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7. Jahrgang, 2. Ausgabe 2013, 60-73 Therapeutische Sicherheit Wirkmechanismen Metabolismus Mukolytische Wirkung Bedeutung als Antidot Ist ACC empfehlenswert? - - - Rubrik Fortbildungsartikel - - - Acetylcystein

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Page 1: Rubrik Fortbildungsartikel - hhu.de · 7. Jahrgang, 2. Ausgabe 2013, 60-73 Therapeutische Sicherheit Wirkmechanismen Metabolismus Mukolytische Wirkung Bedeutung als Antidot Ist ACC

7. Jahrgang, 2. Ausgabe 2013, 60-73

Therapeutische Sicherheit

Wirkmechanismen

Metabolismus

Mukolytische Wirkung

Bedeutung als Antidot

Ist ACC empfehlenswert?

- - - Rubrik Fortbildungsartikel - - -

Acetylcystein

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Acetylcystein - 62 -

Fortbildungstelegramm Pharmazie 2013;7(2):60-74

Acetylcystein

Niloufar-Negar Hekmat, Deniz Cicek*

Fachbereich Pharmazie Heinrich-Heine-Universität,

Düsseldorf

*Korrespondenzautorin: Deniz Cicek

Fachbereich Pharmazie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

[email protected]

Lektorat: Stephanie Pick, Apothekerin

Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Prof. Dr. Georg Kojda Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie

Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier:

http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html

Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber: Photoprof, Lizenz: Fotolia

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Fortbildungstelegramm Pharmazie 2013;7(2):60-74

Abstract

Acetylcysteine (N-acetylcysteine, NAC) is the best sold mucolytic in Germany and it is the antidote of choice for aceta-minophen poisoning. It is generally believed that NAC can break disulfide bonds owing to its thiol groups and thereby facilitates liquefaction of bron-chial mucoproteins of the mucosa result-ing in diminished adhesion and viscosity of the mucus. However, numerous randomized trials could not demonstrate a beneficial effect of NAC as a mucolytic agent suggesting a questionable efficacy in humans. In striking contrast, the frequent and repeated request of cus-tomers in pharmacies appears to indicate its benefit. Thus, NAC likely elicits a useful placebo activity rather than a pharmacologically driven mucolytic action. Contrary to these uncertainities, NAC remains to be the antidote of choice in acetaminophen poisoning, an indica-tion proven by several randomised controlled clinical trials. In this setting, NAC increases hepatic glutathion levels which facilitates metabolization and elimination of the toxic product N-acetyl-para-benzoquinone-imine. NAC has a favourable side effect profile and thus a high therapeutic safety. For example, NAC can even be used during pregnancy under certain circumstances. However, in Germany its use is contraindicated in children under the age of 2 years. Fur-thermore, NAC might with some excep-tions inhibit the antimicrobial activity of antibiotics such as tetracycline, ami-noglycosides or penicillins in-vitro. For this reason, a 2 hour interval between ingestion of these drugs is recom-mended.

Abstrakt

Acetylcystein (ACC) zählt zu den in Deutschland am häufigsten verkauften Mukolytika. Als Antidot bei Paracetamol-Vergiftung ist es Mittel der ersten Wahl. Es wird angenommen, dass Acetylcystein über seine Thiolgruppen Disulfidbrücken innerhalb des Bronchialsekrets spaltet und auf diese Weise zu einer Schleimver-flüssigung führt. Damit soll es zur ver-minderten Viskosität und Adhäsivität der Schleimmukoproteine kommen. Zahlrei-

che randomisierte Studien stellen die Wirkung des ACC als Mukolytikum in Frage, da dieser Effekt bisher trotz vieler Untersuchungen nicht eindeutig bewie-sen werden konnte. Im Gegensatz dazu scheint die häufige und wiederholte Nachfrage in der Apotheke jedoch ein Indiz für den Erfolg einer solchen Thera-pie darzustellen, welcher vermutlich weniger durch die mukolytische Wirkung, sondern wahrscheinlich eher durch den Placebo-Effekt zustande kommt. Im Hinblick auf die Wirkung des ACC als Antidot, ist die Evidenzlage deutlich besser, da diese in mehreren randomi-sierten Studien nachweisbar war. Hierbei wird das durch Metabolisierung entste-hende toxische N-Acetyl-para-benzochinonimin durch Verbesserung der Glutathion-Reserven entgiftet. ACC weist als zugelassenes Mucolytikum ein gerin-ges Nebenwirkungsprofil auf, ist gut verträglich und bei strenger Indikations-stellung auch für Frauen in der Schwan-gerschaft geeignet. Es hat somit eine hohe therapeutische Sicherheit. Bei Kindern unter zwei Jahren ist der Arznei-stoff allerdings kontraindiziert. Die gleichzeitige Einnahme von ACC und Antibiotika wie Tetracycline, Aminoglyko-side und Penicilline führt nach in-vitro-Versuchen mit einigen Ausnahmen zu einer Inaktivierung der Antibiotika. Aus Sicherheitsgründen sollte daher die Einnahme mindestens zwei Stunden zeitversetzt erfolgen.

