteilen Wirkung entfaltet. Das bedeutet, dass es für die Beurteilung der Mehrheitsverhältnisse und die Frage des Abstimmungsergebnisses in der Gesellschafterversammlung vom 28.07.2015 auf die an diesem Tag im Handelsregister hinterlegte Gesellschafterliste ankam.
Der BGH stellte maßgeblich darauf ab, dass der Wortlaut des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG nicht danach unterscheidet, worauf die Veränderung in den Personen der Gesellschafter oder des Umfangs ihrer Beteiligung beruht. Zudem ergebe sich aus dem Regierungsentwurf zur Neufassung des § 16 Abs. 1 GmbHG nicht, dass eingezogene Geschäftsanteile von der Legitimationswirkung nicht erfasst sein sollten. Vielmehr sollte die neue Vorschrift nach der Gesetzesbegründung alle Formen des „Anteilsübergangs“ erfassen. Daraus folge aber nicht, dass die Einziehung von Geschäftsanteilen nicht unter § 16 Abs. 1 GmbHG falle. Auch der Sinn und Zweck der Bestimmung spreche für eine Legitimationswirkung bei der Einziehung. § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG diene sowohl der Missbrauchs und Geldwäschebekämpfung als auch der Rechtssicherheit.
Schließlich verstoße die Berufung des Klägers auf die Legitimationswirkung der Gesellschafterliste nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), da die Wirksamkeit der Einziehung zum einen nicht evident war und zum anderen die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG unterlaufen würde, würde man ihre Geltendmachung bei später festgestellter Unrichtigkeit der Eintragung generell als treuwidrig ansehen.
4. Fazit
Die Entscheidung des BGH ist aus Gründen der Rechtssicherheit durchaus zu begrüßen. Wollte man für den Fall
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der Einziehung unter Berufung auf die Entscheidung vom 24.01.2012 (Az.: II ZR 109/11) auf die materielle Rechtslage und den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einziehung durch Bekanntgabe an den Betroffenen abstellen (siehe dazu oben), erforderte dies unter Umständen eine schwierige materiellrechtliche Prüfung, da nicht stets offensichtlich ist, ob der Einziehungsbeschluss wirksam war. Durch das Abstellen auf die im Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste kann stets eindeutig bestimmt werden, wer zu einer Gesellschafterversammlung zu laden ist und wer bei der Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung mitstimmen darf.
Bei genauerer Betrachtung erscheinen die vom BGH angeführten Argumente für die Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG bei der Einziehung jedoch nicht zwingend. Weder der Wortlaut des § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG noch die Gesetzgebungsmaterialien liefern insoweit ein eindeutiges Ergebnis. Auch das Argument der Missbrauchs und Geldwä
schebekämpfung greift in diesem Fall nicht, da der wirksam eingezogene Geschäftsanteil untergeht; ein Bedürfnis an Transparenz besteht daher nicht. Schließlich ist durchaus ein gewisser Widerspruch zwischen dieser Entscheidung und dem BGHUrteil zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einziehung durch Bekanntgabe gegenüber dem Berechtigten zu erkennen (Urteil vom 24.01.2012, Az.: II ZR 109/11). Es leuchtet nicht ganz ein, aus welchem Grund auf § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG abgestellt werden muss, wo doch die Gesellschaft im Gegensatz zu einer grundsätzlich nicht von der Zustimmung der Gesellschafterversammlung abhängigen Anteilsübertragung gemäß § 15 GmbHG an dem relevanten Vorgang der Einziehung durch Beschluss der Gesellschafterversammlung selbst beteiligt ist und von diesem daher Kenntnis hat. Auch wenn das Ergebnis der Entscheidung die Rechtsanwendung erleichtert und daher zu begrüßen ist, erscheint die Argumentation des BGH in diesem Fall ergebnisorientiert.
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KARTELLRECHT
GUT FÜR KARTELLBETEILIGTE - SCHLECHT FÜR GESCHÄDIGTE: BUNDESGERICHTSHOF ERSCHWERT DIE DURCHSETZUNG VON
KARTELLSCHADENSERSATZANSPRÜCHEN
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat festgestellt, dass bei einem Quoten und Kundenschutzkartell die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis weder hinsichtlich des Eintritts eines Schadens, noch hinsichtlich der Kartellbefangenheit einzelner Aufträge erfüllt sind (BGH, Urteil vom 11.12.2018, Az.: KZR 26/17 – Schienenkartell).
Nach den Feststellungen des BGH streitet zwar (auch weiterhin) eine tatsächliche Vermutung dafür, dass aus einem Kartell ein entsprechender (Kartell)Gewinn resultiert und dass einer solchen tatsächlichen Vermutung im Rahmen der freien Beweiswürdigung regelmäßig eine starke indizielle Bedeutung zukommt. Allerdings wird es künftig nicht mehr genügen, sich auf die Feststellung eines typischen Geschehensablaufs, also derjenigen Umstände zu beschränken, welche (bisher) die Anwendung des Anscheinsbeweises ermöglicht haben. Vielmehr muss jeweils der gesamte konkrete Geschehensablauf gewürdigt werden, d.h. die zuständigen Instanzgerichte müssen künftig im Rahmen einer umfassenden Beweiswürdigung die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls berücksichtigen.
Durch das Urteil wurden somit die Anforderungen an die Darlegungs und Beweislast hinsichtlich des Eintritts eines Schadens und der Kartellbefangenheit der Aufträge deutlich erschwert. Während es für Kläger damit künftig schwieri
RA Christoph Richter | [email protected]
ger werden wird, ihre geltend gemachten Kartellschadensersatzansprüche durchzusetzen, steigt für Kartellbeteiligte die Wahrscheinlichkeit, sich hiergegen (zumindest teilweise) erfolgreich verteidigen zu können.
Die aktuell geltende Rechtslage, d.h. § 33a Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die erst für Schadensersatzansprüche gilt, die nach dem 26.12.2016 entstanden sind, blieb in dem Urteil (zwar) unberücksichtigt. Da der Entstehungszeitpunkt von Kartellen jedoch oftmals viele Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückliegt, entfaltet das Urteil (dennoch) eine erhebliche praktische Bedeutung für die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf künftige Schadensersatzklagen als auch für laufende Verfahren.
Das BGHUrteil hat bereits erste praktische Auswirkungen in Kartellschadensersatzverfahren z.B. gegen das sog. Süßwarenkartell gezeigt: Zum einen konnten die klagenden Drogerien Schlecker, Rossmann und Müller in Ansehung des BGHUrteils (zum Schienenkartell) den Anscheinsbeweis hinsichtlich des Schadenseintritts nicht heranziehen, zum anderen hatten die Kläger Schwierigkeiten, ihren konkreten Schaden darzulegen und zu beweisen, weshalb sie im Frühjahr 2019 ihre Klagen in Höhe von insgesamt rund 27 Millionen Euro zurückgezogen haben.
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1. Sachverhalt und Verfahrensgang
Das Bundeskartellamt (BKartA) hatte im Jahr 2013 u.a. gegen die Beklagte, eine Herstellerin von Weichen und Schienen, wegen der Beteiligung an dem Kartell der „Schienenfreunde“ („Schienenkartell“) ein Bußgeld verhängt; der Bußgeldbescheid ist rechtskräftig. Die Klägerin, ein regionales Verkehrsunternehmen, macht geltend, sie habe aufgrund des Schienenkartells überhöhte Preise zahlen müssen.
Das zuständige Berufungsgericht hatte einen Schadensersatzanspruch der Klägerin dem Grunde nach mit der Begründung bejaht, es spreche jeweils ein Beweis des ersten Anscheins („Anscheinsbeweis“) dafür, dass (i) der Klägerin aus den Beschaffungsvorgängen, auf die sie ihre Schadensersatzforderung stützt, ein Schaden entstanden ist, und (ii) dass diese Beschaffungsvorgänge kartellbetroffen waren.
2. Entscheidung
Nach den Feststellungen des BGH hat die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises jedoch dazu geführt, dass die rechtlich gebotene umfassende Würdigung der Umstände sowohl hinsichtlich der Entstehung eines Schadens als auch bezüglich der Kartellbetroffenheit der in Rede stehenden Aufträge unterblieben und damit unzureichend ist. Der BGH hat das Urteil des Berufungsgerichts daher insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist und die Sache in diesem Umfang zurückverwiesen.
