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Rolf Castell (Hg.)

Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie

Biografien und Autobiografien

Mit einem Begleitwort von Walter Bettschart

und 6 Fotografien

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89971-509-5

© 2008, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen

schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine

Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich

gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und

Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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INHALTSVERZEICHNIS

GELEITWORT W. BETTSCHART ………………………………………………………….. .... 7

EINLEITUNG R. CASTELL ………………………………………………………………...... 9

JOHANNES TRÜPER – DIE ENTSTEHUNG DER KINDER- UND

JUGENDPSYCHIATRIE IN JENA UNTER DEM EINFLUSS UND IN

WECHSELWIRKUNG MIT DER PÄDAGOGIK U.-J. GERHARD UND A. SCHÖNBERG…………………………….….. .......... 17

LEO KANNER K.-J. NEUMÄRKER ………………………………………………….… ........ 47

JAKOB LUTZ (LEBENSLAUF 1903 – 1998) B. MATILE-LUTZ ………………………………………………………… ... 73

JAKOB LUTZ (KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRISCHES WERK). W. FELDER ………………………………………………………….…........ 79

HANS ASPERGER (1906 – 1980, LEBEN UND WERK) M. ASPERGER FELDER…………………………………………………….... 99

MEIN WEG IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE – EINE KINDER-

UND JUGENDPSYCHIATRISCHE AUTOBIOGRAFIE R. LEMPP ………………………………………………………………… . 119

EIN ETWAS ANDERER RÜCKBLICK M. MÜLLER-KÜPPERS …………………………………………………… . 209

EPILOG R. CASTELL ……………………………………………………………….. 273

PERSONENREGISTER ……………………………………………………… 277

ADRESSENVERZEICHNIS …………………………………………………... 285

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Walter Bettschart Geleitwort1

Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist noch wenig erforscht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier etwas wie eine »infantile Amnesie« vorliegt. Es ist dies eine subjektive Beurteilung, schließt indessen andere Gründe für die spärliche historische Forschung in unserem fach-spezifischen Gebiet nicht aus. Unsere Geschichte scheint im Schatten der außerordentlichen, man kann sagen, rasanten Entwicklung der letzen Jahrzehnte der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu stehen. So erlebten wir den Aufbau einer ausgezeichneten wissenschaftlichen Forschung der Entwicklung und Pathologie des Kindes und Jugendlichen und seiner Umwelt. Die Weiter- und Fortbildung wurde neu gestaltet und verfeinert. Es sollen auch die Schaffung und Erweiterung vieler ambulanter, halbstationärer und stationärer klinischer Einrichtungen und die Vertiefung unseres Faches in Säuglings-, Kleinkinder- und Jugendpsychiatrie sowie die neuen Therapieformen erwähnt werden. Verschiedene Bereiche, welche seit jeher dem Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugehörten, mussten klinisch und theoretisch neu definiert werden. Hier können unter anderem die Liaisonpsychiatrie, die forensische Psychiatrie, die Präventionsarbeit, die Epi-demiologie, die Nosologie und Entwicklungspsychiatrie angeführt werden. Die engere Zusammenarbeit und die gemeinsamen Forschungsarbeiten mit der Neuroscience sowie den sozialen und pädagogischen Wissenschaften, erfordern die Einführung neuer Methodologien. Dazu kommt die immer wichtigere Arbeit in der Öffentlichkeit, in der Politik, um unsere Identität und die psychiatrischen und psychotherapeutischen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in ihren Familien und ihrer Umwelt zu erläutern. Man könnte in einem gewissen Sinne sagen, dass wir so sehr in der Gegenwart leben und arbeiten müssen, dass wir kaum mehr Zeit für unsere eigene geschichtliche Entwicklung haben. Nicht nur in der Medizin, sondern in allen staatlichen und privaten Betrieben wird geplant, rationalisiert und muss »zukunftsorientiert« gearbeitet werden. Jeder ist aufgeruf-en »funktionstüchtiger« zu werden. Jahresplanungen, neue Organigramme werden erstellt und Objektive festgelegt. Nicht nur das Bestehende, sondern vor allem auch das Vergangene wird entwertet, verworfen.

Der Drang nach dem Neuen ist allgegenwärtig: Auch bei jeder Berufung, innerhalb und außerhalb der Universität, geht es darum, die letzen Entdeckungen, Forschungsergebnisse und »modernen Tendenzen« einzuführen und zu ent-wickeln; mit Recht! Aber geht dies nicht häufig auf Kosten einer kontinuierlichen 1 Verfasst: Crissier, Februar 2008.

Geleitwort

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Entfaltung und mit der unausgesprochenen Forderung das »Alte zu verschrotten«? Die Erforschung des Gewesenen, der Vergangenheit, erweckt dann den Eindruck von etwas »Aufgewärmtem«. Wer hat schon Zeit, sich wissenschaftlich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, oder wie ein bekannter Kollege sich mir gegenüber ausdrückte: Wenn man nichts Neues mehr zu sagen hat, so greift man in die Geschichte zurück – geschichtliche Forschung, eine Flucht in die Vergangenheit? Eine schöne Beschäftigung für alternde Kinder- und Jugend-psychiater? Oder ist es nicht so, dass Gegenwart Geschichte wird und dass der Verlust einer Erinnerung, um einen bekannten Spruch zu erwähnen, dem Verlust einer Bibliothek entspricht?

Geschichtsforschung muss unterrichtet und gelernt werden. Sie hat ihre eigene Methodologie, deren Forderungen häufig schwierig zu erfüllen sind. Oft fehlen Dokumente, sie wurden vernichtet, nicht archiviert oder ihr Vorhandensein ist unbekannt. Nachforschungen werden schwierig oder scheitern.

R. Castell et. al. »Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961«, haben wichtige Forschungsarbeit geleistet und die reichen Ergebnisse so zusammengestellt, dass der Leser zu weiteren Unter-suchungen angeregt wird. Mit der Veröffentlichung von sechs Biografien be-deutender Vertreter unseres Faches eröffnet sich eine andere Seite historischer Arbeit. Die vorgestellten Biografien und Autobiographien fesseln den Leser durch die lebhafte Beschreibung des persönlichen Lebens und Erlebens sowie der klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Darstellung der persönlichen Entwicklung, der zwischenmenschlichen Begegnungen und der beruflichen Arbeit führt zu einem dem Leser mitgeteilten – und geteilten – Erlebnis. Es ist lebendige historische Psychiatrie. Doch es soll hier nichts vorweggenommen, sondern nur die Hoffnung ausgesprochen werden, dass weitere Biografien folgen. In diesem Sinne kann ich mir vorstellen, unter einer Rubrik »Erlebte Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie« eine Sammlung von Autobiografien (und Biografien) wegweisender Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten erstellt zu sehen. Diese Dokumentation wäre ein bemerkenswerter und bereichernder geschichtlicher Beitrag zu unserer beruflichen Identität. Denn wir wissen, dass unser Arbeitsinstrument im Wesentlichen in unserer Persönlichkeit liegt.

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Rolf Castell

Einleitung

»Dies eine fühl ich und erkenn es klar, Das Leben ist der Güter höchstes nicht,

Der Übel größtes aber ist die Schuld.« Friedrich Schiller (1803).

Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus dem Fach Psychiatrie war ein übernationaler Prozess. Die auf Kinder- und Jugendliche bezogene Spezialisierung brachte eine Verengung des Blickwinkels, aber gleichzeitig eine Öffnung zu Nachbardisziplinen wie Pädiatrie, Pädagogik, Psychologie, Juris-prudenz und der Sozialverwaltung. Obwohl der Entwicklungsjahre wenige sind, fühlen wir uns an die Worte Thomas Manns erinnert: »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?«1

Staatliche Obrigkeit hatte im 19. Jahrhundert Gesetze zur allgemeinen Schulpflicht und gegen Kinderarbeit erlassen. 1900 und 1901 war in das Bürgerliche Gesetzbuch Art. 136 die Berufsvormundschaft für uneheliche Kinder, für arme Pflegekinder und für gefährdete Kinder (auch die Zwangserziehung) eingeführt worden. Nun folgte 1922 das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt2. Vor 1922 gab es Gesetze über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger auf Länder-ebene3. Es ging um das Recht des Kindes »auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit«. Das Reichsgesetz, niedergelegt auf 16 eng bedruckten Seiten mit 78 Paragraphen, schloss die Hilfe, aber auch den Zugriff des Staats auf die Jugend durch Jugendämter in Fragen der Unterbringung, Vormundschaft und Fürsorgeerziehung ein. Für diesen Zugriff waren immer wieder Gutachten von dritten Seiten notwendig. Das Reichsgesetz von 1922 sah dafür in § 65 die ärztliche Untersuchung von jugendlichen Psychopathen in Heil- und Pflegeanstalten bis zu 6 Wochen Dauer vor. Die Abteilung für Kinder und Jugendliche der Psychiatrischen Klinik in Frankfurt/M. war die erste in Deutschland, an der man sich seit 1900 und seit 1914 als Universitätsabteilung mit dieser Aufgabe beschäftigte. Es folgten Tübingen 1919, Heidelberg, Berlin und Leipzig 1926.

