rudolf steiner - ttb 14 - christologie

192

Upload: petitjerome

Post on 30-Dec-2015

132 views

Category:

Documents


2 download

DESCRIPTION

Anthroposophie - Themen aus dem Gesamtwerk - Christologie & Christuserkenntnis

TRANSCRIPT

Page 1: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE
Page 2: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE
Page 3: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Dieses E-BOOK ist nurzum nichtkommerziellen Gebrauch bestimmt!

Page 4: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

4

Rudolf Steiner

C H R I S T O L O G I E

Anthroposophie – ein Weg zum Christusverständnis

Thementaschenbuch aus dem Gesamtwerk TTB-14

Vorträge ausgewählt und herausgegeben von Heten Wilkens – 1986

Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

Die in diesem Band zusammengestellten Vorträge Rudolf Steiners wollen zu einemzentralen Inhalt der Anthroposophie hinführen: die Christologie.

Vom Beginn seines anthroposophischen Wirkens an bis hin zu seinen letzten Vorträgenund Aufsätzen spricht Rudolf Steiner über das Christentum und das von ihm so genannte»Mysterium von Golgatha«. Sein innerstes Anliegen war es, die christlichen Inhalte in dasLicht des modernen, erkennenden Bewußtseins zu stellen und zu zeigen, daß deranthroposophische Erkenntnisweg einen spirituellen Zugang zum Christentum eröffnenkann.

Page 5: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

5

Wege zur Einführung

Christus und das 20. Jahrhundert

Das Christentum hat begonnen als Religion, aber es ist größer als alle Religionen

Drei Wege der Seele zu Christus: Der Weg durch die Evangelien – Der Weg der innerenErfahrung – Der Weg der Initiation

Lebens-Erfahrungen

Staunen, Mitgefühl und Gewissen. Das Bleibende des Christus-Impulses

Die Christus-Tat und die ihr widerstrebenden Mächte

Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman

Erbsünde und Gnade

Die mystische Tatsache

Christus zur Zeit des Mysteriums von Golgatha und Christus im 20. Jahrhundert

Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie

Zur Kernfrage des Christentums: Die Auferstehung – Der auferstandene Leib desChristus

Page 6: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

6

Inhalt

Anthroposophie – ein Weg zum Christusverständnis .....................................................................4

Wege zur Einführung........................................................................................................................5

Lebens-Erfahrungen..........................................................................................................................5

Die mystische Tatsache.....................................................................................................................5

Inhalt .........................................................................................................................................................6

Vorwort .....................................................................................................................................................7

Heten Wilkens .................................................................................................................................8

Wege zur Einführung..............................................................................................................................9

Christus und das 2 0 . Jahrhundert .........................................................................................................9

Das Christentum hat begonnen als Religion, .....................................................................................26

aber es ist größer als alle Religionen ................................................................................................26

Drei Wege der Seele zu Christus (I): ......................................................................................................34

Der Weg durch die Evangelien – Der Weg der inneren Erfahrung ........................................................34

Drei Wege der Seele zu Christus (II): Der Weg der Initiation .....................................................47

Bemerkungen zu den Vorträgen 1 – 6 ....................................................................................................62

Lebens-Erfahrungen................................................................................................................................70

Staunen, Mitgefühl und Gewissen. ......................................................................................................70

Das Bleibende des Christus-Impulses..................................................................................................70

Die Christus-Tat und die ihr widerstrebenden Mächte .....................................................................82

Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman...............................................................................95

Erbsünde und Gnade ...........................................................................................................................107

Bemerkungen zu den Vorträgen 7 – 12 ................................................................................................119

Die mystische Tatsache.......................................................................................................................129

Christus zur Zeit des Mysteriums von Golgatha.............................................................................129

und Christus im 20. Jahrhundert .......................................................................................................129

Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie................................................................................141

Die Kernfrage des Christentums: Die Auferstehung (I) .................................................................152

Der auferstandene Leib des Christus (II) .........................................................................................166

Nachwort...............................................................................................................................................178

Zeitgenossenschaft und Initiationsimpuls...........................................................................................178

Die Quelle des Erkennens ..............................................................................................................179

Der Weg der Initiation ...................................................................................................................182

Anmerkungen........................................................................................................................................187

Quellennachweis ...................................................................................................................................191

Page 7: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

7

Vorwort

In der hiermit vorgelegten Auswahl haben die ersten vier Vorträge einen in das Themaeinführenden Charakter. Gleich im ersten Vortrag erweist sich der geistigeAusgangspunkt einer durch das Ganze gehenden, souveränen Anschauungsart, die auchdie Sprechweise bestimmt. Die Erörterung christologischer Fragen steht von vornhereinauf dem Boden der Mysterienkultur der Menschheit. Dieser Hinweis auf den einleitendenÜberblick zu Fragen der Christologie im ersten Vortrag soll erkennbar machen, daß dieausgewählten Vorträge durch die erwähnte Eigenart zusätzlich erklärende Erläuterungenausschließen. So wird lediglich der Versuch durchgeführt, den Leser durch Hervorhe-bung charakteristischer Linien auf den thematisch fortschreitenden Zusammenhanghinzuorientieren. Die Kriterien für die Auswahl der Vorträge in dem hier gegebenenZusammenhang können inhaltlich durch die begleitenden «Bemerkungen» erkennbarwerden. Der Herausgeber strebte an, aus den überaus zahlreichen Ausführungen RudolfSteiners zur Christologie einen thematisch in sich zusammenhängenden Organismus zugestalten.

Entsprechend begleitende Bemerkungen sind nach der einleitenden Gruppe von vierVorträgen unter dem Leitmotiv «Wege zur Einführung» eingefügt. Sie sollten erst nacheigener Lektüre des Lesers begründen helfen, aus welcher Intention dieZusammenstellung hervorging. Die folgenden zwei Vorträge (aus der zweiten Gruppe)wurden in diese Bemerkungen – vorausschauend – einbezogen. – Die zweite Gruppe vonVorträgen – vom fünften bis zum achten – führt die mehr einleitenden Gedankenbilderfort in Erlebnisformen einer für jeden Menschen anfangsweise eigenen innerenErfahrung. [7] Sie können, zur Christologie hin, an Grundphänomenen seelischenErlebens erwachen, wie z. B. Staunen, Mitgefühl und Gewissen; an derAuseinandersetzung mit dem Bösen; am Erlebnis von Erbsünde und Gnade, einerausgleichenden Schicksalsbildung. Diese Folge wird unter dem Leitmotiv «Lebens-Erfahrungen» zusammengefaßt. Doch Rudolf Steiners Betrachtungen rufen den Lesernoch in anderer Art zur gesteigerten Beteiligung seiner seelisch-geistigenErkenntniskräfte auf. Weitere begleitende Bemerkungen sind nach dem achten Vortrageingefügt. Aufgenommen wurden – nunmehr rückschauend – Motive aus dem siebtenund achten Vortrag. So wird zunächst ein Übergang aus der charakterisierten zweiten zurdritten, abschließenden Gruppe von Vorträgen angedeutet. Diese umfaßt die Folge vomneunten bis zum zwölften Vortrag. Für sie wird versucht, vor der eigenen Lektüre desLesers einige Orientierungen anzusprechen. Dies steht unter einem Leitmotiv, in dem dasMysterium von Tod und Auferstehung angedeutet ist: «Die mystische Tatsache».

Wegen des erwähnten, besonderen Charakters der Vorträge Rudolf Steiners zurChristologie sollte der Fluß seines Wortlauts nicht öfter durch Fußnoten unterbrochenwerden. Jener sich selbst tragende Charakter dieser Ausführungen will bildgemäßesDenken anregen, das für vielfältige Bedeutungsdimensionen offenbleibt. Die SprechweiseRudolf Steiners wird sie für den sinnenden Begleiter individuell aufschließen.

Page 8: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

8

Das heißt nicht, daß nicht hier und da erläuternde Fußnoten angebracht erschienen. DerQuellennachweis bezeichnet die jeweiligen Zusammenhänge in der GesamtausgabeRudolf Steiners, denen die einzelnen Vorträge entnommen wurden. Er ermöglicht deminteressierten Leser eine über den ersten Zugriff hinaus weiterführende Orientierung.

Die Vorträge dieser Auswahl sind mit zwei Ausnahmen vor Mitgliedern derAnthroposophischen Gesellschaft gehalten worden. Die erste Ausnahme ist der VortragChristus und das 20. Jahrhundert, gehalten öffentlich in Berlin am 25. Januar I912. [8]Die zweite Ausnahme ist der Vortrag Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie,gehalten halböffentlich in London am 15. April 1922. Zu Weihnachten 1923 / 24 wurdeim Rahmen einer Mitgliederversammlung am Goetheanum beschlossen, die zunächstnicht für den Druck bestimmten Einzelvorträge bzw. Vortragszyklen öffentlichzugänglich zu machen; dies unter der Voraussetzung, daß auf die Notwendigkeit einerindividuell zu entwickelnden Urteilsfähigkeit für das inzwischen erarbeitete geistigeErfahrungs-Niveau, in dem die Vorträge gehalten wurden, hingewiesen wird.

Die meisten der Einzelvorträge, die hier zusammengefaßt wurden, sind inZusammenstellungen, die in Buchform (Gesamtausgabe) erschienen, enthalten. DieserZusammenhang ist durch den Hinweis auf die jeweilige Nummer der Gesamtausgabekenntlich gemacht. Im Unterschiede dazu werden diejenigen Vorträge, die demthematisch durchgehenden Zusammenhang eines Vortragszyklus entnommen wurden,besonders vermerkt. Es betrifft den siebten Vortrag, entnommen dem Zyklus «SozialesVerständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Die geistigen Hintergründe dersozialen Frage», Band III (GA 191; Vortragstitel vom Herausgeber). Ferner den elftenund zwölften Vortrag, entnommen dem Zyklus «Von Jesus zu Christus» (GA 131).

Ein Quellennachweis aller Vorträge befindet sich am Schluß des Taschenbuchs.

Heten Wilkens

Page 9: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

9

Wege zur Einführung

Christus und das 20. Jahrhundert

Wer sich gegenwärtig ein wenig in dem geistigen Leben umsieht, der wird nichtleugnen können, daß die Frage, die den Gegenstand der heutigen Betrachtung bilden soll,die allerweitesten Kreise ergriffen hat, und zwar gerade vom wissenschaftlichenStandpunkte aus. Auf der anderen Seite allerdings scheint in der Gegenwart immer mehrund mehr eine Weltanschauung Platz zu greifen, innerhalb welcher die Frage, die sich anden Christus-Namen knüpft, keinen rechten Platz hat. Der Vortrag, den ich vor einigenWochen von dieser Stelle aus über den «Ursprung des Menschen» (1) halten durfte, undjener, der dann wie eine Fortsetzung an anderem Orte über den «Ursprung der Tierwelt»(1) folgte, werden wohl gezeigt haben, daß ein jedes Zeitalter, also auch unsergegenwärtiges, solche Grundfragen wie nach dem Ursprung des Menschen und ähnliche– wir können dadurch voraussetzen auch diejenige nach dem Wesen, das mit demChristus-Namen bezeichnet wird – in das Licht der Denkgewohnheiten, der ganzenEmpfindungs- und Anschauungsweisen rückt, die auch sonst in einem Zeitalterherrschen. Wir haben gesehen, daß schon in der Frage nach dem Ursprung des Menschendie theoretischen Anschauungen, die Weltanschauungen, die sich für unsereZeitgenossen aus diesen Denkgewohnheiten heraus ergeben haben, im Grundegenommen den wahren, echten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungwidersprechen, während sich uns gerade bei der Frage nach dem Ursprung des Menschengezeigt hat, daß die geisteswissenschaftlichen Antworten, welche den Ursprung desMenschen nicht auf äußerlich physisch-sinnliche, sondern auf geistige Formenzurückführen, gerade den wirklichen Ergebnissen der Naturwissenschaft entsprechen undmit ihnen in voller Harmonie stehen. [13] Aber vielleicht bei keiner Frage – es könntedies wohl daher rühren, daß die Frage zu den größten Weltanschauungsfragen gehört –,zeigt sich so sehr die Disharmonie zwischen dem, was sich als eine Weltanschauungherausgebildet hat, was als Denkgewohnheiten in den weitesten Kreisen bei denMenschen heute herrscht, und demjenigen, was eigentlich die Wissenschaftnotwendigerweise hat feststellen müssen, wie bei der Christus-Frage. Allerdings, seitdem Eintritt der Christus-Bewegung in die Weltgeschichte hat das menschlicheVorstellungsvermögen gegenüber der Wesenheit des Christus immer diejenige Gestaltangenommen, welche dem Zeitalter oder, man kann sogar sagen, den Menschen, die sichdamit beschäftigen, angemessen war.

Da finden wir in den ersten Jahrhunderten nach dem Eintritt des Christentums in dieWeltgeschichte, daß sich in einer gewissen Ideen- und Geistesrichtung, die man als dieGnosis bezeichnet, Ideen herausbilden, grandios und gewaltig über diejenige Wesenheit,die man als den Christus bezeichnet.

Page 10: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

10

Da findet man, daß sich diese gnostischen Ideen verhältnismäßig nur kurze Zeit in einerallgemeinen Weise gegenüber den Christus-Vorstellungen haben halten können, welchesich sozusagen als die populären ausbreiten und die dann der Inhalt der kirchlichenBewegung werden. Es ist lehrreich, mit nur wenigen Worten auf die grandiosen Ideenüber den Christus einzugehen, die sich als die gnostischen Ideen in den erstenchristlichen Jahrhunderten entwickelt haben, nicht etwa darum, weil die Begriffe, welchedie Geisteswissenschaft wieder über den Christus zu sagen hat, sich in irgendeiner Weisemit den gnostischen Ideen deckten. Das behaupten nur die, welche wegen ihrergeisteswissenschaftlichen Unreife völlig unfähig sind, die Dinge wirklich zuunterscheiden, die sich im geistigen Leben darbieten. Die gegenwärtigeGeisteswissenschaft, deren Ideen wir hier, wenn auch kurz, besprechen wollen, schreitetin vieler Beziehung über alles hinaus, was die alte Gnosis der ersten christlichenJahrhunderte hervorgebracht hat. Aber um so interessanter ist es vielleicht, mit ein paarWorten auf diese gnostischen Ideen hinzuweisen. [14] Es gibt allerdings vieleStandpunkte der Gnosis, mancherlei Schattierungen innerhalb dieser Geistesrichtung,aber auf die eine, die wichtigste, soll wenigstens hingewiesen werden, die am meisten andas anklingt, was die Geisteswissenschaft in der Gegenwart zu sagen hat.

Man kann sagen: Die alte Gnosis der ersten christlichen Jahrhunderte hat zuerstgegenüber alledem, was damals im Christentum zutage trat, den tiefsten,bedeutungsvollsten Begriff von der Christus-Wesenheit, denn ihr ist diese Christus-Wesenheit ein Ewiges, das nicht nur mit der ganzen Entwicklung der Menschheitverknüpft ist, sondern auch mit der Entwicklung der den Menschen umgebenden Welt,des Kosmos überhaupt. – Wir haben bei der Frage nach dem Ursprunge des Menschenzurückgehen müssen zu jener Gestalt des Menschen, die noch völlig in geistigen Höhenschwebt, die sich sozusagen noch nicht eingelebt, einverleibt hat in das äußere materielleKleid. Wir haben gesehen, wie der Mensch im Laufe der Erdentwicklung, ausgehend voneiner rein geistigen Gestalt, nach und nach zu jener verdichteten Wesenheitherabgestiegen ist, die wir als den heutigen Menschen bezeichnen, und wie nur durch diematerialistischen Denkgewohnheiten die Entwicklungslehre, indem sie den Menschennach rückwärts verfolgt, zu äußerlich tierischen formen kommt, während dieGeisteswissenschaft zu Formen kommt, welche immer mehr und mehr den geistig-seelischen gleichen und endlich vollständig den geistigen Ursprung des Menschenzeigen. In jener Religion, in welcher der Mensch schwebte, bevor er materielles Daseinangenommen hat, wo sich der Mensch inmitten nur geistiger Wesenheiten und geistigerTatsachen fühlte, suchte die alte Gnosis auch schon die Christus-Wesenheit. Wenn wirsie recht verstehen wollen, so müssen wir sagen, die Gnosis war der Anschauung:Während der Mensch sich weiter entwickelte und dazu schritt, sein geistig-seelischesWesen mit einer körperlichen Hülle zu umschließen, um in die materielleEntwicklungsreihe einzutreten, blieb in rein geistigen Welten wie – man möchte sagen –ein alter Genosse des Menschen, der aber nicht mit in die materielle Welt hinunterstieg,die Christus-Wesenheit vorhanden. [15]

Page 11: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

11

So daß der Mensch für die Anschauung dieser alten Gnosis eine Entwicklungdurchmachte innerhalb der materiellen Welt und innerhalb derselben nun seineFortschritte zu verzeichnen hat. Die Christus-Wesenheit aber bleibt in der Region desrein Geistigen, während der Mensch seine Entwickelungen im Materiellen durchmachte,so daß auch für die Zeit, welche der Mensch schon als Geschichte durchlebte, dieChristus-Wesenheit nicht innerhalb jener Region zu suchen ist, welcher der Mensch alsphysisch-sinnliches Wesen angehört, sondern in dem rein Geistigen. In jener Zeit,welche wir als den Ausgangspunkt des Christentums bezeichnen, sah die Gnosis einenbesonders wichtigen Zeitpunkt der Entwicklung der Erdenmenschheit, nämlich jenenZeitpunkt, da aus geistigen Welten, nachdem sie ihre eigene Entwicklung zurückgehaltenhat, während der Mensch schon in die materielle Welt heruntergestiegen war, dieChristus-Wesenheit in die physischsinnliche Welt hereintrat, um als Impuls in ihr zuwirken. So sah die Gnosis den Menschen, als er noch in urmenschheitlichenEntwicklungsepochen war, als eine geistige Wesenheit mit der Welt verbunden, inwelcher der Christus wirksam war, und sah dann im Beginne unserer Zeitrechnung denChristus heruntersteigen in die Welt, in welcher der Mensch schon lange seine materielleEntwicklung durchgemacht hat.

Es muß sich dazu sofort die Frage ergeben: Wie dachte sich die Gnosis diesesHeruntersteigen einer rein geistigen Wesenheit in die menschheitliche Entwicklung?

Die Gnosis stellte sich vor, daß ein besonders entwickeltes Menschheitsindividuum,das von der geschichtlichen Forschung als Jesus von Nazareth bezeichnet wird, einesolche Reife hatte, daß in ihm in einem gewissen Zeitpunkte Bedingungen vorhandenwaren, daß seine Seele aus der geistigen Welt unmittelbar aufnehmen konnte, was vorheraus der geistigen Welt Menschen nicht unmittelbar haben aufnehmen können. Vondiesem Zeitpunkte also spricht die Gnosis, in dem sich die Seele eines auserlesenenMenschen reif fühlen konnte, eine bisher nicht mit der Menschheitsentwickelungverbundene Wesenheit in sich selber hereinzunehmen, nämlich den Christus. [16] In derBibel suchte die Gnosis die Darstellung dieses Hereinbrechens der Christus-Wesenheit indie Menschheitsentwickelung in jenem Ereignisse – wir mögen es heute einsymbolisches Ereignis oder wie immer nennen –, das als die Johannes-Taufe im Jordanauftrat. Durch diese Johannes-Taufe sei mit dem Jesus von Nazareth etwas ganzBesonderes geschehen. Man kommt zu dem, was in der gnostischen Vorstellung liegt,wenn man etwa folgendes denkt.

Es gibt ja – das ist nicht abzuleugnen, wenn wir das Leben mancher Menschenwirklich beobachten, nicht mit den heutigen Denkgewohnheiten, sondern mit dem, wasuns tief in die Seelen hineinführen kann – für zahlreiche Menschen solche Augenblicke,solche epochemachenden Ereignisse, wo sich diese Menschen wie an einemWendepunkte ihres Lebens fühlen und sich sagen können: Gegenüber dem, was ichbisher erlebt und erfahren habe, erscheint mir dies jetzt wie die Vorstellung eines neuenLebens. –

Page 12: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

12

Es ist vielleicht hereingebrochen durch ein besonders tiefgehendes schmerzlichesEreignis oder durch andere Prüfungen des Lebens. Zu leugnen ist es nicht, daß es fürzahlreiche Menschen etwas gibt wie einen Wendepunkt, wie etwas, was manErneuerung, Erweckung ganz besonderer Kräfte im Seelenleben nennen kann. Wennman sich ein solches Ereignis wie die elementaren Anfänge zu dem denkt, was sich dieGnosis als das vorstellte, was mit dem Jesus von Nazareth bei der Johannes-Taufe imJordan vorgegangen ist, so bekommt man eine Vorstellung des Hereinbrechens vonetwas ganz Neuem, aber nicht von etwas, wie es sonst in die menschliche Seele durchPrüfungen des Lebens hereinbricht, sondern von etwas, was in aller menschlichenEntwickelung bis dahin nicht mit einem menschlichen Leben verbunden war. Und wasda aufgeht in der Seele des Jesus von Nazareth, was als ein völlig Neues auftritt und alsein Inneres in dem Jesus von Nazareth lebt, ein Leben lebt, welches dazu geführt hat, alleKultur, die davon den Ausgangspunkt genommen hat, in ein neues Licht zu rücken, das,was ein solches Leben in das Innere des Jesus von Nazareth bringt, nannte die Gnosisden Christus. [17] Damit war sich die Gnosis aber auch klar, daß mit diesem Christus,der nicht so ohne weiteres in einem äußeren einzelnen Menschen gesucht werden kann,sondern in dem, was da in einem äußeren Menschen als ein besonderes Innenwesen nochvorhanden war, etwas in die Menschheit als ein neuer Impuls hereingebrochen war, einImpuls für etwas, was vorher nie da war, weil eben das, was der Jesus von Nazarethdurch die drei Jahre von der Johannes-Taufe ab in sich trug, vorher mit der menschlichenEntwicklung nicht verbunden war.

Damit haben wir ungefähr die alte gnostische Vorstellung über den Christus sogegeben, daß wir sie begreifen können, wie sie uns sozusagen in ihren Elementen schondann vorliegt, wenn ein besonderer Umschwung in einer einzelnen menschlichen Seelevor sich geht. Was nun dem modernen Menschen ganz besonders schwierig zubegreifen sein wird, das ist, daß mit diesem Ereignis, das eben charakterisiert wordenist, etwas verbunden ist, was für die ganze Menschheitsentwicklung eine geschichtlicheBedeutung hat, eine geschichtliche Bedeutung fundamentaler Art, daß damit etwasgegeben ist, was wir den Schwerpunkt der ganzen Menschheitsentwickelung nennenkönnen. Von dieser gnostischen Vorstellung, auch wenn wir sie mit mancherleivergleichen, was in diesen Vorträgen aus der Geisteswissenschaft hat dargestelltwerden können, darf man sagen, daß sie eigentlich – gleichgültig, wie man über dieRealität denkt – eine großartige, gewaltige Vorstellung auf der einen Seite von derChristus-Wesenheit, dann aber auch von der Wesenheit des Menschen, denn sie stelltden Menschen in eine Entwicklung hinein, in welche ein Impuls aus der geistigen Weltheraus unmittelbar im Laufe des geschichtlichen Werdens eingreift. Es ist daher garnicht verwunderlich, daß diese gnostische Vorstellung nicht irgendwie hat populärwerden können. Denn wer sich nur ein wenig die Bedingungen derMenschheitsentwicklung von dem ersten christlichen Jahrhunderte an, die Zustände dermenschlichen Seele, die verschiedenen Verhältnisse des sozialen Lebens klar macht,wird ohne weiteres zugeben, daß eine solche Vorstellung von einem Hochsinn getragenwar, der ganz gewiß nicht populär wird.

Page 13: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

13

Man braucht nur, um sich dies klar zu machen, in das heutige Geistesleben einenBlick zu tun. [18] Wenn von einer solchen Vorstellung, wie sie eben als die gnostischecharakterisiert worden ist, die Rede ist, so werden die meisten Menschen sagen: Das isteine Abstraktion, eine kühne Träumerei. Wir Menschen aber brauchen etwas realWirkliches, etwas, was uns naheliegt, was unmittelbar in unser reales Leben eingreifenkann. – Wie eine Abstraktion sehen heute die Menschen noch immer das an, was jetzteben als die gnostische Vorstellung charakterisiert worden ist, denn weit entfernt sindeigentlich heute die Menschen noch davon, die viel größere Gesättigtheit, das wahrhaftKonkrete dessen zu spüren, was in den geistigen Vorstellungen liegt, zu denen wir unserheben, gegenüber dem, was die meisten Menschen einmal das Anschauliche, dasKonkrete und wahrhaft Wirkliche nennen. Wäre das nicht der Fall, so würden dieMenschen auch nicht in der Kunst nach dem drängen, was Augen sehen, was Hände grei-fen können, und als etwas Abstraktes das ablehnen, zu dem man sich im Geiste mitinneren Seelengaben erheben muß.

Es ist natürlich nicht möglich, auch nur mit ein paar Strichen darauf einzugehen, wiesich die Vorstellung von der Christus-Wesenheit in der populären Welt entwickelt hat.Aber das darf gesagt werden, daß neben der unmittelbaren Vorstellung, welche man sichüber den Jesus von Nazareth bildete, der auf wunderbare Weise geboren ist, der in seinerliebwerten Art den Menschen auf zahlreiche Arten entgegentrat, schon indem dieGeschichte seiner Kindheit entwickelt worden ist, der den Menschen dann als der für dieganze Menschheit liebende Menschenheiland entgegentrat, – es muß gesagt werden, daßneben allen den Empfindungen und Gefühlen, welche die Menschen für diesenMenschenheiland in all seiner liebwerten Art aufbrachten, immer doch durch dieJahrhunderte hindurch auch ein Nachklang der Christus-Vorstellung lebte, von einerWesenheit, welche in dem Menschen Jesus von Nazareth verkörpert, verleiblicht war.[19] Und neben dem, was man sozusagen als äußere Geschichte über das Leben desJesus von Nazareth erzählte, stand noch das Hinaufblicken zu einem großen Geheimnis,zu einem ungeheuren Mysterium, zu dem Mysterium, das eben damals, als der Jesus vonNazareth auf der Erde wandelte, ein Übermenschliches in dieser Persönlichkeit zumAusdruck gebracht hatte. Und dieses Übermenschliche namentlich nannte man denChristus. Daneben aber – könnte man sagen – fühlten sich die Menschen, je mehr siesich der neueren Zeit näherten, immer unvermögender und unvermögender, den kühnenGedanken dieses Christus, etwa des gnostischen Christus, zu fassen, so daß wir schon imMittelalter sehen, wie sich die Wissenschaft sozusagen nur getraut, über die äußere WeltGründe anzugeben, über das, was sich vor den Sinnen abspielt und was hinter den Sinnennoch als eine Art naturgesetzlicher Welt liegt. Dagegen fühlte sich die Wissenschaftnicht dazu berufen, in jene Faktoren, in jene Impulse einzudringen, welche in dieMenschheitsentwicklung als die höchsten geistigen Impulse eingegriffen haben. So wirddie Frage nach dem Ursprung des Menschen, auch die Frage nach jener Entwicklung desMenschen, in die der Christus-Impuls eingreift, für die mittelalterliche Anschauung zueinem Gegenstande des Glaubens.