3. Hintergrund: Anscheinsbeweis
Der Anscheinsbeweis ist eine typisierte Form des Indizienbeweises, der auf der Anwendung von Erfahrungssätzen beruht, die typische Geschehensabläufe zum Gegenstand haben. Der Anscheinsbeweis erlaubt in Verbindung mit bereits feststehenden Tatsachen den Schluss auf die eigentlich zu beweisende Tatsache, z.B. auf eine bestimmte Ursache für ein Ereignis oder auf den Eintritt eines bestimmten Erfolgs. Der konkrete Geschehensablauf braucht bei Anwendung des Anscheinsbeweises gerade nicht festgestellt zu werden, weil von einem typischen, durch die Lebenserfahrung bestätigten, gleichförmigen Hergang ausgegangen werden kann, solange kein atypischer Geschehensablauf vorliegt. Als typisch – so die Rechtsprechung – könne ein Geschehensablauf allerdings nur dann angesehen werden, wenn er so häufig vorkomme, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß sei. Unter Anwendung des vorgenannten Maßstabs lagen die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis nach den Feststellungen des BGH weder hinsichtlich des Eintritts eines Schadens noch hinsichtlich der Kartellbefangenheit einzelner Aufträge vor.
4. Kein Anscheinsbeweis für das Vorliegen eines Schadens
Ein Schadensersatzanspruch setzt grundsätzlich voraus, dass der Klägerin aus der Abwicklung der in Rede stehenden Aufträge ein Schaden entstanden ist, die Geschäfte ohne den Wettbewerbsverstoß also jeweils zu günstigeren Konditionen abgeschlossen hätten werden können. Dabei gilt der Beweismaßstab des § 287 Abs. 1 ZPO.
Der BGH bestätigt zwar den wirtschaftlichen Erfahrungssatz, dass aus der Durchführung eines Preis, Quoten und Kundenschutzkartells oftmals ein Kartellgewinn resultiert. Sofern Unternehmen trotz der damit einhergehenden erheblichen Risiken Kartellabsprachen träfen, streite eine tatsächliche Vermutung dafür, dass die im Rahmen eines Kartells erzielten Preise im Schnitt über denen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache bildeten. Diese Vermutung gewinne an Gewicht, je länger und nachhaltiger ein Kartell praktiziert wurde. Einer solchen tatsächlichen Vermutung komme im Rahmen der freien Beweiswürdigung regelmäßig eine starke indizielle Bedeutung zu.
Dennoch fehle es angesichts der Vielgestaltigkeit und Komplexität von Kartellabsprachen, ihrer Durchführung und ihrer Wirkungen an der für die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises erforderlichen Typizität. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang wettbewerbsbeschränkende Absprachen einen Preiseffekt haben, werde von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, etwa der Anzahl der Marktteilnehmer, der Zahl der an den Absprachen beteiligten Unternehmen, ihren Möglichkeiten, die für die Umsetzung der Absprachen erforderlichen Informationen auszutauschen, dem Anteil der Marktabdeckung, dem Grad der Kartelldisziplin und den Möglichkeiten der Marktgegenseite, ihren Bedarf anderweitig zu decken oder sonstige Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Außerdem könne der Einfluss dieser Faktoren, gerade wenn es (wie im Schienenkartell) um Kartellabsprachen geht, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, erheblichen Veränderungen unterliegen. Insbesondere dürfe nicht aus dem Blick geraten, dass die Absprachen von Unternehmen getroffen werden, die grundsätzlich jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen und nicht durchweg bereit sein müssen, sich der Kartelldisziplin zu fügen.
5. Kein Anscheinsbeweis für die Kartellbefangen-heit der Aufträge
Nach den Feststellungen des BGH gilt dies entsprechend auch im Hinblick auf die Kartellbefangenheit, d.h. die Frage, ob die streitbefangenen Aufträge überhaupt von den vom BKartA festgestellten Absprachen erfasst gewesen sind.
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Zwar seien Quoten und Kundenschutzabsprachen grundsätzlich auf eine möglichst umfassende Wirkung ausgerichtet. Dies könne eine tatsächliche Vermutung dafür begründen, dass Aufträge, die sachlich, zeitlich und räumlich in den Bereich der Absprachen fallen, von diesen erfasst wurden und damit kartellbefangen waren.
Es spreche jedoch keine Typizität dafür, dass Kartellabsprachen tatsächlich in jedem einzelnen Fall beachtet und umgesetzt werden, die Kartellbefangenheit der einzelnen Aufträge mithin als typischer Geschehensablauf angese
hen werden könne. In diesem Zusammenhang seien etwa die Kartelldisziplin und das Aufdeckungsrisiko wesentliche Faktoren, die im Einzelfall zu Abweichungen von den Kartellabsprachen führen könnten.
Ferner ist nach den Feststellungen des BGH zu berücksichtigen, dass Kartellabsprachen zeitlich und räumlich eine unterschiedliche Intensität aufweisen können. Schließlich könnten sich Struktur, Teilnehmer und die Marktgegebenheiten im Laufe der Zeit ändern.
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ÖFFENTLICHES RECHT
DAS GEMEINDLICHE VORKAUFSRECHT IM GELTUNGS-BEREICH EINER ERHALTUNGSSATZUNG – PARADIG-MENWECHSEL IN DER VORKAUFSRECHTSPRAXIS DER
LANDESHAUPTSTADT MÜNCHEN
RA Dr. Thomas Schönfeld | [email protected]
Die bundesweit geführte Diskussion um bezahlbaren Wohnraum hat bekanntlich gerade im Gebiet der Landeshauptstadt München große Brisanz. Die Bestandsentwicklung und Sicherung von bezahlbarem Wohnraum ist ein wichtiger Eckpfeiler des Handlungsprogramms „Wohnen in München VI“ der Landeshauptstadt München. Als vorrangiges Instrument der Bestandssicherung dient dabei u.a. der Erlass von Erhaltungssatzungen in Form der sogenannten Milieuschutzsatzungen nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BauGB mit dem Zweck, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu erhalten. Für Erhaltungssatzungen bietet das gemeindliche Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB ein wichtiges ergänzendes Sicherungsmittel. Unter der Voraussetzung der Rechtfertigung der Ausübung durch das Wohl der Allgemeinheit nach § 24 Abs. 3 BauGB kann die Gemeinde bei einem Verkauf von Grundstücken im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung ihr Vorkaufsrecht ausüben bzw. alternativ über eine entsprechende Ankündigung der Ausübung den Käufer zur Abgabe einer Abwendungserklärung nach § 27 BauGB bewegen. Wesentlich ist dann, was Inhalt einer solchen Abwendungserklärung sein muss. Allgemein gibt § 27 Abs. 1 BauGB vor, dass der Käufer sich zur „maßnahmenkonformen“ Grundstücksnutzung verpflichten muss.
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1. Neue Vorkaufsrechtspraxis der Landeshauptstadt München
Im Interesse, in Erhaltungssatzungsgebieten den Schutz von bezahlbarem Wohnraum zu verbessern, hat der Stadtrat der Landeshauptstadt München bereits in seiner Sitzung vom 27.06.2018 eine Verschärfung der Abwendungserklärungen beschlossen. Neben den beibehaltenen Verboten der Aufteilung nach WEG und von Luxussanierungen wurden danach Bindungen bei Neuvermietungen von Wohnungen und Beschränkungen für Mieterhöhungen in die Abwendungserklärung aufgenommen. Gegenstand der entsprechenden Verpflichtung der Käufer sind danach allerdings nur Bestandsgebäude. Bezüglich bisher unbebauter Grundstücke und der Aufstockung und dem Ausbau bestehender Gebäude in Erhaltungssatzungsgebieten musste der Käufer hingegen keine Verpflichtungen eingehen. Da dies als unbefriedigend empfunden wurde, beauftragte der Beschluss vom 27.06.2018 die Stadtverwaltung, ein Konzept zur möglichen Ausweitung der Vorkaufsrechtspraxis auf unbebaute Grundstücke und Grundstücke mit Baurechtsreserve sowie auf Ausbauten und Aufstockungen zu erarbeiten und dem Stadtrat zur Entscheidung vorzulegen. Dies ist zwischenzeitlich erfolgt und hat nun mit dem am 10.04.2019 vom Stadtrat der Landeshauptstadt München gefassten Beschluss zu einer grundlegenden und im Bundesgebiet bisher einmaligen Erweiterung der Vorkaufsrechtspraxis geführt.
Das Vorkaufsrecht in Erhaltungssatzungsgebieten wird danach künftig auch bei unbebauten Grundstücken und Grundstücken mit Wohnbaurechtsreserven geprüft. Beträgt auf einem bebauten Grundstück die vorhandene Wohnbaurechtsreserve nur bis zu 600 m² Geschossfläche, so soll diese Wohnbaurechtsreserve nicht den Bindungen der Abwendungserklärung unterliegen, kann vom Eigentümer bzw. Käufer also im Rahmen der allgemeinen Gesetze realisiert werden. Entsprechendes gilt für unbebaute Grundstücke mit einem vorhandenen Wohnbaurecht bis zu 600 m² Geschossfläche, für die dann auch von der Ausübung des gesetzlichen Vorkaufsrechts nach § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB abgesehen wird.