Einleitung

Acetylcystein, genauer (R)-Acetylamino-3-mercaptopropionsäure (ACC; interna-tional auch NAC = N-Acetylcysteine), ist das acetylierte Derivat der schwefelhalti-gen proteinogenen α-Aminosäure L-Cystein mit der Summenformel C5H9NO3S (Abb. 1). In der Humanmedi-zin ist ACC das am häufigsten oral, parenteral und inhalativ verwendete Mukolytikum (1).

In den Monaten September bis Februar werden viele Patienten mit häufigen Erkältungssymptomen wie Husten, Gliederschmerzen, Schnupfen, Kopf-schmerzen und allerlei anderen Be-schwerden in den Apotheken vorstellig. Durch die Werbekampagnen wird der Umsatz bestimmter Präparate in der

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Erkältungssaison angekurbelt, wobei ACC eine nennenswerte Stellung einnimmt. In Deutschland ist ACC eins der umsatz-stärksten Mukolytika. Seine postulierte Wirkung als solche konnte jedoch bisher in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden. Es soll den Schleim verflüssigen und das Abhusten bei erkältungsbeding-ten Erkrankungen erleichtern. Des Weiteren ist es als Antidot bei Vergiftun-gen mit z.B. Paracetamol oder Acrylnitril, sowie als Bestandteil einer Infusionslö-sung zur parenteralen Aminosäurezufuhr bei Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz, hepatischer Enzephalopathie und bei Dialyse-Patienten zugelassen und hierfür auch klinisch geprüft. Derzeit befinden sich 31 Präparate mit ACC als Inhalts-stoff auf dem deutschen Markt (Tab. 1, Weblink 2).

Abb. 1: Strukturformel von Acetylcystein (Weblink 1)

Strukturell weist ACC Sulfhydryl-Gruppen auf, die als Substrat für die Glutathion-Synthese dienen. Glutathion spielt eine zentrale Rolle für die intra- und extrazelluläre Antioxidation und fungiert somit auch als freier Radikalfän-ger. ACC weist nach Deacetylierung in der Leber eine geringe systemische Bioverfügbarkeit auf. Dies könnte unter anderem ein Grund für die fehlende mukolytische Wirkung sein. Dabei be-trägt die Halbwertszeit bei oraler Ein-nahme etwa eine Stunde und bei intra-venöser Gabe etwa 30-40 Minuten. Nach einer oralen Einnahme von 200-400 mg ACC wird die höchste Plasmakonzentrati-on bereits nach ein bis zwei Stunden erreicht. Diese beträgt 0,35 bis 0,4 mg/L (2).

Therapeutische Sicherheit

Kontraindikationen Kindern unter zwei Jahren sollten die oralen Darreichungs-

formen von ACC in der 200 mg Dosie-rung und Kindern unter 14 Jahren die 600 mg Dosierung aufgrund der hohen Dosis nicht gegeben werden. Außerdem liegt bei Asthma bronchiale, Ulkusanam-nese sowie Phenylketonurie eine Kontra-indikation vor. Bei einer Überempfind-lichkeit gegen ACC oder einen der sons-tigen Bestandteile ist die Gabe von ACC ebenfalls kontraindiziert.

Überdosierung Von einer Überdosie-rung mit toxischen Folgen wurde unter einer oralen Darreichungsform von ACC bisher nicht berichtet. Mögliche Symp-tome einer Intoxikation sind gastroin-testinale Störungen wie Übelkeit, Erbre-chen und Durchfall. Die Überdosierung wird symptomatisch behandelt. Bei der Behandlung einer Paracetamol-Vergiftung durch intravenöse Zufuhr von ACC werden Maximaldosen von bis zu 30 g/d vertragen. Bei der i.v.-Gabe von hohen ACC-Konzentrationen ist Vorsicht geboten. Vor allem bei schneller Applika-tion ist mit einem Risiko von anaphylak-tischen Reaktionen zu rechnen. In einem Fall wurde von epileptischen Anfällen und Hirnödemen mit Todesfolge berichtet, die nach großen Mengen der i.v.-Gabe von ACC hervorgerufen wurden (Weblink 3).

Unerwünschte Arzneimittelwirkun-gen Bei oraler Einnahme von ACC können als unerwünschte Nebenwirkun-gen anaphylaktische Reaktionen, Dyspepsie sowie Gesichtsödeme auftre-ten. Bei einer intravenösen Gabe kommt es sehr häufig zum Abfall des Prothrom-binwertes. Häufig sind anaphylaktische Reaktionen beschrieben und sehr selten kommt es zum Lyell-Syndrom oder Stevens-Johnson-Syndrom. Infolge einer Gabe von ACC mittels einer Spritzen-pumpe während einer Hämodialysesit-zung wurden keinerlei klinische Neben-wirkungen beobachtet. 8% der damals untersuchten Patienten berichteten von gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhö, jedoch von keinen schwerwiegenden Nebenwir-kungen (Weblink 3).