Page 14: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

14

Und der Glaube figuriert nun hinfort neben dem, was Wissenschaft, was Erkenntnis seinsoll, die nur auf die niederen Gegenstände der Weltenordnung sich beschränken soll. Eswäre nun interessant, darzustellen, wie vom sechzehnten Jahrhundert ab sich immermehr und mehr diese Art von «doppelter Buchführung» in der Menschheit zugespitzt hat,durch die man die Art der Erkenntnis auf die niederen Ordnungen der Dinge beschränkenwollte, und alles, was sich auf die geistigen Ursprünge und auf die Dinge der geistigenEntwickelung bezieht, dem Glauben zuweisen wollte. Das aber kann heute nicht unsereAufgabe sein. Vielmehr muß darauf hingewiesen werden, wie im neunzehntenJahrhundert der ganze Gang der Entwicklung dazu geführt hat, sozusagen das neun-zehnte Jahrhundert völlig verlieren zu lassen eine jegliche wirkliche Christus-Idee,wenigstens in weiteren Kreisen. In engeren Kreisen hat sich ja wie eineWeiterentwicklung alter gnostischer Ideen das erhalten, was man einen tiefen Einblick inden Christus-Impuls nennen kann. [20] Aber in weiteren Kreisen, auch inwissenschaftlich-theologischen Kreisen, trat im neunzehnten Jahrhundert eineVerzichtleistung ein auf den eigentlichen Christus-Begriff, und der Versuch, sich auf diePersönlichkeit des Jesus von Nazareth zu beschränken, diese zwar als eine einzigartige,auserlesene Persönlichkeit hinzustellen, die gleichsam die Entwicklungsbedingungen derMenschheit, die göttliche Innennatur des Menschen am tiefsten erfaßt hat und infundamentaler Weise in sich getragen hat, aber doch wie ein «Mensch», allerdings wieein Mensch, der über alles sonstige hinausging. So wurde im neunzehnten Jahrhundert andie Stelle einer alten Christologie das gesetzt, was man eine bloße Leben-Jesu-Forschungnennen kann, eine solche Leben-Jesu-Forschung, die immer mehr und mehr ungläubigwar gegenüber allem, was in der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth als ein göttlicherInhalt gelebt haben soll, und nur glauben wollte, daß man in dem Jesus von Nazaretheine auserlesene einzelne Menschenindividualität vor sich habe. Ihren Höhepunkterlangte diese Art von Anschauungen in dem, was den Menschen heute in einer solchenSchrift entgegentritt, wie dem «Wesen des Christentums» von Adolf Harnack (2) undähnlichen Bestrebungen in der Leben-Jesu-Forschung, die sich in der mannigfaltigstenSchattierung heute zeigen. Man braucht nur darauf hinzuweisen, was in der allerneuestenZeit aus einer ernstesten Vertiefung heraus gerade aus dieser Leben-Jesu-Forschungerreicht worden ist. Und da es den jüngsten Ereignissen angehört, was hier zu sagen ist,so braucht nur mit wenigen Worten darauf hingedeutet zu werden, daß diejenigenMethoden, die im neunzehnten Jahrhundert angewendet worden sind, um sozusagenhistorisch nachzuweisen, was sich im Beginne der christlichen Zeitrechnung zugetragenhaben soll, durchaus zu keinem wirklichen Resultat geführt haben. [21] Es würde viel zuweit gehen, in der einen oder anderen Weise diesen Gedanken durchzuführen. Wer abertiefer auf das eingeht, was die neuere Zeit geleistet hat, der wird wissen, daß der Versuchgemacht worden ist, mit den gewöhnlichen Mitteln äußerer materialistischer Forschungan den Ausgangspunkt unseres christlichen Geisteslebens die Persönlichkeit des Jesusvon Nazareth zu stellen, daß aber dieser Versuch, mit äußeren historischen Mitteln dasDasein jener Persönlichkeit zu beweisen, wie man etwas anderes sonst beweist, dazugeführt hat, daß das Geständnis Platz greifen mußte:

Page 15: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

15

Es läßt sich mit den äußeren materialistischen Mitteln diese Persönlichkeit des Jesus vonNazareth nicht rechtfertigen. – Nicht ,etwa, daß sich das Gegenteil rechtfertigen läßt, daßer nicht gelebt habe, aber sie läßt sich nicht rechtfertigen, wenn man in der Weise, wieman sonst mit den historischen Mitteln das Dasein eines Aristoteles oder Sokrates oderAlexander des Großen beweist, das Leben des Jesus von Nazareth beweisen wollte. Abernicht nur das, sondern in eine ganz andere Richtung und Linie ist die Forschung aufdiesem Gebiete in der neueren Zeit gedrängt worden. Sie brauchen nur solche Bücherwie die bei Diederichs in Leipzig erschienenen von William Benjamin Smith (3) zunehmen und Sie werden sehen, daß unsere Zeit durch ein genaues Eingehen auf diebiblischen und andere Urkunden, die sich auf das Christentum beziehen, wieder daraufgekommen ist, daß diese Urkunden eigentlich gar nicht von dem reden können, wovonman so lange im neunzehnten Jahrhundert geglaubt hat, reden zu müssen. Man hat auseiner philologischen Ergründung der biblischen und anderen Urkunden das Leben desJesus von Nazareth wieder konstruieren wollen, aber die Urkunden zeigten endlich denLeuten etwas ganz anderes. Es zeigte sich, während man versucht hat, mit allerwissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit, mit allen auserlesenen Mitteln ein «Leben Jesu»zu konstruieren, daß diese biblischen Urkunden, die christlichen Dokumente da, wo manauf wirklich christlichem Boden steht, gar nicht von einem «Menschen» Jesus vonNazareth reden. So sehen wir, daß die äußere Forschung sagen mußte: Die Dokumentereden gar nicht von einem Menschen Jesus von Nazareth, sondern sie reden von einemGotte: – Man hat die merkwürdige Anomalie in unserer Zeit vor sich, daß diematerialistische Forschung behauptet: [22] Ihr habt fehl geschlossen, wenn ihr glaubt,aus den christlichen Urkunden einen Hinweis zu haben auf den Menschen Jesus vonNazareth, vielmehr müßt ihr euch überzeugen, daß die Evangelien und die anderenDokumente von einem Gotte reden, und daß alle die Dinge, die erzählt werden, nur Sinnund Bedeutung haben, wenn man von einem Gotte im Ausgangspunkte des Christentumsspricht.

Nun, ist das nicht etwas höchst Sonderbares? Unsere Zeit findet, wenn man von demJesus von Nazareth sprechen will, müsse man von einem Gotte sprechen! Aber es ist dasdieselbe Zeit und dieselbe Forschungsrichtung, die in einem Gotte, das heißt in einemreinen Geistwesen, überhaupt keine Realität sehen kann. Zu was wird daher der Christusfür die gegenwärtige Forschung? Er wird zu einer reinen Dichtung der Menschheit, zuetwas, was nur als Idee, nur als von den Menschen in einer sozialen Phantasiegeschaffener Empfindungsimpuls in die Geschichte eingegriffen hat! Nicht zu einerRealität, sondern zu einem gedachten Gotte wird nach der neuesten historischenForschung der Christus. Ja, wenn man es trocken sagen wollte, so könnte man sagen: Dabringt es die historische Forschung zu etwas, was sie so recht nicht brauchen kann, dennwas sollte die gegenwärtige Forschung mit einem Gotte anfangen, an den sie so rechtnicht glauben kann? – Sie hat nur den Beweis, daß die biblischen Dokumente von einemGotte sprechen, kann aber damit nichts anfangen, als ihn in die Reihe der Dichtungen zusetzen.

Page 16: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

16

Stellen wir nun gegenüber diesem Tatbestande denjenigen, den dieGeisteswissenschaft an diese Stelle zu setzen hat.

Da darf ich auf mein Buch verweisen «Das Christentum als mystische Tatsache» (33).Der Grundnerv dieses Buches ist eigentlich wenig verstanden worden. Ich habe daherversucht, in der Vorrede zur zweiten Auflage noch einmal worauf es ankommt,aufmerksam zu machen. Worauf es ankommt, das ist, daß Menschheitsgeschichte,Weltgeschichte etwas ist, was sich nicht in alledem erschöpft, was uns die äußereGeschichte gewöhnlich schildern kann, was äußere Dokumente geben können, weil indie Menschheitsentwickelung überall eingreifen geistige Impulse, geistige Faktoren, diewir geradezu als geistige Wesenheiten bezeichnen müssen. Stellen wir dagegen die ganzeArt und Weise von geschichtlicher Weltauffassung, wie sie zum Beispiel durch Leopoldvon Ranke (4) und andere in die Welt gekommen ist, so muß man sagen: [23] DasHöchste, wozu sich die Geschichtswissenschaft noch aufschwingt, ist, daß sie vonhistorischen Ideen spricht, als ob in den Gang der Menschheitsentwicklung, wie sie sichüber Völker und Staaten hin abspielt, sozusagen äußere abstrakte Ideen eingreifenwürden. Das ist das Äußerste, woran man glaubt. Aber Ideen sind nicht etwas – auchnicht wie die Geschichtsschreiber sie verstehen –, was Kraft entwickelt, was Machtentfaltet. Der ganze Entwicklungsgang der Menschheit wäre geistlos, wenn Siegeschichtlich forschten, wenn nicht die Ideen, die sich in die Menschenseelenhineindrängen, der Ausdruck wären von wesenhaften Impulsen, die unsichtbar,übersinnlich das ganze geschichtliche Werden durchwalten, so daß hinter dem, was dieäußere Geschichte erzählt, das noch steht, was nur mit den Mitteln dergeisteswissenschaftlichen, der übersinnlichen Forschung, wie sie bereits in einemVortrage S dargestellt ist und noch dargestellt werden soll, zu erreichen ist. Und dakönnte ich zeigen, wie sich der christliche Impuls in die Menschheitsentwicklunggeschichtlich herein stellt, indem er sich als eine Fortsetzung dessen erweist, was sich fürdie geistige Menschheitsentwicklung in den alten Mysterien abgespielt hat. Was dieMysterien eigentlich sind, das wird heute noch im Grunde genommen wenigverstanden.Was in den alten vorchristlichen Zeiten für die geistigen Grundlagen allerVölkerentwicklung in den Mysterien geleistet worden ist, das kann nur der verstehen, derdurch die moderne Geisteswissenschaft einen Einblick in jene Entwicklung der Seele tut,welche diese Seele zu dem umgestaltet, wovon auch hier schön öfters die Rede war, zueinem Instrumente der Wahrnehmung dessen, was als geistige Welt hinter der sinnlichensteht. Wir wissen, daß der Mensch heute in einer gewissen Weise, rein auf sein Inneresbeschränkt, ganz und gar zurückgezogen auf die Intimitäten seines seelischen Erlebens,über sich selber hinaufsteigen kann zu einer gewissen höheren Ausgestaltung seinesSeelenwesens, so daß dieses Seelenwesen in einer geistigen Welt ebenso lebt, wie dasMenschenwesen, das im Körper verleiblicht ist, in einer physischen Welt lebt. [24]

Die geisteswissenschaftliche Betrachtung der Geschichte zeigt nun, daß dieseMöglichkeit, durch rein innere, intime Seelenentwickelung in die geistige Weltemporzusteigen, erst im Laufe der Zeit in die Menschheitsentwicklung eingetreten ist,daß sie keineswegs in alten Zeiten schon vorhanden war.

Page 17: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

17

Wenn heute die Seele, indem sie innerhalb ihrer selbst stehenbleibt, völlig frei durch ihreeigenen Maßnahmen sich zu einem Geistesschauen erhebt, so konnte die Seele imwesentlichen in vorchristlichen Zeiten dieses nicht, sondern da war sie angewiesen aufgewisse Maßnahmen, welche in den Mysterien-Heiligtümern mit ihr vorgenommenworden sind. Wenn wir, was genauer in meinem «Christentum als mystische Tatsache»dargestellt ist, kurz skizzieren wollen, was in den Mysterientempeln, die im alten Sinnedies waren, was wir heute als geistige Lehrstätten auffassen würden, von den Leiterndieser Mysterientempel mit der Seele vorgenommen wurde, so kann man es in folgenderWeise zusammenfassen. Es wurde die Seele durch äußere Maßnahmen von ihrerLeiblichkeit befreit. Es wurde ihr die Möglichkeit gegeben, durch eine gewisse Zeithindurch in einem Zustande zu verharren, der dem Schlafzustand ähnlich und dochwieder ganz verschieden von ihm war. Wenn wir heute nach den Ergebnissen derGeisteswissenschaft den Schlafzustand betrachten, so müssen wir uns denken, daß dieäußere Leiblichkeit des Menschen im Bette liegen bleibt, während der eigentlichegeistig-seelische Wesenskern des Menschen außerhalb dessen verharrt, was im Bettebleibt. Aber die Kräfte, das eigentliche innere Wesen dieses geistig-seelischen Kernes istim schlafenden Zustande von so geringer Intensität, daß Bewußtlosigkeit eintritt undFinsternis um den geistig-seelischen Kern des Menschen herum ist. [25] DieMaßnahmen, die in den alten Mysterien mit der menschlichen Seele vorgenommenwurden, sind die, daß durch den Einfluß anderer, vorgeschrittener Persönlichkeiten, diefür sich schon diese Mysterien-Einweihung durchgemacht hatten, für die Seele eine Artvon Schlafzustand herbeigeführt worden ist, aber so, daß dieser Seele gleichzeitig ihreinneren Kräfte geschärft und gestärkt worden sind, so daß sie ihren Leib in einemschlafenden, ja todähnlichen Zustande zurückließ, aber in einem seelischen Dasein durcheine gewisse Zeit hindurch in die geistige Welt hineinschauen konnte, bewußt also einSchlafleben führte und sich in diesem Schlafleben eine Überzeugung von demverschaffen konnte, was sie als ein Bürger der geistigen Welt ist. Wenn dann eine solcheSeele nach einiger Zeit wieder in den gewöhnlichen Menschenzustand zurückgeführtworden war, so trat in ihr eine Erinnerung an das auf, was sie in der Wahrnehmungaußerhalb ihres Leibes erlebt hatte, und eine solche Seele konnte dann wie einprophetischer Geist vor die Volksgemeinschaft hintreten und davon Zeugnis ablegen,daß es eine geistige Welt und einen ewigen Bestand der Menschheit gibt. Eine solcheSeele hatte dadurch teilgenommen an dem Leben im Geistigen, und in den Mysterienwurden die Vorschriften gegeben, denen sich eine solche Seele in einem langen Leben zuunterwerfen hatte, damit dann durch die Leiter der alten Mysterienstätten der letzte Akthinzugefügt wurde. Werfen wir also die Frage auf: Woher rühren die alten Weistümer,die uns in der Menschenentwickelung von den Völkern des Erdenrundes überbracht sind,von ihrem göttlichen Ursprung und der Ewigkeit der Menschenseele? – Aus derGeisteswissenschaft heraus müssen wir uns die Antwort geben: Sie rühren von den aufdiese Weise Eingeweihten oder Initiierten, wie man sie auch nennt, her. – In einereigenartigen Weise treten uns allerdings diese alten Weistümer zutage. In Mythen,Legenden und allerlei bildhaften Darstellungen und Erzählungen ist das gegeben, waswie in einem lebendigen Traume der zu Initiierende in diesen Mysterienstätten erlebte.

Page 18: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

18

Ja, man versteht die Mythologien nur, wenn man die in denselben uns entgegentretendenGestalten als bildliche Ausgestaltungen dessen auffaßt, was die Eingeweihten derMysterien während ihrer Einweihung schauten. Man muß also, wenn man zu den altenReligionslehren ein Verhältnis gewinnen will, bis zu den Mysterien zurückgehen, muß inden Mysterien das sehen, was sich allerdings für die äußere profane Welt verborgen hat,was nur die erreichen konnten, die sich durch strenge Prüfungen und auch durchSchweigsamkeit, die aus Umständen geboten war, die heute nicht besprochen werdenkönnen, für die Einweihung vorbereitet hatten. [26]

So läuft die menschliche Geistesentwicklung, wenn wir sie in vorchristliche Zeitenzurückverfolgen, in das Dunkel der Mysterien hinein. Dazu war die Menschenseele injenen alten Zeiten noch nicht reif, um in sich selber, nur gestützt auf ihre eigenen intimenKräfte, ohne die unfreie Zutat der Tempelpriester, in die geistige Welt hinaufzusteigen.Daß aber etwas geschah, während sich die äußeren Taten der Geschichte abspielten, dassollte in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» gezeigt werden. Dasollte gezeigt werden, daß der ganze Sinn der Menschheitsentwicklung der ist, daß dieMenschheit durch alles, was sie während der wiederholten Verkörperungen aufgenom-men und erfahren hatte, auch von ihren Initiierten erfahren hatte über die geistige Welt,um jene Zeitenwende, in welcher das Christentum seinen Anfang nimmt, so reif war, daßnun diejenige Zeit eintreten konnte, in welcher sich die Menschen ohne äußeren Einfluß,ohne die Maßnahmen, die in den alten Zeiten in den Mysterien gepflogen worden sind,nur im intimsten Inneren als Seelen in eine geistige Welt erheben konnten. Das ist, wiewir jetzt auch über das Ereignis, das sich in Palästina abgespielt hat, denken wollen, dergroße Fortschritt, der sich nach und nach, vielleicht im Verlaufe von Jahrhunderten, aberdoch um die Zeitenwende, in welche der Beginn des Christentums fällt, vollzogen hat,daß die Menschenseele sozusagen zur «Selbsteinweihung» reif wurde, einfach unterAnleitung derer, die da wußten, was die Menschenseele durchzumachen hat, aber ohneZutun äußerer Tempelleiter oder Mysterienleiter. Dasjenige aber, was sich sonst imInneren der Mysterientempel abgespielt hat, hunderte und hunderte Male, und wovon unsin den Legenden und Mythen und Mythologien der Völker Kunde erhalten ist, trat durchdie Begründung des Christentums auf den großen Plan der Weltgeschichte. Und mankann, wenn man die Evangelien verstehen will, einfach so verfahren, daß man fragt: Wasmußte ein Kandidat der Einweihung durchmachen, der zum Beispiel bei dem altenpersischen oder dem ägyptischen Volke seine Seele hinaufbringen sollte zumunmittelbaren Hineinschauen in die geistige Welt? – [27] Die Vorschriften darüber, waser durchmachen mußte von einem gewissen Vorgang,, der als «Taufe», und einemanderen, der als «Versuchung» bezeichnet wurde, bis zu dem, wo die Seelehinausgeführt wurde zu einem Wahrnehmen der geistigen Welt, waren beschrieben,bildeten sozusagen das Ritual der Einweihung. Wenn man solche Ritualien nimmt undmit der Hauptsache in den einzelnen Evangelien vergleicht – das konnte ich in meinemschon erwähnten Buche zeigen –, so sieht man, wie uns in den Evangelien diewiedererstandenen Beschreibungen der alten Einweihungszeremonien entgegentreten,nur angewendet auf das große geschichtliche Individuum des Jesus von Nazareth.

Page 19: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

19

Man sieht dann, wie, während früher die Kandidaten der Einweihung in derAbgeschlossenheit der Mysterientempel in die geistige Welt hinaufgeführt wurden, durchdas, was sich in der Geschichte selber zutrug, der Jesus von Nazareth bis zu dem Punktegeführt wurde, wo er nun nicht bloß so weit hinaufgeführt wurde, daß er in derErinnerung von einer geistigen Welt Kunde geben konnte, sondern wo er sich mit einerWesenheit vereinigen konnte, die sich vorher wirklich noch nicht mit einer menschlichenWesenheit vereinigt hatte: mit der Christus-Wesenheit. So herrscht eine großeÜbereinstimmung zwischen den Erzählungen des Werdegangs des Jesus von Nazarethbis dahin, wo der Christus von seiner Seele Besitz nahm, und der dann auch noch durchdie nächsten drei Jahre hindurch von dieser Seele Besitz genommen hatte, und denBeschreibungen der alten Einweihungsvorgänge. In der Darstellung dessen, was Jesusvon Nazareth da durchgemacht hat, tritt uns entgegen – am genauesten ist das amJohannes-Evangelium zu sehen – die Einweihung, die unmittelbar durch die großen, derGeschichte zugrunde liegenden geistiggöttlichen Tatsachen selber gegeben war.Unzählige Kandidaten waren vorher eingeweiht worden, aber nur so weit, daß sieZeugnis ablegen konnten: Es gibt eine geistige Welt, und die Menschenseele gehört einersolchen geistigen Welt an. [28] Mit dem bedeutsamsten Wesen aber, an welches sie sicherinnern konnten, konnte sich, als sich weltgeschichtlich die Einweihung an ihm zutrug,das innere Wesen des Jesus von Nazareth vereinigen. Das war eine Einweihung, zu deralle alten Einweihungen hintendierten, hingeordnet waren.

So tritt uns das Mysterium von Golgatha entgegen, heraustretend aus dem, was bisher indas Dunkel der Mysterien eingehüllt war, auf den großen Plan der Weltgeschichte.Solange man nicht glaubt, daß an einem Punkte der Erde in einem bestimmten Zeitpunkteso etwas geschieht wie die Durchdringung, die Einweihung des Jesus von Nazareth mitdem Christus, und daß so etwas seine gewaltigen Kraftstrahlen aussendet und einenImpuls bildet für alles spätere Werden der Menschheit, solange begreift man nicht, waseigentlich der Christus-Impuls für die Menschheitsentwickelung zu bedeuten hat. Erstwenn man die Realität eines solchen geistigen Ereignisses, wie es jetzt geschildert wordenist, durch alle übrigen Vorbedingungen der Geisteswissenschaft zuzugeben vermag, kannman verstehen, was durch den Christus-Impuls in die Menschheitsentwicklunghineingekommen ist. Dann aber wird man auch die Evangelien nicht dadurchherabwürdigen, daß man in ihnen vier verschiedene Initiationsritualien findet, in welchenur hineingeheimnißt ist, was sich dann um die geschichtliche Person des Jesus vonNazareth abgespielt hat. Wenn man aber dies versteht, dann wird man auch begreifen, daßdas, was durch dieses Ereignis in Palästina geschieht, eine tiefe, ursächliche Bedeutung hatfür alle spätere Menscheitsentwickelung. Während bis dahin das, was wir dentiefinnersten, Wesenskern nennen können, etwas war, was für die Menschen zwarvorhanden war, aber nicht so recht in das menschliche Bewußtsein hereingetreten war –das sollte gerade diesem Ereignisse unterliegen, das mit dem Mysterium von Golgathageschildert worden ist –, sollte nun die Zeit beginnen, da die Menschen wissen konnten: Indiesem Ich offenbart sich im Menschen das, was der Mensch mit dem gesamten Kosmosgemeinschaftlich hat.

Page 20: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

20

Wollten wir etwa darstellen, wie ein Mensch, der im geisteswissenschaftlichen Sinnespricht, den großen Umschwung ansehen muß, der durch den Christus-Impuls in dieWeltgeschichte eingetreten ist, so müssen wir sagen: [29] Der Mensch bestehthinsichtlich seiner Wesenheit aus seinem physischen Leibe, aus seinem Lebensleibe, ausseiner Seelenhülle, und im Innersten trägt er das, was von Inkarnation zu Inkarnation,von Erdenleben zu Erdenleben geht, das eigentliche Ich. Aber dieses eigentliche Ich istzugleich das, dessen sich die Menschen am allerspätesten bewußt wurden, so daß dieMenschen nicht in den vorchristlichen Zeiten davon eine Ahnung hatten, daß ebenso wieihr physischer Leib mit der ganzen physischen Welt, und wie ihr Seelenwesen mit derSeelenwelt verbunden ist, so ihr tiefinnerster Wesenskern herausgeboren ist aus derumfänglichsten geistigen Welt. Den Gott und die göttliche Urwesenheit nicht in derSeelenhülle, sondern in dem eigentlichen Ich zu suchen, das war es, was dasChristentum, der eben geschilderte Christus-Impuls der Menschheitsentwicklunggebracht hat. Früher konnte man sagen: Meine Seele wurzelt in dem Göttlichen, dasGöttliche ist das eigentlich Bildhafte, das Bildende. – Jetzt aber lernte man sagen: Willstdu erkennen, wo sich dir das tiefste Göttliche, das alle Welt durchlebt, enthüllen kann, soschaue in dein eigenes Ich, denn durch dein Ich spricht der Gott zu dir. Er spricht zu dirfür das gewöhnliche Bewußtsein, wenn du richtig verstehst, wie durch das Mysteriumvon Golgatha göttliche Kräfte in die Menschheit eingetreten sind, wenn du dich bekanntmachst damit, wie sich die eine Einweihung als ein großes geschichtliches Ereignisvollzogen hat, während früher der Eingeweihte in den Tiefen der Mysterientempel zumErleben der geistigen Welt gebracht wurde. Aber der Gott spricht besonders zu dir, wenndu dich hinauferhebst, indem du deine Seele zu einem Instrument der Wahrnehmung inder geistigen Welt machst. – Man kann sagen: Der Eintritt des göttlichen Bewußtseins,das durch das Ich spricht, ist das Wesen des Christus-Impulses. Und daß dieser Christus-Impuls in die Menschheit eintreten konnte, hat eben das Historischwerden des altenEinweihungsprinzipes bewirkt, wie es dargestellt worden ist. Das eine – das Mysteriumvon Golgatha – ist die Ursache. [30] Was in den Menschenseelen im Laufe derErdentwickelung noch bis in ihre fernste Zukunft immer mehr und mehr hervortretenwird, das ist, daß ein klares Erkennen des Göttlich-Geistigen, dem der Mensch angehörtund durch das er unabhängig wird von allem Erdenwerden, durch das Ich spricht.

Wer von diesem Gesichtspunkte aus gewisse tiefste Worte der Evangelien verstehenkann, wird in die große Erziehung des Menschengeschlechtes durch die geistige Welteindringen. Er wird sehen, wie durch die althebräische Entwicklung vorbereitet wordenist, was durch den Ich-Kern zu dem Menschen sprechen sollte, wie das, was zu demJudentum, aber als Volksgeist, gesprochen hat. So war es bei den anderen Völkern nicht,sondern bei diesen war nur das Bewußtsein vorhanden, daß das Geistig-Göttliche – sagenwir zu der Seelenhülle spricht, wenn der Mensch eingeweiht wird. Dem Judentum aberwar es klar geworden, daß die Entwickelung der Menschen ein fortlaufenderErziehungsprozeß ist, und daß in dem Ich, welches das ganze Volk umfaßt, die Mächteruhen, denen der Mensch mit seinem tiefsten Wesen angehört.

Page 21: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

21

Daher empfand der Jude: Indem ich als Einzelner des ganzen althebräischen Volkeshinaufschaue in die Entwicklungsreihe bis zu Abraham und das erkenne, was da als derGeist waltet, was durch die Generationen weiterschreitet, darf ich sagen: Er lebt in mir,lebt in allen meinen Vorahnen als das Göttliche, welches das einzelne Physische desMenschen herausgestaltet hat. – So sah sich der einzelne Angehörige des althebräischenVolkes mit dem Stammvater verbunden, fühlte sich mit dem Vater Abraham eins. Scharfnun betont das Christentum: Alles solches Fühlen des Göttlichen, auch wenn es von sichspricht als «Ejeh asher ejeh» – «Ich bin der Ich-bin», ist noch nicht das, was denMenschen in seiner vollsten Gestalt zeigt, sondern erst, wenn man etwas fühlt, was imGeistigen jenseits aller Generationen ist, dann hat man erfaßt, was als Göttliches in denMenschen hereinwirkt. Deshalb muß man in richtiger Übersetzung des Satzes sagen: Ehedenn Abraham war, war das Ich-bin! – Das heißt, in seinem Ich erlebt der Mensch einEwiges, das ursprünglicher ist als dasjenige Göttliche, das von Abraham sich durch dieGenerationen hindurch ausgelebt hat. [31]

«Schauet auf das, was sich nicht in dem eigentlichen physischen Menschen erschöpft,sondern was als ein Göttlich-Geistiges durch die Generationen lebt, durch das Blut allerder Generationen, die sich von Abraham herunter entwickelt haben. Aber schauet aufdieses Göttlich-Geistige so, daß Ihr es erkennt in dem einzelnen Menschen, nicht in dem,was zusammenhält Bruder und Schwester, sondern was in dem Einzelnen lebt, was derEinzelne entdeckt, wenn er sich selbst in seinem innersten zentralen Seelenwesen als <Ichbin> erkennt.» – So haben wir einen solchen Ausspruch des Christus Jesus aufzufassenwie den, der etwa lautet: Wenn einer zu mir kommt und verläßt nicht seinen Vater,Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, ja sein eigenes Leben, so kann er nicht meinJünger sein. – Nicht als wenn dies eine Auflehnung wäre gegen das Berechtigte derVerwandtschaft und der Kindesliebe, haben wir es aufzufassen, sondern so, daß derChristus Jesus in die Welt das Prinzip des Göttlich-Geistigen bringt, das jeder einzelneMensch, dadurch, daß er Mensch ist, in seinem innersten Wesenskern finden kann. Daherwird das Innerste des Christentums die Menschen immer mehr so berühren daß das, wasals innerstes Geheimnis des Christentums waltet, ein solches ist, das über alleUnterschiede, die unter den Menschen walten, hinweg zu dem Allgemein-Menschlichenführt, zu dem, was jeder Mensch in sich entdecken kann. Die alten Götter warenVolksgötter, Rassengötter, gebunden an diese oder jene Stammeseigentümlichkeiten; soetwas haben wir auch noch dem Indiertum, dem Buddhismus zuzuschreiben. Der Gottdagegen, der in dem Christus den Menschen entgegentrat, ist ein solcher, welcher denMenschen über alle sonstigen Unterschiede hinweg zu dem bringt, was der Mensch nurdadurch ist, daß er «Mensch» ist. [32]

Page 22: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

22

Es ist damit die Notwendigkeit gegeben, daß derjenige, welcher das eigentliche Wesendes Christentums erfassen will, die geistig führenden Mächte und Impulse derWeltgeschichte als Realitäten ansehen muß, daß gebrochen werde mit alledem, wasbisher «Geschichte» war, und daß dasjenige, was den Menschen bisher als Geschichtegegolten hat, nur das äußere Kleid des geschichtlichen Werdens ist, während in denTiefen des geschichtlichen Werdens Wesenheiten walten, die, wenn auch übersinnlich, soreal sind, wie in der Sinneswelt das einzelne Tier oder der einzelne Mensch ist. Und dievorzüglichste unter den übersinnlichen Wesenheiten, die das geschichtliche Werden derMenschheit regieren, ist der Christus, der durch drei Jahre hindurch, wie auch die Gnosises annahm, in dem Leibe des Jesus von Nazareth gewirkt hat.

