rolf reber gut so! kleine psychologie der tugend 142

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142 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-57362-0 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Rolf Reber Gut so! Kleine Psychologie der Tugend

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Page 1: Rolf Reber Gut so! Kleine Psychologie der Tugend 142

142 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-57362-0

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Rolf Reber Gut so! Kleine Psychologie der Tugend

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Die Quellen des Guten

Wenn Menschen wissen wollen, was das Gute ist, dann gibt esdrei wichtige Quellen, aus denen sie schöpfen können: den ge-sunden Menschenverstand, die Ethik und die Religion.

Der gesunde Menschenverstand

Der gesunde Menschenverstand speist sich aus zwei Quellen:der biologischen Ausstattung des Menschen und der eigenenErfahrung. Es scheint zur biologischen Ausstattung des Men-schen zu gehören, dass ihm Vertrautes besser gefällt als Un-vertrautes und dass er sich vor Fremden mehr fürchtet als vorPersonen, die er kennt. Schon Kleinkinder zeigen diese Furchtvor Fremden, wenn sie nach etwa einem halben Jahr einzelnePersonen auseinander halten können. Furcht kann auch entste-hen, weil sich ein Kind wehgetan hat: Es hat sich in einerSchublade den Finger eingeklemmt und wird diese nächstesMal mit größerer Vorsicht schließen. Eltern stellen heiße Bü-geleisen außer Reichweite der Kinder und verdecken Steck-dosen mit Schutzsteckern. Dies ist notwendig, weil es immenschlichen Hirn keine fest verdrahtete Furcht vor Bügelei-sen oder Steckdosen gibt; um Unfälle zu vermeiden, müssenEltern das Kind schützen und ihm klar sagen, dass es weh tut,wenn es dies anrührt.

Der wohl wichtigste Wegweiser für die frühen Menschenwar der gesunde Menschenverstand. Dieser war notwendig,

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um zu überleben. Bereits hier mögen moralische Erwägungeneine Rolle gespielt haben, soweit sie aus den Überlebensnot-wendigkeiten abgeleitet werden konnten. So kann es dem Über-leben einer Gemeinschaft nutzen, wenn einer selbstlos einemAngehörigen hilft, auch wenn er sein eigenes Leben gefährdet.Erjagtes Essen oder gesammelte Beeren wurden aufgeteilt,wenn auch nicht unbedingt nach Regeln, die wir heute alsgerecht ansehen würden. Es war die Moral einer Kleingruppe,für die der gesunde Menschenverstand genügte.

In einer globalisierten Welt herrschen jedoch ganz andereBedingungen vor: War einst der Gang zum Wasserloch ein ge-fährliches Unternehmen, muss ich heute beim Auffüllenmeiner Wasserflasche am Trinkwasserautomaten unseres In-stitutes keine Angst haben, dass ein wildes Tier oder der Mit-arbeiter einer anderen Abteilung über mich herfällt. Wasdamals dem Überleben diente – die Angst vor Fremden –,würde mich heutzutage schlicht der Möglichkeit berauben, ammodernen Leben teilzuhaben. Trotzdem blitzt die Angst vorFremden auch in einer aufgeklärten modernen Gesellschaft aufund kann von gewieften Hetzern politisch genutzt werden.Wenn eine Person auf dem Gehsteig umfällt, nicht wiederaufsteht und vor Schmerzen stöhnt, dann frage ich mich nicht,ob sie zu meiner Gruppe gehört, bevor ich helfe. Allerdingsführen die Bedingungen einer modernen städtischen Gesell-schaft dazu, dass manchmal nicht geholfen wird, obwohlmehrere Menschen um die Not leidende Person herumstehen,wie wir im Abschnitt Helfen sehen werden. Die Knappheit derNahrung, die für die Menschen der Vorzeit dokumentiert ist,hatte Verhaltensweisen zur Folge, die ein Mensch im Zeitalterdes Supermarktes nicht mehr anwenden muss, um an sein Es-sen zu kommen. Trotzdem versucht auch der moderne Mensch,möglichst viel Nahrung zu bekommen und zu horten. Was inder Vorzeit unproblematisch war, wird dank rationeller Nah-rungsmittelindustrie und hoher Bevölkerung zum Problem.