Interaktionen Bei gleichzeitiger Gabe mit folgenden Arzneistoffgruppen kann es zu Arzneimittelinteraktionen kommen. Vor allem die Interaktion mit Antibiotika erscheint beachtenswert, und sollte über die ABDA-Datenbank auf ihre klinische Relevanz überprüft werden.

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• Antibiotika: Antibiotika wie Tetrazykline, Ami-noglykoside und Penicilline führen in in-vitro-Versuchen bei der gleichzei-tigen Einnahme von ACC zu einer In-aktivierung der Antibiotika. Es gibt aber keinen Nachweis für eine mögli-che in-vivo-Inaktivierung. Aus Si-cherheitsgründen sollte jedoch die Einnahme mindestens zwei Stunden zeitversetzt erfolgen. Eine Ausnahme bilden Cefixim und Loracarbef, bei denen es zu keiner Inaktivierung kommt.

• Antitussiva: Es kann zu einem gefährlichen Sek-retstau aufgrund des eingeschränk-ten Hustenreflexes kommen.

• Glyceroltrinitrat: Eine zeitgleiche Gabe beider Arznei-

stoffe kann eventuell zu einer Ver-stärkung des vasodilatatorischen und des geringen thrombozytenaggrega-tionshemmenden Effekts von Glyce-roltrinitrat führen. Der Patient sollte aufgrund einer möglichen Hypotonie unter ärztlicher Beobachtung stehen.

Schwangerschaft und Stillzeit Es liegen keine ausreichenden Daten für eine direkte oder indirekte Schädigung des Fötus, embryonale/fetale Entwick-lung, Geburt oder postnatale Entwicklung vor. Informationen über die Übertragung in die Muttermilch gibt es ebenfalls nicht. Laut Herstellerempfehlung ist ACC in der Schwangerschaft anwendbar, wenn eine strenge Indikationsstellung erfolgt (Weblink 3).

Indikation Besonderheit/ Hinweis Beispiel

Mukolytikum bei einer akuten und chronischen bronchopul-monalen Erkrankung

• ACC ist der Wirkstoff Fluimucil® 100 mg/-200 mg/ -long 600 mg Brausetabletten

Aminosäurezufuhr für die parenterale Ernährung

• ACC ist ein Inhalts-stoff

• Nur in Kombination mit energiezufüh-renden Infusionslö-sung anwenden

Aminoveninfant 10% Infusionslösung

Parenterale Ernährung bei der Therapie oder Prophylaxe der hepatischen Enzephalopathie durch eine Leberinsuffizienz

• ACC ist ein Inhalts-stoff

• Wechselwirkungen beachten

Aminofusin® 5% Hepar Infusionslösung

Parenterale Ernährung bei akuter oder chronischer Nie-reninsuffizienz sowie bei Dialy-se-Patienten

• ACC ist ein Inhalts-stoff

• Wechselwirkungen beachten

aminomel® nephro Infusionslösung

Zur inhalativen oder intravenö-sen sekretolytischen Therapie bei akuten oder chronischen broncho-pulmonalen Erkran-kungen

• Die intravenöse Gabe erfolgt nur, wenn die orale Gabe nicht möglich ist.

Fluimucil® 10% Injekti-onslösung und Lösung für einen Vernebler

Intoxikationen mit Paraceta-mol, Acrylnitril, Methacrylnitril, Methylbromid

• ACC ist ein Wirkstoff

• i.v.- Gabe innerhalb von 10 Stunden nach der Intoxikati-on

Fluimucil® Antidot 20% Injektionslösung

Tab. 1: Zugelassene Indikationen der Roten Liste® mit ACC als Wirkstoff/Inhaltsstoff (Weblink 2).

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Indikationenen ohne Evidenz Studie

HIV-Infektion Effects of N-Acetylcysteine (NAC) treat-ment on HIV-1 infection (4)

Cystische Fibrose Nebulized and oral thiol derivatives for pulmonary disease in cystic fibrosis (5)

Idiopatische pulmonale Fibrose IFIGENIA-Studie (6)

COPD Effects of N-acetylcysteine on outcomes in chronic obstructive pulmonary disease (7)

Morbus Parkinson N-acetyl-cysteine in the treatment of Parkinson´s disease. What are we waiting for? (8)

Tab. 2: Indikationen von ACC bei welchen keine Evidenz für eine klinische relevante Wirkung bzw. Effektivität vorliegt.