Schiller, Friedrich (1803) der Dichter der Tugend und der Freiheit; hier die Schlussverse

aus »Die Braut von Messina«. 1 Mann, Th. (1933). 2 Reichsgesetzblatt (1922, S. 102). 3 z.B. in Preußen vom 13.3.1878 und 2.7.1900.

Einleitung

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Schon 1907 und 1908 hatte Emil Sioli (1852–1922), der Nachfolger Heinrich Hoffmanns (1809–1894) in Frankfurt, aber auch die Psychotherapie bzw. die medizinisch-pädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens (wörtlich: »verbrecherisches und antisoziales Verhalten«) in Angriff genommen. Die Behandlungsdauer lag zwischen wenigen Wochen und zwei bis drei Jahren. In Tübingen war dann 1919 die wissen-schaftliche, universitäre Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Kind des Ersten Weltkriegs. Etwas allgemeiner formuliert lässt sich folgern: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie an deutschen Universitäten war eng verbunden mit der allgemein konstatierten Zunahme der Störungen des Sozialverhaltens nach dem Ersten Weltkrieg und verbunden mit dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1922 und den vorausgehenden Gesetzen über die Fürsorgeerziehung.

Von 1933 bis 1945 lag über der Entwicklung des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie der Schatten der Zwangssterilisation von Patienten auch von sozial gestörten Jugendlichen, und der Schatten der Euthanasie von etwa zehn-tausend Kindern und Jugendlichen durch die T4-Aktion (Januar 1940 bis August 1941) und in den Fachabteilungen (1939–1945).

Die Frühgeschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie lag in einer Zeit mit großen neuropathologischen Fortschritten und einer somatisch ausgerichteten Krankheitsauffassung in der Psychiatrie. H. Emminghaus (1845–1904) und natürlich auch E. Kraepelin vertraten diese Auffassung. Zwischen 1895 und 1925 wurde das Thema Euthanasie psychiatrischer Patienten intensiv diskutiert. Adolf Jost4 sah in der Entfernung von Schmerz und der Herbeiführung von Lust das letzte und einzige Lebensziel. Jost fordert »das qualvolle Leben nutzloser Geisteskranker« durch Euthanasie zu beenden. Bei unheilbar Kranken »wird der Wert ihres Lebens negativ«. Die Verwaltung des Rechts, den Tod zu vollziehen, geht bei Entmündigten an den Staat zurück. Binding und Hoche publizierten 1920 ihre »theoretische Erörterung«5: »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«; gemeint waren »Zustände geistigen Todes bei hoffnungslos Blödsinnigen«. Das galt auch für Kinder. »Dagegen kann von der Freigabe der Tötung bei Geistesschwachen, die sich in ihrem Leben glücklich fühlen, nie die Rede sein.« Das Problem wurde durch Juristen, Ärzte und Theologen diskutiert und zum Teil eine »Erlösung« auch bejaht. Meltzer6 wandte sich 1925 gegen Euthanasiemaßnahmen, publizierte aber eine Befragung, erhoben 1920, von ca. 100 betroffenen Vätern und erhielt eine Zustimmung zur Euthanasie von etwa 70% – ein Ergebnis, das er nicht für repräsentativ hielt. Trotzdem war er betroffen, besonders angesichts von Fanatikern wie Ernst Mann7, die in Publikationen die Tötung von jugendlichen Psychopathen wünschten. Ernst Mann plädierte 1922 für

4 Jost, A. (1895). 5 Binding, K. u. Hoche, A. (1920). 6 Meltzer, E. (1925). 7 Mann, E. (1922).

Rolf Castell

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die »Ausmerze« der Unheilbaren in seiner Schrift: »Die Erlösung der Menschheit vom Elend«. Er forderte eine Selektionskommission mit polizeilicher Macht. Die Heil- bzw. Sonderpädagogik vertrat eine gegensätzliche Haltung. J. Trüper in Jena arbeitete religiös gebunden und verstand es, zur Klärung von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen Kontakt zu Vertretern der Theologie, Psychiatrie und Psychologie herzustellen. Nach dem internationalen Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1937 in Paris kam es 1940 zu der Gründung der deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in Wien unter dem Vorsitzenden Paul Schröder. Die Gründung erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem sein Schüler Hans Heinze (sen.) in Brandenburg-Görden kinderpsychiatrische Patienten zu töten bereits begonnen hatte und in Moringen ein polizeiliches Jugendschutzlager eingerichtet worden war. Zwangssterilisation und Euthanasie waren die schlimmsten Folgen von Selektion. Der Gedanke der Selektion zwischen heilbar und unheilbar fand auch in dem bekannten Buch von Schröder und Heinze: »Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit« seinen Platz8. Der Gedanke der sozialen Selektion war von 1919 bis 1951 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie immer wieder zu finden. Es wurde insbesondere zwischen erziehbaren und unerziehbaren Patienten unterschieden. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte seit 1920 einen Bereich besetzt, der vor 1900 Arbeitsfeld von Pädagogen und Theologen war, in dem man soziale Selektion wohl so nicht kannte.

In den 50er Jahren war die Bildung des Fächerkanons in der Kinder- und Jugendpsychiatrie endgültig etabliert. Er wurde gefördert durch Fachzeitschriften und Lehrbücher. Einen begrenzten Einfluss auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte seit 1952 die Psychoanalyse. Die Zeitschrift »Die Kinderfehler, Zeitschrift für pädagogische Pathologie und Therapie in Haus, Schule und sozialem Leben«, später »Zeitschrift für Kinderforschung«, wurde 1896 von J. Trüper, von Beruf Lehrer, in Jena gegründet. Er leitete seit 1892 auf der Jenaer Sophienhöhe ein Heim für entwicklungsgestörte Kinder9. Der Kontakt zur Psychiatrie war hier durch Otto Binswanger und Julius Koch, der zur Theologie durch Friedrich Zimmer gegeben. In der Zeitschrift vollzog sich nachvollziehbar die Akzent-verschiebung von der Pädagogik zur Psychiatrie. 1923 bezeichnete M. Isserlin die Psychiatrie als Fundament der Zeitschrift. Ab 1936 bis 1944 waren W. Villinger u.a. die Herausgeber der jetzt somatisch ausgerichteten Zeitschrift. Die analytische Ausrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie dauerte in der IACP vom 2. Kongress in London 1948 bis zum 4. Kongress in Lissabon 1958. Dort kam es durch G. Heuyer zum deutlichen Protest gegen die 10 Jahre psychoanalytische Dominanz. 1962 in Scheveningen war die Psychoanalyse als Thema der IACP nahezu verschwunden.

8 Schröder, P. (1931). 9 Siehe S. 29f.

Einleitung

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In Deutschland etablierte sich die Kinderpsychoanalyse 1952 durch das erste Heft der Zeitschrift »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Zeitschrift für analytische Kinderpsychologie, Psychotherapie und Psychagogik in Praxis und Forschung«, herausgegeben von Dührssen und Schwidder. Beide wurden nicht Ordinarien oder Extraordinarien in der Kinder- und Jugend-psychiatrie. Die Psychoanalyse in der Kindertherapie fand nur in wenigen Universitäten eine Heimstadt; hier seien pars pro toto Freiburg und Heidelberg genannt. Von Stockert, Stutte und Göllnitz waren der Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland abhold. Dagegen hatte schon 1936 Moritz Tramer in der Schweiz ein Heft in der Schweizer Zeitschrift »Kinderpsychiatrie – Acta paedopsychiatrica« dem 80. Geburtstag Sigmund Freuds gewidmet. Diese Zeit-schrift war die Klammer der Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweiz, Italien und Spanien. Sie wurde 1949 das offizielle Organ der IACP. Sie veröffentlichte 1955 die Satzung der UEP.