So erhebt sich die Geisteswissenschaft allerdings zu einer Vorstellung, die etwas mitdem, was die äußere Wissenschaft hervorgebracht hat, anfangen kann. Denn während dieletztere heute zu dem Bekenntnis genötigt ist: Nicht mit einem «Menschen», sondern miteinem in einem Menschen waltenden Gotteswesen haben wir es zu tun, womit sie abernichts anfangen kann, führt uns die Geisteswissenschaft wiederum zu solchenWesenheiten, die für sie nun Realitäten sind, so daß die Geisteswissenschaft gerade aufdiesem Gebiete auch mit der neuesten Forschung das Richtige anzufangen weiß. Daswird sich als das Wunderbare herausstellen für die Geistesentwickelung des zwanzigstenJahrhunderts, daß dieses erkennen wird, daß das neunzehnte Jahrhundert auf Fehlwegenwar, indem es das Leben des Christus Jesus zu einem bloßen Leben des Jesus vonNazareth herunterdrücken wollte, daß aber jene Wissenschaft in das richtige Lebeneinzulenken beginnt, die da sagt: Alles liefert uns den Beweis, daß man es in demChristus Jesus mit einem «Gotte» zu tun hat. – Die Geisteswissenschaft wird nurhinzufügen, daß man etwas mit diesem Worte anfangen kann. Das ist allerdings eineAnschauung, die dem, was sich als materialistisch-monistische Weltanschauung inunserer letzten Zeit herausgebildet hat, widerspricht. Aber wir konnten sowohl bei demVortrage über den «Ursprung des Menschen» wie auch bei dem anderen über den«Ursprung der Tierwelt» zeigen, wie sich die Geisteswissenschaft in völligerÜbereinstimmung mit dem weiß, was die äußere Wissenschaft als tatsächlicheForschungsergebnisse zutage gefördert hat. Und jetzt können wir sagen, daß sich dieGeisteswissenschaft unmittelbar mit dem verbinden kann, wozu auch äußeregewissenhafte Forschung kommt. [33] Wo sie aber wie vor einem Fragezeichen steht, dawird diese äußere gewissenhafte Forschung nicht zu dem geführt, wozu dieGeisteswissenschaft führen kann.

Während des zwanzigsten Jahrhunderts aber wird zu den Denkgewohnheiten nochetwas anderes hinzutreten müssen. Der Mensch steht jetzt auf dem Standpunkte, daßmenschliches Leben und Erkennen, wie es in der physischen Welt dasteht, der äußerenWelt als der unmittelbaren Wahrheit gegenüberstünde, und daß höchstens dadurch einIrrtum entstehen könne, daß sich der Mensch unzutreffende Bilder von der Welt macheoder etwas tue, was man als ein Böses bezeichnet, was nicht mit dem äußeren Gange derWelt übereinstimmt. Heute ist die Weltanschauung noch durchaus darauf aus, überall dieUrsachen in dem zu suchen, was sich unmittelbar darbietet.

Page 23: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

23

Durch diese Denkweise sind die Weltanschauungsfragen zu einem Punkte gedrängt, vondem aus – das muß allen klar sein, die tiefer in das Geistesleben der Menschheithineinschauen können – eine Umkehr sich notwendig macht. Zu einem unmittelbarenUnglauben an alles Geistige und zu einem bloßen Zusammenfassen der äußerensinnlichen Wirklichkeit ist sowohl auf naturwissenschaftlichem wie auf historischemGebiete die äußere Wissenschaft gekommen, zu einem Nichtgeltenlassen des Geistigen,das sich hinter den Sinneserscheinungen zeigen soll. In einer gewissen Beziehung, kannman sagen, ist unser Zeitalter bis zu einem Punkte gekommen, der unmittelbar in seinGegenteil umschlagen muß. Äußerster Materialismus, äußerster materialistischerMonismus muß die Seele dazu führen, daß sie sich durch ihr eigenes inneresWiderstreben zu jenem Begriffe gegenüber der Weltanschauung hinbequemen werde, derbisher eigentlich in den Weltanschauungen sehr wenig eine Rolle gespielt hat. Zu allemSuchen nach den Ursprüngen der Dinge muß ein Begriff hinzutreten, der bis heute nochnicht Bürgerrecht gefunden hat. [34] In meinen Schriften «Die Philosophie der Freiheit»und «Wahrheit und Wissenschaft» ist gezeigt worden, daß der Mensch nötig hat, dieVoraussetzung zu machen, daß der Stand, in dem er sich gegenüber der Welt befindet,nicht der wahre ist, daß er erst eine Entwickelung seines Innenlebens durchmachen muß,um die Wahrheit über die Welterscheinungen erkennen zu können und sich in ein wahresund auch sittliches Verhältnis zu den Welterscheinungen setzen zu können. Hinzutretenmuß zu dem bloß ursächlichen Erkennen der Begriff der Erlösung.

Das wird die große Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts sein, daß der Begriff derErlösung, der Wiedergeburt Bürgerrecht bekommen wird neben den anderenwissenschaftlichen Begriffen. Wie der Mensch als Erkennender der Weltgegenübersteht, so ist es nicht der Wahrheit entsprechend. Alle wahren Begriffebekommt man erst, wenn man, erlöst von dem gegenwärtigen Standpunkte, sich zueinem Höheren hinaufentwickelt hat, wenn man erlöst ist von den Hindernissen, welchebewirken, daß man nicht die wahre Gestalt der Welt sieht. Das ist Erkenntnis-Erlösung.Moralische Erlösung ist, wenn der Mensch erkennt, daß es, wie er zu der Welt steht, sonicht das Wahre ist, sondern daß er erst einen Weg gehen muß, der über die Hindernissehinweggeht, die sich auftürmen zwischen ihm und dem, welchem er eigentlichangehört. Der Begriff des Wiedergeborenwerdens der Seele auf einer höheren Stufewird sich herausentwickeln aus dem, was uns an wunderbaren naturwissenschaftlichenForschungsergebnissen entgegengetreten ist, was uns auch an wunderbaren Ergebnissender historischen Forschung entgegentritt. Der Mensch wird erkennen, wenn er so wiephotographisch die Welt abgebildet hat und den großen naturwissenschaftlichen undgeschichtlichen Werdegang der Menschheit sich vorgezaubert hat, daß er daran nichtetwas hat, was ihm die Welt nur abbildet, sondern was ein mächtiges Erziehungsmittelist. Der Mensch wird nicht mehr bloß glauben, daß die Naturwissenschaft ihm eineWelt abbildet, sondern die Gesetzmäßigkeit wird etwas sein, was ihn erziehen wird.[35]

Page 24: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

24

Und wenn die Naturwissenschaft nicht bloß da sein wird, um die Welt abzubilden,sondern um die Menschen zu erziehen, daß die Menschenseele sich von einemStandpunkte erlöst, der ein unmittelbarer ist, und sich zu einem Standpunktehinaufarbeitet, wo sie auf höherer Stufe wiedergeboren wird, wenn der Mensch alsoerkennen wird, daß er erlöst werde von den Hemmungen, in denen er steckt, so hat ersich selbst die Vorbedingungen des Begriffes des Christus-Impulses in der Weltausgebildet. Denn dann wird er einsehen, daß er nach demjenigen Zeitpunktehinblicken darf, den wir vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte auskennengelernt haben, wo der Mensch einmal in einer rein geistigen Welt war und in dieWelt des materiellen Daseins herabgestiegen ist, daß er durch diese materielle Welthindurchgehen muß, um seinen Fortgang zu machen, daß aber an einem bestimmtenPunkte seine Umkehr eingeleitet werden mußte, damit er sich wieder befreien kann vondem, was er hier aufgenommen hat. Von dem Versinken in das rein Materielle hat derChristus-Impuls die Menschheit befreit. Objektiv ist der Christus in derWeltentwickelung dasjenige, was in uns jenes Erlebnis darstellt, das wir haben, wennwir sagen: Das Verhältnis zur Welt, das sich ergibt, wenn die Seele wiedergeboren underlöst ist von dem, was sie als ihr Ursprüngliches bekommen hat, was so als ihr Erlebnisauftreten kann, es ist, draußen im großen Weltenprozeß der Menschheit gesehen, das,was als der Christus in die Welt hereintrat.

Wenn so das zwanzigste Jahrhundert einmal das große Erlebnis im Inneren desMenschen wirklich ernst wird nehmen können, so wird es auch das Christus-Ereignisbegreifen können und nicht mehr daran Anstoß nehmen, was als die Wiedergeburt derSeele auf einer höheren Stufe sich im Menschen abspielt. Und dann wird dieGeisteswissenschaft zeigen, daß für das geschichtliche Werden dasselbe gilt, was für dasäußere natürliche Geschehen gilt. Da hat man sich in der äußeren Weltanschauung auchdem Irrtume des Schopenhauerischen Satzes hingegeben: Die Welt ist meine Vorstellung.– Das heißt, daß um mich herum eine Welt von Farben, von Tönen und so weiter ist, dashängt ab von meinem Auge und meinen anderen Sinnesorganen. Aber es ist nicht richtig,wenn man die Welt in ihrer Ganzheit erfassen will, daß man sagt: Die Welt der Farben istnur da durch die Konstitution meines Auges. – Denn mein Auge wäre nicht da, wenn nichtdas Licht zuerst mein Auge herausgezaubert hätte. [36] Wenn es auf der einen Seite wahrist, daß die Empfindungen des Lichtes durch die Konstitution des Auges bestimmt ist, soist es auf der anderen Seite nicht weniger wahr, daß das Auge nur durch das Licht, durchdie Sonne da ist. Beide Wahrheiten müssen sich zu einer umfänglichen Wahrheitverbinden. So ist es richtig, was schon Goethe (6) gesagt hat: «Das Auge hat sein Daseindem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht einOrgan hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürsLicht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.» – Wie das Auge durch dasLicht gebildet ist, wie die Wahrnehmung des Lichtes durch das Auge geschieht, sokommt das innere Christus-Erlebnis, die innere Wiedergeburt der Seele durch dasChristus-Erlebnis der Menschheit, durch das Mysterium von Golgatha zustande.

Page 25: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

25

Die Geisteswissenschaft zeigt, daß, bevor der Christus-Impuls in die Menschheiteingetreten ist, dieses innere Erlebnis nur durch äußeren Anstoß in den Mysteriendurchgemacht werden konnte und nicht intim, wie jetzt durch eine Art vonSelbsteinweihung in dem Menschen selber. So ist es mit dem inneren mystischenErleben des Christus ebenso, wie es für die Farben- und Lichtwelt mit dem Auge ist:Durch das Innere erlebt der Mensch den Christus. Daß er aber die Seele intim über sichselbst hinaussteigern kann, rührt davon her, daß die geistige Sonne, das Mysterium vonGolgatha, in die Weltgeschichte eingetreten ist. – Ohne das objektive Mysterium vonGolgatha und ohne den objektiven Christus kein subjektives inneres Erlebnis mystischerArt, wie es der Mensch im zwanzigsten Jahrhundert erleben wird und wie er esvollständig wissenschaftlich ernst nehmen wird.

So können wir sagen: Das zwanzigste Jahrhundert wird den Menschen dieVorbedingungen liefern zu einem wirklichen Verständnis des Christus-Impulses, indemes zeigen wird, wie tief wahr der Christus-Impuls als geistige Sonne wird und in derMenschenseele das innere Erlebnis wachruft, das Goethe mit den Worten (7) andeutete:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,

Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

[37]

Und man kann sagen, indem man an dieses Sich-Überwinden, an das Mysterium vonGolgatha, an das Christus-Ereignis anknüpft, daß der Mensch in dem Sich-Überwindeneigentlich erst so recht sich findet, daß er die Gestalt, die er von seinem Erdenursprungehat, als etwas betrachten muß, von dem er erlöst zu werden hat, und daß alles moralischeWirken, alle Erkenntnis erst durch die Erlösung eintreten kann. Durch den Begriff derinneren Erlösung wird der Mensch den Begriff der Erlösung in der geschichtlichenEntwicklung erkennen lernen und, so durchdringend, im zwanzigsten Jahrhundert dasChristus-Ereignis unter dem Lichte auffassen, das voll geben kann der etwas erweiterteGoethesche Ausspruch:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,

Befreit der Mensch sich, der sich überwindet,

Und der in dieser Überwindung

Sich selber erst in Wahrheit findet,

So wie die ganze Menschheit sich in Christus

In Wahrheit selber finden kann.

[38]

Page 26: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

26

Das Christentum hat begonnen als Religion,aber es ist größer als alle Religionen

Dieser Vortrag soll ein Thema behandeln, das vom Gesichtspunkte des spirituellenLebens aus zu betrachten bedeutsam sein wird. Wir werden einiges darüber vorbringenkönnen, wie derjenige, der sich zur geisteswissenschaftlichen Anschauung bekennt, seineStellung nehmen kann zu anderen geistigen Richtungen, wie er sich verhalten kann zurEntwicklung der heutigen Menschheit, überhaupt zu heutigen Fragen. Ich möchte ingroßen Umrissen zu Ihnen sprechen über die Entwicklung der religiösen Ideen in derZeit der nachatlantischen Kultur bis zur Gegenwart.

Wir werden uns dabei an das erinnern, was wir ja auch schon da oder dort erwähnthaben: daß der Begriff der Religion eigentlich etwas ist, was nur in der nachatlantischenZeit einen Sinn hat. Vor der großen atlantischen Flut konnte es das, was man Religionnennt, überhaupt nicht geben, weil Religion voraussetzt, daß der Mensch eineunmittelbare Wahrnehmung oder Anschauung von den übersinnlichen Welten nicht hat,wenigstens daß die große Masse der Menschen solche Wahrnehmungen nicht hat.Religion ist die Verbindung des Menschen mit dem Übersinnlichen dann, wenn für diegroße Masse der Menschen das Übersinnliche nichtwahrnehmbar ist, sondern nurvermittelt werden kann auf verschiedene Weise, durch Propheten, Seher, Weise,Mysterien und so weiter, so wie es in den letzten Jahrtausenden der Fall war. Vor dergroßen atlantischen Flut, als unsere Vorfahren zum größten Teile in dem Gebiete deralten Atlantis gelebt haben, da hatten die Menschen alle noch mehr oder wenigerunmittelbare Erfahrungen, Wahrnehmungen vom Übersinnlichen. [39] In einer Zeit, inder die Menschen in der geistigen Welt selber lebten, in der sie jederzeit Erfahrungenhatten wie die heutige Menschheit in der sinnlichen Welt, bedurfte es keiner Religion.Gegen das Ende dieser atlantischen Zeit ist ausgelöscht worden für die weitausüberwiegende Mehrzahl die übersinnliche Erfahrung. Es trat an ihre Stelle dieausgeprägte Sinneserfahrung, welche die Menschheit heute hat. Was ist übriggebliebenaus der alten atlantischen Zeit?

Wenn wir in die graue Vorzeit zurückgehen und die Sagen und Mythen durchforschen,die germanischen Götterlehren auf uns wirken lassen, so finden wir Mitteilungen ausübersinnlichen Welten in bildlicher Gestalt. Diese Mitteilungen sind nicht von derVolksphantasie ersonnene Bilder, Personifikationen, wie man es uns vom grünen Tischaus glauben machen will, sondern es sind wirkliche Erinnerungen aus jener alten Zeit,wo die Menschen selbst noch wußten, was sie erfahren hatten. Die Sagen von Wotan,Thor und so weiter sind solche Erinnerungen. Und das, was bis in die nachatlantischeZeit hinein vorzugsweise dem Menschen geblieben ist, ist im höchsten Sinne des Worteseine Art Gedächtnisreligion. Am weitesten vorgeschritten ist sie bei den Völkern, die inAsiens Süden leben, bei den indischen Völkern. In anderer Form machte sie sich geltendin Europa. In Indien machte sich die Erinnerung an jene Zeit der Menschheit, wo jedernoch selbst Wahrnehmungen in der geistigen Welt hatte, bemerkbar als eine Sehnsuchtnach jener Welt.

Page 27: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

27

Man empfand das Wirkliche als Illusion, als Maja, und sehnte sich zurück nach jenenalten Zeiten. Joga nannte man dasjenige, was bei einzelnen Menschen die Fähigkeithervorbrachte, einzudringen in die übersinnlichen Welten. Nicht alle Völker schritten sovor, daß sie Weise hatten, die sich bis zu Joga aufschwingen konnten. Andere Völkermußten sich mit den Erinnerungen begnügen, so besonders die Völker des Nordens. IhreEingeweihten drangen auch ein in die geistigen Welten, hatten auch unmittelbareErfahrungen in der göttlichen Welt, aber die nordische Natur machte es ihnen schwer, ingrößerer Zahl einzudringen. Dadurch bildete sich die nordische Mythologie aus. [40]

Eines aber werden wir wie etwas Gemeinsames finden, was sich die Menschen nocherhalten haben in jener nachatlantischen Zeit: das ist ein Nachklang jener viel weiterausgebildeten Gedächtniskraft, wie sie in der atlantischen Zeit vorhanden war. Damalswar das Gedächtnis ganz anders entwickelt als heute. Die Menschen erinnerten sichweiter hinauf, bis zum Leben ferner Ahnen. Was vor Jahrhunderten ein solcher Ahnedurchgemacht hatte, das wußten sie, wie ein Greis heute weiß, was er in der Jugenderlebt hatte. Solche Erinnerungen an die Ahnen prägten das aus, was man dieAhnenreligion, den Ahnenkult nennen kann. Ahnenkult, Verehrung der Vorfahren ist inWahrheit die erste Religion. Das Gedächtnis hatte sich in gewisser Art lebendig erhalten.Diese Regsamkeit des Gedächtnisses war so groß, daß in der Tat für einzelne Menschen,wenn sie sich auch nicht bis zu Joga aufschwingen konnten, doch ein spiritueller Zustandeintreten konnte, daß ihnen im Traume oder in psychischen Zuständen der gemeinsameAhnherr eines Volkes erschien.

Das war nicht bloß Sage, Mythe, was so ein alter Stamm als gemeinschaftlichenAhnherrn lebendig hatte, sondern es war etwas, was von Zeit zu Zeit dem Menschenerschien, was im psychischen Bewußtsein erschien, was das Volk begleitete. Dieeinzelnen Völkerschaften, welche durch Europa strömten, hatten die mannigfaltigstenErlebnisse. Aber ein Erlebnis blieb für viele immer rege und lebendig, und sie erzähltenes denen, die in sie Vertrauen hatten, die an sie glaubten: das war das Erscheinen desAhnherrn, der vom Geistgebiet aus ihr Berater war, mit ihnen in Beziehung stand. Erkam in besonders wichtigen Momenten, war da in zweifelhaften Fällen. Der Ahnenkultuswar etwas, was durch die physischen Eigenschaften der Vorfahren durchaus lebendigwar.

Mehr und mehr bildete sich dieser Ahnenkultus zu einer Art Religionssystem aus,welches zwar von gewissen Eingeweihten ausgearbeitet worden war, aber doch auch fürviele Nichteingeweihte annehmbar war. In verschiedenen Gebieten trat ein solchesReligionssystem auf, zum Beispiel im alten indischen Brahmanismus. [41] Die letztenNachklänge davon finden wir in der Vedantaphilosophie; aber auch in den ältestenphilosophischen Systemen finden wir letzte Nachklänge dieses alten Pantheismus. Eswar eine Art esoterischer Pantheismus, wie wir ihn eben im alten Brahmanismus vor unshaben. Er kommt auch schon zum Vorschein in dem eigentlichen System der Ägypter,auch bei den Hebräern. In Wirklichkeit können wir uns vorstellen, daß dieses religiöseSystem dadurch entstanden ist, daß sich allmählich eine umfassendere Idee von dergöttlichen Wesenheit, die alles durchflutete und durchströmte, herausbildete.

Page 28: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

28

Der Ahnherr war zusammengewachsen mit den geistigen Grundlagen des Daseins, erwar zu einer Art geistiger Urkraft geworden.

Dann haben wir in dem, was wir Anthropomorphismus nennen können, eine spezielleAusgestaltung des esoterischen Pantheismus. Er stellt sich die verschiedenen Götter inmenschenähnlichen Bildern vor. Hierher gehört zum Beispiel das griechischeReligionssystem. Aber man stellt es sich ganz falsch vor, wenn man denkt, daß hinterden einzelnen Göttern für den gebildeten Griechen nicht waltete die einheitliche geistigeWelt. Wenn wir reden von Engeln, Erzengeln und so weiter, überhaupt von denverschiedenen geistigen Wesenheiten, die über dem Menschen stehen, wie wir das getanhaben in der kosmischen Evolutionslehre, so reden wir in ganz ähnlicher Weise, wie esdamals geschah, wenn man sprach von Zeus, Athene und so weiter im Vergleich zu demalleinigen Weltengeist. Ein einheitlicher Weltgedanke liegt diesem System zugrunde.Der Pantheismus ist der geistige Untergrund der Dinge; dann werden die Götter alsMenschen ausgestaltet.

Und wenn wir uns fragen: Womit hängt zusammen, daß der noch viel abstraktereesoterische Pantheismus überging in die vielgestaltige griechische Götterwelt? – somüssen wir darin erkennen ein tiefes Grundbedürfnis der Menschheit überhaupt, eintiefes Prinzip in der Menschheitsentwicklung. Wenn wir den Übergang vom Ägyptischenzum Griechischen betrachten, so haben wir das Ausleben dieses Prinzips am schönstenvor Augen. Im ganzen Vorstellen vor der griechischen Zeit liegt etwas besondersGewaltiges, Symbolisches. [42] Die ägyptischen Pyramiden und Sphinxe sind großartige,gewaltige Schöpfungen des Menschengeistes, die in einer etwas abstrakten Formhindeuten auf einen geistigen Urgrund, den man noch nicht wagt, auszubilden. Wie hatder griechische Geist die Fähigkeit bewiesen, das Geistige hineinzuprägen in diebildliche Form! Es liegt darin ein ungeheurer Fortschritt, der sich überall verfolgen läßt.Am reinsten finden Sie diesen Übergang ausgedrückt, wenn Sie im Geiste den Übergangvon der morgenländischen zur griechischen Baukunst verfolgen, wenn wir denarchitektonischen Gedanken in seiner Reinheit erfassen. Der architektonische Gedankekommt während der ganzen Menschheitsentwicklung in der griechischen Architektur ambesten zum Ausdruck. Nirgends finden wir ein solches restloses Ausfließen desGedankens in die äußere Form wie in der griechischen Architektur. Wir sehen, wie allesso hineingestellt ist in den Raum, wie es den großen kosmischen Gesetzen entspricht.

Es ist ja vielleicht nur noch einmal in der Entwicklung der Menschheit geschehen, daßarchitektonische Gedanken geschaffen wurden: das ist der Gedanke der gotischenArchitektur. Und wenn wir den gotischen Gedanken in Gegensatz bringen zu demgriechischen architektonischen Gedanken, so müssen wir sagen: In der Gotik haben wires eigentlich gar nicht mehr mit einer reinen Architektur zu tun, sondern mit einer in denFormen nur andeutungsweise vorhandenen Ausprägung des in das Gefühlhineindrängenden mystischen Elementes. Die Gotik ist nicht die restlose Ausprägungdieses Gedankens. Der griechische Tempel dagegen ist das Wohnhaus des Gottes undganz als solches zu verstehen. Denn man denke sich den Gott schöpferisch im Raume,seine Kräfte den Raum durchflutend, wie er sich gleichsam selbst einen Körper bildet,wie er sich ein Kleid webt, so haben wir den griechischen Tempel.

Page 29: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

29

Und wir wissen, wenn wir ihn vor uns stehen haben: das ist das Wohnhaus des Gottes.Der gotische Dom ist das nicht; er ist ein Bethaus. Er kann nicht gedacht werden ohneden Besucher, der darin ist, für den er stimmungsvoll erbaut ist. Denken Sie sich dengriechischen Tempel ganz für sich hingestellt, nur belebt vom Gott, so haben wir ihnganz. Das ist nicht symbolisch aufzufassen oder auszudeuten. Zum gotischen Tempelgehört der andächtige Gläubige. [43] Und wer den Raum nicht als Leere versteht,sondern durchzogen von Kräften, wer da weiß, daß sich im Raume Kräfte kristallisierenund wer diese Kräfte spürt, der fühlt, daß sich im griechischen Tempel etwasherauskristallisiert hat aus den dynamischen Kräften der Welt. Wer ein Gefühl dafür hat,so stark, daß er diese Wesenheiten wahrnehmen kann, der weiß, daß durch den RaumKräfte schießen. Von der Belebtheit des Raumes wußten die Griechen. Man kann ambesten sich davon überzeugen, wie das Denken, das Fühlen, das Wollen konkretgeworden ist, wenn man mit der griechischen die romanische Baukunst vergleicht, beider wir vielfach sehen, wie die Säule zum Beispiel aus ihrer Raumesaufgabe als Trägerherausgehoben ist. Die romanische Baukunst ist auch groß, hat aber viel Dekoratives,unter anderem eben diese Säulen, für die keine tiefere Motivierung da ist. Es fehlt aberder Sinn dafür, es fehlt der Raumessinn. Die Säule ist da, doch erfüllt sie ihren Zwecknicht. Das alles hängt zusammen mit den Entwickelungsstufen des menschlichen Geistes.Nur durch diesen Anthropomorphismus konnte die Menschheit vorbereitet werden zurAuffassung des Gottmenschen, zur Auffassung des in dem Menschen selbst wohnendenGottes. Das aber ist das Christentum, das vom Okkultismus auch Theomorphismusgenannt wird.

Im Christentum fließen alle verschiedenen Göttergestalten zusammen in der einenlebendigen Gestalt des Christus Jesus. Dazu war nötig eine große, gewaltige Vertiefungder Menschheit, eine Vertiefung, welche die Menschheit fähig machte, nicht nur dielebendige Form des Raumes zu denken, wie es in der griechischen Plastik zum Ausdruckkommt, sondern die sich aufschwingen konnte zu dem Gedanken, die Innerlichkeitäußerlich zu sehen, zu dem Glauben, daß das Ewige in einer historischen Gestaltwirklich auf Erden im Räumlich-Zeitlichen gelebt hat. Das ist das Wesentliche imChristentum. Diese Idee bedeutete den größten Fortschritt, den die Menschheit auf Erdenmachen konnte. [44]

Wir brauchen nur zu vergleichen – und wir dürfen diesen Vergleich machen – dengriechischen Tempel, der ein Wohnhaus des Gottes ist, mit dem, was später diechristliche Kirche wird, wie sie am reinsten sich in der Gotik ausprägt, so werden wirsehen, daß in den äußeren Formen sogar ein Rückschritt eintreten muß, wenn man dasEwige im Zeitlichen, Räumlichen dargestellt haben will. Und dasjenige, was eine spätereKunst dadurch erreicht, daß sie das Innere im Äußeren zum Ausdruck bringt, das stehtdurchaus unter dem Eindruck der christlichen Geistesströmung. Im Grunde genommenmuß man sagen, daß man es begreifen kann, daß die Architektur am schönsten werdenkonnte da, wo man noch hängen konnte mit ganzer Seele an den äußeren Kräften, diedurch den Raum fluten.

So sehen wir, wie der religiöse Gedanke sich immer mehr vertieft in dernachatlantischen Zeit, wie die Menschen ihre Hinweise suchen für das Übersinnliche.

Page 30: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

30

Nicht schwer wird es werden in allem, was hier gesagt ist, Hinweise zu sehen für dieSehnsucht der Menschen, einzudringen in die äußere Form, in die äußere Formirgendwie das Übersinnliche zu bannen. Darauf hin zielen die allerursprünglichstenUrgründe der Kunst. Mit dem Christentum haben wir sozusagen unsere Zeit erreicht. Ausdiesem jetzt angeführten, im Zusammenhang mit verschiedenem anderen, was über dieEntwicklung der nachatlantischen Zeit gesagt ist, werden Sie erkennen, daß der Gang derMenschheit immer mehr und mehr nach der Verinnerlichung hinstrebt. Es gibt auch inden verschiedenen Rassen ein immer größeres Bewußtsein von der Verinnerlichung imÄußeren.

Wir möchten sagen, in den griechischen Götterbildern sehen wir, wie das, was in demMenschen innerlich lebt, sich herausergießt in die äußere Welt. Im Christentum ist derwichtigste Impuls nach dieser Richtung gegeben. Wir sehen mit dem Christentumdasjenige heraufkommen, was man bis in unsere Zeit Wissenschaft nennt. Denn das, wasman heute die Erfassung der gedanklichen Urgründe des Daseins nennt, fängt ja erst inder chaldäischen Zeit an. Jetzt, in unserer Zeit, leben wir wirklich in einem großenUmschwung in der Menschheitsentwicklung.

Überblicken wir nun das, was wir skizzenhaft betrachtet haben und fragen wir uns:[45] Warum ist das alles so geschehen, warum hat sich der Mensch dazu entwickelt, dasInnere dem Äußeren einzuprägen? – so ist die Antwort diese, daß der Mensch durch dieEntwicklung seiner Organisation dazu gedrängt worden ist. Die alten Atlantier konntenWahrnehmungen machen in der übersinnlichen Welt, weil bei ihnen der Ätherleib nochnicht ganz hineingezogen war in den physischen Leib. Ein Punkt des Ätherkopfes decktesich noch nicht mit dem entsprechenden Punkt im physischen Kopfe. In dem völligenDurchdringen des Ätherleibes mit dem physischen Leib ist der Grund gegeben dafür, daßder Mensch jetzt mehr hinausgedrängt wird in die äußere Welt.