ACC wird pharmazeutisch als Mucolyti-kum für Atemwegserkrankungen und bei verschiedenen Entzündungen des Mund- und Rachenraums eingesetzt, sowohl für akut auftretende als auch chronisch anhaltende Entzündungen. Die broncho-pulmonalen Erkrankungen haben meist einen viralen Hintergrund und können bzw. sollen zunächst nicht mit Antibiotika behandelt werden. Darunter fallen COPD (chronisch obstruktive Lungenerkran-kung), Bronchitis und grippaler Infekt. Laut Leitlinien der einzelnen Krankheits-bilder wird jedoch ACC nicht als Mittel der Wahl dargestellt und nicht empfoh-len, da der postulierte Wirkmechanismus klinisch nicht nachvollzogen werden kann (Weblink 4). Dennoch wird ACC sehr häufig als Mukolytikum eingesetzt. Es weist eine Bioverfügbarkeit von circa 10% auf (Weblink 5). Die ACC-Konzentration lässt sich nach oraler Gabe jedoch in randomisierten Studien weder in den Bronchoalveolarzellen noch im Sputum nachweisen, womit die Wirkung als solche in Frage gestellt wird. ACC wird in verschiedenen Darreichungs-formen angeboten, angefangen von Brausetabletten bis hin zu Ampullen und Infusionen (Weblink 2). Inhalativ appliziert gelangt ACC direkt an den Wirkort. Als orale Darreichungsform ist es der Magen-Darm-Passage bzw. dem First-Pass-Effekt ausgesetzt und zeigt keine Anflutung in Lunge und Sputum (3). Laut verschiedener Studien wird ACC auch in anderen Bereichen einge-setzt, welche jedoch nicht klinisch ge-prüft oder sich bei der Prüfung als unwirksam erwiesen haben und deshalb

bisher keine Zulassung in diesem Bereich erlangen konnten (Tab. 2).

Wirkmechanismen

Metabolisierung von ACC ACC wird bei peroraler Gabe durch den First-Pass-Effekt in der Leber zu dem aktiven Metaboliten L-Cystein deacetyliert und somit der Biosynthese des Glutathion zur Verfügung gestellt (9). Dies macht einen Teil des Mechanismus der ACC-Wirkung aus (Abb. 2).

Abb. 2: Metabolisierung von ACC: ACC wird nach der Einnahme durch eine Deacetylierung zu der aktiven Form L-Cystein metabolisiert. Über das Enzym Glutathion-Synthase wird diese nun zum lebensnotwendigen Glutathion umge-setzt.

Mukolytikum ACC besitzt durch seine Struktur als acetylierte Aminosäure L-Cystein freie SH-Gruppen, die unterein-ander Disulfidbrücken eingehen. Diese Thiolgruppen sollen für die Verflüssigung bzw. die Reduktion des Schleimes sor-

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gen. Damit soll es zur verminderten Viskosität und Adhäsivität der Schleim-mukoproteine kommen. ACC soll in der Lage sein, Glykoproteine im Bronchial-sekret durch Spaltung von Disulfidbrü-cken zu depolymerisieren und somit die Viskosität des Bronchialsekrets herabzu-setzen. Der therapeutische Nutzen ist weder im Falle des ACC noch bei anderen Vertretern dieser Therapeutika wie Ambroxol und Bromhexin abschließend geklärt. Mukolytika sollten in der Lage sein bereits sezerniertes Bronchialsekret in seinen physikalisch-chemischen Eigenschaften zu verändern und eventu-ell auch die Normalisierung eines ernied-rigten Sialomuzingehalts im Sputum vorzunehmen, womit die erwünschte Senkung der Schleimviskosität und die Reduktion kinininduzierter Bron-chospasmen folgen sollte.

In den meisten Studien jedoch wird die Wirkung des ACC als Mukolytikum gegenüber COPD umstritten diskutiert und ist nicht nachgewiesen (7). Auch die Leitlinien des COPD bewerten seine Wirkung als solches für nicht ausrei-chend (Weblink 6). In Bezug auf andere

Atemwegserkrankungen, wie beispiels-weise Asthma, werden die ACC-Präparate noch nicht einmal in Betracht gezogen. Dass es in solch einem Bereich der Atemnot nicht zur Anwendung kommt, ist eher mit der Kontraindikation in Verbindung zu bringen. Außerdem bildet sich bei einer solchen Erkrankung kaum Schleim, welcher zu verflüssigen wäre. Selbst die Wirkung in Bezug auf die chronische und akute Bronchitis wird kontrovers diskutiert.

Antidot ACC und seine Derivate sind bei verschiedenen Vergiftungen zugelassen und werden aufgrund der Cystein-Bildung in der Leber als Antidot und angewandt. Die Wirkung ist durch ran-domisierte Studien belegt (7). Bei den Vergiftungen handelt es sich um eine Überdosis eines Arzneistoffes (Paraceta-mol) oder um eine orale, pulmonale oder dermale Resorption toxischer Substan-zen wie Methacrylnitril, Acrylnitril und Methylbromid (Weblink 2). Durch die Deacetylierung des ACC zu Cystein kommt es zu einer erhöhten Glutathion-Synthese und damit können die er-schöpften Reserven aufgefüllt werden.