Sind an einem bebauten Grundstück mehr als 600 m² Geschossfläche Wohnbaurechtsreserven oder an einem unbebauten Grundstück mehr als 600 m² Geschossfläche Wohnbaurecht vorhanden, so kann nach diesem Stadtratsbeschluss eine von der Landeshauptstadt München beabsichtigte Vorkaufsrechtsausübung durch Abwendungserklärung nur dann verhindert werden, wenn von den möglicherweise neu hinzukommenden bzw. neu entstehenden Wohneinheiten 30 % den Bindungen der Abwendungserklärung unterworfen werden. Für 30 % der neu hinzukommenden bzw. neu entstehenden Wohneinheiten muss der Käufer mithin Verpflichtungen gemäß der Abwendungserklärung in der Fassung des Stadtratsbeschlusses vom 27.06.2018 eingehen. Dies stellt eine erhebliche wirtschaftliche Belastung für den Käufer dar, die, wenn sie nicht zuvor bei der Kaufpreisvereinbarung entsprechend berücksichtigt wurde, zu
massiven wirtschaftlichen Auswirkungen auf Seiten des Käufers führen kann.
2. Bewertung
Die Landeshauptstadt München geht selbst davon aus, dass diese neue Handhabung des Vorkaufsrechts mit Rechtsunsicherheiten verbunden ist. Die damit einher gehenden Prozessrisiken werden – offenbar bewusst – in Kauf genommen. Eine vor dem Stadtratsbeschluss vom 10.04.2019 eingeholte Anfrage beim Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr hat keine Stütze für die Rechtsauffassung der Landeshauptstadt München erbracht; gleichwohl hat das Staatsministerium die Ausweitung der Vorkaufsrechtsausübung auf unbebaute Grundstücke – ohne weitere rechtliche Begründung – als vertretbar bezeichnet. Auch eine Abfrage des städtischen Referats für Stadtplanung und Bauordnung in der Fachkommission „Baurecht“ des Deutschen Städtetags blieb ohne klares Ergebnis. Die Problematik soll nachfolgend am Beispiel der unbebauten Grundstücke näher betrachtet werden.
a)
Der Wortlaut von § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB enthält keine Beschränkung auf bebaute Grundstücke. Nachdem in § 24 Abs. 1 BauGB für andere Vorkaufsfälle § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 und 6 BauGB – das gemeindliche Vorkaufsrecht von vornherein ausdrücklich begrenzt wird auf unbebaute Grundstücke, lässt sich § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB nur so verstehen, dass sowohl bebaute als auch unbebaute Grundstücke im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung grundsätzlich Gegenstand der Vorkaufsrechtsausübung sein können. Dies erklärt sich allerdings vor der Tatsache, dass Erhaltungssatzungen nach § 172 BauGB unterschiedliche Zwecke verfolgen können und für die Erhaltungssatzung zur Erhaltung der städtebaulichen Eigenart des Gebiets aufgrund seiner städtebaurechtlichen Gestalt nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 BauGB, in der – und nur in der – auch die Errichtung baulicher Anlagen einer Genehmigung bedarf, offensichtlich auch ein Bedürfnis gegeben sein kann, das Sicherungsmittel des Vorkaufsrechts auch an unbebauten Grundstücken einsetzen zu können. Da § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB für Grundstücksverkäufe in allen Arten von Erhaltungssatzungen gilt, ist es deshalb nicht verwunderlich, dass nicht zwischen bebauten und unbebauten Grundstücken unterschieden wird. Damit gibt § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BauGB dann allerdings auch nichts dafür her, ob in Milieuschutzsatzungen das Vorkaufsrecht auch für unbebaute Grundstücke ausgeübt werden kann. Dies richtet sich vielmehr nach § 24 Abs. 3 BauGB, der die materiellen Voraussetzungen der Vorkaufsrechtsausübung regelt.
b)
Nach § 24 Abs. 3 BauGB darf das Vorkaufsrecht nur ausgeübt werden, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies recht
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fertigt. Nachdem es sich bei der Vorkaufsrechtsausübung nicht um eine Maßnahme der Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG handelt, sind an die Allgemeinwohlrechtfertigung geringere Anforderungen zu stellen als an das Allgemeinwohlerfordernis nach Art. 14 Abs. 3 GG. Nach allgemeiner Auffassung ist lediglich zu fordern, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts der im Allgemeinwohlinteresse liegenden zügigen Durchführung der Maßnahme dient. Beim Vorkaufsrecht im Geltungsbereich von Erhaltungssatzungen ist mithin Voraussetzung die begründete Annahme, dass das Grundstücksgeschäft die mit der Erhaltungssatzung verfolgten Ziele beeinträchtigt.
Insofern muss im Rahmen von § 24 Abs. 3 BauGB berücksichtigt werden, welche Anforderungen der Gesetzgeber in § 172 BauGB für Milieuschutzsatzungen an unbebaute Grundstücke stellt. Denn die Kommune kann mit der Vorkaufsrechtsausübung – und damit korrespondierend mit Abwendungserklärungen – nur vom Gesetzgeber gebilligte Zwecke verfolgen. Das Vorkaufsrecht ist dagegen kein Instrument, um damit Zwecke zu verfolgen, die mit der städtebaulichen Maßnahme selbst nicht gesteuert werden können.
Unbebaute Grundstücke als solche bleiben in § 172 BauGB in Milieuschutzsatzungen ungeregelt. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil ein unbebautes Grundstück als solches nicht geeignet ist, die im Gebiet gegebene Milieustruktur zu beeinflussen.
Ein Verkauf eines bisher unbebauten Grundstücks führt allerdings meist zu einer Bebauung durch den Käufer. Es kann deshalb bei der Vorkaufsrechtsprüfung durchaus auch in den Blick genommen werden, welche Anforderungen Milieuschutzsatzungen an die Bebauung bisher unbebauter Grundstücke stellen. Hier ist zunächst festzustellen, dass die Errichtung baulicher Anlagen keiner erhaltungssatzungsrechtlichen Genehmigung bedarf. Damit hat der Gesetzgeber entschieden, dass an die Errichtung baulicher Anlagen auf bisher unbebauten Grundstücken keinerlei erhaltungssatzungsrechtliche Anforderungen zu stellen sind. Der Vorgang ist nach der Wertung des Gesetzgebers für die mit einer Milieuschutzsatzung verfolgten, gesetzlich legitimierten Zwecke gleichsam neutral. Wird die Bebauung eines bisher unbebauten Grundstücks durch den Grundstückseigentümer von der Milieuschutzsatzung nicht erfasst, so lässt sich nicht behaupten, dass der Verkauf des Grundstücks zum Zwecke der Bebauung durch den Käufer die mit der Milieuschutzsatzung verfolgten Ziele beeinträchtigen könnte. Das Allgemeinwohlerfordernis nach § 24 Abs. 3 BauGB kann somit nicht erfüllt sein.
Unter der Voraussetzung einer entsprechenden landesrechtlichen Rechtsverordnung ist allerdings die Begründung von Wohnungseigentum oder Teileigentum nach WEG an Gebäuden, die ganz oder teilweise Wohnzwecken zu dienen bestimmt sind, nach § 172 Abs. 1 S. 4 BauGB in Verbindung mit der landesrechtlichen Rechtsverordnung genehmigungspflichtig. Die erforderliche Rechtsverordnung
enthält in Bayern § 5 der Durchführungsverordnung Wohnungsrecht; sie gilt derzeit bis zum Ablauf des 28.02.2024. Das Genehmigungserfordernis gilt nach seinem Wortlaut auch für eine Aufteilung nach WEG im Zuge einer erstmaligen Bebauung eines Grundstücks bzw. der Realisierung von Baurechtsreserven. Die Genehmigung der Begründung von Wohnungs und Teileigentum darf nach § 172 Abs. 4 S. 1 BauGB nur versagt werden, wenn eine Verdrängungsgefahr für die Wohnbevölkerung mit der Folge negativer städtebaulicher Wirkungen zu erwarten ist. Da nach den vorstehenden Ausführungen für Milieuschutzsatzungen davon auszugehen ist, dass nach der Wertung des Gesetzgebers die erstmalige Bebauung eines bisher unbebauten Grundstücks keine Gefahr für die Struktur der Wohnbevölkerung bildet, kann es auch nicht darauf ankommen, ob für diese Neubebauung eine Begründung von Wohnungseigentum oder Teileigentum vorgesehen ist. Es bleibt dabei, dass eine Milieuschutzsatzung nur den von der gegebenen Wohnbevölkerung genutzten Bestand an Wohnraum erfasst und dessen Erhaltung bezweckt. Alle Änderungen im Geltungsbereich einer Milieuschutzsatzung, die nicht diesen vorhandenen Bestand betreffen, sind nicht geeignet, die mit der Satzung legitimierten Ziele zu beeinträchtigen.