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So versagte der gesunde Menschenverstand bei der Überfi-schung an den Küsten im Nordosten der USA: Dort gab eslange Zeit reiche Fischgründe, die den Fischern ein gutes Aus-kommen lieferten. Mit der zunehmenden Technisierung konntemehr Fisch gefangen werden, so dass die Fischbestände nacheiniger Zeit abnahmen. Schließlich sah man, dass – ginge es soweiter – die Gründe bald ausgefischt sein würden, so dass kei-ner der Fischer ein Auskommen hätte. Um dies zu verhindern,hätte jeder Fischer weniger Fische fangen sollen; er hätte dannzwar weniger verdient, die Fischbestände wären aber überlange Zeit stabil geblieben und das Einkommen langfristig ge-sichert gewesen. Die Fischer taten das Gegenteil: Sie fischtenweiterhin so viel sie konnten, bis die Fischgründe leer warenund die Fischindustrie einging. Immerhin können sich dieFischgründe jetzt erholen; es hätte aber gar nicht so weit kom-men müssen. Der einzelne Fischer war also nicht willens, nurso viel zu fangen, dass die Fischgründe erhalten geblieben wä-ren. Dazu braucht es Übereinkünfte und Regeln.

Ethik

Auch wenn wir oft aus dem Bauch heraus entscheiden können,was gut ist, so ist doch klar geworden, dass wir unser Denkenund Handeln nicht alleine dem gesunden Menschenverstandüberlassen können. Gruppen von Menschen können darübernachdenken, was gut ist und was schlecht. Dann rückt nebendem Interesse der Einzelnen das Interesse der Gruppe in denMittelpunkt.

Vor rund 2500 Jahren begannen in Griechenland einigePhilosophen, sich zu fragen, wie man das Leben führen solle,damit es gut sei. Bereits Aristoteles hat sich gefragt, wie Men-schen im gewöhnlichen Leben das Gute tun können. Seitherhaben Menschen immer wieder diskutiert, was denn gutes

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Denken, gutes Reden und gutes Handeln seien. Wenn einVerkäufer uns 50 Euro zuviel zurückgibt, nachdem wir mit ei-ner Hunderternote bezahlt haben: Sollen wir sie einsteckenoder ihm die 50 Euro zurückgeben? Obwohl wir das uner-wartete Geld selbst gut gebrauchen könnten, ist von einemethischen Standpunkt aus klar, dass wir die 50 Euro zurückge-ben müssen.

Es gibt härtere Zwickmühlen, für die es die richtige Lösungnicht gibt: Christine hat einen Freund, Tobias, der gerade ineiner tiefen persönlichen Krise steckt. Sie geht eines Abendsalleine aus und lernt Bernd kennen, mit dem sie eine Beziehungbeginnt, ohne diejenige mit Tobias abzubrechen. Dieser ahntetwas und fragt Christine, ob sie einen anderen Mann liebe.Christine sagt nein – aus Rücksicht auf den tiefen Schmerz, densie Tobias zufügen würde. Drei Monate später sieht alles bes-tens aus für Tobias und Christine: Er hat zu alter Frischegefunden, sie hat die Beziehung zu Bernd aufgegeben undwünscht sich wie Tobias, dass sie lange zusammenbleiben. Wares nun richtig, dass sie damals gelogen hat? Soll sie jetzt – imNachhinein – Tobias den Seitensprung beichten? Auch, um daseigene schlechte Gewissen zu erleichtern? Einige Philosophenneigen dazu, die Aufrichtigkeit über alles zu stellen, und emp-fehlen, dem einen Fehler nicht einen weiteren hinzuzufügen.Es geht diesen Ethikern um den absoluten Wert der Ehrlichkeit,nicht um die Erleichterung des Gewissens. Es gibt aber auchandere, die nehmen auf das Wohl der Beteiligten Rücksicht,ganz nach der Devise: Was ich nicht weiß, macht mich nichtheiß. Sie würden die Lüge in Kauf nehmen, wenn es Tobiasdadurch besser ginge. Müsste Christine auch schweigen, wennes ihr durch die Erleichterung ihres Gewissens viel besser ginge,Tobias hingegen um weniges schlechter?