Abb. 3: Schematische Darstellung der erwünschten Wirkung eines Mukolytikums. Die Wirkung wird in dieser Abbildung durch den Vergleich der Behandlung mit einer salzhalti-gen Lösung dargestellt. Das Mukolytikum ist in der Lage die Disulfidbrücken des Sekret-schleimes zu spalten und somit verflüssigend bzw. lösend wirken (modifiziert nach Weblink 7).

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Abb. 4: (A) Paracetamolvergiftung in der prozentualen Relation zu anderen Vergiftun-gen. In der Relation zu der Anzahl der Gesamtvergiftungen nimmt die Paracetamol-Vergiftung mit einer 2,5%igen Häufigkeit eine eher untergeordnete Stellung ein. (B) Prozentuale Statistiken über Suizid-Fälle im Bereich der Paracetamol-Vergiftung. Von der Gesamtzahl aller Paracetamol-Intoxikationen sind die durch Suizid-Absichten verursacht mit 63%iger Häufigkeit vertreten (Weblink 8).

Die Paracetamol-Vergiftung beruht entweder auf der Einnahme einer Über-dosis mit suizidaler Absicht oder sie ist Folge einer Nichtbeachtung von Höchst-dosis und Dosisintervall bei therapeuti-scher Intention (10). Nach den statisti-schen Daten der Vergiftungen in Deutschland erstellt durch die Gesell-schaft für Klinische Toxikologie (Stand 20.03.2008) (Weblink 8), beruhen 2,5% der aufgeführten Vergiftungen und Vergiftungsverdachtsfälle auf eine Para-cetamol-Vergiftung (Abb. 3). Von diesen 2,5% basieren zwei Drittel der Fälle auf einer Suizidabsicht (Abb. 4). Eine hohe Konzentration des Arzneistoffs kann nicht vollständig eliminiert werden (siehe unten). ACC ist als Antidot bei Vergiftun-gen von Paracetamol, Acrylnitril, Methac-rylnitril und Methylbromid einzusetzen. Um die gewünschte Antidot-Wirkung zu erreichen, muss es frühzeitig verabreicht werden. Im Falle von Paracetamol ist eine Behandlung innerhalb der ersten zehn Stunden nach der Vergiftung von enormer Bedeutung.

Paracetamol-Vergiftung Paracetamol (Acetaminophen) gehört zur Gruppe der nicht-sauren nicht-steroidalen Antirheu-matika und wird als Analgetikum und Antipyretikum eingesetzt. Bei der Meta-bolisierung von Paracetamol im Orga-nismus entsteht über Cytochrom P450 ein Metabolit, welcher hepatotoxisch wirkt (Abb. 5). Einer therapeutischen

Medikation von Paracetamol bei einem gesunden Menschen steht genügend Glutathion-Reserve gegenüber, um seine Toxizität zu deaktivieren. Die Glutathion-Biosynthese ist unter anderem vom Vorhandensein der drei Bausteine, sprich der Aminosäuren Cystein, Glutamat und Glycin, abhängig. Die Deacetylierung des ACC findet in der Leber durch die First-Pass-Metabolisierung statt. Von dort aus kann das Cystein unter Verbrauch von ATP und mit Hilfe des Enzyms γ-Glutamylcystein-Synthase zu L-γ-Glutamylcystein umgesetzt werden. Mit der Einführung von L-Glycin und unter ATP-Verbrauch wird Glutathion syntheti-siert (Abb. 6). Die Wirkung als Antidot wird sowohl durch orale als auch durch i.v.-Gabe erreicht (Weblink 9).

Leberversagen und Tod durch Paraceta-mol-Überdosierung Es besteht ein allge-meiner Konsens darüber, dass die Maximaldosis von Paracetamol bei einem gesunden Erwachsenen bei 10-12 g oder 150 mg/kg Körpergewicht liegt. ACC stellt eine wirksame Therapie der Intoxi-kation mit Paracetamol dar, welcher die Anzahl der Todesfälle bei rechtzeitiger Gabe des Antidots reduziert. In Deutsch-land ist eine Paracetamol-Vergiftung als Ursache für akutes Leberversagen oder den Tod nur selten anzutreffen (Web-link 10), wohingegen es in den USA die häufigste Ursache für ein akutes Leber-versagen ist (11).

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Abb. 5: Metabolisierung von Paracetamol und das Entgiften des toxischen N-Acetyl-Para-Benzochinonimins (Zwischenprodukt). In der Phase 1 der Metabolisierung entsteht das toxische Zwischenprodukt, welches ohne die Glutathion-Reserven zu lebensbedrohlichen Leberzellnekrosen und Leberversagen führen würde. Mit Hilfe des ACC werden die Reser-ven des Glutathions aufgefüllt, durch die das toxische Zwischenprodukt gebunden und entgiftet werden kann (Weblink 9).