In der Beschlussvorlage zum Stadtratsbeschluss vom 10.04.2019 wird von der Landeshauptstadt München argumentiert, das Wohl der Allgemeinheit im Sinne von § 24 Abs. 3 BauGB rechtfertige es, punktuell bei einem Grundstück eine Verbesserung für das zu schützende Milieu herbeizuführen, um damit nachteiligen Änderungen für dessen Personenkreis an anderer Stelle im Erhaltungssatzungsgebiet entgegenzuwirken. Eine derart „bilanzierende“ Zielsetzung kann § 172 BauGB schwerlich entnommen werden. Es trifft zwar zu, dass eine Milieuschutzsatzung den Erhalt der vorhandenen gebietsspezifischen Bevölkerungsstruktur im gesamten Gebiet bezweckt. Gleichwohl kann aus § 172 BauGB keine Verpflichtung eines Grundstückseigentümers entnommen werden, zum Ausgleich abstrakter anderweitiger nachteiliger Änderungen im geschützten Gebiet
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gleichsam kompensatorische Verbesserungen für die aus städtebaulichen Gründen geschützte Bevölkerungsstruktur auszuführen. Maßstab der Prüfung ist vielmehr stets, ob die konkret zu beurteilende Maßnahme (hier: Begründung von Wohnungs und/oder Teileigentum) generell, insbesondere auch im Hinblick auf ihre Vorbildwirkung, geeignet ist, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu verändern. Eine relevante Veränderung ist dabei allerdings nur diejenige, welche eine Verdrängungsgefahr für die vorhandenen Bewohner begründet. Maßnahmen, die den Wohnraum der vorhandenen Bevölkerungsstruktur nicht betreffen, können diese Verdrängungsgefahr nicht begründen. Und solange die vorhandene Bevölkerungsstruktur nicht verdrängt wird, lässt sich auch schwerlich argumentieren, dass die für die jeweilige Bevölkerungsstruktur vor Ort konkret gegebene Infrastruktur funktionslos zu werden droht.
3. Ergebnis
Die Landeshauptstadt München ist zurecht davon ausgegangen, dass ihre geänderte Vorkaufsrechtspraxis mit rechtlichen Risiken verbunden ist; diese können durchaus als erheblich bezeichnet werden. Das Vorgehen mag aus den angegebenen Gründen der Schaffung von weiterem bezahlbarem Wohnraum in Milieuschutzsatzungen verständlich sein. Aber nicht jeder nachvollziehbare Zweck rechtfertigt die Ausübung eines Vorkaufsrechts nach § 24 Abs. 3 BauGB bzw. entsprechende Verpflichtungen in Abwendungserklärungen zur Ausräumung dieses Vorkaufsrechts. Vor dem Hintergrund der derzeit gegebenen Gesetzeslage dürfte für die geänderte Vorkaufsrechtspraxis der Landeshauptstadt München die erforderliche gesetzliche Legitimation fehlen.
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ÖFFENTLICHES RECHT
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT ERWEITERT NACHBARRECHTSSCHUTZ
RA Dr. Christian Braun | [email protected]
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1. Verschiedener Sachverhalt
Sowohl das Grundstück des Bauherrn als auch das Grundstück des klagenden Nachbarn (ein Yachtclub) liegen unmittelbar am Ufer des Wannsees. Das Grundstück des Yachtclubs ist mit einer im Jahr 1919 errichteten, zweigeschossigen Villa mit hohem Walmdach bebaut und wird für Zwecke des Vereins genutzt. Das Grundstück des Bauherrn ist mit einem in den siebziger Jahren zu Wohnzwecken errichteten Terrassenhaus bebaut, welches seit dem Jahr 2009 leer steht. Beide Grundstücke liegen jeweils im Geltungsbereich eines Bebauungsplans vom 09.11.1959. Der Bebauungsplan setzt ein Sondergebiet für Wassersport und Wohnen fest. Weiter setzt der Bebauungsplan u.a. fest, dass die Gebäude mit höchstens zwei Vollgeschossen ausgeführt werden dürfen. Der Begründung des Bebauungsplans ist zu entnehmen, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (also u.a. die Begrenzung auf zwei Vollgeschosse) zur Erhaltung des grünen Gebietscharakters am See und zum Schutz des Landschaftsbildes erfolgt sind. Dem Bebauungsplan konnte dagegen nicht entnommen werden, dass die Begrenzung des Maßes der baulichen Nutzung auch dem Schutz der jeweils im Plangebiet ansässigen Nachbarn dienen soll.
Dem Bauherrn wurde im Rahmen des erteilten Vorbescheids trotz der Vorgabe im Bebauungsplan, dass maximal zwei Vollgeschosse zulässig sind, die Errichtung eines Gebäudes mit sechs Vollgeschossen nebst entsprechender Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans in Aussicht gestellt. Der vom Yachtclub gegen den Vorbescheid erhobene Widerspruch war noch erfolglos. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass nach Maßgabe der Vorgaben der Rechtsprechung einer Befreiung vom Maß der baulichen Nutzung keine nachbarschützende Wirkung zukomme und eine Aufhebung des Vorbescheids daher an einer Nachbarrechtsverletzung scheitere. Die hiergegen erhobene Klage war in allen drei Instanzen erfolgreich.
2. Kontext und bisherige Rechtsprechung
Nach ständiger Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte können Nachbarn gegen eine Baugenehmigung (oder einen Vorbescheid) nur dann erfolgreich klagen, soweit sie durch die Baugenehmigung (oder durch den Vorbescheid) in nachbarrechtlich relevanten Rechtspositionen verletzt werden. Anerkannt ist insoweit, dass die Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Art der baulichen Nutzung (also z.B. Wohnen oder Gewerbe) kraft Bundesrechts stets Nachbarrechte begründen. Zur Erläuterung sei hierzu ausgeführt, dass z.B. in einem festgesetzten „Reinen Wohngebiet“ grundsätzlich jeder Eigentümer eines Grundstücks in diesem Plangebiet eine Baugenehmigung (bzw. einen Vorbescheid), die (der) eine Gewerbenutzung im Plangebiet zulässt, erfolgreich angreifen kann. Den Eigentümern von Grundstücken im festgesetzten Baugebiet wird insoweit ein sogenannter Gebietserhaltungsanspruch zugestanden. Der Gebietserhal
tungsanspruch kann von den Nachbarn im Plangebiet auch dann geltend gemacht werden, wenn eine tatsächliche Beeinträchtigung (z.B. durch den Lärm des zugelassenen Gewerbes im Wohngebiet) ausgeschlossen ist. Mit Hilfe einer Klage gegen die Baugenehmigung (bzw. den Vorbescheid) kann so stets verhindert werden, dass durch eine zugelassene gebietsfremde Nutzung der bisherige Gebietscharakter in Frage gestellt wird oder gar verloren geht.
Den Festsetzungen eines Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung (Anzahl der Vollgeschosse, Höhe der Gebäude, Grundflächenzahl, Geschossflächenzahl und Baumassenzahl) wurde bisher dagegen nur in absoluten Ausnahmefällen nachbarschützende Wirkung zugesprochen. Gefordert wurde insoweit, dass sich aus dem Bebauungsplan explizit ergeben muss, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung auch zum Schutz der jeweiligen Nachbarn getroffen wurden. Für das Maß der baulichen Nutzung enthalten Bebauungspläne aber meist keine Ausführungen dahingehend, dass die Festsetzungen auch dem Nachbarschutz dienen sollen. Entsprechende Nachbarklagen wurden bisher daher in aller Regel abgewiesen.
3. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Die bisherige Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht nunmehr mit Urteil vom 09.08.2018 (Az.: 4 C 7/17) grundlegend in Frage gestellt. Die bisher geforderte Erkennbarkeit des gewollten Nachbarschutzes aus dem Bebauungsplan soll nunmehr nicht mehr erforderlich sein. Für die Annahme einer nachbarschützenden Wirkung soll es vielmehr bereits ausreichend sein, wenn durch eine Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung ein nachbarliches Austauschverhältnis entsteht. Ein so begründetes Austauschverhältnis verleiht den Eigentümern im Plangebiet dann wie beim Gebietserhaltungsanspruch ein Abwehrrecht gegen rechtswidrige Maßüberschreitungen und zwar – wie beim Gebietserhaltungsanspruch – unabhängig von einer tatsächlichen Beeinträchtigung des klagenden Nachbarn. Unter welchen Voraussetzungen ein nachbarliches Austauschverhältnis entsteht, hat das Bundesverwaltungsgericht aber nicht beantwortet.
Bei Festsetzungen zur zulässigen Höhe von Gebäuden bzw. bei der zulässigen Anzahl der Vollgeschosse lässt sich ein nachbarliches Austauschverhältnis grundsätzlich leicht herleiten. Denn die Beschränkung der Höhe der baulichen Anlagen (bzw. die Beschränkung der Anzahl der Vollgeschosse) führt zwar einerseits zu einem reduzierten Baurecht. Andererseits wird für die Eigentümer im Plangebiet durch das reduzierte Baurecht aber auch eine gute Belichtung und Besonnung (oder auch ein entsprechender Ausblick) gewährleistet.
Durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist daher von einer deutlichen Ausweitung der nachbarrechtlichen Abwehrrechte auszugehen. Mangels klarer Vorgaben zu der
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Frage, wann ein nachbarliches Austauschverhältnis entsteht, führt dies für die Genehmigungsbehörden und die von den Befreiungen begünstigten Bauherren zu erheblichen Rechtsunsicherheiten.
4. Hintergrund der Entscheidung
Anlass für die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht dürfte die in vielen Städten praktizierte Genehmigungspraxis der Bauaufsichtsbehörden sein. Die Genehmigungsbehörden lassen oft umfangreiche Befreiungen vom festgesetzten Maß der baulichen Nutzung eines Bebauungsplans zu, z.B. um schnell zusätzlichen Wohnraum schaffen zu können. Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans würden nach § 31 BauGB eigentlich voraussetzen, dass durch die Befreiung die Grundzüge der Planung nicht beeinträchtigt werden. Zulässig wären danach nur geringfügige Befreiungen von den
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung. Soweit der Bebauungsplan z.B. maximal zwei Vollgeschosse zulässt, dürfte bereits die Befreiung für ein drittes Vollgeschoss die Grundzüge der Planung beeinträchtigen. Viele von den Behörden mit Befreiungen versehenen Baugenehmigungen sind daher rechtswidrig. Diese rechtswidrige Genehmigungspraxis konnte bisher nicht verhindert werden, da klagenden Nachbarn keine anerkannte Nachbarrechtsposition zugesprochen wurde und die entsprechenden Klagen abgewiesen wurden. Das Bundesverwaltungsgericht versucht nunmehr wohl über den Nachbarrechtschutz wieder für rechtmäßigere Zustände zu sorgen. Im Falle einer gewünschten Nachverdichtung müssen die Gemeinden daher zukünftig entsprechend den gesetzlichen Vorgaben den Bebauungsplan rechtswirksam ändern. Dies erfordert eine umfangreiche Abwägung der damit einhergehenden Interessen der Planbetroffenen und nimmt deutlich mehr Zeit in Anspruch als die Erteilung von rechtswidrigen Befreiungen.
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REAL ESTATE
BAUUNTERNEHMER HAFTET NICHT FÜR BESCHÄDIGUNG DES NACHBARGEBÄU-
DES DURCH UNTERFANGUNG
RA Steffen Krämer | [email protected]
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1. Leitsätze
• Dem Nachbarn eines Bauvorhabens steht kein Anspruch gegen den Bauunternehmer zu, sofern er mit dem Bauherrn vor Beginn der Bauarbeiten einen nachbarschaftlichen Haftungsvertrag abgeschlossen hat.
• Durch eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Nachbarn scheidet ein Anspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter gegen das Bauunternehmen mangels Schutzbedürftigkeit aus.
2. Problemstellung und Sachverhalt
Der Kläger und die Beklagte zu 1), ein Projektentwickler für Einkaufszentren, sind Eigentümer zweier aneinander grenzender Nachbargrundstücke. Der Projektentwickler beabsichtigte den Abriss des auf seinem Grundstück befindlichen, an das Geschäftshaus des Klägers angrenzenden Gebäudes und die anschließende Errichtung eines Einkaufszentrums. Als Generalunternehmer für das Vorhaben wurde der Beklagte zu 2) beauftragt. Vor Beginn der Baumaßnahmen schlossen der Kläger und der Projektentwickler eine „nachbarrechtliche Vereinbarung“. Mit dieser Vereinbarung verpflichtete sich der Projektentwickler dazu, für alle Schäden, die im Zusammenhang mit der Unterfangung auftreten sollten, in vollem Umfange und verschuldensunabhängig einzustehen.
Während der Bauausführung traten am maroden und sanierungsbedürftigen Geschäftsgebäude des Klägers Risse auf, die durch die Unterfangung verursacht sein sollen. Der Kläger ist der Auffassung, dass die Unterfangung mangelhaft ausgeführt wurde. Wegen der entstandenen Beschädigungen begehrt der Kläger Schadensersatz von dem Projektentwickler und dem Generalunternehmer in Höhe von mehr als EUR 200.000,00.
3. Entscheidung
Das Begehren des Klägers hatte nur zum Teil Erfolg. Das Landgericht hatte der klägerseitigen Forderung noch vollumfänglich sowohl gegenüber dem Projektentwickler als auch gegenüber dem Generalunternehmer stattgegeben. Zur Begründung hatte es ausgeführt, dass der Projektentwickler aus der nachbarrechtlichen Vereinbarung und der Generalunternehmer als weiterer Gesamtschuldner aus § 823 Abs. 2 i.V.m. § 909 BGB wegen einer unzulässigen Vertiefung des Grundstücks hafteten.
Auf die Berufung beider Beklagter zum Oberlandesgericht Dresden hin wurde das Urteil bzgl. des Projektentwicklers aufrechterhalten. Im Hinblick auf den Generalunternehmer wurde jedoch das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (OLG Dresden, Urteil vom 23.06.2016, Az.: 9 U 955/15).
Das Oberlandesgericht Dresden hat festgestellt, dass dem Kläger gegen den Generalunternehmer kein Anspruch auf Schadensersatz wegen der vermeintlich im Zuge der Unterfangung seines Gebäudes entstandenen Schäden zustehe. Insbesondere könne der Kläger seinen Anspruch nicht darauf stützen, dass er in den Schutzbereich des Generalunternehmervertrages zwischen dem Projektentwickler als Auftraggeber und dem Generalunternehmer einbezogen ist. Unter Verweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung führt das OLG Dresden aus, dass die Einbeziehung eines Dritten nur gerechtfertigt ist, wenn dieser schutzbedürftig ist.
In dem gegenständlichen Sachverhalt stand dem Kläger aber ein gleichwertiger vertraglicher Anspruch gegen den Projektentwickler aus der Nachbarvereinbarung zu. Durch diese verpflichtete sich der Projektentwickler, verschuldensunabhängig für alle dem Kläger durch das Bauvorhaben und damit auch durch die Unterfangung entstehenden Schäden einzustehen. Ebenso kann sich der Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Projektentwickler dem Kläger in der Nachbarvereinbarung etwaige Mängelansprüche (einschließlich Schadensersatz) des Projektentwicklers gegen den Generalunternehmer abgetreten hat. Denn dem Projektentwickler selbst ist nach Auffassung des OLG Dresden kein Schaden entstanden. Der Projektentwickler könnte von dem Generalunternehmer allenfalls Freistellung von möglichen Ansprüchen des Klägers verlangen, wenn der Generalunternehmer tatsächlich mangelhaft gearbeitet hat, was im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen war. Die Abtretung eines Freistellungsanspruchs wird aber überwiegend als unzulässig angesehen. Im vorliegenden Fall schied – nach einer Einvernahme der Bau und Oberbauleiter – auch ein Anspruch aus §§ 823, 831 BGB wegen Organisationsverschuldens bzw. wegen Verkehrssicherungspflichtverletzung aus.
4. Praxishinweis
Die Rechtsprechung geht regelmäßig davon aus, dass die Nachbarn in den Schutzbereich des Bauvertrages zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer einbezogen werden (vgl. KG Berlin, Urteil vom 21.08.2003, Az.: 27 U 338/02; OLG Jena, Urteil vom 31.03.2010, Az.: 7 U 593/09). Das Urteil des OLG Dresden steht nur auf den ersten Blick in Widerspruch zu dieser Rechtsprechung. Vorliegend ist nämlich zu berücksichtigen, dass nach dem Urteil des OLG Dresden der nachbarrechtliche Vertrag die Inanspruchnahme des Bauunternehmers durch den Geschädigten ausschließt.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass einem Nachbarn eines Bauvorhabens ohnehin ein verschuldensunabhängiger nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach § 906 BGB gegen den Eigentümer oder in entsprechender Anwendung gegen den Bauherrn zusteht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es einer Einbeziehung des Nachbarn in den Schutzbereich des Bauvertrages zwischen dem Bauherrn
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und dem Bauunternehmer überhaupt bedarf. Denn neben dem nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch nach § 906 BGB gegen den Eigentümer des Baugrundstückes steht einem geschädigten Nachbarn gegen das ausführende Unternehmen immer ein Anspruch aus Eigentums bzw. Besitzverletzung zu, wenn dieses das Eigentum oder den Besitz des Nachbarn schuldhaft beschädigt hat. Ein Verschulden liegt allerdings dann nicht vor, wenn der Eintritt des Schadens auch bei ordnungsgemäßer Ausführung der Arbeiten unvermeidbar war (z.B. das Auftreten von Rissen bei einem den anerkannten Regeln der Technik entsprechenden Einbringen von Spundbohlen zur Baugrubensicherung).
Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch der Abschluss einer nachbarrechtlichen Haftungsvereinbarung keinen
Freifahrtschein für den Bauunternehmer darstellt. Vielmehr kann er auch bei Abschluss einer Nachbarvereinbarung zwischen Bauherrn und Nachbarn dem Nachbarn gegenüber selbst haften, wenn er die Arbeiten schuldhaft fehlerhaft ausführt und dadurch Eigentum oder Besitz des Nachbarn schädigt. Setzt der Unternehmer einen Nachunternehmer ein, so muss er beweisen, dass er diesen sorgfältig ausgewählt und überwacht hat (sog. Exkulpation). Kann er dies nicht, so haftet der Bauunternehmer auch nach § 831 Abs. 1 BGB für die von seinem Nachunternehmer schuldhaft an Eigentum und Besitz des Nachbarn verursachten Schäden.
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REAL ESTATE
PHOTOVOLTAIKANLAGEN – FINDET DIE FÜNF-JÄHRIGE VERJÄHRUNG ANWENDUNG?
RAin Vera Lederer | [email protected]
Nachdem die Gewinnung erneuerbarer Energien vor dem Hintergrund des drohenden Klimawandels wie auch schwindenden Ressourcen weiter in den Fokus rückt, entscheiden sich immer mehr Bauherren bei Neuerrichtung oder Umbau für die Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach des Bauvorhabens. Während Photovoltaikanlagen vor einigen Jahren in städtischen Gebieten noch exotisch anmuteten, produzieren mittlerweile immer mehr Hauseigentümer ihren Strom durch eine dachseits installierte Photovoltaikanlage selbst.
Der Zuwachs an Photovoltaikanlagen führt unweigerlich dazu, dass auch die Rechtsprechung zunehmend mit rechtlichen Fragen hinsichtlich solcher Anlagen beschäftigt ist, etwa welche Art von Vertrag vorliegt und welche Rechtsnormen Anwendung finden. In Betracht kommt dabei, je nach Ausführung der Anlage, die Annahme eines Werklieferungsvertrags mit Montageverpflichtung, der nach Kaufrecht zu bewerten ist, oder aber eines Werkvertrags.
Insbesondere interessant für Architekten, Ingenieure und andere Beteiligte, die Arbeiten an Photovoltaikanlagen planen und ausführen, ist dabei die Frage, welcher Verjährung Mängelansprüche an solchen Anlagen unterliegen.
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1. Gesetzliche Grundlagen
§ 634a BGB regelt die Verjährung der werkvertraglichen Mängelansprüche.
Nach § 634a Abs. 1 Nr. 1 BGB verjähren Mängelansprüche bei einem Werk, dessen Erfolg in der Herstellung, Wartung oder Veränderung einer Sache oder in der Erbringung von Planungs oder Überwachungsleistungen hierfür besteht, innerhalb von zwei Jahren. Abweichend hiervon verjähren nach § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB Ansprüche bei Arbeiten an einem Bauwerk erst nach fünf Jahren.
Hintergrund der deutlich verlängerten Gewährleistungsfrist bei Arbeiten an Bauwerken ist, dass Mängel an Bauwerken erst später und schwerer erkennbar sind als bei anderen Werken, sei es aufgrund Verdeckung durch weiterführende Arbeiten oder aber durch die nutzungsbedingte Witterung. Folge der spät erkannten Mängel sind in besonderem Maße nachteilige Auswirkungen auf die Substanz. Diese typische Risikolage rechtfertigt die Anwendbarkeit einer deutlich verlängerten Verjährungsfrist.
Ein Bauwerk ist eine unbewegliche, durch Verwendung von Arbeit und Material in Verbindung mit dem Erdboden hergestellte und auf nicht nur vorübergehende Verbindung mit diesem angelegte Sache. Von dem Begriff der „Arbeiten“ sind als Leistungen neben der Neuherstellungen auch Erweiterungen der Gebäudesubstanz, ferner Einbau, Umbau und Erneuerungsarbeiten erfasst, wenn sie insgesamt einer Neuerrichtung gleichzuachten sind. Dabei kommt es neben der Bestimmung zu einer dauerhaften Nutzung insbesondere darauf an, dass eine der Neuerrichtung vergleichbare Risikolage bezüglich verdeckter Mängel vorliegt (vgl. BGH Urteil vom 20.12.2012, Az.: VII ZR 182/10).
Auch für den Fall, dass über einen Werklieferungsvertrag nach § 651 BGB die kaufrechtliche Regelung über die Verjährung, § 438 BGB, Anwendung findet, sieht § 438 Abs. 1 Nr. 2 BGB spezielle Regelungen für Bauwerke vor.
In § 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) BGB ist eine fünfjährige Verjährungsfrist für den Kauf von Bauwerken geregelt; ebenso gilt nach § 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) die verlängerte Verjährung für Baustoffe und Bauteile, damit für alle Sachen, die üblicherweise zur Herstellung von Bauwerken verwendet werden.
2. Vorangegangene Entscheidungen zum Thema Verjährung von Arbeiten an Photovoltaikanlagen
a) Achter Zivilsenat des BGH
Bereits 2013 beschäftigte sich der BGH mit der Frage, ob die Ansprüche eines Käufers wegen Mangelhaftigkeit der Komponenten einer Photovoltaikanlage, die auf dem bereits vorhandenen Dach einer Scheune angebracht wurde, der fünfjährigen Verjährung nach § 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) BGB
unterliegen. Der damals zuständige achte Zivilsenat des BGH verneinte die Anwendbarkeit der verlängerten Verjährung nach § 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) oder b) BGB mit der Begründung, die gekauften Sachen, damit die Komponenten der Photovoltaikanlage, seien nicht „für ein Bauwerk“ verwendet worden. Zur Ermittlung des Kriteriums „für ein Bauwerk“ zog der Senat die zu § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätze heran. Nach Auffassung des Senats war die streitgegenständliche Photovoltaikanlage danach kein Bauwerk im Sinne des Gesetzes, da sie weder für die Erneuerungs oder Umbauarbeiten an der Scheune noch für deren Konstruktion, Bestand, Erhaltung oder Benutzbarkeit von (wesentlicher) Bedeutung war. Mangels Funktion für das Gebäude selbst wurden die für die Montage gelieferten Einzelteile daher nicht „für ein Bauwerk“ verwendet. Auch eine – vorliegend nicht gegebene – etwaige Stromeinspeisung für die Energieversorgung der Scheune änderte nach Ansicht des BGH an diesem Ergebnis nichts, sofern Hauptzweck der Photovoltaikanlage die Schaffung einer zusätzlichen Einnahmequelle ist (vgl. BGH, Urteil vom 09.10.2013, Az.: VIII ZR 318/12).
b) Siebter Zivilsenat des BGH
2016 hingegen wandte sich der siebte, für Werkvertragsrecht zuständige Zivilsenat des BGH diametral gegen das vorgenannte Urteil des achten Senats.
Dem hier zu entscheidenden Sachverhalt lag eine Baumaßnahme zugrunde, bei der eine Photovoltaikanlage fest auf dem Dach einer bereits bestehenden Tennishalle montiert wurde. An dieser Anlage zeigten sich nach Abschluss des Bauvorhabens Mängel.
Der siebte Senat qualifizierte den Vertrag über die Errichtung der Photovoltaikanlage als Werkvertrag, da er die Durchführung der handwerklichen Installations und Anpassungsarbeiten als die den Vertrag maßgeblich prägenden Pflichten ansah. Weiterhin bewertete er den Einbau der
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Photovoltaikanlage als grundlegende Erneuerung der Tennishalle, die insgesamt einer ganzen oder teilweisen Neuerrichtung gleichzuachten sei; dies folge aus den erheblichen Eingriffen in Dach und Gebäudeaußenhaut zur Sicherung des Gebäudes vor Wind und Wetter.
Weiter entschied der siebte Zivilsenat, dass die fünfjährige Verjährungsfrist des § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB bei der nachträglichen Errichtung einer Photovoltaikanlage auf dem Dach einer Tennishalle Anwendung findet, wenn die Photovoltaikanlage zur dauernden Nutzung fest eingebaut wird, der Einbau eine grundlegende Erneuerung der Tennishalle darstellt, die einer Neuerrichtung gleichzuachten ist, und die Photovoltaikanlage der Tennishalle dient, indem sie eine Funktion für diese erfüllt. Die Funktion der Photovoltaikanlage sah der BGH darin, dass die Tennishalle aufgrund einer Funktionserweiterung zusätzlich Trägerobjekt der Anlage sei. Als unerheblich dagegen erachtete der Senat, ob der erzeugte Strom zur Energieversorgung der Tennishalle verwendet wird.
Zudem führte der Senat „klarstellend“ aus, dass seiner Auffassung nach die Photovoltaikanlage selbst als Bauwerk zu klassifizieren sei, da sie über das Gebäude eine feste Verbindung mit dem Erdboden habe (vgl. BGH, Urteil vom 02.06.2016, Az.: VII ZR 348/13).
Dieser Streit der Senate ist bislang nicht entschieden, da der siebte Senat bei seiner Entscheidung kein Bedürfnis für die Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen sah.