Als die Pforten sich vor der übersinnlichen Welt schlossen, brauchte der Mensch inseiner künstlerischen Entwickelung ein Band, eine Verbindung der sinnlichen mit derübersinnlichen Welt. Früher, in der atlantischen Zeit, brauchte er das nicht, denn damalswar er noch imstande, aus unmittelbarer Erfahrung die übersinnliche Weltkennenzulernen. Von den Göttern und Geistern brauchte man den Menschen erst zuerzählen, als sie die Wahrnehmung dafür verloren hatten, gerade wie man von Pflanzennur denjenigen Menschen erzählen muß, die sie nie gesehen haben. Das ist der Grund derreligiösen Entwicklung der nachatlantischen Zeit. Warum mußte denn ein Wesenübersinnlicher Art wie Christus in einer endlichen Persönlichkeit, in Jesus erscheinenund auf Erden wandeln? Warum mußten die Blicke der Menschen gebannt werden aufdiese Gestalt? Warum mußte Christus eine historische Persönlichkeit werden? Wir habengesagt, daß die Menschen nicht mehr hineinschauen konnten in die übersinnliche Welt.Was mußte geschehen, daß der Gott für sie eine Erfahrung werden konnte? Er mußtesinnlich werden, in einem sinnlich-physischen Leibe sich verkörpern. Das ist dieAntwort auf die Frage. Solange die Menschen im Geistigen wahrnehmen konnten,solange sie dort in übersinnlicher Erfahrung die Götter wahrnehmen konnten, hätte keinGott Mensch zu werden brauchen.

Page 31: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

31

Aber jetzt mußte der Gott da sein innerhalb der sinnlichen Welt. Aus diesen Gefühlenheraus sind die Worte der Jünger (8) geflossen zur Bekräftigung dieser Tatsache: [46]

«Wir haben unsere Hände in seine Wunden gelegt ...», und ähnliche. So sehen wir, wiedie Erscheinung des Christus Jesus selbst uns aus der Natur der nachatlantischenMenschen klar wird, wie wir erkennen, warum eigentlich Christus für die sinnlicheWahrnehmung sich offenbaren mußte. Die stärkste historische Tatsache mußte für dieMenschen da sein. Das geistige Selbst mußte auf sinnliche Art da sein, damit dieMenschen einen Anhaltspunkt hatten, der sie verbinden könnte mit der übersinnlichenWelt.

Die bloße Wissenschaft artete immer mehr aus in eine Verehrung, eine Anbetung deräußeren Welt. Darin haben wir heute einen Höhepunkt erreicht. Das Christentum war einestarke Stütze gegen dieses Aufgehen im Sinnlichen. Heute muß das Christentum erfaßtwerden in theosophischer Vertiefung, um in neuem Verständnis vor die Menschenhintreten zu können. Früher, im Mittelalter, gab es noch eine Verbindung zwischenWissenschaft und Christentum. Heute brauchen wir eine übersinnliche Vertiefung desWissens, der Weisheit selber, um das Christentum in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Sostehen wir vor einer, geistigen Auffassung des Christentums. Das ist die nächste Stufe: dastheosophische oder geisteswissenschaftliche Christentum. Dagegen wird die auf dasMaterielle gehende Wissenschaft den Zusammenhang mit den übersinnlichen Weltenmehr und mehr verlieren.

Welches ist nun die Aufgabe der Geisteswissenschaft? Kann der den Geist suchendeMensch hinblicken auf die heutige übliche Wissenschaft? Das, was die heute üblicheWissenschaft ist, das ist gerade das, was immer mehr den Gang der nachatlantischenEntwickelung einschlagen wird und immer mehr nur auf das Äußere, Physische,Materielle hingehen wird, immer mehr den Zusammenhang mit der geistigen Weltverlieren wird. Verfolgen Sie, welche Wissenschaft es auch sein mag, zurück in frühereZeiten: Wie viele geistige Elemente waren doch früher darin! [47]

Sie werden überall sehen, in der Medizin und auf anderen Gebieten, wie der geistigeZusammenhang immer mehr verschwunden ist. Das können Sie überall verfolgen. Unddieser Gang muß so sein, denn der Gang der nachatlantischen Zeit ist so, daß jenerursprüngliche Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt immer mehr verlorengehenmuß. Wir können heute den Gang der Wissenschaft voraussagen. Die äußere Wissenschaftwird nicht, wieviel auch Versuche gemacht werden, einer spirituellen Vertiefung fähigsein. Sie wird immer mehr in dasjenige übergehen, was eine höhere Anleitung zutechnischen Handfertigkeiten ist, ein Mittel zur Beherrschung der äußeren Welt.Mathematik war für den Pythagoreer noch ein Mittel, in den Zusammenhang der höherenWelten, in die Weltenharmonie hineinzusehen; für den heutigen Menschen ist sie einMittel, die Technik weiter auszugestalten und damit die äußere Welt zu beherrschen.Verweltlicht, unphilosophisch gemacht – das wird der Gang der äußeren Wissenschaftsein. Aus der spirituellen Entwicklung werden sich alle Menschen ihre Impulse zu holenhaben.

Page 32: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

32

Und diese spirituelle Entwicklung schlägt den Gang zum spirituellen Christentum ein. DieGeisteswissenschaft wird dasjenige sein, was die Impulse für jedes geistige Leben zugeben imstande ist.

Es wird ja die Wissenschaft immer mehr technische Anleitung. Und dasUniversitätsleben gleitet immer mehr in das Fachschulleben hinüber und das ist dasRichtige. Alles Geistige wird sich zu einem freien Menschengut entwickeln, das aus derWissenschaft heraus muß. Die Wissenschaft wird dann in einem ganz anderenZusammenhange, in einer ganz anderen Form wieder auftreten. Da ist es für die heutigeMenschheit notwendig, daß das Wiederanknüpfen an die großen Erfahrungen derübersinnlichen Welten geschehe. Daß es notwendig ist, können Sie sehen, wenn Sie sichklarmachen, was werden wird, wenn das nicht geschieht. Der Ätherkopf ist jetzt in denMenschen eingezogen. Das Verknüpftsein des Ätherleibes mit dem physischen Leibe,das steht heute im Höhepunkt der Entwicklung. Deshalb ist niemals der Prozentsatz derMenschen, die übersinnliche Erfahrungen machen könnten, geringer gewesen. Aber derGang der Entwicklung der Menschheit bewegt sich so vorwärts, daß einWiederheraustreten des Ätherleibes ganz von selbst wieder eintritt. [48]

Und das hat jetzt schon angefangen. Wieder tritt der Ätherleib heraus, er wird wiederselbständiger, freier und wird in der Zukunft wieder so außerhalb des physischen Leibessein wie in früher Vorzeit. Die Lockerung des Ätherleibes muß wieder eintreten, und dashat schon jetzt angefangen. Nun muß aber der Mensch in seinem heraustretendenÄtherleib das mitnehmen, was er im physischen Leibe erlebt hat, besonders dasphysische Ereignis von Golgatha, das er physisch, das heißt in einem Erdendaseinerleben muß. Sonst geht ihm etwas unwiederbringlich verloren: Der Ätherleib zöge sichheraus, ohne daß er etwas Wesentliches mitnimmt, und leer im Ätherleib würden solcheMenschen bleiben. Aber diejenigen, welche das spirituelle Christentum durcherlebthaben, werden im Ätherleib in Fülle das haben, was sie im physischen Leibedurchgemacht haben.

Am größten ist die Gefahr bei denjenigen, die durch wissenschaftliche Verführungsich von den spirituellen Wahrheiten abgewandt haben. Aber der Anfang desHeraustretens des Ätherleibes ist schon gemacht. Die Nervosität unserer Zeit ist einZeichen dafür. Diese wird immer mehr zunehmen, wenn der Mensch das nicht mithinausnimmt, was das größte Ereignis im physischen Leibe ist. Dazu hat er zwar nochviel Zeit, denn für die große Masse dauert es noch lange, aber einzelne kommen jetztschon dazu. Würde es aber einen Menschen geben, der niemals das im Physischendurchgemacht hat, was das größte Ereignis in der physischen Welt ist, der niemals dieTiefe des Christentums erlebt und seinem Ätherleibe einverleibt hat, so würde ihm dasbevorstehen, was man den geistigen Tod nennt. Denn die Leere des Ätherleibes wird dengeistigen Tod zur Folge haben.

Page 33: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

33

Der atlantische hellsehende Mensch brauchte keine Religion, weil ihm das Erleben desÜbersinnlichen Tatsache war. Von einer solchen Zeit ging alle Entwicklung derMenschen aus. Dann schwand die Anschauung der geistigen Welt. Religere heißtverknüpfen, und so ist Religion eine Verknüpfung des Sinnlichen mit demÜbersinnlichen. Die Zeit des heraufziehenden Materialismus brauchte die Religion. [49]Aber es wird die Zeit kommen, in der die Menschen wiederum Erfahrungen in derübersinnlichen Welt haben können. Dann werden sie keine Religion mehr brauchen. Dasneue Schauen hat zur Voraussetzung das Mitbringen des spirituellen Christentums; eswird die Konsequenz des Christentums sein. Das begründet den Satz, den ich Sie bitte,sich als besonders wichtig zu merken: Das Christentum hat begonnen als Religion, aberes ist größer als alle Religionen.

Das, was das Christentum gibt, wird mitgenommen werden in alle Zeiten der Zukunftund wird noch einer der wichtigsten Impulse der Menschheit sein, wenn es keineReligion mehr geben wird. Selbst wenn die Menschen das religiöse Leben überwundenhaben werden, wird das Christentum doch bleiben. Daß es erst Religion war, hängt mitder Entwicklung der Menschheit zusammen; aber das Christentum ist als Weltauffassunggrößer als alle Religionen.

[50]

Page 34: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

34

Drei Wege der Seele zu Christus (I):Der Weg durch die Evangelien – Der Weg der inneren Erfahrung

Wir werden an diesen zwei intimeren Abenden zu sprechen haben über eine Frage, übereine Angelegenheit der Menschheit, welche in einer zweifachen Beziehung ganzaußerordentlich tief in unsere Seelen eingreift. Einmal darum, weil die Christus-Frage jaeine solche ist, welche nun schon zwei Jahrtausende hindurch nicht etwa bloß zahlreicheSeelen auf Erden beschäftigt hat, sondern aus welcher für zahlreiche Erdenseelen geistigesLebensblut geflossen ist, seelische Kraft, Trost und Hoffnung im Leiden, Stärke undSicherheit im Handeln. Und nicht allein das, sondern wenn wir in Betracht ziehen allesdasjenige, was wir an äußerer, exoterischer Kultur um uns herum haben, was geschaffenhaben viele Jahrhunderte, dann sehen wir bei tieferer Erkenntnis, daß alles das unmöglichgewesen wäre, wenn der Christus-Impuls nicht einen großen Teil der Menschheit ergriffenhätte. Dies ist die eine Überlegung, die uns zeigt, welch starkes Interesse die Christusfragebieten muß, wenn wir uns nun mit den Erkenntnissen der Anthroposophie der Christus-Frage nahen. Dies ist nur die eine Seite des Interesses, das wir diesem Problementgegenbringen; die andere Seite des Interesses kommt aus den besonderen seelischenund geistigen Verhältnissen gerade unserer Zeit, unserer Epoche. Wir brauchen nurherumzuschauen in der Welt und verstehen wollen die Sehnsuchten, das Suchen dermenschlichen Seele, und wir werden uns sagen können: [51] Immer mehr suchen diemenschlichen Seelen nach etwas, was mit dem Namen des Christus verbunden worden istdurch die Jahrhunderte hindurch, und immer mehr kommen die Seelen zu derÜberzeugung, daß Erneuerung der Wege, Erneuerung des Interesses, Vertiefung derErkenntnisse nötig sei, wenn die Bedürfnisse der menschlichen Seelen, so wie sie stetsmehr kommen werden in bezug auf den Christus, befriedigt werden sollen. Finden wir aufder einen Seite ein Lechzen nach Aufschlüssen über den Christus, so finden wir auf deranderen Seite bei zahlreichen Seelen der Gegenwart Bedenklichkeit und Unsicherheit inbezug auf die bisherigen Mittel. Und so ist denn gerade diese Frage, wegen der Sehnsucht,eine Antwort haben zu müssen und wegen der Unsicherheit, die Wahrheit zu erfahren,eine der brennendsten in der Gegenwart.

Selbstverständlich ist es daher, daß eine geistige Bewegung, die tiefer in diespirituellen Grundlagen eindringt, die Aufgabe hat, über diese Frage Klarheit zuschaffen. Stehen heute die Dinge so, in verhältnismäßig kurzer Zeit, wahrhaftig in rechtkurzer Zeit werden sie noch ganz anders stehen! Wenn wir ein wenig unegoistisch aufdasjenige sehen, was in bezug auf den Christus die Menschen bedürfen werden, dieNachkommen unserer Zeit sind, dann werden wir uns sagen müssen: Wenn auch vieleMenschen der Gegenwart aus dem, was da ist, Befriedigung schöpfen, so werden dochimmer mehr die Seelen sich unsicher fühlen, und immer mehr werden sie lechzen nachAufschlüssen. So sprechen wir, wenn wir von dem Christus heute sprechen, von dem,wovon wir voraussehen, daß es notwendig für die Menschen einer ganz nahen Zukunftsein wird.

Page 35: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

35

Anthroposophie würde ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie sich nicht in die Lageversetzen würde, mit ihren Erkenntnissen über diese Punkte Klarheit zu schaffen,insoweit das heute möglich ist.

Mein Ausgangspunkt soll sein, hinzuweisen auf die drei Wege, auf denen nach demGange der Menschheitsentwicklung die Seele zum Christus gelangen kann. Wenn manvon den drei Wegen spricht, muß man auch kurz hinweisen auf den ersten Weg, derheute kein Weg mehr ist, es aber war; der heute kein exoterischer Weg sein muß, so wiegerade in unserer Zeit der anthroposophische Weg es ist, der aber ein Weg war fürMillionen von Seelen durch die Jahrhunderte hindurch. Dieser erste Weg ist der durchdie sogenannten christlichen Urkunden, durch die Evangelien. [52] Dieser Weg war fürMillionen und aber Millionen von Menschen und ist noch heute für unzählige Menschender einzig mögliche. Der zweite Weg, auf dem die Menschenseele den Christus suchenkann, ist der, den man den Weg durch innere Erfahrung nennen kann, den vorzugsweisezahlreiche Seelen in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft aus ihrer besonderenBeschaffenheit und ihren besonderen Eigenschaften heraus gehen müssen. Der dritteWeg ist der, welcher wenigstens begonnen werden kann verstanden zu werden in unsererZeit von der anthroposophischen Bewegung aus, der Weg durch die Initiation. – So gibtes also drei Wege zum Christus: erstens den Weg durch die Evangelien, zweitens denWeg durch die innere Erfahrung und drittens den Weg durch die Initiation.

Der erste Weg, der durch die Evangelien, braucht hier zunächst nur kurzcharakterisiert zu werden. Wir wissen ja alle, daß die Evangelien im Laufe derJahrhunderte die Herzens- und Seelennahrung für unzählige Menschen geworden sind.Wir wissen auch, wie die aufgeklärtesten, die kritischsten Naturen – und das sind nichtdie irreligiösen – beginnen, kein Verhältnis mehr zu haben zu diesem Weg, weil geltendgemacht wird, daß heute aus einem äußeren Wissen nicht zu erkennen sei, welchehistorischen Tatsachen eigentlich hinter dem stehen, was die Evangelien erzählen.Würden die Menschen der vergangenen Jahrhunderte die Evangelien gelesen haben, wiesie heute etwa ein Gelehrter liest, ein Mensch, der durch die heutigenaturwissenschaftliche Bildung gegangen ist, es würden die Evangelien nicht diegewaltige Wirkung haben ausüben können, die Lebenswirkung, die von ihnenausgegangen ist. Nun, wenn die Evangelien nicht so, wie der heutige gebildete Menschsie liest, in den verflossenen Jahrhunderten gelesen worden sind, wie sind sie danngelesen worden? – Nachzudenken von vorneherein, was sich zugetragen habe inPalästina im Anfange unserer Zeitrechnung, daran haben die Evangelienleser in früherenJahrhunderten nicht gedacht, und daran denken auch jetzt noch zahlreicheEvangelienleser nicht. Diejenigen, die beginnen in den Evangelien zu prüfen, was sichvor den Augen der Bewohner von Palästina im Anfange unserer Zeitrechnung zugetragenhabe, werden irre an dem historischen Charakter der Ereignisse von Palästina. [53] Sohaben die Menschen der vorigen Jahrhunderte nicht gelesen. So haben sie gelesen, daß siewirken ließen auf ihre Seelen ein Bild, wie zum Beispiele die Samariterin am Brunnen,oder Christus seinen Jüngern die Bergpredigt haltend. An die Frage nach der äußerenphysischen Realität dachten die Evangelienleser von vorneherein nicht.

Page 36: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

36

Wie ihnen das Herz aufging, wie die Empfindungen bei diesen großen, gewaltigen Bildernspielten, das war diesen Menschen die Hauptsache. Dann war ferner die Hauptsache, wasim Herzen sich bildete, was sie an Kraft, an Lebenssinn aus diesen Bildern gewannen. Siefühlten, daß ihnen geistiges Lebensblut, Stärke zufloß aus diesen Bildern. Wenn sie dieseBilder auf ihre Seelen wirken ließen, dann fühlten sie sich stark; sie fühlten, daß sieschwach sein müßten ohne diese Bilder. Und dann fühlten sie lebendige, persönlicheBeziehungen zu dem, was in den Evangelien erzählt wird, dann fiel ihnen die Frage nachder historischen Realität nicht weiter auf. Realität waren die Evangelien selber, sie warenals Kraft da, man brauchte nicht zu fragen, woher sie kamen; man wußte, daß Leute siegeschrieben haben nicht mit irdischen Mitteln, sondern mit Impulsen aus den geistigenWelten. Ich behaupte nicht, daß man nun heute auch so fühlen muß – was man muß, hängtab von der Entwickelung der Menschheit –, sondern ich behaupte, daß das Fühlen derMenschen so war durch die Jahrhunderte hindurch.

Warum konnte es so sein? Nun, darüber unterrichtet uns erst jetzt dieGeisteswissenschaft. Wenn wir beginnen, die Evangelien geisteswissenschaftlich zuverstehen und versuchen einzudringen in das, was herunterfließend aus geistigen Weltenin den Evangelien enthalten ist, so stehen wir so vor den Evangelien, daß wir sagen: Wirerkennen aus den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen heraus, ganz unabhängig vondiesen Evangelien, dasjenige, was geschehen ist in der Menschheitsentwicklung mit demChristus-Impuls, und finden dann das, was in den Evangelien enthalten ist, unabhängigvon ihnen. Wie fassen wir daher geisteswissenschaftlich die Evangelien? [54]

Wenn ich einen einfachen Vergleich gebrauchen darf, so könnte ich sagen: Nehmen wiran, ein Mensch habe sich Aufklärung über eine Sache verschafft. Mit dieser Aufklärungbegegnet er einem zweiten Menschen und beginnt mit diesem zu sprechen. Er willzunächst gar nicht voraussetzen, daß der andere etwas davon weiß, wovon er sichAufklärung verschafft hat; aus dem Gespräch merkt er aber: der weiß das ebensogut wieich. Was ist dann vernünftig, anzunehmen? Das Vernünftige ist, anzunehmen, daß derandere sich aus denselben oder ähnlichen Quellen Aufklärung verschafft hat. So geht esauch mit den Evangelien. Wir können das tun, von welchem Standpunkte wir auch immeran die Evangelien herankommen. Es könnte eine Gesellschaft begründet werden vonMenschen, die in der geschilderten Art Leser der Evangelien sind. Dann könnten in einersolchen Gesellschaft auch solche sein, die von vorneherein Gegner der Evangelien sindund die sagen: Prüfen wir diese Evangelien nach den Methoden der äußeren Wissenschaft,so finden wir, daß diese Evangelien viel später geschrieben sind als die Ereignisse vonPalästina geschehen sein können. Die Berichte widersprechen einander, kurz, dieseEvangelien können nicht als historische Urkunden gelten. – Solche Menschen könntenauch in einer solchen Gesellschaft sein, und man könnte doch sagen. Gut, lassen wir dieEvangelien zunächst in Ruhe, aber forschen wir in den übersinnlichen Welten! –

Page 37: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

37

Und treiben wir wahrhafte Geistesforschung, gewinnen wir wahrhafte übersinnlicheErkenntnisse, so würden wir finden können, daß im Laufe der Menschheitsentwickelungeinmal ein gewaltiger Impuls eingetreten ist, der aus den geistigen Welten heraus alsImpuls in die Menschheitsentwickelung eingeschlagen hat, von dem Ungeheuresausgegangen ist für die Menschheitsentwickelung. Und dann würden wir sehen, daß dieserImpuls zunächst ergriffen hat einen besonders dazu geeigneten Menschen im Beginneunserer Zeitrechnung. Dies alles und viele andere Erkenntnisse, die sich angliedern andiese Erkenntnis und die wir nur aus übersinnlicher Forschung schöpfen, wir würden siehaben und es könnten sie diejenigen, die von den Evangelien nichts wissen wollen, ebensowie die anderen haben. Dann kann man an die Evangelien herangehen und sagen: [55]Nun gut, wir haben uns zunächst gar nicht bekümmert um diese Evangelien; merkwürdig,wenn wir sie vorsichtig lesen, dann sehen wir, daß darinnen ist, was wir unabhängig vonihnen auf geisteswissenschaftlichem Felde finden. Jetzt erkennen wir ihren Wert vonganz anderer Seite her. Dann sind wir uns klar darüber, daß das nicht anders sein kann,daß diejenigen, die die Evangelien geschrieben haben, aus derselben Quelle schöpfen,die sich nun durch die spirituelle Bewegung für die Menschheit öffnet. Das ist geradedasjenige, vor dem wir stehen, das immer mehr kommen wird, was sich Geltungverschaffen wird für die Schätzung der Evangelienurkunden. Wenn das so ist, so müssenwir sagen: Die Menschen werden auf anderen Wegen das finden können, was aus diesenUrkunden erkannt werden kann. Und so beginnen uns diese Erkenntnisse mehr und mehrheilig zu werden durch die spirituellen Erkenntnisse der Gegenwart. Sie wirkten schondurch die Kraft der Evangelien. Weil die Evangelien durchtränkt sind mit den heiligstenErkenntnissen, den geistigsten Impulsen der Menschheit, darum wirkten sie auch da, woman sie naiv hinnahm. Geistige Erkenntnisse wirken nicht nur abstrakt, nicht nur in derTheorie, sondern da, wo sie sind, wirken sie als Lebenskraft, als seelisches Lebensblut.Und mehr und mehr wird man erkennen, wie Trost und Kraft und Sicherheit aus diesenErkenntnissen fließen.

Wenn wir dagegen von dem inneren Wege zum Christus sprechen, dann begegnen wirimmer mehr Dingen, welche erst in der Gegenwart verstanden und empfunden werdenkönnen, wenn man mit richtigem geisteswissenschaftlichem Verständnis an sie herantritt.Es soll versucht werden, von der inneren Christus-Erfahrung so zu sprechen, daß mansehen kann, wie sie in jedem Menschen, von irgendeiner Überlieferung unabhängig, sicheinstellen kann. Allerdings müssen wir dazu die menschliche Wesenheit mit denErkenntnissen betrachten, die wir durch Geisteswissenschaft gefunden haben. Wenn wiruns vertiefen in diese Erkenntnisse, dann finden wir, daß auch die elementarstenErkenntnisse fruchtbar werden, wenn wir sie anwenden auf das Leben. [56] Es zeigt sichuns, daß man herauskommt aus der abstrakten Schematik über die sieben Glieder desMenschen, wenn man das Werden und Entstehen des Menschen ins Auge faßt. Derphysische Menschenleib hat seine besondere Entwicklung in den ersten siebenLebensjahren. Wir merken ferner, daß in den zweiten sieben Lebensjahren, vomZahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, im Menschenwesen die Kräfte des ätherischenLeibes spielen.

Page 38: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

38

Dann beginnen im Menschen die Kräfte des astralischen Leibes zu spielen, und dannerst, um das zwanzigste oder einundzwanzigste Jahr, beginnt– je nachdem, wie seineganze Organisation ist und je nachdem, wie die Kräfte in ihm sind – dasjenige imMenschen, was auftritt als Ich, als Träger des Ich mit der Kraft, die es eigentlich hatdurch seine Organisation für das gesamte Leben des Menschen – als Träger des Ich. Eswird eigentlich in unserer heutigen Zeit noch nicht viel bemerkt, daß der Träger des Icherst recht lebensfähig wird im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahre, weil dieGegenwart noch nicht geneigt ist, auf diese Dinge zu achten.

Was heißt das, daß der Träger des Ich erst recht regsam wird im zwanzigsten odereinundzwanzigsten Jahre? Da muß man mit den Mitteln des Okkultismus den werdendenMenschen betrachten und seine tieferen Organisationskräfte schauen. SeineOrganisationskräfte ändern sich fortwährend: Von der Geburt bis zum siebenten Jahre,vom siebenten Jahre bis zur Geschlechtsreife, von der Geschlechtsreife bis zur Ich-Entwickelung. Sie ändern sich aber so, daß man sie nicht mit den Mitteln dergewöhnlichen Physiologie oder Anatomie prüfen kann. Wohl aber kann man sie mit denMitteln des Okkultismus erkennen und man kann sagen: Erst um das zwanzigste Jahrherum entwickelt der Mensch die Kräfte so, daß ein vollständig sich selber angemessenerIch-Träger da ist. Vorher ist dieser Ich-Träger noch nicht ausgebildet. Vorher ist diemenschliche Leiblichkeit, auch die übersinnliche, noch kein richtiger Ich-Träger. Wennwir also die Glieder des Menschen betrachten aus dem großen Weltenprinzipe heraus, somüssen wir sagen: So richtig reif, ein Ich zu entwickeln aus sich selber heraus, wird derMensch durch die Eigentümlichkeit seiner Organisation erst im zwanzigsten undeinundzwanzigsten Jahre, nicht früher. [57]

Dieser Tatsache können wir eine andere entgegensetzen, nämlich die, daß wir in denersten Lebensjahren, bei normalem Bewußtsein, uns förmlich ins Leben hineinträumen,hineinschlafen, und daß erst von einem bestimmten Zeitpunkte an das Leben so verläuft,daß die eigene Erinnerung beginnt. Von dem, was vor diesem Zeitpunkte war, könnenuns die Eltern oder ältere Geschwister erzählen; von diesem Zeitpunkte an sagt derMensch in der inneren Seele: Ich bin dieser, der ich bin. – Von da an, wo er sagt: Ichhabe das getan, ich habe das gedacht –, rechnet der Mensch seelisch sein Ich. Wasvorher war, verliert sich in Seelendämmerung. Unsere Erinnerung reicht nur bis zudiesem charakterisierten Zeitpunkte. Was liegt denn dann vor, wenn wir die beidenTatsachen zusammenhalten: Diejenige, daß der eigentliche Ich-Träger des Menschengeboren wird im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahre, mit derjenigen, daß wir unsseelisch als ein Ich bezeichnen vom dritten und vierten Jahre an? Da liegt vor, daß derMensch im gegenwärtigen Zyklus seiner Entwicklung über sich selbst ein Meinen, einGefühl hat, das nicht seiner inneren Organisation, so wie diese geworden ist, entspricht.Denn das Bewußtsein des Ich tritt mit dem dritten und vierten Jahre auf, die Organisationfür das Ich aber erst im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahr. Diese Tatsache ist vonfundamentaler Wichtigkeit für das Verstehen des Menschen.

Page 39: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

39

Wenn man diese Tatsache als geisteswissenschaftliche Erkenntnis abstrakt hinstellt, dannwird man darüber nicht besonders aufgeregt sein; aber weil diese Tatsache wahr ist, sindzahlreiche Erlebnisse vorhanden, die der Mensch sehr gut kennt, aber nicht im Lichtedieser Tatsache schaut. Alles, was der Mensch erleben kann an Zwiespalt zwischenäußerlicher Organisation und innerer Erfahrung, an Leiden und Schmerzen im Lebendadurch, daß ihm gewisse Dinge vermöge seiner Organisation nicht möglich sind; anDisharmonie zwischen dem, was er wünschen und wollen und dem, was er ausführenkann, die Tatsache, daß er Ideale haben kann, die über seine Organisation hinausführen –all das führt zurück auf die Tatsache, daß das Bewußtsein unseres Ich einen ganz anderenWeg geht als der Träger unseres Ich. [58] In dieser Hinsicht sind wir ein zweifacherMensch: ein äußerer Mensch, der darauf hinorganisiert ist, seine Ichheit im zwanzigstenoder einundzwanzigsten Jahre zu entwickeln, und ein innerer Seelenmensch, der sichschon im vierten und fünften Jahre auf sein Seelenleben hin von seiner äußerenOrganisation emanzipiert. Emanzipation des Ich-Bewußtseins von der äußerenOrganisation findet statt im Kindesalter. Wir machen in unserer Seele etwas durch, wasvon unserer äußeren Organisation unabhängig verläuft, was sogar in herben Widerspruchkommen kann mit unserer äußeren Organisation. Wir sind in bezug auf das innereBewußtsein des Ich geneigt, außer acht zu lassen unsere Organisation, das, was unten inunseren Leibern ist. Seelisch entwickeln wir uns ganz anders als unsere Leiber sichentwickeln.