Abb. 6: Glutathion-Biosynthese: Durch die Einnahme des ACC wird in der Leber die Metabolisierung zu der aktiven Form L-Cystein mit einer Deacetylierung in Gang gesetzt. Die im Körper vorhandenen Aminosäuren L-Glutamat und L-Glycin sowie das Enzym Glutathion-Synthase sorgen dafür, dass das L-Cystein zum lebensnotwendigen Glutathion reduziert wird (Weblink 9).

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Paracetamol war im Jahre 2010 in Deutschland für nur 0,23 Prozent aller Lebertransplantationen verantwortlich, die aufgrund einer Paracetamol-Intoxikation durchgeführt werden muss-ten (Weblink 10). Um aber dennoch das Risiko beabsichtigter oder unbeab-sichtigter Überdosierungen zu reduzie-ren, wurde in Deutschland im April 2009 die maximale Packungsgröße für die Selbstmedikation auf 10 g Paracetamol beschränkt (Weblink 10), während größere Mengen verschreibungspflichtig wurden (beispielsweise 30 JULPHAR DOL 500 mg Tabletten oder 50 BEN-U-RON Kapseln).

Acrylnitril- und Methacrylnitril-Vergiftung Acrylnitril (ACN) und Methacrylnitril gehören zur Gruppe der leichtentzündli-chen und farblosen Flüssigkeiten, deren Dämpfe schnell über die Schleimhäute auf die Zellen des menschlichen Orga-nismus übertragen werden und so eine Vergiftung mit unerwünschten Zellschä-digungen hervorrufen. ACN wird bei der Synthese von Textilfasern, Harzen und Plastik verwendet. In Tierversuchen zeigten sich mutagene, karzinogene, immunotoxische, embryotoxische und neurotoxische Effekte, womit ACN potentiell auch für den menschlichen Organismus schädlich ist. Nach oraler oder inhalativer Resorption zeigen sich Vergiftungssymptome. Die Toxizität wird durch oxidativen Stress ausgelöst, welcher durch ACN hervorgerufen wird. ACN erhöht die Lipid-Peroxidation und führt somit zur Akkumulation von Malon-dialdehyd, welches ein Marker für den oxidativen Stress ist. Infolge einer radikalischen Kettenreaktion kommt es unter GSH-Verbrauch zu einer Zellschä-digung. Die protektive Eigenschaft des ACC als Radikalfänger kommt hier zum Einsatz (Abb. 7).

ACC ist in der Lage bereits im ersten Schritt entgiftend zu wirken, indem es die Umsetzung des aus ACN entstanden Cyanids inhibiert. Cyanidionen sind in der Lage an dreiwertiges Eisen der Cytochromoxigenase A3 zu binden und damit die Atmungskette zu blockieren. Damit wird die Zufuhr des lebensnot-wendigen Sauerstoffs gestoppt und es kommt zu einem „innerlichen Ersticken“, was bis zum Tode führen kann. ACC verhindert diesen Vorgang, indem es die

Cyanidionen mit seiner Thiolgruppe abfängt und diese durch die Bildung von Thiocyanat deaktiviert. Durch diese Reaktion wird der Wirkvorgang unterbro-chen, denn sonst ist CN- in der Lage im Körper einerseits mit den Thiolgruppen der DNA-Proteine zu interagieren und andererseits mit Hilfe von CYP2E1 das 2-Cyanoethylenoxid (CEO), welches ein sehr reaktives und langlebiges aber gleichzeitig ein toxisches Epoxid dar-stellt, zu bilden. Epoxide haben eine hohe Ringspannung und reagieren mit Nucleophilen unter Spaltung des Oxirans. Die Basen der DNA beinhalten starke Nucleophile, die mit dem Epoxid inter-agieren. Dies führt zu einer Funktions-störung der Zellen und zur Bildung von Krebszellen. Damit erklärt sich die cancerogene und mutagene Wirkung von ACN (12).

Die Vergiftung und der Mechanismus lassen sich analog auf Methacrylnitril übertragen, da die zusätzliche Methyl-gruppe keine relevante Rolle für das Reaktionsprodukt spielt. Dabei ist allein die Umsetzung der Nitril-Gruppe von essentieller Bedeutung. Als weiteres Antidot gegen Vergiftungen mit Cyan-verbindungen wird 4-Dimethyl-aminophenol (4-DMAP) verwendet.

Methylbromid-Vergiftung Durch die Inhalation von Methylbromid werden die Methylgruppen auf Proteine des Orga-nismus aber auch auf die Glutathion-Moleküle übertragen. Dies führt zu einer Zerstörung der Zellstruktur der Proteine und zusätzlich zur Methylierung des Glutathions in Methanthiol (CH3-SH), welches für neurotoxische Symptome mitverantwortlich ist. Auch hierbei kommt die Thiolgruppe des ACC zum Einsatz und bindet die Methylgruppen der entstandenen Methanthiole aber auch die der ursprünglichen Methylgrup-pen des Methylbromids. Als Akzeptor dieser Gruppe ist ACC in der Lage einen solchen Vorgang zu stoppen und als Antidot zu wirken (Weblink 12).