3. Urteil des BGH vom 10.01.2019
a) Sachverhalt
In dem der aktuellen BGHEntscheidung (BGH, Urteil vom 10.01.2019, Az.: VII ZR 184/17) zugrunde liegenden Sachverhalt baute der Auftraggeber ein größeres Bürogebäude in ein Studentenwohnheim mit 120 Einheiten um, wobei das Bestandsgebäude komplett entkernt wurde. Eine Photovoltaikanlage wurde über mehrere Stockwerke hinweg in die Fassade des umgestalteten Gebäudes integriert und übernahm auch die Funktion des Putzes in diesen Bereichen.
Beklagter war der Ingenieur, der mit der Planung und Bauüberwachung der Photovoltaikanlage beauftragt war. Bereits kurz nach Einbau der Anlage im November 2003 wurde im Zuge einer Teilabnahme festgestellt, dass die Anlage nicht die prognostizierte Leistung erbrachte. Daraufhin leitete der Auftraggeber im April 2005 ein selbstständiges Beweisverfahren ein, das 2010 sein Ende fand. Im September 2014 erhob der Auftraggeber Klage und verlangte u.a. die Kosten einer durchgeführten Sanierung sowie entgangene Einspeisevergütung bis zur Sanierung. Der beklagte Ingenieur berief sich auf Verjährung.
b) Entscheidung
In Bestätigung seines vorangegangenen Urteils wies der siebte Zivilsenat des BGH mit Urteil vom 10.01.2019 (Az.: VII ZR 184/17) die Einrede der Verjährung zurück, da die fünfjährige Verjährungsfirst des § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB Anwendung finde.
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz entschied der Senat, dass § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB auch für Umbauarbeiten anwendbar sei, die für Konstruktion, Bestand, Erhaltung oder Benutzbarkeit des Gebäudes von wesentlicher Bedeutung sind, sofern die eingebauten Teile mit dem Gebäude fest verbunden sind.
Nach Auffassung des BGH kam es hier nicht auf die zwischen den Senaten streitige Frage an, ob eine Photovoltaikanlage selbst Bauwerksqualität habe. Ebenso wenig entscheidungserheblich war, ob die Photovoltaikanlage dem Gebäude diente, indem dieses zugleich Trägerobjekt der Anlage wurde.
Stattdessen stellte der BGH auch hier entscheidend darauf ab, dass bei der vorliegend in die Fassade integrierten Photovoltaikanlage die typische Risikolage vorliege, die die Anwendbarkeit der verlängerten Verjährungsfrist rechtfertige. Diese ergebe sich bereits daraus, dass sich auch hier Mängel typischerweise erst weit nach Abschluss des Bauvorhabens zeigen.
Dabei ist es nach der Entscheidung des BGH unerheblich, dass der konkret streitgegenständliche Mangel bereits kurz nach Abschluss des Bauvorhabens erkannt wurde. Die für Bauwerke typische Risikolage der späten Erkennbarkeit von Mängeln stelle keine weitere Voraussetzung im Einzelfall für die Annahme der fünfjährigen Verjährungsfrist dar, sondern beschreibe den Grund für das Eingreifen der längeren Verjährungsfrist. Ausreichend sei daher bereits die abstrakte Möglichkeit einer verzögerten Erkennbarkeit auftretender Mängel. Ob sich ein Mangel im Einzelfall bereits kurz nach Abschluss des Bauvorhabens zeigt, sei unbeachtlich – allein das allgemeine Risiko reiche für die Annahme der längeren Verjährung aus.
4. Folgerungen aus dem Urteil für die Praxis
Der BGH hat mit dieser Entscheidung einmal mehr klargestellt, dass Planungs und Ausführungsbeauftrage bei Photovoltaikanlagen im Zweifel davon ausgehen müssen, der fünfjährigen Gewährleistungsfrist zu unterliegen. Zwar ist die Frage, inwieweit bei nicht vollständig integrierten Anlagen § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB oder aber § 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) oder b) BGB Anwendung findet, längst nicht abschließend geklärt.
In den konkret von den Senaten entschiedenen Fällen mag auch kein zwingendes Bedürfnis zur Vorlage beim Großen
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Senat gegeben gewesen sein. Allerdings sorgen die abweichenden Entscheidungen der Senate für Unsicherheit. Ob Kaufrecht oder aber Werkrecht Anwendung findet, hängt vom Einzelfall und insbesondere von der konkrete Konstruktion der Photovoltaikanlage selbst ab. Aufgrund der bislang uneinheitlichen Entscheidung ist für den Auftraggeber daher kaum absehbar, ob in letzter Instanz die Bauwerksqualität einer Photovoltaikanlage durch das befasste Gericht bejaht oder verneint wird.
Sofern der Mangel in den ersten zwei Jahren nach Abnahme auftritt, hat dies insofern keine Auswirkung, als hier nach der gesamten Rechtsprechung noch keine Verjährung eingetreten ist. Bei später erkannten Mängeln aber läuft der Auftraggeber Gefahr, in einen unter Umständen bereits verlorenen Prozess zu gehen, da – abhängig von dem entscheidenden Senat – seine Ansprüche bereits als verjährt
angesehen werden. Als Alternative bliebe ihm nur, die nach zwei Jahren auftretenden Mängel gar nicht geltend zu machen. Damit aber wird die Durchsetzbarkeit seiner Ansprüche stark beschränkt.
Vor diesem Hintergrund ist das besprochene Urteil insofern positiv aufzunehmen, als der siebte Zivilsenat seiner Linie treu geblieben ist und dem Auftraggeber von Photovoltaikanlagen eine reelle Chance einräumt, seine Ansprüche auch durchsetzen zu können. Folgerichtig ist auch die Entscheidung, die typische Risikolage nicht zu einer weiteren Voraussetzung für die längere Verjährung im Einzelfall zu machen. Bei auftretenden Mängeln kurz nach Ablauf der jedenfalls unstreitig mindestens anwendbaren zweijährigen Gewährleistungsfrist wäre dem Auftraggeber andernfalls die Durchsetzbarkeit seiner Ansprüche erheblich erschwert.
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DER ANFANG VOM ENDE DES PREIS-RECHTS DER HOAI?
RAin Katharina Bold | [email protected]
Seit Ende Juni 2017 läuft das Vertragsverletzungsverfahren der EUKommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Festhaltens der Bundesrepublik Deutschland an den Mindest und Höchstsätzen der HOAI. Die EUKommission ist der Ansicht, dass die HOAI sowohl gegen die Dienstleistungsfreiheit als auch gegen die Niederlassungsfreiheit verstoße, den freien Wettbewerb nachhaltig behindere und mithin unionsrechtswidrig sei.
Nach der sog. Anhörung (mündlichen Verhandlung) am 07.11.2018, stellte am 28.02.2019 nun der Generalanwalt seine Schlussanträge und empfahl dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), die Auffassung der EUKommission zu bestätigen und der Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland stattzugeben. Er halte die Verbindlichkeit der Mindest und Höchstsätze der Honorar und Gebührenordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) für unvereinbar mit dem EURecht. Das Preisrecht der HOAI behindere in unzulässiger Weise die Niederlassungsfreiheit, weil sie Ingenieuren und Architekten nicht die Möglichkeit gebe, sich über niedrigere Preise im Markt zu etablieren. Daran ändere insbesondere auch der Umstand nichts, dass die HOAI entsprechende Ausnahmen und Abweichungen ausdrücklich zulässt.
Mit einer Entscheidung des EuGH wird im zweiten oder dritten Quartal 2019 gerechnet. Zwar ist die Einschätzung des Generalanwalts für den EuGH nicht bindend. Dennoch muss man sagen, dass das Gericht in den überwiegenden Fällen der Einschätzung des Generalanwalts folgt.
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1. Rechtlicher Hintergrund
Die Bundesrepublik Deutschland vertritt im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens die Auffassung, dass die HOAI nicht gegen EURecht verstoße, da sie zum einen Mindest und Höchsthonorarsätze nur für Planungsleistungen vorsehe und für diese ein besonderes öffentliches Interesse an der Gewährleistung hoher Qualitätsstandards bestehe. Honorare für Beratungsleistungen zwischen den Parteien seien hingegen bereits frei verhandelbar. Zum anderen sehe die HOAI zahlreiche Ausnahmetatbestände und Abweichungsmöglichkeiten vor, um zu gewährleisten, dass in jedem Einzelfall ein angemessenes Honorar vereinbart werden könne. Folglich bestehe ein hohes Maß an Flexibilität, das es den Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten der Union ermögliche, unter Bedingungen eines wirksamen Wettbewerbs in den deutschen Markt einzutreten.
Der behauptete Eingriff durch die Bestimmungen der HOAI sei auch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt, nämlich durch die Sicherung der Qualität der Planungsleistungen, den Verbraucherschutz, die Bausicherheit, die Erhaltung der Baukultur und durch das Ziel des ökologischen Bauens. Das vornehmliche Ziel sei dabei die Sicherung eines hohen Qualitätsstandards. Eine hochwertige Planung diene insbesondere auch dem Verbraucherschutz. Zum einen gewährleiste sie die Gebäudesicherheit und schütze damit Gesundheit und Leben der Bewohner. Zum anderen verhindere eine hochwertige Planung viele Fehler während der Bauausführung und sorge für eine zügigere und kostengünstigere Bauausführung.