Herausragende Persönlichkeiten gestalteten als Psychiater die Sonderdisziplin Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie standen für Integrität und Internationalismus. Es waren dies Moritz Tramer10 in Biel/Solothurn, George Heuyer in Paris, Paul Schröder in Leipzig und Hans Asperger in Innsbruck und Wien.

Moritz Tramer kam 35-jährig im Jahr 1917 zur Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er war 72 Jahre, als er zusammen mit Heuyer 1954 die Union Europäischer Paedopsychiater gründete. Eines der Ziele war die Erhaltung und Förderung der europäischen Tradition der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese bezog sich damals auf das Konzept eines Gleichgewichts von somatischen und psychogenen Ursachen bei Erkrankungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und den sich daraus ergebenden Therapieverfahren. Moritz Tramer war mit allen Verfahren vertraut, von Hypnose und Kinderanalyse bis Massed Practice, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Gruppentherapie und Heilkrampfbehandlung und Psychopharmakotherapie. Er reintegrierte die deutschen Kinder- und Jugendpsy-chiater in die internationale Gemeinschaft. 1954 war es noch nicht allgemein üblich sieben deutsche Teilnehmer (Freund, Koch, Schmitz, Sieverts, v. Stockert, Stutte und Villinger) nach Magglingen bei Solothurn zur Gründung der UEP einzuladen. Tramer gab 1942 die erste Auflage seines Lehrbuchs der »Allgemeinen Kinderpsychiatrie, einschließlich der allgemeinen Psychiatrie der Adoleszenz« heraus; dieses Buch war das umfassendste Lehrbuch seiner Zeit. Besonders ging er in seinem Buch auf den Entwicklungsaspekt und die Klassifikation von Störungsbildern ein. Auch die gesetzlichen Regelungen von Sterilisation wurden besprochen. Er zog den freiwilligen Verzicht auf Nach-kommen bei Belastung der Zwangssterilisation vor. Euthanasiemaßnahmen erwähnte er mit keinem Wort – auch nicht in der 4. Auflage seines Buchs 1964, und das obwohl es viele geschichtliche Bezüge aufwies. Verständlich war das:

10 Er stammte aus Zawada bei Auschwitz (Gebiet Teschen, Galizien; Stadtarchiv Zürich,

4.10.2005).

Rolf Castell

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Handelte es sich doch dabei aus Schweizer Sicht um ein ausländisches Problem. Und erst in den 1960er Jahren liefen staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Täter der Kindereuthanasie in Deutschland an.

Seine Zeitschrift »Kinderpsychiatrie, Acta paedopsychiatrica« gründete er 1934. Später bezeichnete Tramer, der jüdischer Herkunft war, die Zeitschrift als »unausgesprochenes Dennoch« angesichts der politischen Lage in Deutschland11. Er war persönlich mit über 1000 Franken jährlich potenziell an der Deckung der Kosten beteiligt. Die Zeitschrift war das bedeutendste, überwiegend deutsch-sprachige Fachorgan außerhalb Deutschlands und das fachliche Forum für die meisten europäischen Länder von Spanien bis Norwegen und Schweden.

Vor Tramer sind als Persönlichkeiten Emil Sioli, Frankfurt, Hermann Emminghaus, Dorpart und Freiburg, Theodor Ziehen, Jena und Berlin, und Paul Schröder, Leipzig, zu nennen, auch Wilhelm Strohmayer, Jena, gehörte dazu. Jünger als Tramer waren Georges Heuyer, Paris, und Franz-Günther Ritter v. Stockert, Frankfurt; er verstarb 1967. Er war der letzte Erwachsenenpsychiater, der sich Kindern und Jugendlichen zuwandte; nach ihm haben wir es mit Fachvertretern zu tun, die ihr berufliches Lebenswerk ausschließlich der Kinder- und Jugendpsychiatrie widmeten.

Die Fachvertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie wussten nur zum Teil von der hier angesprochenen Problemgeschichte des Fachs. Erst M. Müller-Küppers wagte sich ihr als Erster in einem öffentlichen Vortrag 1989 auf dem Kongress der Gesellschaft in München zu stellen. Dafür gebührt ihm Dank.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Pädiatrie einen bisher nicht bekannten Aufschwung. Hintergrund war unter anderem die hohe Säuglingssterblichkeit von 25% Ende des 19. Jahrhunderts, die durch die Aktivität der Pädiater gesenkt wurde. 1918 gab es sechs Ordinariate für Pädiatrie im Reichsgebiet. In den Jahren 1919 und 1920 wurden 14 neue Ordinariate an deutschen Universitäten geschaffen. Es ging um die »Aufforstung« des deutschen Volkes, so hieß das ganz offiziell. Zwei Millionen Tote waren im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite zu beklagen. Zu dieser Zeit versuchte die Kinder- und Jugendpsychiatrie Boden zu gewinnen, und der wurde ihr von der Pädiatrie nicht ohne weiteres gewährt. Köhnlein hat das für Tübingen dargestellt12. Auch 1950 war das so in Lübeck. Damals verhinderte wohl die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde im Vereinsnamen »Kinder«-psychiatrie. Die Kinder- und Jugendpsychiater mussten ihre Gesellschaft »Deutsche Vereinigung für Jugendpsychiatrie« nennen.

Wie es die Protagonisten des Fachs Kinder- und Jugendpsychiatrie im 20. Jahrhundert geschafft haben, jeweils an der Universität, der sie als Fachvertre-ter angehörten, das Fach zu gestalten und zu fördern, zeigen uns die folgenden Biografien und Autobiografien. Wir können sie als Aphorismen sehen. Der Blick

11 Castell, R. et. al. (2003, S. 16). 12 Castell, R. et. al. (2003, S. 30).

Einleitung

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in den »Brunnen der Vergangenheit« muss in einem Buch von ca. 300 Seiten aphoristisch bleiben; die Möglichkeiten des Herausgebers sind beschränkt.

Der Dank des Herausgebers gebührt allen Autorinnen und Autoren, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und Herrn Matthias Stuck für Schreib- und Korrekturar-beit. Es war eine große menschliche Erfahrung die acht Manuskripte des vor-liegenden Buches anvertraut bekommen zu haben.

München, im Dezember 2007.

Rolf Castell

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Quellenverzeichnis

Binding, K. und Hoche, A. (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Felix Meiner.

Castell, R., Nedoschill, J., Rupps, M. und Bussiek, D. (2003): Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jost Adolf (1895): Das Recht auf Tod, Sociale Studie. Göttingen: Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung.

Meltzer, Ewald (1925): Das Problem der Abkürzung »Lebensunwerten« Lebens. Halle: Carl Marhold.

Mann, Ernst (1922): Die Erlösung der Menschheit vom Elend. Weimar: Fritz Fink Verlag.

Mann, Thomas (1933): Die Geschichten Jaakobs. Berlin: S. Fischer.

Reichsgesetzblatt (1922): Gesetz für Jugendwohlfahrt. Vom 9. Juli 1922. Berlin.

Schröder, Paul (1931): Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit. Breslau: Ferdinand Hirt.

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Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg Johannes Trüper – Die Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als medizinische Fachdisziplin in Jena unter dem Einfluss und in Wechselwirkung mit der Pädagogik1

Die Friedrich-Schiller-Universität, die 1934 ihren Namen2 erhielt, hat in ihrer über 450-jährigen Geschichte eine Vielzahl großer Geister hervorgebracht. Die Gründung der Universität wurde im Ergebnis der Niederlage des Schmal-kaldischen Bundes, in deren Folge der Ernestiner Johann Friedrich I. (1503–1554) als Führer der protestantischen Allianz die Kurwürde, zwei Drittel seines Landes und die Universität Wittenberg verlor, vollzogen. Somit war die führende lutheranische Reformhochschule 1548 als akademisches Gymnasium, das 1558 das Universitätsprivileg erhielt, geboren. An der Alma mater jenensis formierte sich 1815 die Urburschenschaft, deren schwarz-rot-goldene Fahne in der Weimarer Republik und heute die deutschen Nationalfarben darstellt. In Jena lehrten bzw. studierten und lebten berühmte Persönlichkeiten: Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling, Novalis, Friedrich Hölderlin, Clemens Brentano, Ernst Moritz Arndt, Gottlob Frege und Ernst Haeckel. Friedrich Schiller, der zum Namenspatron der Universität wurde, war in der Saalestadt als Geschichtsprofessor tätig, während Johann Wolfgang Goethe als Oberaufseher über die unmittelbaren Anstalten für Wissen und Kunst im damaligen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach verantwortlich für die Universität zeichnete. Im Jahr 1841 wurde Karl Marx in Jena promoviert. Auch die Medizin und die Pädagogik haben große Namen hervorgebracht. Hier sind insbesondere die Nervenärzte Hans Berger, der das Enzephalogramm des Menschen entdeckt hat, Otto Binswanger, Hermann Emminghaus, Theodor Ziehen, Wilhelm Strohmayer sowie der Physiologe William Preyer und die Pädagogen Karl Volkmar Stoy, Wilhelm Rein, Johannes Trüper, Peter Petersen und Adolf Reichwein zu nennen. Einen besonderen Aufschwung erhielt Jena durch die enge Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, die mit den Namen Ernst Abbe, Carl Zeiss und Otto Schott verbunden ist.