Schutz nach Röntgenkonstrastmittel-Gabe ACC scheint nach mehreren Unter-suchungen durch die Stabilisierung von Stickstoffmonooxid (NO ) auch vasodila-tierend zu wirken. NO wird durch die ACC-Gabe und die SH-Gruppen zu einem S-Nitrosothiol reduziert, das eine stabile Verbindung mit stärker aktivierendem

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Effekt auf die Guanylylzyklase darstellt. Einen weiteren Effekt, den die Thiolgrup-pen des ACC auslösen, ist eine Inhibition des Angiotensin-Converting Enzyme (ACE), welche als Wirkmechanismus in diesem Zusammenhang jedoch eher spekulativ diskutiert wird. Bei dieser Indikation werden Patienten mit und ohne eingeschränkte Nierenfunktion in Betracht gezogen, da diese eine unter-schiedliche Reaktion auf die intravenöse Gabe von ACC zeigen. Es wird empfohlen eine p.o.-Gabe des Präparats bei Patien-ten mit eingeschränkter Nierenfunktion zu vermeiden. Außerdem wird als weite-rer möglicher Mechanismus die Redukti-on des intrazellulären oxidativen Stres-ses durch ACC diskutiert. Doch leider konnte der eigentliche Wirkmechanismus bisher nicht aufgeklärt werden. Zur Erklärung wird dabei von der Eigenschaft des ACC als Radikalfänger Gebrauch gemacht, um die Senkung der Sauer-stoffradikalen zu begründen. Seine indirekt antioxidative Wirkung entfaltet es über eine Induktion der Glutathion-synthese (Abb. 6). Dabei ist zu beach-ten, dass die meisten durchgeführten Studien auf in-vitro-Untersuchungen basieren, die möglicherweise in vivo nicht oder nur angepasst an Zeit und Wirkort zu realisieren wären. So auch in Bezug auf den Effekt der Senkung der

Sauerstoffradikale, die in vivo nur über eine längerfristige Gabe von ACC reali-sierbar wäre (14).

Ist ACC empfehlenswert?

ACC weist als zugelassenes Mukolytikum ein geringes Nebenwirkungsprofil auf, ist gut verträglich und bei entsprechender Indikation auch für Frauen in der Schwangerschaft geeignet. Kleinkinder unter zwei Jahren sollten ACC jedoch aufgrund der hohen Dosis nicht bekom-men. Es hat somit eine hohe therapeuti-sche Sicherheit. Ausgehend von diesen Informationen stellt es einen Wirkstoff dar, der in der Therapie eine erwünschte Wirkung und wenig unerwünschte Arz-neimittelwirkungen mit sich bringt. Unter Einbeziehung der Pharmakokinetik wird deutlich, dass bei einer Bioverfügbarkeit von nur 10 % die extrahepatische Wirk-samkeit als eher gering einzustufen ist. Dies macht eine mukolytische Wirkung als solche fraglich, während der hohe first-pass Effekt den Grundstein für seine Wirkung als Antidot darstellt. Allerdings bedingt die orale Einnahme beispielswei-se durch Brausetabletten eine große Flüssigkeitszufuhr, was zur Verflüssigung der Schleimviskosität und Erleichterung des Abhustens beitragen könnte.

Abb. 7: Wirkmechanismus von Methacrylnitril und Acrylnitril: Unter CYP2E1 bildet sich aus dem Cyanid (CN-) das 2-Cyanoethylenoxid (CEO), welches mit den Basen der DNA interagiert und eine toxische Wirkung hervorruft (12). Die Wirkung von ACC als Antidot besteht darin, dass es die Bildung von reaktiven Cyanid-Ionen (CN-), welche durch Methacyrlnitril bzw. Acrylnitril hervorgerufen werden, verhindert, indem es die Cyanidi-nonen bindet und ihre Weiterbildung zu Thiocyanat stimuliert (13).

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Allerdings konnte die ACC-Konzentration in verschiedenen Studien weder in den Sputumzellen noch in denen der Bron-chialalveolen nachgewiesen werden. Stattdessen wurde eine erhöhte renale intrazelluläre Glutathion-Konzentration festgestellt. Diese ist zwar für die Glu-tathion-Reserven von Bedeutung, wenn es um die Indikation als Antidot geht, doch als Mukolytikum verliert ACC über diesen Weg sein Indikationsziel. Gleich-falls müssen die Effekte des ACC bezüg-lich der chronischen und akuten Bronchi-alerkrankungen in Frage gestellt werden, da sie den Ergebnissen mehrerer Studien zufolge als wirkungslos eingestuft wer-den.