Der Gang der inneren Menschheitsentwicklung ist daher ein zwiefacher. Der Gang derEntwicklung unserer Organisation geht vom ersten bis zum siebenten Jahre, dann vomsiebenten bis zum vierzehnten Jahre, vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahrein der Weise, wie das geschildert worden ist. Der Gang der inneren Entwickelung ist so,daß wir von dem vorigen ganz unabhängig sind, daß das Bewußtsein unseres Ich sichemanzipiert vom zartesten Kindesalter an und einen selbständigen Weg durch das Lebenmacht. Was aber ist die Folge von dieser eigentümlichen Tatsache der menschlichenEntwicklung? Das kann uns nur der Okkultist erzählen.

Wenn wir in alldem Umschau halten, was der Okkultist lehren kann, so kommen wirzu einer eigentümlichen Erkenntnis. Wir kommen nämlich dazu, einzusehen, daßKrankheit, Gebrechlichkeit der menschlichen Organisation, daß alles das, was Siechtum,Alter, Tod allein möglich macht, davon herrührt, daß wir eigentlich eine Zweiheit sind.Wir sterben, weil wir in einer gewissen Weise organisiert sind und in unsererOrganisation keine Rücksicht nehmen auf unsere Ich-Entwicklung. Daß wir mit unseremIch einen selbständigen Weg gehen, der sich nicht kümmert um unsere Organisation,daran erinnert uns diese Organisation, wenn sie der Ich-Entwicklung in Krankheit,Siechtum, Tod ein Hemmnis entgegensetzt. [59] Wir werden daran erinnert, daß unsereIch-Entwicklung ganz abgesondert verläuft von unserer Organisation. Woher kommtdenn nun eigentlich diese eigentümliche Tatsache der Zweiheit in der menschlichenNatur?

Page 40: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

40

Wenn wir die verschiedenen Dinge betrachten und den Menschen im Zusammenhangmit der Wirklichkeit betrachten, so zeigt es sich uns, daß, wenn zu einem bestimmtenZeitpunkte der Erdenentwicklung, nämlich in der lemurischen Zeit, nur fortschreitendeKräfte in die Menschheitsentwicklung eingegriffen hätten, die Jugendentwicklung desMenschen heute ganz anders verlaufen würde, nämlich so, daß sie gleichen Schritt hieltemit der Ich-Entwicklung. Jederzeit würde die seelische Entwicklung genauübereinstimmen mit der leiblichen Entwicklung. Der Mensch würde dann unmöglichsich anders entwickelt haben können, als wie es als Ideal gefordert wird heute – zumBeispiel in meiner kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte derGeisteswissenschaft» (9). Wären damals nur fortschreitende Kräfte tätig gewesen, sowürde das Sonderbare sich ergeben haben, daß in den ersten zwanzig Lebensjahren derMensch viel unselbständiger geworden wäre, als er jetzt ist. Diese Unselbständigkeit istnicht in üblem Sinne gemeint, sie ist so gemeint, daß eigentlich jeder von Ihnen mitdieser Unselbständigkeit sehr einverstanden wäre. Es ist nämlich die menschliche Naturin den ersten sieben Lebensjahren rein auf Nachahmung angelegt. Da die Menschen imerwachsenen Zustande, wenn nur die fortschreitenden Kräfte tätig gewesen wären in derlemurischen Zeit, nichts Schandbares tun würden, so würden die Kinder vom ersten biszum siebenten Lebensjahre nichts Schlechtes nachahmen können. In den zweiten siebenLebensjahren würde das Prinzip der Autorität herrschen, während es heute nicht nur zurLandplage, sondern zur Erdenplage gehört, daß die Menschen zwischen dem siebentenund vierzehnten Jahre selbständig werden wollen, ja sogar dazu erzogen werden,«selbständige» Urteile zu haben. Die Erwachsenen würden für die Kinder dieselbstverständlichen Autoritäten gewesen sein. [60] Vom vierzehnten biseinundzwanzigsten Jahre würde der Mensch noch viel weniger auf sich selbst in seinInneres hineingesehen haben, er würde sich mehr nach außen gewandt haben. Es würdedie Kraft der Ideale, die Kraft, sich hineinzuleben in die Lebensträume, ungeheuerbedeutsam für ihn geworden sein. Es würden aus seinem Herzen Lebensträume sprießen,und dann würde volles Ich-Bewußtsein aufgetreten sein im zwanzigsten undeinundzwanzigsten Jahre. Also es würde auftreten in den ersten sieben Lebensjahren diePeriode der Nachahmung, dann in den zweiten sieben Lebensjahren Aufschauen zuAutoritäten, dann in den dritten sieben Lebensjahren Hervorsprießen der Ideale, die denMenschen zu seinem vollen Ich-Bewußtsein bringen würden. Von diesem Gange derEntwicklung ist der Mensch abgelenkt worden durch die Summe der auch in derEvolution wirkenden Kräfte, die die luziferischen Kräfte genannt werden. Sie haben seitder lemurischen Zeit das Ich-Bewußtsein losgerissen von der Grundlage derOrganisation. Daß wir schon im zartesten Alter das Ich-Bewußtsein haben, das ist ebenauf die luziferischen Kräfte zurückzuführen.

Wie griffen die luziferischen Kräfte ein? Die luziferischen Kräfte sind Wesenheiten,welche auf dem Monde zurückgeblieben sind und daher keinen Sinn für dieErdenmission haben, für das, was sich erst auf der Erde entwickeln sollte vomeinundzwanzigsten Jahre ab, das Ich.

Page 41: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

41

Sie nahmen den Menschen so, wie er herübergekommen ist vom Monde und legten inihn als Keim die selbständige seelische Entwicklung. So daß in der Verfrühung des Ich-Bewußtseins, in diesem eigentümlichen Zwiespalt der menschlichen Natur dieluziferischen Kräfte liegen. Das Erkennen einer solchen Tatsache gibt erst heute dieAnthroposophie. Fühlen kann das jeder Mensch, der nur naturgemäß empfinden kann.Denn jeder Mensch kann fühlen, daß in ihm etwas ist, was ihn von seiner vollenMenschlichkeit trennt. Alles, was wir unberechtigten Egoismus in unserer Natur nennen,Abgeschlossenheit von dem eigentlichen Tun der Menschheit, rührt daher, daß das Ichnicht den richtigen Weg der Organisation mitgeht. So sehen wir vor uns den Menschen.[61] Dann, wenn er fühlen kann: Ich könnte anders sein als ich bin, ich habe etwas inmir, was nicht einverstanden ist mit mir selbst –, dann fühlt er den Widerstreit derfortschreitenden Gewalten mit den luziferischen Gewalten in seinem Inneren. DieseTatsache mußte einmal geschaffen werden im Laufe der Menschheitsentwicklung. Siewar notwendig, weil ja der Mensch niemals wirklich frei geworden wäre ohne dieluziferischen Wesenheiten, er wäre immer an seine Organisation gebunden gewesen.Was den Menschen auf der einen Seite in Zwiespalt bringt mit seiner Organisation, dasgibt ihm auf der anderen Seite erst die Möglichkeit, frei zu sein. Aber eines bleibt ausdieser Zweiheit der Organisation für das gewöhnliche menschliche Leben. Das zeigt sichdarin, daß wir von unserem Ich empfinden, daß es unvermögend geworden ist, von sichselber aus die Organisation umzuändern.

Wenn wir im weiten Umkreise dessen, was den Menschen konstituiert, geschaffen hat,Umschau halten, so gibt es da die zwei geschilderten Kräfte. Es gibt da die organischenKräfte unserer menschlichen Natur, die gemeint sind zur Entwicklung zu kommen vonsieben zu sieben Jahren, und auf der anderen Seite die luziferischen Kräfte. Gibt esnichts anderes im Verlaufe der Menschheitsentwicklung in der Natur und imGeistesleben, so wird das eintreten, daß der Mensch niemals durch sein emanzipiertesIch zum vollen Einklang mit seiner Natur kommen könnte. Ergäbe sich nichts anderesaus dem Umkreise des Erdenseins, dann könnte die Entwicklung keine andere sein, alsdaß der Mensch sich immer mehr von seiner Organisation entfremden würde, daß seineOrganisation immer siecher, immer vertrockneter würde, daß der Zwiespalt immergrößer werden müßte. Wenn der Mensch nur einmal dazu kommt, das so recht als einegeisteswissenschaftliche Erkenntnis zu fühlen, dann kommt ein großer Moment inseinem Leben, in welchem er sich sagt: Da stehe ich mit meiner menschlichenOrganisation, die mir von den fortschreitenden Kräften gegeben ist, die von sieben zusieben Jahren wirken. Er braucht das nicht so in klaren Worten auszusprechen, er brauchtes nur unbestimmt zu fühlen, aber weil diese Organisation eine Gegenkraft hat, die sichselbständig entwickelt, darum wird sie siech und krank und stirbt endlich. – In denTiefen seines Seelenlebens fühlt der Mensch das. [62]

Page 42: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

42

Er braucht nur das Gefühl von dieser Diskrepanz des inneren Ich mit der äußerenOrganisation zu haben. Wenn er so recht lebt in dieser Empfindung, dann kommt, auchohne daß er etwas von Anthroposophie zu kennen braucht, – ja, von woher, er weißzunächst nicht, woher? –, aber es kommt in seine Seele etwas herein, wovon er fühlt: Ichselbst mit dem Ich, woran ich mich zurückerinnere, vermag nichts gegen meineOrganisation, der ich nicht gewachsen bin. Aber es gibt etwas, was ich als Kraftaufnehmen kann in mein Ich, was ich aufnehmen kann in mein Bewußtsein alsÜberzeugung; unmittelbar aus den geistigen Welten kommt etwas herein, das nicht inmir liegt, das aber meine Seele durchdringt. Etwas kann hereinfließen aus unbekanntenWelten in meine Seele. Wenn ich es aufnehme in mein Herz, wenn ich mein Ich damitdurchdringe, dann hilft es mir unmittelbar aus den geistigen Welten heraus. Man nennedas, was aus den geistigen Welten kommt, wie immer man will, darauf kommt es nichtan, auf die Empfindung kommt es aber an.

Nehmen wir einmal an, ein Mensch würde mit dem Leben heute nicht zurechtkommenund sich sagen: Also muß ich suchen in dem weiten Umkreise dessen, was ich auf derErde finde, ob mir irgendwo eine Kraft ersprießen kann, die mir etwas geben kann,wodurch ich aus dem Zwiespalt herauskomme, die mir hinaushilft. Es ist naturgemäß,daß der Mensch mit den Mitteln der alten Konfessionen nicht mehr zurechtkommenkann, daß er mit den alten kirchlichen Vorstellungen nichts mehr verbinden kann, wasihm diese Kraft, die er sucht, geben kann. Nehmen wir aber an, um ein konkretesBeispiel anzuführen, ein solcher Mensch ginge zu einer der alten heiligen Religionen, erginge zum Beispiel zum Buddhismus und vertiefte sich in die außerordentlichen Lehrendes Buddhismus. Wenn der Mensch naturgemäß in aller Stärke den charakterisiertenZwiespalt empfindet – ich sage nicht, daß sich das aus einer Theorie ergibt, sondern auseiner unbestimmten Empfindung –, dann würde er so empfinden: In der Persönlichkeit,der Individualität des Gautama Buddha hat etwas gelebt, was in der Welt erst aufGrundlage einer langen Entwicklung kommen kann. [63] Diese Individualität ist durchviele Inkarnationen hindurchgegangen, hat immer höhere und höhere Grade derEvolution erreicht und ist endlich soweit gekommen, daß sie im neunundzwanzigstenJahre ihres Lebens als Gautama Buddha vom Bodhisattva zum Buddha aufsteigenkonnte; so aufsteigen konnte, daß diese Individualität nicht mehr in einen physischenLeib zurückkehren brauchte. Was da ausfließt aus dieser Individualität, wie ist eszustande gekommen? Fühlen kann jedes unbefangene Gemüt das, was aus dem Buddhaspricht, was erst durch den Bodhisattva innerhalb der Erdenentwicklung, innerhalb vielerInkarnationen, herangewachsen ist. Das alles enthält im schönsten, großartigsten Sinnedie Kräfte, die sich im Umkreise der Erde finden, in dem Zusammenspiel der Kräfte derOrganisation und der luziferischen Kräfte. Daher wirkt das, was vom Bodhisattva zumBuddha fließt, weil es gegangen ist von Inkarnation zu Inkarnation, weil es ausdenselben Kräften stammt, aus denen die Menschenkräfte stammen, deshalb wirkt es so,daß die unbefangene Seele nicht fühlt, was den vollen Einklang zwischen dem Ich desMenschen und seiner Organisation hervorrufen kann.

Page 43: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

43

Es fühlt die Seele: Etwas muß es geben, was nicht von Inkarnation zu Inkarnation geht,sondern, was unmittelbar hereinströmen kann aus den geistigen Welten in jedeMenschenseele. Wenn die Menschenseele fühlt, daß sie eine Beziehung haben muß zudem, was von den Himmeln herunterströmt, dann fängt sie an, eine innerliche Erfahrungvon dem Christus zu haben. Dann wird es ihr auch begreiflich, daß in dem Christus Jesusetwas auftreten mußte, was sich unterscheidet von alledem, was vorher war. Das ist derradikale, der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Leben des Christus und dem desBuddha.

Der Buddha ist aus einem Bodhisattva zum Buddha geworden mit den Kräften, dieden Menschen von Inkarnation zu Inkarnation aufsteigen lassen, wie es auch bei anderengroßen Religionsstiftern ist. [64] In das Leben des Jesus von Nazareth trat etwas ein,etwas wirkte in die Individualität des Jesus von Nazareth hinein während dreier Jahre,was aus den geistigen Welten unmittelbar herabströmte, was mit der menschlichenEvolution nichts zu tun hatte, was vorher nicht mit einem menschlichen Lebenverbunden war. Diesen Unterschied müssen wir uns recht klar vor die Seele führen,wenn wir begreifen wollen, warum in dem, was die vierte nachatlantische Zeitepocheden Christus genannt hat, etwas lag, was verschieden war von allen anderen religiösenImpulsen, und warum die anderen Religionen die Menschheit immer hingewiesen habenauf diesen Christus.

Wenn wir in der nachatlantischen Zeit zurückschauen in die uralt heilige indischeKultur, da sehen wir auftreten die sieben heiligen Rishis, in deren Seelen etwas lebte vondem unmittelbaren Anschauen der geistigen Welten. Wenn man einen der sieben heiligenRishis um die Grundstimmung seiner Seele gefragt hätte, so hätte er gesagt: Wir schauenhinauf zu den spirituellen Mächten, aus denen alle Menschenentwicklung geworden ist.Das offenbart sich uns in sieben Strahlen, aber darüber ist etwas anderes, etwas, das überunserer Sphäre liegt. Vishva-Karman nannte man das später, was die sieben heiligenRishis so empfanden. Von einer Gewalt, die nicht mit der Erde sich entwickelt hat,sprachen die sieben heiligen Rishis.

Dann kam die Zarathustra-Kultur. Zarathustra sprach, wenn er den Blick auf dieGeister der Sonne richtete, von etwas, was in die Menschheitsentwicklung einfließensollte unmittelbar durch eine Strömung aus den geistigen Welten. Was wir denMenschen geben können, so sagte Zarathustra, ist nicht das, was einst von denSonnenfernen unmittelbar aus den geistigen Welten in die Menschheit einfließen wird.Was in der Sonne geistig ist, das ist das, was die spätere persische Kultur Ahura Mazdaogenannt hat.

Aus einem besonders tragischen Einschlag heraus empfand man in den ägyptischenMysterien die Christus-Frage. Man empfand sie in der allertiefsten Weise, wenn wirunter Tiefe verstehen eine solche Gestaltung der menschlichen Empfindung, wo ganzbesonders stark in die Seele hinein sich schreibt das Bewußtsein: Von dem, was geistigist, stammt die Menschheit her. Der ägyptische Eingeweihte sagte sich: [65]

Page 44: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

44

Überall, wo wir den Blick hinwenden, empfinden wir in dem, was uns umgibt, denAbfall von dem ursprünglich Geistigen. Unmittelbar, unvermischt ist nirgends dasGeistige in der äußeren Welt zu finden. Dann erst, wenn der Mensch durch die Pforte desTodes schreitet, wird er ansichtig desjenigen, von dem er stammt. Man muß erst sterben– in bezug auf die innere Erfahrung, nicht in bezug auf die Einweihung –, dann wird manvereinigt mit dem Osiris-Prinzip, so nannten die alten Ägypter das Christus-Prinzip. ImLeben geht es nicht, da ist die Diskrepanz. Alles, was im Umkreise der Erde ist, das führtnicht zum Osiris, die Seele muß durch die Pforte des Todes getreten sein, um mit demOsiris vereinigt zu werden. Dann, im Tode, wird die Seele ein Stück des Osiris, sie wirdselbst eine Art Osiris. Die Welt außen ist so geworden, daß sie den Osiris durch seinenFeind zerstückelt hat, das heißt durch all das, was zur äußeren Welt gehört. Und es sagteder Eingeweihte der ägyptischen Mysterien: Wie die Menschheit jetzt ist in unsererKultur, ist sie eine Art Rückerinnerung an die alte Mondenzeit. So wie die Kultur dersieben heiligen Rishis eine Art Rückerinnerung ist an die alte Saturnzeit, wie dieZarathustra-Kultur eine Rückerinnerung ist an die alte Sonnenzeit, so ist die Osiris-Kultur eine Rückerinnerung an die alte Mondenzeit, wo sich zuerst der Mond mit seinenWesenheiten von der Sonne abtrennte, auf der aber geblieben sind die Wesenheiten, vondenen der Mensch seinen Ursprung genommen hat. Da hat die Abtrennung desMenschen stattgefunden von den guten Kräften seiner Organisation, von dem Quellseiner Lebenskräfte. Aber es wird für die Menschen durch das, was sie durchmachenwerden an Sehnsucht und Entbehrung in bezug auf das Geistige, die Zeit kommen, dawird Osiris heruntersteigen und als etwas sich erweisen, was als neuer Einschlagkommen muß, was vorher auf der Erde nicht war, weil es sich schon während der altenMondenzeit von der Erde getrennt hatte.

Alles das, worauf die sieben heiligen Rishis und Zarathustra hinwiesen und wovon dieÄgypter sagten, daß die Menschen in ihrer Zeit es im Leben überhaupt nicht erreichenkönnten, das war die Kraft, der Impuls, der drei Jahre lang im Leibe des Jesus vonNazareth sich offenbarte. [66] Alle großen Religionen haben von ihm gesprochen;geoffenbart hat er sich im Jesus von Nazareth, worauf alle Religionen hinwiesen. Sohaben nicht nur die Christen vom Christus gesprochen, sondern auch die Bekenner alleralten Religionen. So trat etwas im Laufe der Menschheitsentwicklung ein, was derMensch braucht und was der inneren Erfahrung erreichbar ist.

Nehmen wir einmal an, ein Mensch wüchse auf einer einsamen Insel heran.Diejenigen, die ihn erziehen, erzählten ihm nichts von dem, was in der Welt geschieht inbezug auf den Christus-Namen und auf die Evangelien, sondern sie erzählten ihm nurdas, was in der Kultur da ist, ohne die Evangelien und ohne den Christus-Namen zugebrauchen. Was unter dem Einfluß des Christus in der Kultur entstanden ist, aberentkleidet des Christus-Namens, das würde man an ihn heranbringen. Was würde dageschehen? Bei einem solchen Menschen würde folgende Stimmung auftreten müssen.Eines Tages würde er sagen: In mir lebt etwas, was meiner allgemeinenMenschheitsorganisation gemäß ist, daran kann ich zunächst nicht heran.

Page 45: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

45

Denn das, worin mein Ich-Bewußtsein lebt, es stellt sich mir so dar, daß ich da etwasbrauche, was mir durch die Menschheitskultur nicht zukommen kann: einen Impuls ausden geistigen Welten, um das Ich wieder kräftiger zu machen in seiner Organisation, vonder es sich emanzipiert hat. Wenn ein solcher Mensch nur stark empfinden kann, was derMensch braucht, dann kann über ihn etwas kommen, woraus er erkennt: es müsseunmittelbar aus den geistigen Welten etwas herausströmen, was sich unmittelbar einlebtin sein Ich. Er weiß nicht, daß das Christus heißt, er weiß aber, daß er sich in seinemBewußtsein durchdringen kann davon, daß er das, was aus den geistigen Welten zu ihmkommt, hegen kann in seinem Ich. Dann wird ihm etwas kommen, wovon er sich sagendarf: Nun ja, ich kann krank sein, ich kann schwach sein, ich kann sterben, aber vonmeinem Ich aus kann ich mich stärker machen, kann ich etwas in meine Organisationhineinsenden, was mir Stärke, was mir Kraft gibt unmittelbar aus den geistigen Weltenheraus. – [67] Wie er es nennt, ist gleich. Wenn der Mensch zu dieser Empfindungkommt, dann ist er vom Christus-Impuls ergriffen. Nicht derjenige, der sagt, daß er etwashaben kann von einem Lehrer, der von Inkarnation zu Inkarnation gegangen ist, sondernderjenige, der empfindet, daß unmittelbar aus der geistigen Welt Impulse der Kraft, derStärke kommen können, der ist vom Christus-Impuls ergriffen. Diese innere Erfahrungkönnen die Menschen machen; ohne sie können die Menschen nicht leben, ohne siewerden die Menschen in der Zukunft nicht leben können. Sie können diese innereErfahrung machen aus dem Grunde, weil einmal drei Jahre lang objektiv im Jesus vonNazareth gelebt hat dieser Impuls, der unmittelbar aus den geistigen Welten hereinkam. Sowahr es ist, daß man ein Samenkorn in die Erde legen kann und daß viele andereSamenkörner aus diesem einen hervorkommen können, ebenso wahr ist es, daß einmal derChristus-Impuls in die Menschheit gelegt worden ist, und daß seit jener Zeit etwas da ist inder Menschheit, was früher nicht da war.

Darum ist das ägyptische Leben so tragisch, weil man empfand, daß man in seinemLeben nicht zum Osiris kommen konnte, daß man erst durch die Pforte des Todesschreiten mußte, um mit ihm vereinigt zu werden, das heißt, nur für die innere Erfahrung –von der Einweihung sprechen wir noch. Seit jener Zeit des Mysteriums von Golgatha aberist das möglich, was früher nicht möglich war, daß der Mensch aus sich heraus seineVerbindung mit der geistigen Welt sucht, aus seiner einzelnen Inkarnation heraus. Und dasrührt davon her, daß der Impuls, der durch das Mysterium von Golgatha gegeben wordenist, in jeder Seele aufleuchten und seit jener Zeit durch die innere Erfahrung in jedenMenschen einziehen kann. Nicht der Christus, der auf Erden war – um den kümmert sichdie Seele nicht –, aber der Christus, der durch innere Erfahrung erreichbar ist.

Page 46: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

46

Seit dem Mysterium von Golgatha ist es möglich, in den einzelnen Inkarnationen einenZusammenhang mit dem Geistigen zu gewinnen. Und weil es so ist, deshalb ist mit dereinen Tatsache von Golgatha etwas geschehen, was ausstrahlen kann in die Menschheit,was nicht durch Errungenschaften der aufeinanderfolgenden Inkarnationen gegeben ist.[68] Deshalb ist es unmöglich, daß der Christus sich auf eine Weise zeigt, die eine Folgeist aus vielen Inkarnationen, so wie es der Buddha geworden ist aus seinen Inkarnationenals Bodhisattva.

Wir werden morgen sehen, wie für die Zukunft der Weg zum Christus in derMenschheitsentwickelung gefunden werden kann. [69]

Page 47: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

47

Drei Wege der Seele zu Christus (II): Der Weg der Initiation

Wenn mit einigen Worten noch einmal kurz hingewiesen werden darf auf dasjenige,worin die gestrigen Darstellungen gipfelten, so möchte ich sagen, daß aus ihnen für jedenMenschen die Möglichkeit hervorgehen sollte, durch eine entsprechende Vertiefung seinesWesens, durch ein in die geistigen Welten gefaßtes Vertrauen eine solcheSeelenstimmung, eine solche Seelenverfassung in sich aufkommen zu lassen, die ihm sagt:In den Menschen fließen nicht nur diejenigen Dinge ein, die in dem Umkreise der Erdevorhanden sind, nicht nur die Dinge, welche aus der Evolution der Erde selbst stammen,sondern es ist dem Menschen möglich, seine Seele so zu stimmen, daß er aus den geistigenWelten heraus Hilfskräfte erhält, die in ihn einfließen können, die einen Ausgleichherbeiführen zwischen dem einzelnen egoistischen Ich und der Gesamtheit unsererOrganisation, wenn er dieser Möglichkeit sich öffnet, die in die Erdenmission eingeflossenist. Wer erringen kann das Vertrauen an diesen Zufluß aus den geistigen Welten, der hat –wie er dies innere Ereignis, dies innere Erlebnis auch nennen mag – die persönlicheChristus-Erfahrung im Inneren erlebt. Alles übrige über diese Sache wird sich unsergeben, wenn wir heute einmal ausgehen von dem dritten Wege zu Christus, von demWege der Initiation.

Wenn wir so angeführt haben den Weg der Evangelien und den Weg der innerenErfahrung, so haben wir die beiden Wege, die einem jeden Menschen zum Christus hinzugänglich sind; ich sage ausdrücklich: einem jeden Menschen. [70] Zu dem Wege derInitiation gehört eine gewisse Vorbereitung, wie es jedem verständlich sein sollte. Inunserer Zeit gehört zunächst dazu ein wirkliches, nicht nur theoretisches Vertiefen in diewahre, echte Geisteswissenschaft, die zunächst, wenigstens in unserer Gegenwart, immerder Ausgangspunkt sein muß, wenn wir verstehen wollen, was das ist: der Weg derInitiation. Nun ist es gut, wenn wir einige Worte über das Wesen der Initiation in einergewissen Richtung vorausschicken. Die Initiation ist das Höchste, was der Mensch imLaufe der Erdenentwicklung zuletzt erlangen kann; denn sie führt den Menschen zueinem gewissen Verständnis, in eine wirkliche Einsicht in die Geheimnisse der geistigenWelt. Was vorgeht in den geistigen Welten, das ist ja der Inhalt, der Gegenstand derInitiation, und ein wirkliches Wissen, ein unmittelbares Wahrnehmen von Vorgängen inden geistigen Welten wird auf dem Wege der Initiation erreicht. Schon wenn in einersolchen Weise die Initiation charakterisiert wird, so muß einem jeden, der dieseCharakteristik auf seine Seele wirken läßt, etwas ganz Besonderes auffallen. Es ist imGrunde genommen damit schon gesagt, daß die Initiation ein, gestatten Sie denAusdruck, überreligiöser Weg ist. Nun sind die großen Religionen, welche über denErdenkreis im Laufe der Menschheitsepochen sich verbreitet haben und heute noch inder Menschheit sind, alle, wenn wir sie bei ihrem Ausgangspunkte studieren,ursprünglich gestiftet von der Initiation, von den Initiierten aus. Sie sind aus demgeflossen, was große Eingeweihte den Menschen haben geben können.

Page 48: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

48

Aber die Religionen sind dem Menschen so gegeben worden, daß in den Inhalten dieserReligionen die Menschen dasjenige empfinden, was für sie, je nach der Zeitepoche, inder sie lebten, je nach der Rasse, der sie angehörten, ja wohl gar nach dem Erdenstriche,in dem sie lebten, diesen Beziehungen angemessen war.

Nun leben wir heute innerhalb der Menschheitsentwicklung in einer ganz besonderenZeitepoche, und es ist gerade die Aufgabe der Geisteswissenschaft, zu verstehen, daß wirin einer besonderen Zeit leben. So wie heute Geisteswissenschaft für unsereMitmenschen vorgetragen und verbreitet werden kann, so war das innerhalb derverflossenen Zeitepochen nirgends noch möglich. Anthroposophie als solche konntenicht in der Öffentlichkeit gelehrt werden. Wir beginnen erst in unserer ZeitAnthroposophie zu lehren. Die Religionen waren eben die Wege, um in die Menschheiteinfließen zu lassen die Geheimnisse der Initiation in einer jeweilig einer Gruppe vonMenschen angemessenen Art. Aber heute sind wir in der Lage, durch Anthroposophieetwas zu geben, was nicht einer einzelnen Rasse, nicht einem einzelnen Erdstrich, nichteiner einzelnen Gruppe von Menschen angemessen ist, sondern was jedem Menschen,wo er sich auch findet auf der Erde, etwas bringen kann über jene Geheimnisse desDaseins, nach deren Erkenntnis die Seelen sich sehnen, die sie haben müssen, wenn dieHerzen stark sein sollen in ihrem Wirken auf der Erde. Damit zeigt sich aber schon, daßdurch Anthroposophie etwas gegeben sein soll, was einen höheren Standpunkt einnimmtals die religiösen Standpunkte waren und heute noch sind, da, wo diese religiösenStandpunkte geltend gemacht werden. Es ist Anthroposophie gewissermaßen dasjenige,was die Geheimnisse der Initiation allgemein menschlich heute auszubreiten hat,während in den verschiedenen alten Religionssystemen der Erde immer auf einebesondere Art, in einer differenzierten Weise, angemessen den einzelnenMenschengruppen, die Geheimnisse der Initiation ausgesprochen wurden.