1 Revidierte Fassung: Jena, Mai 2007. 2 1608 lautete der Name: »Academia Jenensis«; 1742: »Fürstlich-Sächsische gesamte

Universität hierselbst zu Jena«; 1826: »Großherzoglich Herzoglich-sächsische Gesamt-Universität zu Jena«; 1922: »Thüringische Landesuniversität Jena« (UAJ; 1. März 2007).

Johannes Trüper

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Entwicklungslinien

Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige Fachrichtung ist nicht nur als Resultat einer Spezialisierung innerhalb der Medizin bzw. der Psychiatrie zu werten, sondern geht aus dem Zusammenspiel medizinischer, pädagogischer, psychologischer und philosophischer Einflüsse hervor. Innerhalb der wissenschaftlichen Nachbardisziplinen nimmt die Pädagogik und insbesondere die Heilpädagogik eine entscheidende Rolle ein. Die sozialen und wissenschaftlichen, insbesondere die philosophischen Einflüsse im 19. Jahrhundert führten zu einem neuen Menschenbild und zu einer veränderten Betrachtung des Kindes, was sich in der Pädagogik, Psychologie und Medizin niederschlug. Neue Wissenschaftszweige wie Kinderheilkunde sowie Kinder-psychiatrie und -psychologie bildeten sich heraus. Gerade in der Pädagogik wurden Vorstellungen der Romantik durch Nützlichkeitserwägungen als eine notwendige Konsequenz aus der zunehmenden Industrialisierung ersetzt. Bildung wurde damit auch als Grundlage für die ökonomische Weiterentwicklung verstanden. Diese neuen Anschauungen standen zunächst im Widerspruch zur reaktionären Schulpolitik, die im Vordergrund der Erziehung die Religion und die Staatskonformität sah. Mit dem Ziel der Reform des mathematisch-natur-wissenschaftlichen Schulunterrichts wurde zum Beispiel 1868 die »Sektion für naturwissenschaftliche Pädagogik« auf der Naturforscherversammlung gegründet. Während die pädagogische Lehre am Ende des 19. Jahrhunderts noch durch die Herbartsche3 Psychologie geprägt wurde, wie sie besonders der Jenaer Pädagoge Wilhelm Rein in der Nachfolge seines Vorgängers in Jena Karl Volkmar Stoy vertrat, nahm der experimentelle Ansatz um die Jahrhundertwende immer größeren Raum ein. In diesem Zusammenhang sind die Entstehung der »Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie« durch Herman Schiller und Theodor Ziehen 1897 sowie die »Experimentelle Didaktik« durch Wilhelm August Lay 1903 und der »Abriß der experimentellen Pädagogik« durch Ernst Meumann 1914 zu sehen. Wiederum währte die Dominanz der experimentalpsychologischen Pädagogik nicht sehr lang, da sich ihre Beschränkung insbesondere das Gefühls- und Willensleben betreffend zeigte. Als Kritik zum intellektualistischen und mechanistischen Konzept wurden ganzheitliche Werte vermittelnde, persönlichkeitsbildende pädagogische Theorien kreiert. Letztendlich wurde ein Erziehungsstil vom Kind ausgehend angestrebt, der von Anpassung frei sein sollte. In der Abbildung 1 ist die Entwicklungslinie der Jenaer Pädagogik dargestellt, wobei die Pädagogen mit unmittelbarer Beziehung zur Kinderpsychiatrie unterlegt sind (Abb. 1). Die frühe Kinder-psychologie diente besonders der Schulpädagogik und beschäftigte sich mit der Intelligenzforschung. Pädagogische Aspekte fanden auch ihren Eingang in die Medizin. Erziehung bestimme die Entwicklung des Kindes in dem Sinne, dass das Nervensystem sich an die Erfordernisse der Umwelt anpassen würde. Die 3 Herbart, J. H., Oldenburg, Göttingen (1776–1841).

Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg

19

psychischen und physischen Besonderheiten des Kindes wurden allerdings nicht erfasst, da man die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen als gradlinig betrachtete. Die Entwicklungstheorien Charles Darwins und des Jenaers Ernst Haeckel gaben erst Anlass, sich mit der Andersartigkeit und Eigengesetzlichkeit des kindlichen Seins auseinanderzusetzen. Der Jenaer Physiologe William Preyer veröffentlichte 1882 die erste Abhandlung über »Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die Entwicklungen des Menschen in den ersten Lebensjahren« und leistete damit einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Kinderpsychologie. Sie war das Ergebnis sorgfältiger Untersuchungen eines Kleinkindes und diente dem Aufbau einer »physiologischen Pädagogik«. So formulierte er: »Die Kunst, das kleine Kind werden zu lassen, ist viel schwerer als die, es vorzeitig zu dressieren.«4

Die Jenaer Pioniere der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Ärzte und Pädagogen nahmen sich gleichermaßen der Problematik des psychisch abnormen Kindes an. Innerhalb der Medizin hatten sich die Psychiater gegenüber den Pädiatern bei der Versorgung dieser Patienten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Dadurch wurden erste Ansätze einer eigenständigen Betrachtung des psychisch kranken Kindes aufgegeben. Die Pädagogen sahen ihre Aufgabe in der öffentlichen Betreuung und Erziehung der gestörten Kinder. Diese Kompetenz wurde ihnen jedoch von den Ärzten zunehmend zum Ende des 19. Jahrhunderts streitig gemacht, insbesondere in dem Maß, in dem sich der Arzt selbst als Erzieher des Kindes betrachtete. Dieser Anspruch ließ sich aber in der Realität aufgrund der entwickelten pädagogischen Praxis schlecht durchsetzen. Die entsprechenden Anstalten, anders als zum Beispiel das Trüpersche Erziehungsheim in Jena, wurden von Psychiatern meist nur weitmaschig konsiliarisch betreut. Bei der Erarbeitung des Fürsorge-erziehungsgesetzes, das der Gefahr der Verwahrlosung in sittlicher, geistiger und körperlicher Beziehung von Kindern und Jugendlichen entgegentreten sollte und 1901 in Preußen in Kraft trat, wurden keine Psychiater einbezogen. Dieses trat anstelle des Gesetzes vom 13. März 1878, das die Unterbringung verwahrloster Kinder regelte5. Insgesamt jedoch nahm die Entwicklung einen positiven Verlauf, so dass Kinderpsychiater und Heilpädagogen in vielen Kliniken eng zusammen-arbeiteten.

Die Wurzeln von Hermann Emminghaus (1845–1904), der mit seinem Lehrbuchbeitrag »Die Psychischen Störungen des Kindesalters« von 1887 als Begründer der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland gilt, liegen ebenfalls in Jena.6 Bereits in seiner Dissertation mit dem Thema »Über hysterisches Irrsein«

4 Preyer, W. T. (1882). 5 Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 (§1–§21 und

3 Ausführungsbestimmungen). 6 Vgl. Gerhard, U.-J. (2003a).

Johannes Trüper

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(1870) aus der Jenaer Zeit fanden Entwicklungsaspekte und pädagogische Sichtweisen Eingang. Mit dem Lehrbuch »Allgemeine Psychopathologie« (1878) hat er den Begriff Psychopathologie in den allgemeinen psychiatrischen Sprachgebrauch eingeführt. In besonderer Weise hat das Buch durch Kraepelin eine Würdigung erfahren, indem er ganze Passagen für sein Werk »Compendium der Psychiatrie« (1883) übernahm. Die besondere Art der Zusammenarbeit zwischen Pädagogen und Medizinern in Jena soll hier anhand des Wirkens von verschiedenen Ärzten an dem bereits erwähnten Trüperschen Erziehungsheim dargestellt werden. Zunächst einige Anmerkungen zu dem Arzt, Psychologen und Philosophen Theodor Ziehen, der sich selbst publizistisch mit pädagogischen Fragen auseinandersetzte7.