Die Sittenlehre – wie die Ethik zu Deutsch heißt – hatwesentlich dazu beigetragen, dass wir im Westen in einer frei-heitlich geprägten Gesellschaft leben, in der jeder vor dem

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Gesetz gleich ist. Wir haben verbriefte Rechte und Pflichten,und moralische Normen des Zusammenlebens bringen unsdazu, Dinge zu tun, die zwar nicht gesetzlich geregelt sind,aber als gut gelten. Allerdings wissen wir alle, dass das Gute zukennen noch nicht heißt, auch gut zu handeln. Die Wirren derFranzösischen Revolution sind ein extremes Beispiel dafür, wiebeste Absichten im Strudel von Terror und Gewalt zunichtegemacht werden können. In unserem täglichen Leben geht esweniger dramatisch zu; dennoch tun wir trotz bester Absichtennicht immer das, was wir eigentlich tun wollen. Die Ethik sagtuns, was das Gute ist und wie wir handeln sollen, damit wirdas Gute erreichen können. Manchmal spekuliert sie auchdarüber, warum Menschen trotz bester Absichten das Gutenicht tun. Dies aber ist eigentlich Gegenstand der wissenschaft-lichen Psychologie, der wir wesentliche Einsichten in die Na-tur unseres Denkens und Handelns verdanken. Die Ethik isteine grundlegende Voraussetzung für das gute Denken undHandeln; sie macht uns Vorschläge, was wir tun sollen. Diewissenschaftliche Psychologie hingegen sagt uns, wie wir estun können.

Religion

Viele sehen Religion als eine Voraussetzung für moralischesHandeln. Wo aber geht Religion über die Ethik hinaus? Wirfinden in den Religionen nicht nur Beschreibungen des Guten,sondern auch den Glauben daran, die unbedingte Hinwendungzum Guten und die Verheißung, dass es verwirklicht wird.Zwar kann auch eine Ethik die Hinwendung zum Guten ver-langen, kaum aber, dass wir an die Verwirklichung des Gutenfest glauben. Glaube und Verheißung sind etwas typisch Reli-giöses. Neben dem Glauben an das Gute kennen Religionenden Glauben an das Allmächtige: daran, dass uns ein über un-

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sere Fassbarkeit hinausgehendes Gesetz leitet; im Abendlandist dies gemeinhin Gott. Im Gegensatz zur Ethik, in der es ummoralisches Wissen geht, geht es in der Religion oft um das,was selbst dem aufgeklärten Menschen Geheimnis bleibt.Dieses tiefe Geheimnis können wir nicht wissenschaftlich er-forschen, immerhin aber durch den Glauben an das Allmäch-tige und das Gute daran teilzuhaben versuchen. Wir müssendies nicht alleine tun: Menschen gleicher religiöser Gesinnungschließen sich zusammen, um ihren Glauben gemeinsam zuleben. Im Glauben, der Verheißung und in der Gemeinschafterhebt sich die Religion über die Ethik.