Was folgt daraus? Daraus folgt, daß wir die verschiedensten Religionen über die Erdehin verbreitet finden, die alle zurückweisen auf diesen oder jenen Religionsstifter. Wirfinden erstens die Krishna-Religion auf Krishna zurückführend, zweitens die Buddha-Religion auf den Buddha zurückführend, drittens die althebräische Religion auf Moseszurückführend, und wir finden das Christentum auf Jesus von Nazareth zurückführend.Da die Religionen aus der Initiation geflossen sind, so müssen wir uns klarmachen, daßwir heute nicht auf dem Boden stehen können, der etwa von den aufgeklärt seinwollenden Religionsphilosophen eingenommen wird. Die vergleichendenReligionsphilosophen haben eine geheime Anschauung über die Religionen: sie sehen sienämlich alle für falsch an oder für kindliche Stufen der Menschheitsentwicklung. [72]Wir stehen aber als Anthroposophen, da wir erkennen lernen, daß die Religionen nurdifferenzierte Ausbildungen der Initiationswahrheiten sind, auf dem Boden, das Wahreund nicht das Falsche in den verschiedenen Religionssystemen zu verstehen. Wir lassenden Religionssystemen ihr volles Recht nebeneinander widerfahren. Wir sehen sie an alsgleichberechtigte Offenbarungen der großen Initiationswahrheiten.

Page 49: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

49

Und daraus folgt etwas ungeheuer Wichtiges für das praktische Gefühl und diepraktische Betätigung. Und was ist dieses Wichtige? Daß aus der anthroposophischenStimmung das volle Verständnis, die innige Achtung und die volle Anerkennung desWahrheitskernes aller Religionen folgen wird, und daß diejenigen, die ausanthroposophischer Gesinnung heraus über die Welt und ihren Entwickelungsgangdenken, respektieren werden die Wahrheiten, die in den einzelnen Religionssystemenvorhanden sind. Es wird die höchste Achtung sich ergeben und der höchste Respekt wirdPlatz greifen. Ja, meine lieben Freunde, das wird sich ergeben aus deranthroposophischen Geistesströmung für die einzelnen Religionsbekenntnisse auf Erden:Man wird hingehen zu den Bekennern der einzelnen Religionssysteme der Erde und manwird nicht glauben, ihnen aufpfropfen, einimpfen zu können andere Bekenntnisse. Wirwerden vielmehr zu ihnen gehen und aus unserem eigenen Religionsbekenntnisse herausentwickeln, was in ihrem Bekenntnis an Wahrheit ist. Und man wird, wenn man auseiner Gegend herausgeboren ist, wo eine bestimmte Religion herrscht, aus dieserReligion heraus nicht intolerant abweisen die anderen Religionen, sondern wird docheingehen können auf das, was als Wahrheit in den verschiedenen Religionen enthaltenist. Nehmen wir ein Beispiel. Solch ein Beispiel kann nur verstanden werden von denen,die in ihrer tiefsten Seele Ernst machen mit der anthroposophischen Gesinnung; mit dem,was aus der Erkenntnis der Grundbedingungen des Wesens der Initiation folgen muß.Nehmen wir an, ein Abendländer sei aufgewachsen innerhalb des Christentums. Er wirddas Christentum vielleicht dadurch kennengelernt haben, daß er die großen Wahrheitenseiner Evangelien in sich aufgenommen hat. [73] Vielleicht ist er auch schon zu demgelangt, was der Weg der inneren Erfahrung zu dem Christus Jesus genannt wird,vielleicht hat er schon in seiner inneren Erfahrung den Christus erlebt. Nehmen wir an, erlernt nun eine andere Religion kennen, zum Beispiel den Buddhismus. Er lernt beidenjenigen, welche ganz in den heiligen Wahrheiten und Erkenntnissen des Buddhismusstehen, dasjenige kennen, was dem materialistischen Abendländer ein Ärgernis ist, waswir Anthroposophen aber verstehen können; er lernt kennen, daß der Stifter ihrerReligion, nachdem er viele Inkarnationen auf Erden als Bodhisattva gelebt hat, alsKönigssohn wiedergeboren wurde, als Sohn des Suddhodana; er lernt weiter erkennen,daß er im neunundzwanzigsten Jahr seines Lebens als Bodhisattva zum Buddhaaufgerückt ist, daß mit diesem Aufsteigen zum Buddha gegeben ist in dieser Religion, dasie aus der Initiation stammt, die eine große Wahrheit, die nicht nur für den Buddhismus,die für alle Menschen gilt, die jeder Initiierte anerkennen wird, und die alle Menschenanerkennen, die den Buddhismus verstehen, er lernt erkennen, daß der Bekenner desBuddhismus mit Recht sagt: Wenn der Bodhisattva in einer menschlichen Inkarnationzum Buddha wird, so ist diese Inkarnation, die der Buddha auf Erden durchzumachenhat, die letzte; dann kommt er nicht wieder in einen menschlichen Leib zurück.

Page 50: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

50

Demjenigen, der im Buddhismus drinnensteht, würde tiefer Schmerz zugefügt, wennman behaupten wollte, daß der Buddha wiederkehren würde in einem fleischlichenLeibe. Tiefes Leid würde einem solchen Bekenner des Buddha zugefügt, wenn ihm vonirgendeiner Macht diese Wahrheit bestritten würde, daß der Bodhisattva, der zumBuddha geworden ist, niemals wieder in einem physischen Leibe auf Erden erscheinenkönnte. Wir Anthroposophen aber, wir erkennen den Wahrheitsgehalt der Religionen,wir stehen auf dem Boden, zu suchen die Wahrheit der verschiedenen Religionen undnicht ihren Irrtum. So gehen wir zu denen, die den Buddhismus verstehen, und lernen ausder Initiation erkennen, daß es wahr ist: Jene Individualität, welche als Bodhisattvagelebt hat auf der Erde und zum Buddha wurde, sie hat seit jener Zeit die geistigenHöhen erreicht, aus denen sie nicht wieder herabzusteigen hat auf dieses physischeErdenrund: [74] Von dem Augenblicke an werden wir nicht mehr einem Buddhisten,wenn wir auf dem Boden der Reinkarnationslehre stehen, die Behauptungentgegenhalten, daß der Buddha in einem physischen Leibe wiederkehren könnte.Wahre, echte Erkenntnis wird ein Verständnis für eine jede aus der Initiationhervorgehende Religionsform schaffen. Wir respektieren die Religionsformen, die sichauf Erden entwickelt haben, indem wir erkennen, was sie als Wahrheit zu geben haben.Ja, ich bekenne es aufrichtig und ehrlich, so wie der strengste Buddhist sich zu dieserWahrheit bekennen kann: daß der Bodhisattva, der auf Erden war und zum Buddhaaufstieg, damit eine Höhe der menschlichen Entwicklung erreicht hat, die es ihmmöglich macht, nicht mehr herunterzusteigen auf die Erde. Das heißt Verständnis habenfür die verschiedenen Religionsformen der Erde.

Nehmen wir den entgegengesetzten Fall: daß ein Bekenner des Buddhismus sichaufschwingt zur anthroposophischen Erkenntnis. Er würde es in sich zur Klarheit bringenlassen, entweder aus der wirklichen Erkenntnis des Christentums oder aus demEinweihungsprinzip heraus, daß es für ein anderes Gebiet der Erde eine andereReligionsform gibt, wo diejenigen, die diese Religionsform verstehen, sich klar darübersind, daß einstmals gelebt hat eine Persönlichkeit, die eigentlich keiner Nation angehörthat, am allerwenigsten dem Abendlande, daß von dem dreißigsten bis dreiunddreißigstenJahre gelebt hat in dieser Persönlichkeit ein solcher Impuls, eine solche Kraft desgeistigen Lebens, auf welche wir schon gestern hinweisen konnten, auf welchehingewiesen haben die sieben heiligen Rishis in ihrem Vishva-Karman, auf welchehingewiesen hat Zarathustra in seinem Ahura Mazdao, auf welche hingewiesen haben dieÄgypter als auf ihren Osiris und welche die vierte nachatlantische Kulturperiode denChristus genannt hat. [75] Aber darauf kommt es nicht an; es kommt darauf an, in demChristus dasjenige zu erkennen, was drei Jahre lang als Impuls in der Persönlichkeit desJesus von Nazareth gelebt hat, was vorher nicht da war auf Erden, was aus geistigenHöhen herabgestiegen ist in die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, was in dieserPersönlichkeit durchgemacht hat das Mysterium von Golgatha und was als solcherChristus-Impuls für die Erde ein einmaliger Impuls ist und nicht zusammenfällt mitirgendeiner gewöhnlichen Inkarnation der Menschheit; was also als Christus einmal dawar und in keinem Menschen wiederkehren kann, sondern, wie die Bibel es nennt,

Page 51: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

51

kommen wird in den Wolken des Himmels, das heißt, als geistige Offenbarung sich derMenschheit zeigen wird. Das ist christliches Bekenntnis.

Wer nun innerhalb des Buddhismus steht, durchdrungen von geisteswissen-schaftlichem Ernste und geisteswissenschaftlicher Würde, wird bekennen müssen, daß erauch dies christliche Bekenntnis achten und respektieren muß, wie der Christ das seinezu respektieren hat. Derjenige Buddhist, der aufgestiegen ist zur Geisteswissenschaft undErnst mit ihr macht, wird sagen: Wie du als Christ Vertrauen entgegenbringst der Lehre,daß der zum Buddha gewordene Bodhisattva nicht mehr zurückkehrt auf die Erde, wie esmir angemessen erscheint, daß du weißt, daß der Buddha nicht wiederkehren kann, soerkenne ich als Buddhist an, daß dasjenige, was ihr den Christus nennt, nichtwiederkehren kann in einer physischen Inkarnation, sondern als einmaliger Impuls nurwährend drei Jahren in einem physischen Menschenleib gelebt hat. – Finden wir in derAnthroposophie das gegenseitige Verständnis der Religionen so, daß dasInitiationsprinzip eindringen kann in die Herzen der Menschen, daß der eine Menschdem anderen keine fremde Sphäre auferlegen soll, dann bringen wir es zu einemVerständnis, das über die ganze Erde die Menschen vereint, dann stiften wir den Friedenunter den einzelnen Religionsbekenntnissen auf Erden.

In dem Christentum lebt als Religionsstifter Jesus von Nazareth. Das christlicheInitiationsprinzip hat mit dem Religionsstifter Jesus von Nazareth nur als mit einerTatsache zu tun, einer Tatsache, die von den Okkultisten als eine Tatsache untersuchtwerden kann. Mit der gleichen Liebe, mit der gleichen Sorgfalt, wie untersucht wird dasLeben des Buddha oder eines anderen Religionsstifters, wird von denen, die dasInitiationsprinzip kennen, untersucht das Leben des Jesus von Nazareth. [76] Wie sichdieses Leben des Jesus von Nazareth rein auf dem Boden des Okkultismus ergibt, dasfinden Sie dargestellt in meiner kleinen Schrift «Die geistige Führung des Menschen undder Menschheit» (10). Das eigentliche christliche Initiationsprinzip bezieht sich aberdarauf, den Christus zu erkennen, bezieht sich auf den Weg zum Christus. Und dieseschristliche Religionsprinzip bereitete seit vielen Jahrhunderten das vor, was jetzt als einFriedensprinzip über die ganze Erde hin charakterisiert worden ist, indem es überhauptnicht ausgeht von einem Religionsstifter als solchem, sondern von einer Tatsache, dieeinmal geschehen ist in der Welt.

Das ist der Grundunterschied zwischen dem Christentum und den anderen Religionen:Was das Initiationsprinzip, das zum Christus führt, als Aufgabe hat in der Welt, istverschieden von den Kulturen, die von den anderen Religionsprinzipien ausgegangensind. Das, was das christliche Initiationsprinzip als Aufgabe innerhalb der Weltenmissionhat, ging aus von einer Tatsache, von einem Geschehnis, nicht von einer Persönlichkeit.Das wird zu verstehen sein, wenn wir einige Vorbedingungen vorausschicken. Man kannja einen einzigen Satz hinstellen, eine einzige Angabe machen, dann hat man, obwohläußerlich, charakterisiert, den Ausgangspunkt des esoterischen Christentums, derchristlichen Initiation:

Page 52: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

52

Es ist der Tod, der in der Vereinigung des Christus mit dem Jesus von Nazareth erlebtworden ist. Die Tatsache jenes Todes, die wir nennen das Mysterium von Golgatha, istdas, was aus dem Prinzip der christlichen Initiation verstanden werden soll. Nun kannman ein wirkliches Verständnis dieses Todes nur dann gewinnen, wenn man sich dieMission des Todes innerhalb unserer Erdenentwicklung überhaupt klarmacht. Gesternwiesen wir darauf hin, daß Gebrechlichkeit, Siechtum, Krankheit und Todzusammenhängen mit dem Nichtübereinstimmen unseres von dem luziferischen Prinzipdurchzogenen Ich mit unserer Organisation. Letzten Endes hängt der Tod mit demluziferischen Prinzip zusammen, und zwar auf eine sehr besondere Weise. Es wäre eineganz falsche Auffassung, wenn man annehmen würde, daß Luzifer den Tod gebracht hat.Luzifer hat nicht den Tod gebracht. [77] Er hat gebracht, was wir die Möglichkeit desIrrtums nennen können, auch des moralischen, die Differenzierung der Menschen inRassen und die Möglichkeit der Freiheit. Das hat Luzifer gebracht. Wenn alles das, wasLuzifer gebracht hat, allein in der Menschheit wirksam gewesen wäre, wenn ihm nichtsentgegengesetzt worden wäre, dann hätte dieses luziferische Prinzip dazu geführt, daßdie Menschheit aus der fortlaufenden göttlichen Evolution herausgefallen,herausgebrochen wäre. Die Menschheit hätte sich zwar vergeistigt, aber nach einer ganzanderen Seite hin, als wohin die fortschreitende göttliche Evolution ging. Um dieMenschheit innerhalb dieser göttlichen Evolution zu erhalten, um sie nicht verlorengehenzu lassen für die göttliche Evolution, mußte eine besondere Einrichtung getroffenwerden: daß der Mensch immerfort daran gemahnt wird, was es für Folgen hat, wenn erdie Möglichkeit des Irrtums und der Freiheit mißbraucht. Alle Krankheit,Gebrechlichkeit, Siechtum und Tod sind Mahnungen, daß der Mensch sich entfernenmüßte von der fortlaufenden göttlichen Evolution, wenn er zu der Möglichkeit derluziferischen Freiheit auch noch gesund und kraftvoll wäre. So sind Krankheit, Siechtumund Tod nicht Gaben des Luzifer, sondern Gaben der guten, weisheitsvollen göttlichenMächte, die damit den Einflüssen des Luzifer einem Damm vorgesetzt haben.

So müssen wir sagen: Alles, was uns entgegentritt in der Welt als von außenkommendes fortgesetztes menschliches Übel, als Krankheit und Tod, das ist da, damitwir Menschen an das Erdendasein so lange gefesselt bleiben, bis wir Gelegenheit habenzum Gutmachen, damit wir eine Erziehung haben, uns an unsere Organisationanzupassen. Wir leiden, damit wir aus unserem Leid heraus die Erfahrungen schöpfen,den Ausgleich zu finden für unser von Luzifer durchzogenes Ich und unsere göttlichdurchzogene Organisation. Unsere Organisation entfällt uns so oft, bis wir uns ganzdurchdrungen haben in unserem Ich von den Gesetzen der im göttlichen Sinnefortschreitenden Evolution. Jeder Tod ist damit der Ausgangspunkt für etwas anderes. Eskann der Mensch nicht sterben, ohne daß er mitnimmt das, was ihm die Möglichkeit gibt,einstmals den Tod in seinen fortlaufenden Inkarnationen zu überwinden. [78] AlleSchmerzen sind da, damit wir aus den Leiden heraus die Erfahrungen schöpfen, wie wiruns unserer fortlaufenden göttlichen Organisation anzupassen haben. Diese Frage kannaber nicht ohne weiteres außer dem Zusammenhange mit der ganzen Evolution behandeltwerden.

Page 53: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

53

Wir können eine solche Sache besonders gut studieren, wenn wir okkult prüfen dieBeziehungen des Menschen zu dem nächst niederen Reiche, dem Tierreiche. Wir wissen,daß im Laufe der Entwicklung der Mensch immer den Tieren Schmerz zugefügt hat, daßer Tiere getötet hat. Wer für das Menschenleben Karma zu erkennen lernt, findet es oftsehr ungerecht, daß das Tier, das sich doch nicht reinkarniert, leiden sollte, Schmerzenertragen sollte und sogar, was die höheren Tiere betrifft, mit einem gewissen Bewußtseindurch den Tod gehen sollte. Da soll kein karmischer Ausgleich stattfinden! Der Menschhat natürlich karmischen Ausgleich im Kamaloka für die Schmerzen, die er den Tierenzugefügt hat, aber darüber will ich jetzt nicht sprechen; ich spreche von dem Ausgleichfür die Tiere. Machen wir uns einen Gedanken klar. Wenn wir dieMenschheitsentwicklung betrachten, so sehen wir, wie viele Schmerzen der Mensch überdas Tierreich ausgestreut hat und wieviel Tiere er getötet hat. Was bedeuten dieseSchmerzen, diese Tode im Laufe der Evolution?

Da zeigt uns das okkulte Studium, daß jeder Schmerz, der einemschmerzempfindenden Wesen außer dem Menschen zugefügt wird, daß jeder Tod eineAussaat für die Zukunft ist. So wie die Tiere gewollt sind durch die fortschreitendegöttliche Entwicklung, sind sie nicht bestimmt, Inkarnationen zu haben wie dieMenschen. Aber wenn eine Änderung eintritt in diesem weisheitsvollen Weltenplan,wenn der Mensch eingreift und die Evolution der Tiere nicht sein läßt, wie sie sein sollteohne den Menschen, was geschieht dann? Nun, die okkulte Forschung lehrt uns, daßjeder Schmerz, jeder Tod, den der Mensch den Tieren zufügt, daß diese alle dochwiederkehren und auferstehen, nicht durch Reinkarnation, sondern weil den TierenSchmerzen und Leiden zugefügt wurden. Diese Schmerzen, diese Leiden rufen dieTierheit wieder hervor. [79] Die Tiere, denen Schmerz zugefügt wurde, werden zwarnicht in derselben Form wiedererstehen, aber das, was in ihnen Schmerz fühlt, das kommtwieder. Es kommt so wieder, daß die Schmerzen der Tiere ausgeglichen werden, so daßjedem Schmerze sein gegenteiliges Gefühl hinzugefügt wird. Diese Schmerzen, dieseLeiden, dieser Tod, sie sind die Saat, die der Mensch gestreut hat; sie kommen so wieder,daß jedem Schmerze sein gegenteiliges Gefühl zugefügt wird in der Zukunft. Um einkonkretes Beispiel zu gebrauchen: Wenn die Erde vom Jupiter ersetzt sein wird, dannwerden die Tiere in ihrer heutigen Form zwar nicht erscheinen, aber ihre Schmerzen undLeiden werden auferwecken die Empfindungskräfte der Schmerzen. Sie werden leben inden Menschen und sich in den Menschen verkörpern als parasitäre Tiere. Aus denEmpfindungen und Gefühlen dieser Menschen heraus wird der Ausgleich geschaffenwerden zu ihren Schmerzen. Das ist die okkulte Wahrheit, die man objektiv undungeschminkt sagen kann, wenn es auch dem heutigen Menschen nicht angenehm ist. DerMensch wird es einmal erleiden, und das Tier wird in einem bestimmten Wohlgefühl, ineiner guten Empfindung den Ausgleich seiner Schmerzen haben. Das geschieht auchlangsam und allmählich schon im Laufe des gegenwärtigen Erdenlebens, so sonderbar esscheint. Warum werden denn die Menschen gequält von Wesen, die eigentlich weder Tierenoch Pflanzen sind, sondern zwischen beiden stehen, die ein Wohlgefühl daran haben,wenn der Mensch leidet, von Bazillenarten und dergleichen Geschöpfen?

Page 54: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

54

Dieses Schicksal haben sie sich in früheren Inkarnationen, dadurch daß sie Leiden undTod den Tieren zugefügt haben, geschaffen. Denn das Wesen, wenn es auch nicht inderselben Form erscheint, das empfindet hinüber über die Zeiten und empfindet denAusgleich der Schmerzen in den Leiden, die der Mensch erfahren muß. So ist allesdasjenige, was an Leiden und Schmerzen geschieht, durchaus nicht ohne Folgen. Es isteine Aussaat, aus der dasjenige hervorgeht, was durch Schmerz und Leid und Tod bewirktworden ist. Es kann kein Leid, kein Schmerz, kein Tod geschehen, ohne daß dadurchetwas bewirkt wird, was später aufgeht. [80]

Betrachten wir in diesem Lichte den Tod auf Golgatha, der aus der Vereinigung desChristus mit dem Jesus von Nazareth folgte. Das erste, was demjenigen, der dieentsprechende Initiation durchmacht, klar wird, ist, daß dieser Tod auf Golgatha keingewöhnlicher Tod auf Erden war wie ein gewöhnlicher menschlicher oder ein andererTod. Diejenigen Menschen, die noch nicht an das Übersinnliche glauben, können sichüberhaupt von diesem Tod auf Golgatha keinen Begriff machen. Denn schon äußerlich hatdieses Mysterium von Golgatha etwas sehr Eigentümliches; etwas, woraus für dieMenschen viel zu erlernen ist. Von dem Mysterium von Golgatha nämlich erzählt keineGeschichtsschreibung, und die Evangelienkritiker behaupten, daß die Evangelien alshistorische Urkunden gar nicht maßgebend sind. Es sind Initiationsprinzipien auf dasangewandt, was nicht aus historischer Beobachtung geschrieben worden ist. Was aufGolgatha geschehen ist, das können die Initiierten heute noch wahrnehmen, das könnendie Menschen, die das Initiationsprinzip durchmachen, noch heute in der Akasha-Chroniksehen. Die Evangelienschreiber haben es auch nur aus der Akasha-Chronik herausgeschrieben. Ein Ereignis ist beschrieben, aber die ursprünglichen Evangelienschreiberhaben nicht daran gedacht, die Wahrnehmungen des physischen Planes dabei zu Rate zuziehen. So stark war damals schon das Bewußtsein, daß man es zu tun habe mit etwas, daszu den übersinnlichen Welten in Beziehung steht, und daß es das Wichtigste sei, einVerhältnis zu gewinnen zu den übersinnlichen Welten. Von der sinnlichen Welt aus kannein richtiges Verhältnis zu diesen Ereignissen nicht gewonnen werden. Was geschehen ist,wird durch die Initiation klar. Wenn man sagen würde: Im Beginn unserer Zeitrechunghabe ein Mensch gelebt, Jesus von Nazareth, er hätte im dreißigsten Jahre seines Lebenseine bestimmte Veränderung erfahren durch die Aufnahme des Christus und wäre nachdrei Jahren gekreuzigt worden –, so würde das ein Ereignis der fortlaufendenMenschheitsgeschichte bedeuten. Wenn man das so sagen würde, so wäre es das Gegenteilvon dem, was der Initiierte kennenlernt. [81] Es wäre eine Angelegenheit der Menschheitauf der Erde, wenn man es auch noch so sehr vergeistigte. Darauf kommt es bei demInitiationsprinzip nicht an.

Im Grunde genommen könnte man sagen – aber Sie müssen mich nicht mißverstehen–, radikal könnte man sagen: Zunächst war das, was auf Golgatha geschah, kein Ereignis,das die Menschen etwa angeht insofern sie auf dem physischen Plan sind. Zunächst!

Page 55: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

55

Nicht so, daß man erzählt, daß ein Mensch gelebt habe, Jesus von Nazareth, im Beginnunserer Zeitrechnung, der im dreißigsten Jahre seines Lebens eine bestimmteVeränderung erfahren habe durch die Aufnahme des Christus und dann gekreuzigtworden ist in seinem dreiunddreißigsten Jahre; nicht so erzählt man dieInitiationswahrheit des Christentums. Man müßte ungefähr so sagen. Der in daschristliche Prinzip zu Initiierende erfährt das Folgende: Der Erde ging voran einMondenzustand. Während dieses Mondenzustandes blieben die luziferischenWesenheiten zurück. Diese luziferischen Wesenheiten entwickelten sich neben denfortlaufenden göttlich-geistigen Wesenheiten weiter. In der lemurischen Zeit kamLuzifer an die Menschen heran, fügte sich in die menschliche Erdenentwicklung ein undbewirkte das, was gestern charakterisiert worden ist. So war Luzifer drinnen in derganzen menschlichen Entwicklung. Wäre die Menschheitsevolution mit dem Luzifer sofortgegangen, so wäre es allmählich geschehen, daß die Mission der Erde nicht an ihrZiel gekommen wäre. Die Menschheit wäre vertrocknet, das menschliche Ich hätte sichlosgelöst, wäre herausgebrochen aus der göttlich-geistigen Evolution. Auf dem altenMonde haben eine Reihe von Wesenheiten, die den übersinnlichen Welten angehören,sozusagen erfahren, daß Luzifer abgefallen ist, sich ihnen feindlich gegenübergestellthat. So mußten die Götter sehen, daß Luzifer der Gegner der fortschreitenden göttlichenEntwicklung geworden ist. Vollständig kann man zunächst außer acht lassen, was denMenschen dabei angeht. Betrachten wir das als eine Angelegenheit der Götter und ihrerGegner, der luziferischen Wesenheiten, und betrachten wir das Menschengeschlecht wieeine Schöpfung der Götter. So war die Situation. [82]

Nun gibt es etwas Eigenartiges in den geistigen, den übersinnlichen Welten. Da isteines nicht vorhanden, was auf der Erde vorhanden ist: da gibt es den Tod in allen seinenFormen nicht. In den übersinnlichen Welten verwandelt man sich, man stirbt aber nicht.Metamorphose, nicht Geburt und Tod sind da vorhanden. Zum Beispiel dieGruppenseelen, die in den übersinnlichen Welten sind, sie sterben nicht, sondern sieverwandeln, metamorphosieren sich. Geburt und Tod bestehen dort nicht, wo diephysische Welt niemals hineingewirkt hat. Nur dort, wo die Eigenschaften derphysischen Welt schon einigermaßen übergegangen sind in die Wesenheiten derübersinnlichen Welt, da ist etwas, was man als analog dem Tode betrachten kann, so wiebei den Naturgeistern; aber darauf können wir uns heute nicht einlassen. Bei dereigentlichen übersinnlichen Welt ist nicht Geburt und Tod, sondern nur Verwandlung,Metamorphose.

Bei den göttlich-geistigen Wesenheiten, die als die Schöpfer der Menschen zubezeichnen sind, kommt Geburt und Tod nicht in Betracht. Luzifer inkarniert sich auchnicht als menschliches Wesen auf der physischen Welt. Er wirkt im Menschen, durchden Menschen, gebraucht die Menschen gleichsam als sein Vehikel. So haben wir es zutun mit den Göttern und mit den luziferischen Wesenheiten, die auf ihre Schöpfungensozusagen hinunterschauen. Wäre die Evolution so fortgegangen, wäre nichts geschehenin der Welt der Götter, so wäre die Absicht der Götter mit den Menschen nicht erfülltworden. Dann hätte Luzifer den Plan der Götter durchkreuzt.

Page 56: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

56

Es mußten die Götter ein Opfer bringen – das war ihre Angelegenheit –, sie mußtenetwas erleben, das in ihre Sphäre so hineinspielte, daß es eigentlich Götter gar nichterleben können, wenn sie in ihrer Sphäre bleiben. Sie mußten aus ihren Reihen einWesen auf den physischen Plan schicken, das etwas erlebte, was sonst Götter in dengeistigen Welten gar nicht erleben können. Die Götter mußten den Christus auf die Erdehinunterschicken zur Bekämpfung des luziferischen Prinzips. [83] Im Laufe der Zeit, alsdie Zeit erfüllt war, da schickten die Götter, die man unter dem Namen der göttlichenVaterwelt zusammenfaßt, den Christus herab, daß er kennenlernte die unendlichenSchmerzen der Menschen, die für einen Gott noch etwas ganz anderes bedeuten als füreinen Menschen. Eingetreten sind damit die Götter in die Erdensphäre zur Bekämpfungder luziferischen Geister. Erleiden mußte ein Gott den Tod am Kreuze, denschimpflichsten menschlichen Tod, wie Paulus besonders betont (11). Wir durfteneinmal in der Erdenentwicklung Zeugen werden, indem wir wie durch ein Fensterhineinschauten in die geistigen Welten, von einer Angelegenheit der Götter.