Theodor Ziehen wurde 1862 in Frankfurt a. M. geboren. Interessanterweise wurden seine Brüder Julius und Ludwig Ziehen als Pädagogen bekannt. Theodor Ziehen zeigte bereits als Schüler ein starkes philosophisches Interesse. Die Psychiatrie mit ihren engen Beziehungen zur Psychologie und damit zur Philosophie erschien ihm als das geeignetste Fach innerhalb der Medizin. Nachdem er 1885 promovierte, ging er als Assistent an die Privatirrenanstalt von Karl Ludwig Kahlbaum in Görlitz (Niederschlesien). Hier beschäftigte er sich insbesondere mit dem »Medizinischen Pädagogikum«, in dessen Rahmen jugendliche Patienten am Schulunterricht, an ergotherapeutischen Maßnahmen und am Turnen teilnehmen konnten. Entscheidend für Ziehens berufliche Zukunft war die Begegnung mit Otto Binswanger, der ihn 1886 als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Jena einstellte. In die 14 Jenaer Jahre, die er selbst als die fröhlichste und sorgloseste Zeit seines Lebens bezeichnete, fielen 1887 die Habilitation und 1892 die Berufung zum außerordentlichen Professor für Psychiatrie. Nachdem er erfolglos versucht hatte, einen Lehrauftrag für Psychologie in Jena zu erhalten, nahm er 1900 eine Berufung auf den psychia-trischen Lehrstuhl in Utrecht (Niederlande) an. 1903 war er Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie in Halle und ab 1904 in Berlin. 1912 ließ er sich von seinen Lehrverpflichtungen befreien, um sich als Privatgelehrter seinen philosophischen und psychologischen Studien in Wiesbaden zu widmen. 1917 wurde er zum Ordinarius für Philosophie in Halle bestellt. Eine erneute Berufung nach 1945 an die Pädagogische Fakultät in Halle verhinderte sein sich verschlechternder Gesundheitszustand. Theodor Ziehen verstarb 1950 in Wiesbaden. Als sein wichtigstes Werk auf psychiatrischem Gebiet kann das Lehrbuch »Psychiatrie« (1894) betrachtet werden. Ziehen versuchte hier, die von ihm vertretene Assoziationspsychologie auf die Psychiatrie zu übertragen. Die Neugruppierung der Psychosen und der Terminus »Affektive Psychose« gehen auf ihn zurück. Eine Neuerung in seinem Klassifikationssystem war die Einführung des Begriffs der psychopathischen Konstitution, den er von seinem akademischen Lehrer Otto Binswanger übernahm und durch den er die Kategorie der

7 Vgl. Gerhard, U.-J. (2002a, b, 2004).

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psychopathischen Minderwertigkeit von Julius Ludwig August Koch ersetzte. Von Ziehens 445 Publikationen befassen sich 52 mit kinderpsychiatrischen Themen im engeren und weiteren Sinn (Abb. 2, S. 42). Mit seinem Lehrbuch »Die Geisteskrankheiten des Kindesalters«, welches in drei Teilen von 1902 bis 1906 verlegt wurde, gehört er zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Schrift sollte sowohl der Ausbildung von Ärzten als auch der Beratung von Pädagogen dienen. Ziehens wissenschaftliches Werk ist sehr umfangreich und umfasst ebenso die Psychologie und die Philosophie. Außerdem beschäftigte er sich sehr intensiv mit pädagogischen Fragestellungen (Abb. 3, S. 42). Erste entwicklungspsychologische Untersuchungen unternahm Ziehen in Zusammen-arbeit mit dem Pädagogen Wilhelm Rein, der ihm eine große Zahl von Schulkindern aus seiner Seminarschule an der Jenaer Universität vermittelte. Er verfolgte Untersuchungen zur Ideenassoziation hinsichtlich des Vorstellungs-schatzes und Vorstellungsablaufs, die er 1898 in seinem Werk »Die Ideen-assoziation des Kindes« veröffentlichte. In dem von Rein herausgegebenen »Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik« verfasste Ziehen zudem eine Reihe von Artikeln. Der Spät-Herbartianer Wilhelm Rein studierte in Jena Theologie sowie Pädagogik bei dem Reformpädagogen Karl Volkmar Stoy. Nachdem er am Pädagogischen Universitätsseminar in Leipzig tätig war, führte ihn sein beruflicher Weg 1871 als Realschullehrer nach Barmen, dann 1872 als Seminaroberlehrer nach Weimar und schließlich 1876 als Seminarleiter nach Eisenach. Nach einer Honorarprofessur 1886 in Jena wurde er dort 1912 zum ordentlichen Professor ernannt und war bis 1917 der einzige Lehrstuhlinhaber für Pädagogik in Deutschland. In Jena baute Rein das von Stoy begründete Pädagogische Seminar und die angegliederte Übungsschule zu einem Zentrum von Weltruf aus. Die entstehende Volksschulbewegung verdankt Rein wesentliche Impulse. Er trat 1905/06 gegen die Rekonfessionalisierung der Volksschule und für die Simultanschule ein.

Nun zurück zu Theodor Ziehen. Ziehen war Mitbegründer des Vereins für Kinderforschung und leistete mit einer Vielzahl von Arbeiten einen großen Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik. Seit 1897 war er wie bereits erwähnt zunächst mit Herman Schiller und später mit Theobald Ziegler Herausgeber der »Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogischen Psychologie und Physiologie«. Zudem propagierte er die Beratung der Eltern von ethisch verwahrlosten, nicht eigentlich kranken Kindern und Jugendlichen und dürfte damit der heutigen Erziehungsberatung Pate gestanden haben. In Jena beteiligte sich Ziehen mit großem Anklang an Lehrerfortbildungs- und Volkshochschulkursen. Das Erziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin und der Berliner »Erziehungs- und Vorsorgeverein für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder« verdankten ihm ihre Entstehung. In einer Abhandlung über Theodor Ziehens pädagogische Bedeutung von 1912 wurde betont, dass er in seiner Person gewissermaßen den Idealtypus des

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Schularztes der Zukunft geschaffen hat und damit sein Fortgang einen empfindlichen Verlust für das Schul- und Erziehungswesen Berlins darstellt[e].8

Neben Hermann Emminghaus und Theodor Ziehen gilt Wilhelm Strohmayer als ein Wegbereiter der Kinderpsychiatrie in Deutschland.9 Er wurde 1874 in Memmingen geboren. Auf Anraten Otto Binswangers begann er 1893 das Medizinstudium in Jena, wo er auch Vorlesungen von Theodor Ziehen besuchte. 1898 schloss er in Leipzig sein Studium ab. 1899 erhielt er den medizinischen Doktorgrad und wurde Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik sowie der Binswangerschen Privatklinik in Jena. Außerdem übernahm er die ärztliche Beratung und Behandlung von »nervösen und geistig zurückgebliebenen Jünglingen« einer Jenaer Gartenbauschule. Nach seiner Habilitation 1906 erhielt er die Venia legendi. Seine ersten Vorlesungen hielt er über »nervöse und psychische Anomalien des schulpflichtigen Alters«. Seine Lehrveranstaltungen richteten sich auch an Pädagogen. 1911 wurde er zum außerordentlichen Professor berufen. 1914 wurde er stellvertretender Oberarzt, wobei ihm auch die Versorgung der Privatpatienten Binswangers oblag. Nach dem Ausscheiden Binswangers wurde Hans Berger 1919 zum Ordinarius für Psychiatrie und zum Klinikdirektor ernannt. Strohmayer wurde offiziell Hausarzt und planmäßiger Oberarzt der Landesirrenanstalt und Psychiatrischen Klinik. Nach langer Krankheit verstarb Strohmayer 1936 in Jena. Der Schwerpunkt Strohmayers lag in seinem Wirken auf kinder- und jugendpsychiatrischem Gebiet (Abb. 4). Wie Theodor Ziehen war auch Wilhelm Strohmayer als Konsiliararzt der Trüperschen Anstalten tätig. Sein Buch »Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters für Mediziner und Pädagogen« erschien in zwei Auflagen 1910 und 1923 und kann als drittes größeres deutschsprachiges kinderpsychiatrisches Werk gelten. Allerdings schuf er mit diesem Werk nichts grundsätzlich Neues, sondern fasste Bekanntes zusammen, gliederte es entsprechend der aktuellen Lehrmeinungen und erweiterte es um pädagogische Gesichtspunkte. August Homburger hob die Breitenwirkung der Schrift besonders in ärztlichen Kreisen und unter Erziehern hervor. Weiterhin ist von besonderem Interesse die Arbeit »Über die Pubertätskrisen und die Bedeutung des Kindheitserlebnisses« von 1922, in dem der Autor Hermann Hesses Werk »Demian, die Geschichte einer Jugend« und Leonhard Franks »Die Ursache« einer kritischen Betrachtung unterzog und sich dabei auch mit der Freudschen Schule auseinandersetzte. Obwohl Strohmayer und Ziehen aus der Binswangerschen Schule kamen, waren sie in ihren Auffassungen doch sehr unterschiedlich, was sich nicht zuletzt in ihrer Haltung gegenüber der Zwangssterilisierung ausdrückte. Während Ziehen vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Überzeugungen die zwangsweise Sterilisierung »geistig Minderwertiger« ablehnte, befürwortete Strohmayer dieses Vorgehen und schloss sich der Auffassung von Karl Binding und Alfred Hoche (1920) an, dass bei