Wie die Ethik formuliert auch Religion, was das Gute ist. Ineinigen Religionen gibt es zwar Schilderungen, dass sich selbstGötter nicht daran halten; in anderen Religionen finden sichaber klare Vorschriften, wie der religiöse Mensch zu leben habe,um ein guter Mensch zu sein. Einige dieser Vorschriftenbetreffen Rituale und religiöse Praktiken; sie sehen das Guteim Licht der eigenen Religion. Rituale sind ein wichtiger Be-standteil einer Religion, vermitteln sie doch den MenschenVertrautheit und binden ihn auf diese Weise an die religiöseGemeinschaft. Andere Vorschriften betreffen Sittengesetze,die Sexualität, Ehe oder Vergnügungen; sie finden ihren Aus-druck in Regeln oder allgemein gehaltenen Empfehlungen,zum Beispiel der, sich anzustrengen, indem man den schmalenstatt den breiten Weg geht (Matthäus 7,13), oder den Anderenso zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

Nicht nur religiöse Menschen gehen oft davon aus, dass wirdas Schlechte tun, weil wir böse sind oder weil «das Fleischschwach» ist. Ich denke, dass Menschen oft deshalb dasSchlechte tun, weil sie die Situation falsch einschätzen oderwichtige Dinge schlichtweg nicht wissen. In den USA habeich ein Merkblatt über sexuelle Belästigung gelesen, das von derBeratungsstelle einer Universität herausgegeben wurde. Dortstand zu meiner Verblüffung, dass Studenten, die ihre Kom-

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militoninnen durch anzügliche Sprüche oder Berührungen se-xuell belästigen, oft gar nicht wüssten, dass ihr Befummelnund Bequatschen sexuelle Belästigung sei. Führe man dies denBetreffenden vor Augen, dann hörten sie damit auf. Natürlichgibt es auch die Anderen: diejenigen, die genau wissen, dass ihrTun unmoralisch ist. Außerdem entschuldigt Nichtwissen diesexuelle Belästigung nicht. Ich stelle mir allerdings vor, wiesehr ein an sich gutwilliger Student später sein Tun bereut, dasvielleicht aus einer Mischung von sexueller Begierde, Hilflo-sigkeit und Unwissenheit entstanden ist. Wie ich unten nähererklären werde, geht es nicht darum, dass Menschen im Grundeböse sind – sie sind dies wahrscheinlich ebenso wenig, wie sieim Grunde gut sind.

Wie die Ethik beschränkt sich auch die Religion darauf, dasssie dem Menschen zwar sagt, worin das Gute bestehe, aberkaum, was man konkret tun muss, um gut zu sein. Dort, woReligionen Gesetze und Regeln aufstellen, sind es die oben er-wähnten religiösen Vorschriften und Sittengesetze. Außerdemschützt Religion nicht davor, dass besten Absichten schlechteHandlungen folgen können, wie religiös motivierte Gewalt-taten bis in unsere Tage zeigen. Religionen bringen nicht nurMenschen zusammen, sondern schließen Menschen auch aus.

Um zusammenzufassen: Wir wissen ganz gut, worin dasGute besteht. Es mag einige zentrale, für jeden Menschen gül-tige Werte geben und andere, die auf eine Kultur, eine Familieoder einen einzelnen Menschen zugeschnitten sind. In Südame-rika hat Religion einen anderen Stellenwert als in westeuro-päischen Ländern; die eine Familie legt Wert auf Zusammenhaltunter den Mitgliedern, eine andere auf deren Eigenständig-keit; der eine Mensch sieht in seiner Tätigkeit als Arzt seinenBeitrag an die Gesellschaft, ein anderer in der Ausgrabungvon Wikingersiedlungen an der Küste Norwegens. Doch dasWissen, was gut ist, genügt nicht. Wir müssen auch wissen, wiewir das Gute tun können. Hier hilft uns die Wissenschaft.

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Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft

Wir alle kennen die Situation, dass wir etwas gut meinen, aberes kommt völlig falsch heraus. Zum Beispiel dachte man in den1960er Jahren, dass antiautoritäre Erziehung gut sei. Manglaubte, alle Probleme auf einen Schlag lösen zu können: Stattdie Kinder mit Regeln und Vorschriften zu drangsalieren, lässtman ihnen Freiraum. Dies führe zu einem reifen Menschen, derdas Gute von sich aus tue und nicht, um Belohnung zu erlan-gen oder Strafe zu vermeiden. Die Eltern sind nicht strengeErzieher, sondern liebe Freunde, die geduldig das Kind ma-chen lassen. Die Wirklichkeit sah anders aus: Statt friedfertigeFreunde zog man kleine Despoten heran, die den Eltern sagten,wo es langgeht. Die antiautoritäre Erziehung hat die Erziehungsicherlich in Richtung weniger Strenge und mehr Erziehungzur Selbständigkeit beeinflusst; die Forschung zeigt in der Tat,dass allzu harsche Erziehungsstile, wie sie früher üblich waren,der psychischen Entwicklung des Kindes abträglich sind. Diewissenschaftliche Erforschung von Erziehungsstilen zeigt aberauch, dass Grenzen und Regeln wichtig sind, um das Kindzu einem reifen Erwachsenen heranzuziehen, der nicht nurselbständig denken und handeln kann, sondern sich auch mitanderen Menschen verträgt. Wenn wir also glauben, dass einbestimmter Erziehungsstil zu einem bestimmten Resultatführt, dann kann man untersuchen, ob diese Behauptungenstimmen.

Wissenschaftliche Forschung hilft uns, zu ermitteln, inwie-fern Behauptungen mit der Realität übereinstimmen. Sie kannzum Beispiel die verschiedenen Erziehungsziele erforschenund deren Konsequenzen aufzeigen. Die Wissenschaft kannhingegen nicht selbst Werte festsetzen: Soll man zum BeispielKinder eher zu Selbständigkeit oder zu Gehorsam erziehen?Das müssen Eltern und die Gesellschaft bestimmen, die dafürEthik und Religion zu Rate ziehen können. Kurz gesagt, wir

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setzen mithilfe von Ethik und Religion fest, was gut ist. Mit-hilfe der Wissenschaft hingegen lassen sich keine Werte festset-zen. Oft wissen wir aber nicht, wie wir das Gute erreichenkönnen. Dann ist die Wissenschaft das geeignete Mittel, her-auszufinden, wie wir die einmal festgesetzten Werte auch lebenkönnen. Ethik und Religion auf der einen Seite und Wissen-schaft auf der anderen Seite ergänzen einander, ohne sich erset-zen zu können.

Wie brandgefährlich es wird, wenn aus wissenschaftlichfestgestellten Zusammenhängen ohne eine Wertediskussionpraktische Konsequenzen abgeleitet werden, zeigt folgendesBeispiel: Auf die Frage, was seine «gefährliche Idee» sei, meinteder bekannte, kürzlich verstorbene Verhaltensgenetiker DavidLykken*, seine Enkelkinder würden erleben, dass Eltern eineBescheinigung benötigen, um ihre Kinder erziehen zu können,so wie heutzutage jeder einen Führerschein braucht, der einFahrzeug steuern will. Er argumentierte, dass mit der Anzahlvon Kindern, die vaterlos aufwachsen, auch die Kriminali-tät gestiegen sei. Etwa 70Prozent der Gefängnisinsassen, derSchwangeren im Teenageralter und jener Jugendlichen, dievon zu Hause ausreißen, wachsen in vaterlosen Familien auf.Kinder solcher Familien hätten keine Chance, ein Leben inFreiheit und Glück zu leben. Weil diese Tendenzen weiterzunähmen, werde der Staat gezwungen sein, Elternbeschei-nigungen einzuführen, was konkret hieße, dass eine Mutterihr Kind nur dann behalten und selbst aufziehen dürfe, wennsie 21 Jahre alt, verheiratet und finanziell abgesichert sei.

* Siehe http://www.edge.org/q2006/q06_2.html#top (abgerufen am25. April 2008). Die Edge-Stiftung unterhält eine Webseite, www.edge.org,auf der jedes Jahr berühmte Persönlichkeiten des Geisteslebens zu grund le-genden Zeitfragen Stellung nehmen. Im Jahre 2006 lautete die Frage: «Wasist Ihre gefährliche Idee?» David Lykken war Professor für Psychologieder University of Minnesota.