Vorher – so sagt das Initiationsprinzip – mußte der Mensch unter allen Umständenhinaufsteigen in die göttlich-geistigen Welten, um des Initiationsprinzips teilhaftig zuwerden. Vor der ganzen Menschheit steht da das Initiationsprinzip in dem Mysteriumvon Golgatha, ein Ereignis, das zugleich sinnlich auf dem physischen Plane – wenn dieMenschen es nur sehen wollen – und übersinnlich ist, eine eigentliche Angelegenheit derGötter. Das ist das Wesentliche, daß einmal ein Gott durch den Tod gegangen ist, alsAusgleich für Luzifer, und die Menschen dabei haben zusehen dürfen. Das ist dasjenige,was das Initiationsprinzip als christliche Weisheit gibt, und was der eigentliche Ursprungdes Vertrauens zu der Tatsache ist, daß den Menschen als Menschen etwas als Kraftzufließen kann, was sie über die Erdensphäre und über den Tod hinausbringen kann: weileinmal die Götter ihre Angelegenheit auf Erden ausgemacht haben und die Menschendabei haben zusehen lassen. Deshalb ist dasjenige, was vom Mysterium von Golgathaausströmt, etwas Allgemein-Menschliches. Und wenn schon jeder Schmerz, ein jedesLeid, ein jeder Tod ihre Wirkung haben – sogar diejenigen, die die Menschen den Tierenzufügen –, so hat auch dieser Tod seine Wirkung. Dieser Tod war eine Saat, die von denGöttern ausgesät war; war etwas, was mit der Erde verbunden blieb und seitdemverbunden geblieben ist, so verbunden geblieben ist, daß jeder Mensch durch dasVertrauen, durch die Liebe zu den geistigen Welten es finden wird. [84] Er findet es! DerInitiierte erkennt, daß es so ist; der gläubig-vertrauende Mensch fühlt, daß ihm aus dengeistigen Welten Hilfe werden kann für sein Streben, wenn er nur genug Glauben undVertrauen entwickeln kann. In einer ganz bestimmten Weise wird sich das entwickeln.

Da waren die Zeitgenossen der ägyptischen Eingeweihten. Diese Eingeweihten habendurch Initiation den Schülern die ganze Tragik des Konfliktes der Götter mit Luziferklargemacht, indem sie in ihren Mysterien symbolisch die Osiris-Seth-Mythe vor dieMenschen hinstellten. Schon gestern haben wir betrachtet, was für Empfindungen beiden Ägyptern die Osiris-Seth-Mythe hervorrief. Da lebte das Göttlich-Geistige, zu demdie Menschen gelangen wollten; das nannte man Osiris. Aber auf der Erde kann derMensch sich mit Osiris nicht vereinigen, er muß erst durch die Pforte des Todes gehen.

Page 57: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

57

Auf der Erde konnte Osiris nicht leben, er wurde gleich zerstückelt; hier war nicht derPlatz für das in Osiris Verkörperte. Wie zu einem jenseits sah die letzte Kulturepoche vorder griechisch-lateinischen zu dem Christus, zu dem Osiris-Prinzip auf. Dann kam diegriechische Zeit, die so ganz von der Empfindung durchdrungen war, daß es besser sei,ein Bettler zu sein auf der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten. (12) In derZeit, in der dies noch innerhalb Griechenlands gefühlt wurde, in der alten Heroenzeit, dafühlte man die ganze Diskrepanz des vom luziferischen Prinzip durchzogenen Ich mit derfortlaufenden menschlichen Organisation. Die Menschen fühlten, daß die viertenachatlantische Kulturperiode so ablief, daß sie viel hineinzudrängen hatten von dem,was man gerade auf dem Erdenrund erleben kann. Daher das Abnorme, das Sonderbaredieses Zeitraumes. In keinen anderen Zeitraum fallen so viel merkwürdigeInkarnationsfolgen, wie in diesen vierten Zeitraum. Da müssen die Menschen hier aufder Erde viel austragen, weil sie mehr auf die Erde schauen als auf die jenseitige Welt,wie noch die dritte Kulturepoche getan hatte. Die Griechen schätzten dieseEinverleibung in den Osiris nicht, sie sahen mehr darauf, soviel wie möglich in diemenschlichen Inkarnationen selbst hineinzulegen; sie wollten in den Inkarnationenmöglichst viel ausleben. [85] Daher die merkwürdige Tatsache, daß Pythagoras (13), dergroße Initiator einer gewissen Richtung der griechischen Kultur, in einer früherenInkarnation als Trojanerheld auf seiten der Trojaner mitgekämpft hat, wie er selbst sagt,daß er der trojanische Held war, der im Homer entsprechend angeführt wird, und daß ersich als Gegner der Griechen wiedererkannte, weil er seinen Schild wiedererkennt. WennPythagoras erzählt, daß er Euphorbos gewesen ist, so lehrt Anthroposophie diesBekenntnis voll verstehen. Die Griechen haben besonderen Wert gelegt auf das, was dieeinzelnen physischen Inkarnationen für sie bedeuten, auch die größten unter ihnen.

Aber der vierte nachatlantische Zeitraum sollte auch die Menschen dazu führen, diegeistigen Welten in ihrer vollen Bedeutung zu empfinden, denn in jene Zeit fiel dasMysterium von Golgatha. Während im Griechentum die Menschen die äußere Welt ammeisten schätzten, da ereignete sich in einem unbekannten Winkel der Erde dasMysterium von Golgatha, da machten die Götter auf dem irdischen Schauplatz, wo dieMenschen sonst ihre menschlichen Angelegenheiten ausmachten, ihre eigenenAngelegenheiten aus.

Sah der Ägypter zum Tode hinauf, wenn er an seinen Osiris dachte, so lernte man indem vierten nachatlantischen Zeitraume kennen, wie eine zeitgenössische Religionsformda war, in welcher der Impuls lebte, der den Menschen die Empfindung bringen konnte,daß in dieser physischen Welt sich etwas abspielt, was eigentlich eine göttlicheAngelegenheit ist, die lebendige Widerlegung dessen, was die Griechen bis jetzt geglaubthatten: Es ist besser, ein Bettler zu sein auf der Oberwelt, als ein König im Reiche derSchatten. – Denn nun lernten die Griechen den kennen, der als König aus dem Reiche derGötter herabgestiegen war und als Bettler sein Schicksal auf der Erde unter den Menschenausgelebt hatte. Das war die Antwort auf die Empfindung des vierten nachatlantischenZeitraums. Das ist aber auch jener Empfindungskomplex, von dem die Strahlen für diezukünftige Erdenentwicklung ausgehen können. [86]

Page 58: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

58

Der Ägypter hatte aufgeschaut zu Osiris, der für ihn der Christus war, um sich mit ihmnach dem Tode zu vereinigen; im vierten nachatlantischen Zeitraum sah man auf dasMysterium von Golgatha als auf den zeitgenössischen Akt, der die Menschen lehrte, daßauf der physischen Welt ein Ereignis sich abgespielt hat, das eine Angelegenheit derGötter war.

Wir leben im fünften nachatlantischen Zeitraum. In unserem fünften nachatlantischenZeitraum werden die Menschen die großen Lehren von Karma zu dem anderenhinzufügen, sie werden lernen ihr Karma zu verstehen. In unserem fünftennachatlantischen Zeitraum erleben die Menschen den dritten Akt, der sich konsequentanschließt an den Osiris-Akt und an den Akt des Mysteriums von Golgatha. Sie werdenlernen, die Vorstellung zu begreifen: Ich bin auf die Erde durch die Geburt hineingestellt;mein Schicksal ist auf der Erde, ich erlebe Freude und Leid, ich muß verstehen, daß das,was ich erlebe als Freude und Leid, nicht umsonst an mich herantritt, daß es mein Karmaist, und daß es zu mir kommt, weil es mein Karma ist, mein großer Erzieher. Ich blicke aufdas, was vor meiner Geburt war, was mich in diese Inkarnation hineingestellt hat, weildieses mein Schicksal für meine Weiterentwicklung notwendig ist. Wer hat michgeschickt? Wer wird mich so lange hineinstellen in mein Schicksal auf dieser Erde, bis ichmein Karma abgetragen habe? Ich werde dies danken dem Christus, daß die Menschenimmer wieder berufen werden können zum Erleiden der Schicksale, bis sie ihr Karma aufErden ausgetragen haben. – Deshalb konnte Jesus von Nazareth, aus dem der Christussprach, nicht zu den Menschen sagen: Versucht, so schnell wie möglich aus demphysischen Leibe herauszukommen –, sondern er mußte zu den Menschen sagen: Ichwerde euch so lange in euer Schicksal auf diese Erde hineinstellen, bis ihr euer Karmaabgetragen habt. Ihr müßt euer Karma austragen. – Die Menschen werden, je mehr wir unsder Zukunft nähern, lernen, daß sie mit dem Christus vor der Geburt vereinigt waren, daßsie von ihm die Gnade erlebt haben, ihr altes Karma in den Inkarnationen abzutragen.

So schauten die Menschen des vierten nachatlantischen Zeitraums zu dem Jesus vonNazareth auf als zu dem Träger des Christus. [87] So werden die Menschen unserer Zeitlernen, daß der Christus immer übersinnlicher sich offenbaren wird und immer mehr dieKarmafäden in den Angelegenheiten der Erde regieren wird. Sie werden kennenlernenjene geistige Macht als das Schicksal, das die Griechen noch nicht erkennen konnten: dasdie Menschen dazu bringen wird, auf die angemessenste Weise in den nächstfolgendenInkarnationen ihr Karma auszutragen. Als zu einem Richter, als zu einem Herrn desKarma werden die Menschen in der Aufeinanderfolge der Inkarnationen aufschauen zudem Christus, wenn sie ihr Schicksal erleben. So werden die Menschen zu ihremSchicksal stehen, daß sie dadurch angeregt werden, ihre Seelen immer mehr zu vertiefen,bis sie sich sagen können: Mir wird dies Schicksal nicht zuerteilt durch eineunpersönliche Macht; mir wird das Schicksal zugeteilt durch dasjenige, mit dem ichmich verwandt fühle in meinem innersten Wesen. Im Karma selbst nehme ich wahr, wasmit meinem Wesen verwandt ist. Mein Karma habe ich gern, weil es mich besser undbesser macht. – So lernt man Karma lieben, und dann ist dies der Impuls, den Christus zuerkennen.

Page 59: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

59

Ihr Karma lieben lernten die Menschen erst durch das Mysterium von Golgatha. Undimmer weiter und weiter wird dies gehen und immer mehr werden die Menschen lernen,daß unter Luzifers Einfluß allein die Erde niemals an ihr Ziel hätte kommen können, daßdie Menschheitsentwicklung immer mehr hätte verderben müssen ohne den Christus.

Aber das Christentum sieht nicht auf den Christus als auf eine Persönlichkeit, als aufden Stifter eines abstrakten Religionssystems. In unserer heutigen Zeit stiftet einReligionsstifter nach den Anforderungen unserer Zeit nur Unfrieden. Nicht von einerPersönlichkeit geht die christliche Initiation aus, sondern von einer Tatsache, einemunpersönlichen Götterakt, der sich vor den Augen der Menschen abgespielt hat. Daher istdies Geheimnis von Golgatha, von dem, was sich abgespielt hat am Anfange unsererZeitrechnung, wovon die Saat dieses einzigartigen Todes ausgegangen ist, die nunaufgeht als die Liebe des Menschen zu seinem Schicksal, zu seinem Karma, in einerbesonderen Art der Menschheit überliefert worden. [88]

Wir haben gesehen, daß der Tod, den die Menschen den Tieren zufügen, eine gewisseFolge hat. Der Tod auf Golgatha wirkt wie ein Same in der menschlichen Seele, die ihreBeziehung zum Christus fühlt. So war es mit dem Mysterium von Golgatha: Der Eine istgestorben, so wie wir den einen Samen nehmen können und ihn in die Erde legenkönnen, daß er aufsprießt auf dem Acker und dasjenige sich vermehrt, was aus demeinen Samen aufgegangen ist. So wurde der Tod eines Gottes am Kreuze realisiert. DasSamenkorn wurde ausgestreut auf Golgatha, der Boden war die menschliche Seele; wasaufsprießt, sind die Beziehungen des Menschen zum übersinnlichen Christus, der niemehr verschwinden wird aus der Evolution der Erde, der immer auf dieallerverschiedenste Weise den Menschen erscheinen wird. So wie die Menschen ihnphysisch geschaut haben in der Zeit des Mysteriums von Golgatha, so werden sie in einernahen Zukunft sich erheben zu einem ätherischen Christus-Bilde: sie werden denChristus schauen, wie Paulus ihn geschaut hat.

Dasjenige, was die christliche Initiation birgt, ist bewahrt worden im Sinnbilde desHeiligen Grales, es ist gebracht worden in diejenige Gemeinschaft, die die christlicheInitiation erteilt. Für diejenigen, die die christliche Initiation erhalten, ist das, was hiergesagt ist, nicht eine abstrakte Theorie, nicht eine Hypothese, sondern eine Tatsache derübersinnlichen Welten. Die Pflege der christlichen Initiation, sie wurde denenübertragen, die Pfleger waren des Heiligen Gral und später den Pflegern derGemeinschaft des Rosenkreuzes. Unpersönlich sollte seiner ganzen Natur nach wirken,was von der christlichen Initiation ausgeht. Alles Persönliche sollte dabei ausgeschlossensein; denn das Persönliche hat nur Streit und Hader in die Menschheit gebracht und wirdes in der Zukunft immer mehr bringen. [89] Daher ist es ein strenges Gesetz fürdiejenigen, die – symbolisch gesprochen – dem Heiligen Gral dienen, oder – wirklichgesprochen – der Pflege der christlichen Initiation dienen, daß keiner von denen, die eineführende Rolle erster Ordnung zu spielen haben innerhalb der Brüderschaft des HeiligenGral oder der Gemeinschaft des Rosenkreuzes, weder sie noch die in ihrer Umgebungleben, von den Geheimnissen, die in ihnen walten, sprechen dürfen, bevor hundert Jahrenach ihrem Tode verflossen sind.

Page 60: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

60

Es gibt keine Möglichkeit, zu erfahren, was es für eine Bewandtnis mit einer führendenPersönlichkeit erster Ordnung hat, bevor hundert Jahre nach ihrem Tode verflossen sind.

Das ist ein strenges Gesetz innerhalb der Rosenkreuzergemeinschaft seit ihrerGründung. Wer ein Führer innerhalb der Rosenkreuzergemeinschaft ist, davon erfährtexoterisch nie jemand etwas, bevor nicht hundert Jahre nach seinem Tode verflossensind. Dann ist das, was er gegeben hat, schon übergegangen in die Menschheit, ist einobjektives Gut der Menschheit geworden. Daher ist alles Persönliche ausgeschlossen.Niemals wird es möglich sein, auf eine Persönlichkeit im irdischen Leibe hinzuweisenals Träger des christlichen Geheimnisses. Erst hundert Jahre nach dem Tode einersolchen Persönlichkeit würde dieses möglich sein. Das ist ein Gesetz, das alle Brüder desRosenkreuzes wohl beobachten. Nie wird ein Rosenkreuzerbruder hinweisen auf einelebende Persönlichkeit als auf einen Führer erster Ordnung in bezug auf dasjenige, wasals christliche Initiation einfließen soll in die Menschheit. So wie in den alten Zeitenschon prophetisch auf diejenigen hingewiesen werden konnte, die da kommen würden,so wie den Propheten ihre Vorläufer vorangingen – ihre Propheten –, so wie diesePropheten hinwiesen auf die Religionsstifter, die später kommen sollten, so wie in derZeit des Jesus von Nazareth die Zeitgenossen, zum Beispiel der Täufer, hinwiesen aufdenjenigen, der ihr Zeitgenosse war, so wurde die geistige Organisation der Menschheitnotwendigerweise nach dem Mysterium von Golgatha in der Weise verändert, daß esProphetenart nicht mehr sein kann, hinzuweisen auf eine Persönlichkeit, die kommenwird oder da ist. Sondern es wird auf eine Persönlichkeit, die Träger war des christlichenGeheimnisses, jener geistigen Tatsache, die von den Menschenherzen geprüft ist, ersthundert Jahre nachdem sie durch die Pforte des Todes vom physischen Plane geschiedenist, hingewiesen werden.

Alle diese Dinge geschehen nicht aus menschlicher Willkür heraus, sondern aus demGrunde, weil sie geschehen müssen. [90] Sie müssen geschehen, weil die Menschheitjetzt vor einer Zeit steht, wo Liebe, Friede und Verständnis sich verbreiten müssen indem Prozesse der Menschheitsentwicklung. Sie werden sich aber nur verbreiten, wennwir das, was da ist, unpersönlich nehmen lernen, wenn wir das vertreten lernen, was derMenschheit gegeben worden ist im Laufe der Menschheitsentwicklung, worin dieWahrheit gewirkt hat. Nicht mehr werden wir jemals, wenn wir als Abendländer einemBuddhisten entgegentreten, ihn überredend oder zwangsweise zu einem Christen machenwollen, weil wir glauben, daß das, was ihm selbst gegeben ist und was als das Tiefste inseiner Religion enthalten ist, ihn schon zum Christus hinführen wird. Wir glauben vorallen Dingen seiner eigenen Wahrheit. Wir verletzen nicht das Gefühl des Buddhisten,indem wir sagen, es sei nicht wahr, daß sein Religionsstifter, nachdem er als Bodhisattvaunter den Menschen gelebt hat, als Buddha keine Anwartschaft mehr hat auf physischeInkarnationen. Dadurch stiften wir Frieden innerhalb der Religionsbekenntnisse. So wirdin Zukunft der Christ den Buddhisten, so wird der Buddhist den Christen verstehen. DerBuddhist, der das Christentum verstehen wird, wird sagen:

Page 61: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

61

Ich begreife, daß der Christ ein Unpersönliches zu seinem Religionsprinzip macht, eineunpersönliche Tatsache, die Tatsache des Mysteriums von Golgatha; eineGötterangelegenheit, wo der Mensch zusehen und aufnehmen darf, was ihn mit demGöttlichen verbinden kann. – Kein verständiger Buddhist wird kommen und demChristen sagen, daß der Christus wieder in einem physischen Leibe verkörpert werdenkann. Er wird vielmehr darin eine Übertretung des wahren Religionsprinzips sehen. Keinneues, Unfrieden stiftendes Bekenntnis mit einem religiösen Führer persönlicher Artwird auf diese Weise in die Welt gestellt werden, sondern das Einweihungsprinzip selbstmit seinem Frieden, seiner Harmonie, seiner Verständnis stiftenden Art, wird allenReligionen belebendes Verständnis entgegenbringen und nicht die Wahrheit einerReligion der anderen aufdrängen wollen. So wie der morgenländische Buddhist demAbendländer, der ihm sagen würde, daß der Buddha im fleischlichen Leibe erscheinenkönne, antworten würde: [91] Dann verstehst du nichts davon, dann weißt du eben nicht,was ein Buddha ist –, so würde der Buddhist, der den wahren Nerv des Christentumserfaßt hat und Geist-Erkenntnis in Ernst und Würde vertritt, demjenigen, der ihm voneinem im Fleische verkörperten Christus sprechen würde, antworten: Du verstehst dasChristentum nicht, wenn du glaubst, daß der Christus wiederkommt im fleischlichenLeibe; du verstehst das Christentum ebensowenig, wie derjenige den Buddhismusversteht, der glauben würde, daß der Buddha in einem fleischlichen Leibe erscheinenkönnte. – Was der Christ, wenn er Anthroposoph ist, dem Buddhisten immer zubilligenwird, das wird der Buddhist, wenn er Anthroposoph ist, dem Christen auch zubilligen.Und so jeder Bekenner jedes Religionsbekenntnisses der Erde. So wird Anthroposophiedie große, verständnisvolle Vereinigung, die Synthese der religiösen Bekenntnisse aufder Erde bringen. [92]

Page 62: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

62

Bemerkungen zu den Vorträgen 1 – 6

In einem entscheidenden Punkt unterscheiden sich die Aussagen Rudolf Steiners zurChristologie von anderen. Wie im Vorwort angedeutet, sind sie gekennzeichnet durch eineunmittelbar spürbare Souveränität der Anschauungsart, aus der gesprochen wird. DieSinneslehre, Sprachwissenschaft oder ähnliche Leitthemen bieten an, das jeweiligeArbeitsgebiet in zeitgenössisch wissenschaftlichen oder anderen Betrachtungsperspektiveneinzubetten. Dagegen findet man das christologische Thema gleich einem Gestirngestaltet, das sich im Gleichgewicht weitausgreifender Bezüge selbst trägt. Auchtheologische Aspekte bleiben ausgeschlossen; sie werden nur gelegentlich, zumeistkritisch, gestreift. Schon der erste Vortrag erweist diesen als grundlegend für das Ganzeangenommenen geistigen Ausgangspunkt. Es gibt keine Erörterung christologischerFragen – auch nicht solche einführenden Charakters –, in der diese nicht von vornhereinmit Hinblick auf die Mysterienkultur der Menschheit betrachtet würden.

*

Die erste Folge von vier Vorträgen steht unter dem Leitmotiv «Wege zur Einführung».Im Vortrag Christus und das 20. Jahrhundert wird eingangs zur christologischenVorstellungsart der alten Gnosis gesprochen. Wie ist das Geistwesen Christi imLeibwesen des Jesus von Nazareth inkorporiert zu denken? Die Ideen über diesesVerknüpfungsgeheimnis waren in den gnostischen Vorstellungen des frühenChristentums noch unscharf. Das griechische Geistesleben hat Gedanken nicht gedacht;sondern mehr wie Wahrnehmungen «genossen». [93] Durch den Gedanken war dasErkennen noch für Geistiges ahnend geöffnet. Aus solchen Ahnungen konnte dieQualität des kosmischen Christuswesens noch von der Erscheinungsform des MenschenJesus unterschieden werden.

Der Schritt in die neuere Bewußtseinsverfassung macht gegenüber der Gnosisdeutlich, wie der Zugang zu den christologischen Geheimnissen verwissenschaftlicht, d.h. verstellt wird. Damit gewann, etwa seit dem 16. Jahrhundert, der Glaube (abgesunkenin bloßes Führwahrhalten) seinen spezifischen Lebensraum. Das christologischeErkennen erfolgt in doppelter Buchführung: alltags wissenschaftlich, am Sonntag fromm.Die komplexe Christus-Idee – nach ihrer kosmischen Erscheinungsform als Impuls undvon seiten der Menschen erfaßt als dessen Begriff – geht verloren. Es ergeben sichphilologisch-philosophische Konstrukte zum historischen Leben und allenfalls zummoralischen Rang des Jesus. Er erscheint schließlich nur noch als eine dem Sokratesvergleichbare Gestalt, die Ethisches stiftete.

Der Schritt über die Schwelle zur geisteswissenschaftlich orientierten Gedankenformführt die Betrachtung zur Christologie dahin, das Christentum als «mystische Tatsache»im Gewande irdischer Erscheinungsformen und Prozesse zu erfassen. Das «Mysteriumvon Golgatha» erscheint dem schauend gesteigerten Erkenntnis-Blick auf dem Boden derMysterien, die vorchristlich und nachchristlich die Lebens- und Kulturverhältnissegestalteten.

Page 63: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

63

Unabhängig von diesem Boden kann über Christologie nicht wesenhaft-konkret; eskönnte lediglich abstrakt darüber gesprochen werden. Schelling bemerkte im Sinne derneueren Mysterien: Das Evangelium darf nicht auf das Niveau moderner Intellektualitätheruntergezogen, sondern die in dieser Intellektualität verborgenen Seelenkräfte müssenauf dessen Niveau gesteigert werden. Die Begriffe müssen aufwachen in ein Bild-Bewußtsein, aus dem vormals die Mythologie hervortrat. Mit der Zeitenwende wird imBewußtsein eine spezifische Offenheit des begrifflichen Vermögens bewirkt. [94] Sie istbei dem Versuch entscheidend, die überbegriffliche Sprache der evangelischen Bilder zu«lesen». So kann man begreifen und ergreifen, was als «mystische Tatsache»charakterisiert wird. Wenn sich das Bewußtsein auf dieses innerlich erhöhte Niveaueinzustellen befähigt, so gilt vom Christentum als «mystischer Tatsache» dasselbe, wasin der «Philosophie der Freiheit» (3. Kapitel) von Rudolf Steiner ausgesagt wird: DasDenken ist weder richtig noch falsch; es ist eine Tatsache.

Indem sich ein solches Bildbewußtsein der Außenseite von Vorgängen, die dasEvangelium berichtet, zuwendet, erscheinen diese wie geladen mit einer sich steigerndenSinnmacht. «Christus-Impuls» – dieses Wort besagt, daß göttliches Bewußtsein durchdas menschliche Ich zu sprechen beginnt, und zwar auf dem Gang durch die Evolutionmenschlicher Bewußtseinsentfaltung mit zunehmender Intimität, Intensität undDeutlichkeit. Aus der dunklen Natur des Willens keimt ein erwachendes Auge für dasSchauen des lebendigen Geistes. Damit sind zugleich Einweihungsstufen offengelegt,durch die – über alle Volksgötter hinweg – im Gang des lebendig fortschreitendenChristentums dieses Ich-Prinzip, die Qualität eines Allgemein-Menschlichen, erreichbarwird.

Im 20. Jahrhundert tritt die eigene Erfahrung des Geistes durch die enge Pforte derFreiheit ein. Es liegt in der Natur dieses Begriffs «Freiheit», daß er im Begriff der«Erlösung» gipfelt. Vom Umfassenden der Bedeutung des Wortes abgesehen, erweistjede wirklich ichhaft erreichte Erkenntnis-Lösung (z. B. im Durchdringen eineserkannten Irrtums) eine Berührung mit dem Wiedergeburtsgeheimnis. Man wird in dieeigene Ursprünglichkeit erkennend wiedergeboren. An diesem Licht wird das Auge«sonnenhaft»: Es schaut durch die eröffnete Erlebnisart auf das Christentum als eine«mystische Tatsache». Sie ist insofern im 20. Jahrhundert auch «wissenschaftlich» zuergreifen, als das Ich sich selbst wach in der Verknüpfung selbsttragenderZusammenhänge erleben kann. Dies gilt besonders für christologische Weltmotive undderen bildhafte Überschau.

Der einleitende Vortrag war öffentlich gehalten. [95] In ihm klingen die Grundmotiveder Vorträge an, die in diesem Bande zusammengestellt wurden. Diese Anklänge sind imeinzelnen nicht aufzuführen; der Leser wird den vielfältigen Zusammenfluß der Motiveaus seiner schöpferischen Begleitung von Fall zu Fall erfahren.

*

Page 64: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

64

Der zweite Vortrag Das Christentum hat begonnen als Religion, aber es ist größer alsalle Religionen wendet sich – auf dem Boden der Mysterien – der Erscheinungsform vonReligionen zu. Rudolf Steiner bestimmt den Begriff «Religion» aus dem Verlust einesursprünglich auf Erfahrung gegründeten Zusammenhangs mit dem Übersinnlichen.Dieser verlorene Zusammenhang wird durch die verschiedenen Religionen der Völker inder Formensprache gestalteter Erinnerung wiederum präsent. Ein Weg wirdnachgezeichnet, der durch Entfaltungsstufen vom ursprünglichen Pantheismus über denAnthropomorphismus Griechenlands hinführt zum Theomorphismus des Christentums.Ein Ewiges erscheint in der historischen Gestalt Jesu.

Anthroposophie sucht den verlorenen Zusammenhang im Milieu wissenschaftlicherErkenntnisgestaltung wiederherzustellen. Dereinst war Mathematik ein Mittel, diekosmische Weltharmonie einzusehen. Heute ist Mathematik ein Mittel,weltbeherrschende Techniken auszuarbeiten. Der anthroposophische Erkenntnis-Ansatzwill die zeitgenössisch wissenschaftliche Grundhaltung vergeistigen, bis die Qualitäturalter religiöser Formensprache wiederum durchdrungen werden kann. Ihr Ziel ist, inBildern zu «lesen», wie auf anderer Ebene durch Buchstaben der Sinn gelesen wird.

Rudolf Steiner gibt den bildhaften Gedankenhinweis, daß im Verlaufe der Evolution dermit dem Kosmos noch verbundene «Ätherkopf» des Menschen mit dem physischen Kopfzur Deckung kam. Damit droht dem menschlichen Bewußtsein eine unschöpferische,ätherleere Öde, ein geistiger Tod, wenn die Bildekraft des Ätherkopfes aus der Haft imphysischen nicht wieder freigeschaffen wird. [96] Dieses Bild zeichnet einen neuerenSchritt des uralten «religere»: das Bewußtsein wird befähigt, Sinnliches undÜbersinnliches aus der Vollmacht eigener Denktätigkeit zu verknüpfen. Wer sich aufdiesen Weg begibt, wird in seinem Gedankenwesen das Schauen befreien, dem dieätherische Welt auf neue Art «erscheinen» wird.