8 Schauer, R. (1912). 9 Vgl. Gerhard, U.-J. (1998, 2003b).

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»tödlicher Krankheit oder unrettbare[m] Idiotentum«10 die Tötung durch »die Freigabe durch eine Staatsbehörde«11 erfolgen kann, das aber bei »volle[r] Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen«.12 Auch hinsichtlich der Psychoanalyse waren ihre Überzeugungen konträr. Ziehen befürchtete schwere Schäden namentlich beim Kind durch diese Methode.

Der Nachfolger Binswangers, Hans Berger, der seit 1919 die Jenaer Psychiatrie leitete, engagierte sich ebenfalls als Konsiliarius in der Betreuung von Kindern des Erziehungsheims von Johannes Trüper auf der Sophienhöhe in Jena. Er wurde mehrfach zum Nobelpreis für die Entwicklung der Elektroenzephalografie beim Menschen vorgeschlagen.13

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Den exakten Lebensweg von Johannes Trüper nachzuvollziehen, erweist sich als schwierig, da sich mitunter eigene Äußerungen, Aussagen der Trüperschen Kinder und anderer Biografen sowie Quellenangaben widersprechen (Abb. 5). Johann (er nannte sich später Johannes) Trüper wurde im Jahre 1855 als viertes von sechs Kindern in Rekum, einem kleinen Ort bei Bremen, geboren. Sein Vater, Johann Trüper, war Schiffszimmermann und Bootsbauer und betrieb zudem eine kleine Landwirtschaft (Kötner). Seine Mutter, Anna Metta Trüper, geborene Chantelau, eine Hugenottin, starb, als er zwölf Jahre alt war. Johannes Trüper wurde als zarter, aber geistig reger und wissbegieriger Junge beschrieben.14 Bereits vor seiner Einschulung mit sechs Jahren konnte er lesen. Er besuchte vier Jahre lang die einklassige Dorfvolksschule. Im Anschluss absolvierte er für weitere vier Jahre die im benachbarten Neurönnebeck gelegene höhere Privatschule. Hier traf er auf einen Lehrer, der für ihn Vorbild war und sein Interesse am Lehrerberuf weckte, so dass »… hier der Grund für sein späteres Wirken gelegt wurde …«.15 Im Herbst 1870 wurde er »... obgleich selber noch ein Knabe, als 2. Lehrer der zweiklassigen Volksschule in Neuenkirchen angestellt ...«, wo er ca. 90 Kinder unterrichtete.16 Während dieser Zeit begann er sich mit den Schriften Pestalozzis auseinanderzusetzen, von dessen pädagogischen Ideen er begeistert war. So wollte Trüper »...kein Stundengeber, sondern Volkserzieher sein ...«.17 Er trat mit 17 Jahren dem königlichen Lehrerseminar in Stade bei,

10 Binding, K. u. Hoche, A, (1920, S. 35). 11 Binding, K. u. Hoche, A. (1920, S. 36). 12 Binding, K. u. Hoche, A. (1920, S. 28). 13 Vgl. Gerhard, U.-J. (2005a). 14 Trüper, H. u. Trüper , I. (1978, S. 12). 15 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 12). 16 Album des Pädagogischen Universitätsseminars zu Jena, 1886-1914, UAJ, Bestand

S Abt. I, Nr.: 221, S. 30-32. 17 Lassahn, R. (1984, S. 277).

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wobei sein ursprünglicher Enthusiasmus »…bitter enttäuscht vom formalen Betrieb, mit Wissensüberfütterung und Mangel an psychologischer Schulung …« wurde.18 Das Seminar schloss er 1875 mit der ersten Lehrerprüfung als 20-jähriger ab. Danach unterrichtete er an mehreren Volks- und Mittelschulen in Stade, Emden und Bremen. 1878 wurde er in den Bremischen Staatsdienst übernommen und bestand 1880 die zweite Lehrerprüfung. Bereits während der eigenen Schulzeit sowie der Ausbildung und Tätigkeit als Lehrer erlebte er, dass seine Vorstellungen von einer erziehenden Pädagogik mit der Realität des damals bestehenden Schulwesens nicht vereinbar waren. Trüper übte leidenschaftlich Kritik am vorherrschenden Schulsystem und trat vehement für dessen Reformierung ein, wodurch er den Unmut der Schuladministration auf sich zog. Er wurde aktiv im »Bremischen Lehrerverein« und zum Schriftführer der »Konferenz Bremischer Landschullehrer« gewählt, wo er besonders unter der jüngeren Lehrerschaft Anklang fand. Die persönliche, später freundschaftlich geprägte Bekanntschaft mit dem Schul- und Sozialpädagogen Friedrich Wilhelm Dörpfeld, der durch einen Artikel Trüpers auf diesen aufmerksam wurde, führte zu einem anhaltenden Austausch über pädagogische, psychologische und philosophische Fragen. Trüpers Schriften »Die Familienrechte an der öffentlichen Erziehung« (1890) und »Friedrich Wilhelm Dörpfelds Sociale Erziehung in Theorie und Praxis« (1901) sind unter diesem Eindruck entstanden. Wie Dörpfeld war Trüper der Meinung, dass die entscheidende gesellschaftliche Problematik die Situation der Arbeiterschaft darstellte und damit die soziale Frage nur durch Verbesserung der Lebensverhältnisse der Lohnarbeiter gelöst werden konnte. Allerdings sollten sich Veränderungen im Rahmen der staatlichen Ordnung vollziehen. In diesem Sinn strebte er nach Reformen zur Besserung des Bildungsniveaus der Arbeiterkinder. Schwerpunkte sah er unter anderem in der Begrenzung der Klassenstärken, der Gleichbehandlung von Elementar- und höheren Schulen, der Einrichtung moderner, großzügiger Klassenzimmer sowie der Schaffung adäquater Freizeitangebote. »Dadurch, dass Dörpfeld die Frage nicht so stellt, ob Individual- oder Sozialpädagogik, sondern dass er nachzuweisen sucht, dass der wahren Pädagogik sowohl ein individuales als ein soziales Prinzip inne wohnt und dass die pädagogischen Fragen sowohl von der individualen als auch von der sozialen Seite her betrachtet und behandelt sein wollen, können seine Gedanken ein Wesentliches nicht bloß zur Verständigung in diesem Streite, sondern auch zur Befruchtung der Pädagogik in Theorie und Praxis beitragen. Bei Dörpfeld war das individuale Moment mit dem sozialen in natürlichster und darum glücklichster Einheit.«19 Durch Dörpfeld wurde Trüper auch mit den Schriften Wilhelm Reins konfrontiert, mit dem er später in Briefwechsel trat. Nach 12 Jahren der Berufsausübung als Lehrer, erforderte sein schlechter Gesundheitszustand, der sich unter anderem in einer chronischen