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Ich bin mit Lykken lediglich darin einig, dass dies einegefährliche Idee ist. Denn er spielt mit statistischen Zahlen,die uns fälschlicherweise suggerieren, dass die Mehrzahl derJugendlichen aus vaterlosen Familien auffällige Verhaltens-probleme aufweist. Selbst wenn es stimmen sollte, dass70Prozent der Problemjugendlichen – was Lykken mit Ge-fängnisinsassen, Schwangeren im Teenageralter und Ausrei-ßern gleichsetzt – aus vaterlosen Familien kommen, so heißtdies nur, dass eine Mehrheit der Problemkinder aus vaterlosenFamilien stammt, aber nicht, dass die Mehrheit der vaterlosenKinder zu Problemkindern wird. Es gibt immer noch viele Ju-gendliche aus Problemfamilien, die trotz widriger Umständezu unabhängigen und glücklichen Menschen heranwachsen.Selbst wenn Lykken recht hätte und eine große Mehrheit derJugendlichen aus vaterlosen Familien verhaltensauffällig würde,widerspricht seine Haltung diametral jener freiheitlichen Ord-nung, die Eingriffe des Staates in das Privatleben des Einzelnenunterbindet. Ich könnte mir kaum einen schlimmeren Eingriffdes Staates vorstellen, als einer Mutter oder einem Vater dasKind wegzunehmen. In der neueren Geschichte hat manschlechte Erfahrungen damit gemacht. Wer einer Mutter dasKind entreißt, weil sie nicht alt genug oder unverheiratet ist,der öffnet der Willkür Tür und Tor: Was, wenn ein Kind nichtgut in der Schule ist? Oder nicht sportlich genug? Oder nichtgut genug Deutsch spricht? Ich kann solche Vorschläge nur ve-hement ablehnen.

Sicher sind Schwangerschaften von Teenagern und die sichdaraus ergebenden Konsequenzen ein Problem für die Gesell-schaft insgesamt. Wie aber lässt sich die Situation ohne Zwangs-maßnahmen verbessern? Wie kann man erreichen, dassSchwangerschaften im Teenageralter abnehmen, ohne die dras-tische Beschreibung Lykkens in die Tat umzusetzen? EinfacheLösungen gibt es hier nicht; sonst wäre das Problem wohllängst keines mehr. Gefragt ist Ursachenforschung. Wenn laut

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einem UNICEF-Report über 45 von 1000 jugendlichen Frauenim Alter von 15 bis 19 Jahren in den USA Kinder bekommen, inJapan, den Niederlanden und der Schweiz aber nur etwa fünfvon 1000 Frauen desselben Alters, dann kann man sich fragen,woran dies liegt. Man mag sich auch fragen, weshalb es so vieleSchwangerschaften im Jugendalter gibt: Sind die Jugendlichenzu wenig über Verhütungsmittel aufgeklärt? Gibt es eine Grup-pennorm, möglichst früh sexuelle Erfahrungen zu sammeln,der die Jugendlichen nicht widerstehen können? Hat mansolche Fragen beantwortet, kann man dazu übergehen, sichMaßnahmen zu überlegen, die die Anzahl der Schwanger-schaften im Teenageralter vermindern würden. Mit sogenann-ten Interventionsstudien lässt sich überprüfen, ob bestimmteMaßnahmen, wie Aufklärung über Verhütungsmittel oderDiskussion von Gruppennormen, dazu beitragen können, sol-che Schwangerschaften zu unterbinden. Dies ist ein steinigerWeg. Er ist meines Erachtens aber besser geeignet, Problemeunter Berücksichtigung der Grundwerte zu lösen als die vonLykken beschriebene Hauruck-Methode. Wiederum sehen wir,dass Wissenschaft nicht geeignet ist, Werte und Tugenden fest-zusetzen. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psycho-logie helfen, Mittel und Wege zu finden, ohne auf gefährlicheIdeen zurückgreifen zu müssen. Dies wird das Thema dernächsten Kapitel sein.