Dementsprechend gibt es nach der DEGAM-Leitlinie (Weblink 4) auch keine Empfehlung für die drei auf dem deut-schen Markt befindlichen Mukolytika ACC, Ambroxol und Bromhexin bei der Behandlung eines grippalen Infektes oder einer akuten Bronchitis, da in randomisierten doppelblinden placebo-kontrollierten Studien keine signifikanten Effekte auf Lungenfunktion, Bronchial-schleim, systemische Oxygenierung und/oder Beatmungsnotwendigkeit nachgewiesen werden konnten. Daher kann man ACC als Mukolytikum in die Kategorie „Pseudoplacebo“ einstufen. Unter einem Pseudoplacebo versteht

man eine Substanz, die zwar einen Wirkstoff enthält, jedoch bei der ange-gebenen Indikation längerfristig ein therapeutisch sinnvolles Ziel nicht er-reicht (Weblink 13). Mit der Indikation Mukolytikum liefert ACC die umsatz-stärkste Indikation für die Offizin. Aus ökonomischer Sicht ist dies sicherlich wertvoll. Es sollte dennoch abgewogen werden, ob ein Pseudoplacebo-Effekt ohne Wissen des Patienten ethisch vertretbar ist und daraus folgend ACC als Mukolytikum aus pharmazeutischer Sicht aktiv zu empfehlen wäre. In diesem Zusammenhang sind auch das geringe therapeutische Risiko und die Kontrain-dikationen zu berücksichtigen.

Fazit

Aus pharmakologischer Sicht ist wegen der bislang nicht nachgewiesenen klini-schen Effektivität im Sinne einer Verbes-serung der Symptomatik bei COPD oder Bronchitis eine Therapie mit ACC als Mukolytikum nicht empfehlenswert. Dies gilt jedoch auch für viele andere Thera-piemaßnahmen wie zum Beispiel Inhala-tionen mit Wasser, Kochsalz und ätheri-schen Ölen oder oralen Phytopharmaka wie Zubereitungen aus ätherischen Ölen oder bestimmten Pflanzenextrakten.

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Die Autorinnen

Weblinks 1. Wikipedia: Strukturformel Acetylcystein:

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:%28R%29-N-Acetylcysteine_Structural_Formulae.png

2. Indikationen und Präparate mit Acetylcystein auf dem deutschen Markt: http://www.rote-liste.de

3. Therapeutische Sicherheit von ACC: http://www.fachinfo.de

4. DEGAM-Leitlinie zur Verwendung von Expektoranzien wie ACC, Ambroxol und Bromhexin bei Husten: http://leitlinien.degam.de/uploads/media/LL-11_Langfassung_TJ_03_ZD_01.pdf

5. Alternative Medizinische Monographie zu ACC: http://www.benbrew.com/lb/NAC.pdf

6. Leitlinie COPD: http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/copd/pdf/nvl-copd-kurz-11.pdf

7. Ideale Wirkung eines Mucolytikums: http://ars.els-cdn.com/content/image/1-s2.0-S0169409X02001564-gr1.jpg

8. Gesellschaft für Klinische Pharmakologie, Mitteilung über Paracetamol- Vergiftung: http://www.klinitox.de/fileadmin/DOKUMENTE/MITTEILUNGEN/GfKT_Mitteilung_Paracetamol_2008-03-20.pdf

9. Neues zu Paracetamol, Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008; 2: 175-190: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis/Paracetamol_fuer_FORTE_PHARM2008.pdf

10. Wirksamkeit und Risiken von Paracetamol, BfArM 3.Ausgabe 2012- 14.09.2012: 11-13: http://www.bfarm.de/SharedDocs/1_Downloads/DE/BfArM/publ/bulletin/2012/3-2012.pdf?__blob=publicationFile

11. TOP 4- Paracetamol, Antrag auf Unterstellung unter die Verschreibungspflicht, BfArM 69. Sitzung SVA Verschreibungspflicht, 26.06.2012: http://www.bfarm.de/SharedDocs/1_Downloads/DE/Pharmakovigilanz/gremien/Verschreibungspflicht/69Sitzung/anlage4.pdf?__blob=publicationFile

Nilou-Negar Hekmat Mein Leben begann im schönen Iran, in dem ich geboren wurde und teilweise aufwuchs. Vor 15 Jahren beschlos-sen meine Eltern nach Deutschland auszuwandern und so setzte sich der Rest meines bisherigen Lebens hier fort. Im Mai 2004 machte ich am Cecilien-Gymnasium mein Abitur und begann an der Heinrich-Heine-Universität Chemie zu studieren, wechselte jedoch nach dem Grundstudium zur Pharmazie.

Deniz Cicek Ich bin am 17.03.1988 in Offenbach am Main geboren. 2007 habe ich das Albert-Schweitzer-Gymnasium in Offenbach mit dem Abitur verlassen. Derzeit studiere ich Pharmazie im achten Fachsemester an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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12. Fachinformation Fluimicil®: http://www.fachinfo.de/

13. Reissig L, Tobies L. Placebos in der Apotheke? Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(6):181-194 http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis/Placebo_fuer_FortePharm_2012.pdf

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und dessen therapeutische Einsatzmöglichkeiten. Pneumologie. 2011 Sep;65(9):549-57.

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