18 Trüper, H. (1966, S. 302). 19 Trüper, J. (1901, S. III).

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Kehlkopferkrankung niederschlug, eine längere Unterbrechung seiner Tätigkeit. Er beantragte eine zunächst halbjährige Beurlaubung vom Schuldienst »…zur Wiederherstellung s. erkrankten Sprechorgane und zur Fortbildung in s. Berufswissenschaft«.20 Die geringen Chancen, seine pädagogischen Überzeugungen umzusetzen, und die ständigen Auseinandersetzungen mit der Bremer Schulbehörde führten zudem zu einer beruflichen Krise, so dass er 1887 mit 32 Jahren nach Jena ging, um an der dortigen Universität ein Studium aufzunehmen. Es lassen sich in Jena mindestens fünf verschiedene Wohnsitze nachweisen.21 Im Wintersemester 1887 besuchte er zunächst Vorlesungen, ohne immatrikuliert zu sein. Ab dem Sommersemester 1888 ließ er sich offiziell immatrikulieren.22 Typisch für ihn war, dass er seine Vorlesungen fachübergreifend auswählte. So besuchte er Veranstaltungen und Seminare der Pädagogik, Philosophie, Naturwissenschaften, Anatomie, Physiologie und Psychiatrie. Er hörte unter anderem Wilhelm Rein, Rudolf Eucken und Ernst Haeckel. Im Wintersemester 1891/1892 belegte er Vorlesungen über Hirnanatomie bei Ziehen. Der Kollegreihe über Psychiatrie von Otto Binswanger galt seine besondere Neigung. Binswanger, seit 1882 außerordentlicher Professor für Psychiatrie in Jena und Direktor der Jenaer Landes-Irren-Heil- und Pflegeanstalt, gehörte zu den herausragenden deutschen Psychiatern. 1891 wurde er erster Ordinarius für Psychiatrie in Jena. Nach ihm wurde eine Form der Demenz, die progressive subcortikale arteriosklerotische Encephalopathie, benannt.

Trüper wurde zunächst Hospitant und später Oberlehrer an der Reinschen Universitätsübungsschule, was ihm die Finanzierung seines Studiums ermöglichte.23 »Es war für die damalige Zeit zumindest sehr ungewöhnlich, dass ein junger, nur seminaristisch vorgebildeter Lehrer die nach Vorbildung und Rang streng eingehaltenen Grenzen zwischen Akademikern und Nichtakademikern für sich einfach übersprang ...«24 Zum Wintersemester 1889 wechselte er nach Berlin, wo er sich vorrangig den Natur- und Staatswissenschaften zuwandte und auf Adolf Damaschke, Friedrich Naumann und Adolf Stöcker traf. Trüper wurde Mitglied der Bodenreformbewegung des Volksschullehrers Damaschke, von der er sich später distanzierte, und beteiligte sich 1890 auch an der Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses durch Stöcker. Damaschke und Naumann gründeten 1896 den Nationalsozialen Verein. Aufgrund anhaltender gesundheitlicher Probleme und um seine Studien fortsetzen zu können sowie zu promovieren, beantragte er eine weitere Beurlaubung vom Dienst. Da ihm diese

20 Zitiert nach Zimmermann, K. (2005, S. 26). 21 Adressbücher der Stadt Jena, Stadtarchiv Jena; Vgl. Walther (1887–1893). 22 Walther, L. (1887). 23 Album des Pädagogischen Universitätsseminars zu Jena, 1886-1914, UAJ, (Bestand

S Abt. I, Nr.: 221, S. 30-32). 24 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 13).

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nicht gewährt wurde, schied er schließlich 1889 aus dem Schuldienst aus. Zum Sommersemester 1890 kehrte Trüper nach Jena zurück.25 Bis zum Sommersemester 1893 blieb er an der Jenaer Alma mater immatrikuliert.26 Trüper hielt zu vielen Dozenten persönliche Verbindungen, so auch zu Ernst Abbe, der sich später unternehmerisch bei den Zeisswerken engagierte. Mit ihm verband Trüper eine freundschaftliche Beziehung, und er schätzte ihn besonders hinsichtlich der Innovationen, die die soziale Stellung seiner Arbeiter verbesserten.

1890 gründete Trüper seine erste kleine Erziehungsanstalt am Landgrafenberg in Jena, der 1892 das berühmte Erziehungsheim auf der Sophienhöhe folgen sollte. In die Zeit des Auf- und Ausbaus seines Heimes fiel 1896 die Heirat mit der Apothekertochter Melaleuca27 Elisabeth Dörr. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Trüpers Frau wird als der »seelische Mittelpunkt« der Sophienhöhe beschrieben.28 Sie sorgte durch ihre »Note persönlicher und fürsorglicher Geborgenheit für die Atmosphäre in Familie und Heim« und war der Gegenpol zu dem als tatkräftig, streng und autoritär charakterisierten Trüper.29 »In den Anforderungen an sich selbst war Trüper unerbittlich, ohne sich je zu schonen, und bei ungewöhnlicher Leistungskraft verlangte er auch von seinen Mitarbeitern und Helfern viel, oft zuviel … Auch in dem Verhältnis zu den ihm anvertrauten Kindern war Trüper nicht ohne Strenge …«30 Interessanterweise findet sich diese norddeutsche protestantische Denk- und Arbeitshaltung auch bei Peter Petersen, dem Nachfolger von Rein auf dem pädagogischen Lehrstuhl. Zu Fragen der Religion hat sich Trüper sehr wenig geäußert. Er »stand auf dem Boden der protestantischen Kirche. Das hat … den Charakter seines Heimes mit geprägt.«31

Trüper war nicht nur an der praktischen Betreuung der Kinder und der empirischen Vorgehensweise interessiert, sondern auch an einer wissen-schaftlichen Etablierung der Heilpädagogik. Das drückt sich nicht nur in der Herausgabe der Zeitschrift »Die Kinderfehler« seit 1896 aus, sondern auch in seinen ca. 20 wissenschaftlichen Publikationen, deren Themen weit gestreut waren (Abb. 6). Von ihm wurden medizinische Aspekte in die Pädagogik übertragen. In Anlehnung an Ludwig Strümpell nutzte er die Konzeption der »Pädagogischen Pathologie« und die Kategorie der »psychopathischen Minderwertigkeiten« von Julius Ludwig August Koch, durch den der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie

25 Walther, L. (1890). 26 cta academica betreffend die Immatrikulationen im Sommersemester 1888: Eintrag: No.

167; Inscriptionsbuch Nr. III der außerordentlichen Hörer SS 1882–1904, UAJ, (Bestand BA, Nr. 1667 h, Nr. 21, UAJ, Bestand BA, Nr. 1665 f).

27 Melaleuca = Teebaum, aus dem das Teebaumöl zu medizinischen Zwecken gewonnen wird (Antiseptikum).

28 Berger, M. (1998, S. 13). 29 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 35). 30 Trüper, H. (1966, S. 322). 31 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 231).

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erweitert wurde, in der pädagogischen Theorie und Praxis. Das Kochsche Werk wurde von ihm für pädagogische Zwecke rezipiert. Als Schlussfolgerung plädierte er für die Beschulung von Problemkindern in Normalschulen und nicht in Fürsorgeanstalten. Ziehen wiederum wählte den Begriff, wie schon erwähnt, »Psychopathische Konstitution«, womit er eine Unterscheidung zwischen Persönlichkeits- und psychotischen Störungen traf. In dem Maße wie die Kategorie »psychopathische Minderwertigkeit« durch andere Störungskonzepte verdrängt wurde, geriet auch der Name Trüper immer mehr in Vergessenheit, da er eng mit dieser Begrifflichkeit verbunden war. Nach Trüpers Tod wurde seine publizistische Arbeit durch seine Nachfolger in Form der »Blätter für Heilerziehung«, die als Halbjahresschriften der »Sophienhöhe« von 1926 bis 1932 erschienen, fortgeführt. Insgesamt ist es ihm aber nicht gelungen ein systematisches wissenschaftliches Werk zu schaffen, da er »alles andere als ein Systematiker« war: »Stets schrieb er nur aus dem ihn unmittelbar bedrängendem Anlaß heraus, und es waren keineswegs nur Zeitmangel und Überlastung, die ihn daran hinderten, zu größeren Zusammenfassungen zu gelangen.«32 Der Pädagoge Trüper bediente sich in seiner täglichen Praxis auch psychotherapeutischer Methoden, ohne dass man ihn jedoch als Kinderpsychotherapeuten im eigentlichen Sinn bezeichnen könnte.