Nach Auffassung der Kommission dagegen hindert das System der Mindest und Höchsthonorarsätze der HOAI neue Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten am Marktzugang in Deutschland. Durch das Preisrecht der HOAI sei es Unternehmen, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind, verboten, von den im nationalen Recht vorgesehenen Mindesttarifen abzuweichen. Ihnen werde die Möglichkeit genommen, durch geringere Honorarforderungen den nationalen Unternehmen wirksam Konkurrenz zu machen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat ihren festen Sitz haben und denen es daher leichter als im Ausland niedergelassenen Unternehmen fällt, sich einen Kundenstamm aufzubauen.
Wettbewerb werde nun einmal im Wesentlichen durch den Preis bestimmt. Nehme man einem Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit, einen bestimmten Preis zu unterbieten, nehme man ihm einen Teil seiner Wettbewerbsfähigkeit. Zusammenfassend sei festzustellen, dass die in Rede stehenden Maßnahmen einen Eingriff in die Privatautonomie darstellen, die Möglichkeit der Unternehmen, über den Preis zu konkurrieren, beeinträchtigen, und die Niederlassungsfreiheit beschränken.
Nach Ansicht des Generalanwalts ändern auch die in der
HOAI geregelten Ausnahmen und Abweichungen nichts an der Feststellung einer Beschränkung, denn diese seien sehr eng gefasst und gerade nicht flexibel.
Eine Rechtfertigung eines etwaigen Eingriffs sieht der Generalanwalt überdies nicht. Mindesttarife griffen unabhängig davon ein, wieviel Zeit für eine bestimmte Arbeit genau aufgewandt worden sei. Dies zeige sich daran, dass die Endsumme die Mindesttarife nicht unterschreiten dürfe, wobei sich die Stundensätze je nach Anbieter aus den verschiedensten Gründen, aber völlig unabhängig von der Qualität seiner Leistungen unterscheiden könnten. Die Erreichung oder Unterschreitung allgemeingültiger Stundensätze gebe also keine Auskunft über die Qualität der Leistung. Ein Preis unterhalb des Mindestsatzhonorars bedeutet aus Sicht des Generalanwalts entgegen dem Vortrag der Bundesrepublik Deutschland kein niedrigeres Qualitätsniveau, und umgekehrt begründe die Überschreitung der Höchstsätze auch keine Vermutung für eine höhere Qualität oder eine Qualitätsgarantie. Es ist nach Ansicht des Generalanwalts nicht erkennbar, dass Mindestpreise überhaupt geeignet sind, ein hohes Qualitätsniveau sicherzustellen. Selbst wenn Mindest und Höchstpreise aber geeignet wären, gebe es eine Reihe von alternativen Maßnahmen, die sowohl die Qualität der Dienstleistungen als auch den Schutz der Verbraucher sicherstellen könnten, z.B. Werbung, Regelungen von Berufsverbänden, Qualitätsmanagementsysteme und die Möglichkeit für Kunden, gezielt Informationen über spezialisierte Internetseiten zu erhalten. Schließlich gelte der Wettbewerb bei Dienstleistungen, insbesondere in Bezug auf den Preis, im Allgemeinen auch als notwendiger, gewünschter und wirksamer Mechanismus in einer Marktwirtschaft.
2. Auswirkungen auf laufende Verfahren und be-stehende Verträge
Selbst wenn der EuGH zu dem Urteil gelangen sollte, dass das Preisrecht der HOAI gegen EURecht verstößt, dürfte dies keine allzu großen Auswirkungen auf laufende Prozesse oder bereits geschlossene Verträge haben.
Mit Beschluss vom 08.02.2018 (Az.: 6 O 1751/15) entschied das LG Dresden, dass eine Architektenhonorarklage auf Mindestsatz aufgrund des von der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens auszusetzen sei und lehnte sich somit gegen die Entscheidungen des OLG Naumburg vom 13.04.2017 (Az.: 1 U 48/11) und des KG Berlin vom 01.12.2017 (Az.: 21 U 19/12).
In dem Rechtsstreit vor dem LG Dresden verlangte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung weiteren Architektenhonorars, welches – nach zunächst vereinbartem Pauschalhonorar – nach den Grundsätzen der Mindestsatzberechnung der HOAI berechnet wurde. Nachdem das Gericht dort zunächst zu der Frage Stellung genommen hatte,
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ob die Mindestsätze ausnahmsweise unterschritten werden durften, verwies es letztlich auf den Umstand, dass die Klage abzuweisen wäre, wenn sich die nationalen Regelungen (HOAI) als unionsrechtswidrig erweisen würden. Das Gericht argumentierte insofern, dass es in Betracht ziehen müsse, dass die für seine Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit maßgeblichen Vorschriften der HOAI unionsrechtswidrig seien und wegen des Vorrangs des Europäischen Rechts sodann nicht anwendbar wären. Das LG Dresden erklärte hierbei auch ausdrücklich, dass es der obergerichtlichen nationalen Rechtsprechung nicht folgen würde, die bisher eine Vorlage zum EuGH mit der Begründung abgelehnt habe, dass zwingende Gründe des allgemeinen Interesses für die Mindesthonorarregelungen der HOAI sprächen. Aus Sicht des LG Dresden beruhe diese Ansicht auf einer rein nationalen Betrachtungsweise, die insbesondere den allein maßgeblichen unionsrechtlichen Auslegungsmaßstab verkenne. Auf dieser Grundlage entschied das Gericht sodann, den Rechtsstreit auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Das OLG Naumburg (Az.: 1 U 48/11) entschied im Frühjahr 2017, dass selbst ein klagestattgebendes Urteil des EuGH (Ergebnis: HOAI unionsrechtswidrig) nur feststellenden Charakter hätte und keinen tatsächlichen Einfluss auf die Geltung der HOAI. Erst wenn der nationale Gesetzgeber tätig werde, könne sich das EUVerfahrensrecht auswirken. Laufende Verfahren seien weiterhin nach geltendem Recht zu bewerten.
Im Ergebnis wird man wohl der Ansicht des OLG Naumburg – welches mit dieser nicht alleine dasteht – folgen müssen, wobei sich der Versuch, die Aussetzung des Verfahrens zu bewirken, für diejenigen lohnen könnte, die mit einer ein etwaig vereinbartes Pauschalhonorar erheblich übersteigenden Mindestsatzforderung konfrontiert werden, wenn man dem LG Dresden folgt. Bestehende Verträge einschließlich der vereinbarten Honorarsätze der HOAI dürften von einer etwaigen Abschaffung
des Preisrechts der HOAI nicht betroffen sein. Etwas anderes kann für solche Verträge gelten, die noch verhandelt werden.
3. Blick in die Zukunft
Es bleibt abzuwarten, ob das Preisrecht der HOAI tatsächlich für unionsrechtswidrig erklärt und falls ja, wie sodann der nationale Gesetzgeber hierauf reagieren wird – in Fachkreisen wird die Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit des Preisrechts der HOAI jedenfalls bereits für überwiegend wahrscheinlich gehalten, denn für die Rechtfertigung eines Verstoßes gegen die sog. Niederlassungsfreiheit dürfte es tatsächlich an zwingenden Gründen des Allgemeinwohls fehlen. Es müsste hierfür von der Bundesrepublik Deutschland dargelegt werden, dass die Mindestsätze unbedingt nötig sind. Doch der Nachweis, dass Mindesttarife für Ingenieur und Architektenleistungen für die Qualität am Bau und den Verbraucherschutz zwingend erforderlich sind, ist, wie man sieht, nicht leicht zu führen und der Bundesrepublik Deutschland, zumindest nach Ansicht des Generalanwalts beim EuGH, bisher auch nicht gelungen.
Die HOAI als solche steht nicht zur Debatte, sondern „nur“ die Verbindlichkeit der Honorare für die verpreisten Leistungen. Wie der nationale Gesetzgeber damit umgehen wird, bleibt abzuwarten. Konsequent wäre wohl, nur die Verbindlichkeit der Mindestsätze zu streichen, ohne die Leistungsbilder und die Honorarvorgaben als solche abzuschaffen. Die Honorarvorgaben könnten z.B. nur gelten, wenn die Vertragsparteien nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart haben. Nur wenn gar kein Honorar vereinbart wäre, was nur selten der Fall sein dürfte, wird es wohl darauf hinauslaufen, dass man sich für die Ermittlung der üblichen oder taxmäßigen Vergütung i.S.d. § 632 Abs. 2 BGB zumindest an den Honoraren der HOAI orientieren können wird. Die Gefahr der Geltendmachung von Mindestsätzen bei vereinbarten Pauschalen wäre dann zumindest gebannt.
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