Als eine seiner größten Leistungen kann die Organisation des »Kongresses für Kinderforschung und Jugendfürsorge« 1906 in Berlin mit über 700 Teilnehmern gelten, der beispielgebend für die interdisziplinäre Kooperation zwischen der Pädagogik und der Medizin war. Dem Vorbereitungsausschuß gehörten auch Rein und Ziehen an. An vier Tagen wurden 42 Vorträge gehalten33. Zudem tagten die anthropologisch-psychologische, die psychologisch-pädagogische und die philanthropisch-soziale Sektion. Leider entwickelte sich daraus keine Tradition, obwohl die nächste Veranstaltung für 1909 in Jena geplant war, jedoch nicht stattfand. Die Kluft zwischen den Herbartianern, repräsentiert durch Rein, und der experimentellen Pädagogik, wie sie Meumann vertrat, war eben nicht mehr zu überbrücken.

In seiner aktivsten Zeit kann man Trüper zu den Avantgardisten der modernen Pädagogik zählen.34 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stürzten die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen Trüper in eine schwere Krise: »Als dann der schwarze Tag des Zusammenbruchs kam, war Trüpers Lebenskraft in der Wurzel angeschlagen«.35 Er zog sich zunehmend aus der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zurück und vertrat immer starrer seine Überzeugungen. Zudem verschob sich seine bisher sozialkonservative Gesinnung zu einer offen deutschnationalistischen und antisemitischen Haltung. Trüper sah

32 Trüper, H. (1966, S. 314). 33 Zimmermann, K. (2005, S. 38). 34 Bettermann, Ch. u. Schotte, A. (2002, S. 48). 35 Trüper, H. (1966, S. 324).

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selbst nach dem Ersten Weltkrieg die Schuld an den Kriegsereignissen nicht auf deutscher Seite.36 Um sein Lebenswerk zu retten, galten seine letzten Anstrengungen dem Kampf gegen »die Gefahr der Sozialisierung der freien Schulen«, der er durch Gründung des Thüringischen Privatschulverbandes bzw. Mitbegründung des Reichsverbandes der Privatschulen zu begegnen hoffte.37 Seine letzten Aufsätze hatten die Bedeutung des Privatschullebens (1919) und die Schulgesetzfrage in Thüringen (1920) zum Gegenstand. Das Interesse der Fachwelt an ihm als Pädagogen und an seiner Einrichtung nahm ab. Dafür gab es sicher verschiedene Gründe. Eine Ursache war, dass er immer ein tätiger Erzieher und kein Theoretiker war, der ein System bzw. eine Lehre der Pädagogik entwickelte. Somit konnte er auch keine Schule begründen, obwohl bedeutende Pädagogen, wie Hermann Lietz, der 1898 die Landerziehungsheimbewegung initiierte, und Paul Geheeb, der 1910 die Odenwaldschule gründete, auf der Sophienhöhe gewirkt haben. Außerdem stand er neuen reformpädagogischen Ansätzen wie der »freien Schulgemeinde« in Wickersdorf, die seinen familien-zentrierten und auch autoritären Anschauungen widersprachen, feindlich gegenüber.38 Nur durch Stärkung der Familie ließen sich seiner Meinung nach die sozialen Probleme lösen: »Für reich und arm kann aber nur die Pestalozzische Lösung in ›Lienhard und Gertrud‹ helfen: ›Die Wohnstube (die Familie) muß Rettungsanstalt werden!«.39 Das Wissen um sein Engagement für jugendliche Straftäter ist ebenfalls mehr oder weniger der Vergessenheit anheim gefallen.40, 41

»... in einem Alleingang … hat er 1908 nach dreijährigem Kampf gegen die obersten juristischen Instanzen die Errichtung des ersten deutschen Jugendgerichtshofs durchgesetzt«.42 Dass man schließlich ganz über ihn hinwegging, steigerte seine Verbitterung. Dass er letztendlich fast vergessen wurde, lag allerdings daran, dass während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft insbesondere unter den Kriegsereignissen die Entwicklungslinie der Heilpädagogik abgebrochen wurde. Es war wenig opportun, sich mit sogenannten Ballastexistenzen auf humanistische Art zu befassen, und nach 1945 setzten die ökonomischen Zwänge der Heilpädagogik enge Grenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man ihm sicher auch nicht seine antisemitischen Äußerungen vergessen, die er in der Zeitschrift für Kinderforschung getan hat: »… Juden … dieses staatenlose und vaterlandslose Volk … uns also fast unterjocht hat. Man wird einwenden, das sei doch gerade das Entartete des Judentums, das auch bei uns wiederum alles Perverse und Entartete auf so vielen Gebieten, vielfach diktatorisch beherrscht, wofür die Revolutionsputsche täglich 36 Trüper, J. (1921, S. 2). 37 Trüper, H. (1966, S. 324). 38 Trüper, H. (1966, S. 325). 39 Trüper, J. (1893, S. 44). 40 Vgl. Trüper, J. (1904b). 41 Vgl. Trüper, J. (1906). 42 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 54).

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die Beispiele lieferten, da immer wieder an der Spitze radikalster Auflehnungen Juden und Judengenossen stehen. … Diese Entarteten sind die Untergehenden, die andere mit in den Abgrund reißen.«43 Diese Gesinnung war umso erstaunlicher, da einer seiner Förderer, den er selbst immer als maßgeblich für die Gründung und das Gedeihen seiner Erziehungsanstalt betrachtete, Otto Binswanger, selbst Jude war. Trüper starb 1921 in Jena im Alter von 66 Jahren und wurde im Park der Sophienhöhe beigesetzt.

Das Trüpersche Erziehungsheim auf der Sophienhöhe in Jena

»Den Anstoß zur Gründung unseres Erziehungsheims gab der Vater eines psychopathisch veranlagten Kindes, für das unter meiner Beihilfe eine geeignete Heilerziehungsanstalt vergebens gesucht wurde. Unter dem Beirate der Universitätsprofessoren Dr. med. Binswanger, schon damals Direktor der Psychiatrischen Klinik, und seines Assistenten, Privatdozenten Dr. Th. Ziehen (jetzt Professor und Direktor der Charité in Berlin), Dr. med. Rossbach (†), damals Direktor der Universitätsklinik für innere Medizin, Dr. phil. W. Rein, Direktor des pädagogischen Universitätsseminars, Dr. Rud. Eucken, Prof. der Philosophie, u. a. wurde in einer gemieteten Villa am Fuße des Landgrafenberges in Jena am 1. November 1890 mit zwei Zöglingen eine ›Anstalt für schwer erziehbare Kinder‹ eröffnet.«44

Wie bereits erwähnt waren am Trüperschen Erziehungsheim Theodor Ziehen, Wilhelm Strohmayer, aber auch später die Direktoren der Nervenklinik Hans Berger und Rudolf Lemke45 sowie der Pädiater Jussuf Ibrahim, der seit 1917 Ordinarius für Kinderheilkunde in Jena war, tätig. Leider musste in jüngster Zeit festgestellt werden, dass Ibrahim aktiv in Euthanasiemaßnahmen einbezogen war.

Trüper wurde aufgrund seines psychiatrischen Interesses und sozialen Engage-ments von einem Bekannten mit der Frage konfrontiert, welche Möglichkeit es gäbe, einen schwer gestörten, aber intellektuell begabten neunjährigen Jungen zu betreuen. Da keine geeignete Einrichtung gefunden wurde, stellte sich Trüper selbst der Aufgabe. Dieses Ereignis wurde entscheidend für seinen weiteren Berufsweg. Unterstützt von Otto Binswanger, Wilhelm Rein und Rudolf Eucken gründete Trüper 1890 eine erste kleine »Anstalt für schwer erziehbare Kinder« am Landgrafenstieg. Ihm wurde bewusst, dass für physisch und psychisch kranke Kinder, die in ihrer familiären oder schulischen Umgebung nicht zurechtkamen, jedoch durchaus bildungs- und entwicklungsfähig waren, keine entsprechenden Behandlungsformen existierten. Die Kinder- und Jugendheilkunde steckte in ihren Anfängen, gesonderte Abteilungen für Kinder, insbesondere im psychiatrischen Bereich, existierten noch nicht. Medizinischen Heilanstalten fehlte wiederum die pädagogisch geleitete Schule, um die Kinder entsprechend fördern zu können.

43 Trüper, J. (1919, S. 359/360). 44 Trüper, J. (1910, S. 11). 45 Vgl. Gerhard, J.-U. (2005b, 2006).