*

Der dritte Vortrag Drei Wege der Seele zu Christus: Der Weg durch die Evangelien –Der Weg der inneren Erfahrung (zusammenzuschauen mit dem nachfolgenden Vortrag:Der Weg der Initiation verfolgt die durch die Perspektive zum Entstehungsmoment derReligionen ins Christentum hinein spezifizierte Formensprache alter Urkunden bis hin zurgegenwärtigen Erfahrungsart mit bezug auf deren Inhalte. Damit geschieht ein; dieGrundorientierung vertiefender Schritt in die Erkenntnis der spirituellen Grundlagen derChristustat: Erstens mit bezug auf die Evangelien, die Sprache von Urkunden aus alterZeit; zweitens hinsichtlich der ichhaft inneren Erfahrung, die zur Christus-Frage imgegenwärtigen Bewußtsein aufleuchten kann. Die innere Erfahrung leitet in die zukünftigeMöglichkeit hinüber, sich die Fülle dieser Fragen durch Initiation in Ideenform zuvergegenwärtigen.

Das Verständnis für die Evangelien als Urkunden ist dadurch erloschen, daß dieBewußtseinskräfte heute auf «Wissenschaftlichkeit» eingeengt sind. In alter Zeit erfuhrder Evangelienleser – fern von bloß sinnlichen Fakten – eine Lebenswirklichkeit. Sieerwuchs an Bildern, die der eigene Herzschlag durchpulste.

Page 65: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

65

Diese Wirklichkeit war begründet in einem absolut persönlichen Bezug: als ob der Leserdie Ereignisse – im Sinne einer imitatio christi – erinnerte. Für dengeisteswissenschaftlichen Ausgangspunkt macht Rudolf Steiner geltend, daßWeisheitsgaben aus der identischen Quelle geistigen Lebens in den Evangelienunabhängig wiedererkannt werden können. –

Der Mensch der Gegenwart sucht die eigene innere Erfahrung zur christologischenRealität. [97] Menschenkundliche Erwägungen weisen auf einen Zwiespalt hin: Dieleibliche Organisation und die seelische Unabhängigkeit zeigen eine differenteEvolution. Sie ist durch die Wirksamkeit Luzifers beeinflußt. Man sagt zu sich «Ich»schon im dritten Jahr der Leib-Organisation. Im Sinne organischen Werdens geschähediese Selbstbestimmung erst viel später im Leben. Jene vorverlegte Selbständigkeitemanzipiert die Ich-Organisation vom evolutionären Gang der leiblichen Organisation,so daß eine Dualität klafft, die in ihren Folgen den Menschen vertrocknen läßt und damitKrankheit und Tod begründet. Innere Erfahrung aber ist ohne diese luziferischmitbewirkte Selbständigkeit nicht denkbar.

Aus der Betrachtung eines solchen Zusammenhangs leuchtet die mitgestaltendeWirklichkeit der inneren Erfahrung auf. daß immer wieder aus der geistigen Welt hereinEinschläge, – als unbewußte Gegenkraft – den Werdegang dieser dualen Verhältnissemitbestimmen. In diesen Einschlägen zeigt sich der Christusimpuls in jenenEvolutionsschüben von Inkarnation zu Inkarnation, die u. a. durch die Wirksamkeitbedeutender Individualitäten der Menschheit zufließen, etwa den heiligen Rishis, desZarathustra, des Buddha usf. Was aus diesen universalen Geistwesens-Einschlägenspricht, wird für die heute keimende innere Erfahrung in Jesus-Christus erreichbar.Einmal trat die Summe des menschheitlichen Geistes durch die Jordantaufe unmittelbarin Erscheinung: vertikal auf dem Gang der horizontalen Evolution. Was immer dieMenschheit gefährdet, es wird im «Bringer von Gleichgewicht» erfahrbar, insoferngerade in der Ohnmacht der Organisation dieser kosmische «Einfluß» durchdringt. Derdies Erkennende ist ergriffen vom Christus-Impuls. Er wendet durch Stufen der innerenErfahrung jener Christusimpuls-Kraft den von Luzifer veranlagten Niederstieg in immerkonsequentere Verleiblichung aufsteigend auch für das Bewußtsein mehr und mehr ineine individuell gestaltete Vergeistigung. [98]

*

Der vierte Vortrag Der Weg der Initiation sammelt die Aufmerksamkeit auf eineEntwicklung, die nicht ohne Vorbereitung real werden kann. Aus konzentrativer undmeditativer Vorbereitung wird die anthroposophisch orientierte GeisteswissenschaftWege aufschließen, das Wesen der geistigen Welt nicht nur in Begriffen vorzustellen,sondern erlebend wahrzunehmen. Diese Möglichkeit bezeichnet Rudolf Steiner als den«überreligiösen Weg». Er ergibt sich aus dem Hinweis auf Begegnungsformen mitreligiösen Entfaltungen, wie sie zunächst aus den Evangelien und im Fortgang aufgrundinnerer Erfahrung in die Reichweite gegenwärtigen Erkennens aufragen. Alle Religionenwurden aus der universalen Initiation gestiftet. Anthroposophie will das Wesen derInitiation öffentlich darstellen, erreichbar für jede denkende Individualität.

Page 66: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

66

Das Christus-Prinzip ist der Wahrheitsgehalt aller Religionen. Das christlicheInitiationsprinzip erkennt das kosmische Wesen Christi im Jesus von Nazareth. DiesesErkennen erfaßt als Ausgangspunkt ein Geschehnis; nicht mehr nur eine Person. Dasinitiatorische Geschehnis des Mysteriums von Golgatha hat das Ich mit derLeibesorganisation wiederum in Übereinstimmung gebracht. Die Freiheit – mit denFolgen von Krankheit und Tod –, die aus Luzifers Einfluß auf die Menschheitsevolutionin jedem Ich erwachte, wurde durch das Geschehnis, die initiatorische Christus-Tat,menschheitlich in die göttliche Evolution eingebettet. Das Mysterium von Golgatha isteine Götterangelegenheit. Sie entbindet aus den Leiden infolge des luziferischenEinflusses durch die irdische Vergegenwärtigung des Christus eine Zukunfts-Saat imMenschheits-Karma. Das problembeladene Geheimnis des Ich-Impulses innerhalbkarma-gewordener Gesetzmäßigkeit wird als Freiheitsfrage in der gegenwärtigenKulturepoche ausgetragen. Diese Möglichkeit bedeutet Gnade. Den Christus-Impulsgewahren heißt: Im Karmawirken den Tod als Liebessaat Christi erkennen. Dieser Samefällt in den Acker der Menschenseelen. Er geht auf durch die persönliche Beziehung desMenschen zum übersinnlichen Christus. [99]

Die Betrachtung zur Initiation schließt mit dem Hinweis auf das ätherische Christus-Bild, zu dem sich dereinst vor Damaskus das Erkenntnisschauen des Paulus erhob.Geahnt haben diese Geheimnisse christlicher Initiation die Bruderschaften des Gral unddes Rosenkreuzes: Sie gewahrten sie durch die ewige Gegenwart Christi im geistiggeschauten Evangelium aeternum. Die Orientierung auf das Überpersönliche, wie Pauluses schaute, wenn er formuliert: «Nicht ich – der Christus in mir» erleuchtet gegenwärtigzunehmend die Tiefen persönlicher Lebenserfahrung. Es sprechen Formen objektiverChristus-Offenbarung in ersten Spuren dem menschlichen Erkennen ein.

Mit den Perspektiven zur Lebensgestaltung aus initiatorisch verdichteterLebenserfahrung wird das Christusverständnis durch die nachfolgenden vier Vorträgeweiter vertief. Von diesen werden hier noch zwei in Form vorausschauenderBemerkungen angesprochen. Damit ergibt sich dem Leser ein Übergang aus den mehreinführenden Betrachtungen, gipfelnd im zeitgenössischen Suchweg zu selbständigeninneren Erfahrungen, in jene inneren Erkenntniserfahrungen, die an die identifizierbarenQualitäten von Staunen, Mitgefühl und Gewissen anknüpfen. Ferner gewinnt in derErfahrungssphäre die jeden betreffende Aufgabe dieses Zeitalters Gestalt, sich einVerhältnis zur Christustat selbständig zu erschließen – im Durchgang durch die ihrwiderstrebenden Mächte des Bösen.

***

Der Vortrag Staunen, Mitgefühl und Gewissen. Das Bleibende des Christus-Impulses spricht über fundamentale, jedem Menschen zugängliche Erfahrungen, die dasVerhältnis zur übersinnlichen Welt betreffen. Zugleich drückt sich in diesem Verhältnisjeweils eine spezifische Zuordnung der Menschheit zum Übersinnlichen aus. InGriechenland erwacht in der Begegnung mit der «gegenständlichen» Welt amUnbegriffenen ein Ausgangspunkt inneren Erfahrens im Staunen. Übersinnlicheserweckt Staunen, insofern die Sinnlichkeit den Sinn nicht ausspricht. [100]

Page 67: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

67

Die philosophische Gedankenbewegung wird im Staunen entbunden. Wie aus den Sinnendas Wunder des Staunens, so keimt als Wunder aus den Tiefen der menschlichen Seeledas Mitgefühl. Der Mensch lebt sich hinüber in die übersinnlichen Rätsel der anders,unbekannt gearteten Ich-Sphäre eines Mitmenschen. Ebenso kann als Wunder die Kraftdes Gewissens erfahren werden: das ihm aus der moralischen Weltordnung zukommendeKorrekturerlebnis im Verhältnis zu den Folgen seiner Taten. Die Kraft des Gewissensoffenbart sich als Stimme des Übersinnlichen im Sinnlichen. Sie setzt sich gegen diezumeist übermächtige Quelle der Emotionen durch, indem sie ebenso ein Verhältnis zurgeistigen Welt bestätigt wie es jene anderen Brücken eröffnet – im Mitgefühl und imStaunen.

Was in diesen drei Erfahrungen die Grenzen des physischen Daseins überschreitet,offenbart zugleich «Früchte» der irdischen Verkörperung. Diese werden derbewußtseinsbildenden Absonderung von Gegenständen, anderen Menschen und vomgeistig-moralischen Kosmos verdankt. Die Erdenevolution ist ihr Beet und sie werdenseit der griechisch-römischen Kulturepoche menschheitlich veranlagt. Seither wachsendie Keime dieser Befähigungen.

Im gleichen Zeitraum lebte sich der Christus-Impuls als Mysterium von Golgathadurch die Jordantaufe den Erdverhältnissen ein. Absteigend verleiblichte er sich –einmalig – in den Zusammenhang von Astralleib, Ätherleib und physischem Leib eineserlesenen Menschen, des Jesus von Nazareth. – Die Naturreiche im Zusammenhang derErden-Leiblichkeit werden dereinst abgeworfen wie der Leichnam des Menschen. Wasaber zum Erdenende hin durch Staunen, Mitgefühl und Gewissen von seiten derMenschheit aufsteigend an Bilde-Kräften ausgestaltet wurde, wird in den Hüllen desChristus überdauern. Das Staunen lebt im Seelen-Leib, das Mitgefühl im Lebens-Leib,das Gewissen im physischen Leib des Christus-Impulses fort. Der Mensch ist durch dieEntfaltung dieser Qualitäten über sein begrenztes Ich hinausgeschritten; er lebt sichdadurch den «Hüllen des Christus» ein. [101] Geschieht dies nicht, so verbleibenGleichgültigkeit, Lieblosigkeit und Gewissenlosigkeit: schwere Schädigungen für diechristliche Zielsetzung irdischer Evolution. Diese von aller Konvention entfernteVorstellungsart bleibt nicht anonym, gesichtslos. Aus der vielfach individualisiertumhüllenden Menschheitsgabe von Staunen, Mitgefühl und Gewissen erwacht einwerdendes Antlitz Christi. In diesem Antlitz erscheint der Ausdruck dafür, daß Erde undMenschheit ihren Bezug durch Individualitäten spiritualisiert haben. Rudolf Steinerbeschreibt eine Art Imagination dieses Antlitzes: Mund und Kinn, ermächtigt aus der Kraftdes ausgesprochenen Gewissens; die Augen, tief vom Mitgefühl durchseelter Freuden undLeiden; die Stirn, überglänzt von verwundertem Staunen angesichts der Mysterien derWelt.

*

Page 68: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

68

Jeder gegenwärtige Mensch lebt die Auseinandersetzung mit dem Bösen. Der VortragDie Christus-Tat und die ihr widerstrebenden Mächte gibt dem Erkennen in diesemRingen einen ersten, überschaubar gegliederten Einblick in die dreifache Macht desBösen, wie sie sich vor dem Hintergrund der Christus-Wirksamkeit auf Erdenabzeichnet. Bei solchen geisteswissenschaftlichen Betrachtungen werden keineaustauschbaren Begriffe vorgebracht, die lediglich eine «Weltanschauung»kennzeichnen. Es handelt sich vielmehr um die Aufzeichnung eines Erkenntniswegs alsLebensgut: als «realen Faktor». Die Betrachtung steigt in die Sphäre individuellerLösungsversuche eines schweren Daseinsrätsels hinab. Wenn auch in vereinfachenderFormulierung, so greift Rudolf Steiner doch weit aus in die Bildungen einer Vorwelt, dadie weltbaumeisterlichen Mächte, die an Erde und Mensch wirken, sich einerseitsvoranschreitend, andererseits retardierend zeigen.

Die Beschreibung erfaßt drei Erscheinungsformen des Bösen. Zunächst dieluziferische, die sich auf die empfindende Seele des Menschen bezieht. Sie bewirkt, daßder Mensch sinnliche Eindrücke von der Erde her zu begehren beginnt. [102] Er könnteihnen verfallen. Doch erwacht in dieser Begegnung die anfängliche Freiheit einerkonsolidierten Innerlichkeit. Ohne diesen Eingriff wäre der Mensch ein bloßes Ebenbildder Gottheit geblieben: ohne Leidenschaften, ohne Gefallen an der Erde, ohne Freiheit –ohne Selbstheit verharrend im Daueraufblick zu den Göttern. Die allemGegenständlichen aufgeschlossenen Augen und die daraus folgende sinnliche Begierdeerwirken zugleich auch deren Konsequenz: die Macht des Ausgleichs gegenüber demluziferisch Bösen durch Leiden, durch Krankheit und Tod.

Die in der Evolution nachfolgende ahrimanische Wirksamkeit des Bösen begründet,was aus dem Sturz in die sinnliche Begierde für die verständige Seele des Menschenfolgt: der Fall in Irrtum, Lüge und Illusion – der Sünde des Bewußtseins. Dieseintellektuelle Absonderung vom geistigen Weltwesen wirkt zwingend dahin, daß derMensch die Umwelt für lediglich «materiell» hält. Dem ungeistigen Sehen verknüpft sichdas ungeistige Verstehen. Auch hier waltet eine Folge-Konsequenz. Durch dieKarmagesetzmäßigkeit wird das Gespinst von Irrtum, Lüge und Illusion ausgleichendkorrigiert. – Würde der Mensch in den luziferischen Einfluß versinken, so müßte er insich selbst hinschwinden. Würde er in den ahrimanischen Einfluß versinken, so müßteihn die Welt auslöschen. Gegenüber der ahrimanischen Natur des Bösen bewirkt dieKonsequenz des Karma, daß jeder das erntet, was er gesät.

In der Gegenwart begegnet man ersten Spuren der asurischen Macht des Bösen, diesich über die selbstbewußte Seele auf das Ich auswirkt. Diese Wirksamkeit suggeriert,daß das menschliche Ich nichts sei als ein bloßes Ergebnis der physischen Welt. Wennsich das Ich auf diese Weise «vereinigt mit der Sinnlichkeit der Erde», so entsteht einefür das Wesen des Menschen unmögliche, «tierhafte» Ferne von der geistigen Welt. Seinoriginales Wesen zerfiele in bloße Berechenbarkeit einerseits und in ziel- und zweckloseSinnlichkeit andererseits. Die Möglichkeit eines Ausgleichs für den durch das asurischeWirken drohenden Verlust der Ich-Qualität bleibt noch zukünftigen Erfahrungen derMenschheit offen. [103]

Page 69: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

69

Im Hintergrund dieser überblicksartigen Zeichnung der Wirkensformen des Bösen stehtder Christus-Impuls. Bezüglich Luzifer und Ahriman gleicht er die Folgen einerseits überden Tod, andererseits über das Karmagesetz aus. Durch den göttlichen Vermittler, wie z.B. Vishva-Karman (Indien), Ahura Mazdao (Persien), Osiris (Ägypten) werden derEvolution Fähigkeiten einverleibt, durch die der Mensch Gleichgewicht herstellen kann.Das verlorengegangene Verhältnis zur geistigen Welt wird durch die Christus-Einschlägein die Evolution zurückgewonnen. Die Christus-Kraft verwandelt sich im menschlichenIch durch das Mysterium von Golgatha in den Keim einer bewußten christlichenErkenntnis. So wird Luzifer durch die Freiheit erlöst und zur heilenden Geistigkeit, diedurch das Pfingstereignis einleuchtet. «Christus verus luciferus» (frühchristliche Inschrift).Luzifer wird, durchchristet, zum Träger des Lichtes. Christus, erfahren im freienErkennen, erscheint als dieses Licht selbst.

Die Auseinandersetzung mit dem Bösen auf der Erde gipfelt in «erworbenerUnsterblichkeit», die sich durch die Hierarchie der Menschheit der geistigen Welt«einverleibt». Auf diesem Gang wird die Erbsünde, die vererbte Absonderung vom Wesender Welt, überwindbar. Geisteswissenschaft vermittelt mehr als ein bloßes Wissen übersolche Zusammenhänge der Welt. Der Erbsünde gegenüber eröffnet ihre Erkenntnisformeine Weisheit, die im individuellen Ringen gewachsen ist und weiter wächst; die alswesenhafte Macht des menschgewordenen Geistes am christlichen Bilde der Weltmitgestaltet. [104]

Page 70: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

70

Lebens-Erfahrungen

Staunen, Mitgefühl und Gewissen.Das Bleibende des Christus-Impulses

Sie wissen, daß eine oftmals wiederholte Frage des Lebens und auch der Philosophie dieist nach dem sogenannten Sinn des ganzen Daseins. Nun haben wir uns ja wohl im Laufeder Zeit durch unsere geisteswissenschaftliche Arbeit ein wenig Bescheidenheit gerade inder Beziehung angewöhnt, die hier in Betracht kommt. Wir wissen, daß der Mensch zwardurch die Erforschung der geistigen Welten über die gewöhnliche Sinneswelt hinausschautoder denkt; aber wir wissen auch, daß wir uns keineswegs anmaßen können, irgendwiegleich zu sprechen von den letzten Ursprüngen oder dem letzten und höchsten Sinn desLebens. Das oberflächliche Denken wird ja allerdings da einwenden: Was wissen wir dannüberhaupt, wenn wir nichts wissen können von dem Sinn des Lebens?

Wir haben schon öfter einen Vergleich gebraucht, der uns hervorgehen kann aus demGeiste der Geisteswissenschaft und uns sozusagen über das, was bei dieser Frage möglichoder unmöglich ist, aufklären kann. Wir haben gesagt, wenn jemand irgendwo hinreisenwollte und man ihm zunächst an seinem Orte nur sagen könnte, wie er den Wegeinzuschlagen habe nach einem viel näheren Orte, ihn aber mit der Gewißheit entlassenwürde, daß man ihm an diesem Orte weiterhelfen würde, so könnte er, wenn er auchstreckenweise sich durchfragt, zwar nicht wissen, wie der Weg zu dem letzten Ziele ist,aber doch sicher sein, daß er an sein letztes Ziel kommen wird, weil er immer von Ort zuOrt weiterkommen kann. So fragen wir als Schüler der Geisteswissenschaft nicht nach den«letzten Zielen», sondern nach den nächsten, das heißt nach dem Erdenziel, und wissen,daß es gar keinen rechten Sinn hätte, nach den letzten Zielen zu fragen. [107] Denn wirhaben erkannt, daß es sich im Menschen leben um Entwicklung handelt. So daß wir unsklar sein müssen, daß wir im jetzigen Zeitpunkt unserer Entwicklung überhaupt nichtsverstehen könnten von den späteren Entwicklungszielen und daß wir uns erst zu einemhöheren Standpunkt entwickeln müßten, um ein Verständnis für das zu gewinnen, was miteinem späteren Ziele gemeint ist. Wir fragen also nach dem nächsten Ziel und sind unsklar, daß – indem wir uns gerade dieses nächste Ziel als ein Ideal vorhalten, es erstrebenund, wenn wir die rechten Mittel gebrauchen, es auch erreichen werden – wir dadurch zueinem weiteren Punkte unserer Entwicklung kommen, so daß wir an diesem Punkte wiederdie rechte Frage nach dem nächsten Ziel stellen können und so fort. Während es alsoscheinen könnte, daß durch Geisteswissenschaft der Mensch unbescheiden gemacht würde,weil er über die gewöhnliche Welt hinaussieht in eine geistige Welt hinein, wird ergegenüber dem, was man oft leichthin an den Fragen über allerhöchste Dinge aufwirft, imGegenteil gerade über diese allerhöchsten Dinge bescheiden gemacht.

Page 71: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

71

Nach dem Erdenziel fragen wir uns zunächst. Mit anderen Worten: Wir fragen uns,was der Mensch durch die Entwicklungsperiode, wo er durch jene physischenVerkörperungen durchgeht, die wir die physischen Verkörperungen im Fleische auf derErde nennen, vorzugsweise hinzuträgt zu dem, was in den vorhergehendenEntwicklungsperioden gewonnen ist, in der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit. – Um diesins Auge zu fassen, wollen wir uns Dinge vor die Seele führen, welche wir von dieseroder jener Seite her schon kennen, die uns heute aber dazu dienen sollen, recht konkreteBegriffe mit dem zu verbinden, was man den Sinn der Erdenentwicklung nennen könnte.Da sei zunächst auf etwas aufmerksam gemacht, worauf in anderem Zusammenhangeschon hingewiesen ist.

Als in der Zeit, in welcher innerhalb der griechisch-lateinischen Kulturperiode – mankönnte fast genau sagen: im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – das gegenwärtigevernunftgemäße, verstandesgemäße Denken der Menschheit begann, da wurde einGedanke oft und oft geäußert: [108] der Gedanke, daß alle Philosophie, alles tiefereNachdenken über die Geheimnisse des Daseins ausgehe von dem, was manVerwunderung oder Erstaunen nennen kann. Das heißt mit andern Worten: So lange derMensch über die Dinge, die ihn umgeben, über die Erscheinungen, innerhalb welcher erlebt, keine Verwunderung, kein Erstaunen hegen kann, so lange lebt er gedankenlos hinund fragt nicht in einer vernunft- oder geistgemäßen Art nach dem, «warum» die Dingeso oder so verlaufen. «Von der Verwunderung oder dem Erstaunen geht allesPhilosophieren aus» – Das war ein immer wiederkehrender Spruch in der altengriechischlateinischen Kulturperiode. Was bedeutet für das menschliche Seelenlebendieser Spruch?

Wenn ein Mensch noch niemals eine Lokomotive fahren gesehen hat – es ist ja heuteinnerhalb der europäischen Kultur schon schwer, einen solchen Menschen aufzufinden,aber es ist noch gar nicht lange her, da konnte man noch solche Menschen finden; jetztmuß man dazu schon nach recht entfernten Gegenden gehen –, so wird er, wenn er eineEisenbahn fahren sieht, sich verwundern, wird sich namentlich darüber wundern, daßsich da etwas vorwärts bewegt und gar nicht diejenigen Kräfte zum Vorwärtsbewegenhat, die er zu sehen gewohnt ist, wenn ein Vorwärtsbewegen in Betracht kommt. Es ist jabekannt, daß viele solche Menschen, die erstaunt waren, wenn sie eine Lokomotivehaben fahren sehen, gefragt haben, ob die Pferde im Innern wären, welche dieLokomotive vorwärts bewegten. Warum waren die Leute erstaunt, verwundert über das,was sich ihnen darbot? Sie waren deshalb erstaunt, weil sie etwas gesehen hatten, wasihnen in gewissem Sinne bekannt war und doch wieder unbekannt vorkam. Bekannt warihnen, daß sich etwas vorwärts bewegt. Aber alles, was sich vorwärts bewegt, hatten siemit ganz anderen Kräften ausgestattet gesehen. Jetzt zeigte sich ihnen einVorwärtsbewegen, wie es sich vorher niemals gezeigt hatte. Das ruft die Verwunderunghervor. [109]

Page 72: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

72

Wenn nun die Philosophen der griechisch-lateinischen Kulturzeit erst dadurchPhilosophen sein konnten, daß sie sich verwundern konnten, so müßten sie solcheMenschen gewesen sein, die alles, was in der Welt vorgeht, zugleich als ein Bekanntesund Unbekanntes empfanden, indem nämlich das, was geschieht, ihnen so dünkte, daß esnicht auf die Art geschehen konnte, wie es geschah; daß etwas gesucht werden müßte inalledem, was da um sie herum vorgeht, was ihnen unbekannt war.

Woher kommt es denn, daß sich sozusagen die Philosophen gegenüber allen Dingenso stellen mußten, als ob sie ihnen gänzlich unbekannt wären in bezug auf gewisseKräfte oder Ursachen, die in ihnen walten? Da man nun annehmen muß, daß diePhilosophen mindestens auch so gescheit sind wie die Leute, die sich gar nicht um ihreUmgebung kümmern, so kann man nicht voraussetzen, daß die Philosophen nur das, wasman mit den gewöhnlichen Sinnen wahrnimmt, in den Dingen annehmen können. Siemüssen also etwas anderes in den Dingen vermissen oder ahnen, was sie inVerwunderung setzt: das heißt etwas, was nicht innerhalb der Sinneswelt ist. Daherhaben auch die Philosophen zu dem, was in der Sinneswelt ist, immer ein Übersinnlichesgesucht, solange es keinen Materialismus gegeben hat. Also darf man sagen, dieVerwunderung, das Erstaunen der Philosophen muß sich eigentlich darauf beziehen, daßsie gewisse Dinge nicht mit dem begreifen können, was sie mit den sinnlichen Augensehen, sondern daß sie sich sagen müssen: Was ich da sehe, das entspricht nicht dem,was ich mir davon vorstelle; ich muß mir übersinnliche Kräfte darin vorstellen. – Aber inder Sinneswelt sehen die Philosophen keine übersinnlichen Kräfte. Das allein würde füreinen denkenden Menschen schon hinreichen, sich klarzumachen, daß eine, wenn auchnicht ins Bewußtsein hereinreichende, aber unterbewußte Erinnerung im Menschen istseit den Zeiten, in denen die Seele etwas anderes gesehen hat als die Sinnesdinge. Dasheißt, die Seele erinnert sich an Dinge, die sie durchgemacht hat, bevor sie in dasSinnesdasein eingetreten ist, und sagt sich daher: Ich bin verwundert, daß ich da Dingesehe, die mich in ihren Wirkungen nur erstaunen und die anders sind als alles, was ichfrüher gesehen habe, die also erklärt werden müssen mit Kräften, die ich erst heraufholenmuß aus der Welt des Übersinnlichen. – [110] Deshalb also beginnt alles Philosophierenmit dem Erstaunen oder der Verwunderung, weil der Mensch in der Tat an die Dinge soherantritt, daß er, bevor er in die Sinneswelt eingetreten ist, aus einer übersinnlichenWelt kommt und nun die Sinnesdinge nicht dem entsprechen, was er in derübersinnlichen Welt wahrgenommen hat. Daher verwundert er sich, verwundert sich,weil die Dinge Wirkungen zeigen, die er nicht aus der übersinnlichen Welt kennt.

So weist uns die Verwunderung oder das Erstaunen auf den Zusammenhang desMenschen mit der übersinnlichen Welt hin als auf etwas, was einer Sphäre angehört, dieder Mensch nur betreten kann, wenn er aus seiner Welt, in die er durch den physischenLeib eingeschlossen ist, hinauskommt. Das ist eines, was uns hier auf dieser Welt zeigt,daß der Mensch fortwährend den Drang hat, über sich hinauszukommen.

Page 73: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

73

Wer nur in sich selber bleiben kann, wen die Verwunderung nicht hinaustreibt ausdem gewöhnlichen Ich, der bleibt ein Mensch, der nicht über sich hinauskommen kann;der die Sonne auf- und untergehen läßt und so weiter, ohne sich sonst um etwas zukümmern. Das tun die unkultivierten Völker.

Ein Zweites, das den Menschen loslöst aus der gewöhnlichen Welt, das ihn hier schonaus einer bloß sinnlichen in eine übersinnliche Anschauung bringt, ist das Mitleid oderMitgefühl. Ich habe das auch schon hervorgehoben. Das Mitleid erscheint dem, dergedankenlos durch die Welt geht, nicht als ein großes Geheimnis oder ein besonderesMysterium. Dem aber, der denkend durch die Welt geht, erscheint gerade das Mitgefühlals ein Wunder, als ein großes Mysterium. Wenn wir ein Wesen nur von außenanschauen, bietet es unseren Sinnen und unserem Verstande das dar, was von denEindrücken herrührt, die von ihm kommen. Wenn wir aber Mitgefühl entwickeln, tretenwir über die Sphäre der Eindrücke, die das Wesen auf uns macht, hinüber; dann lebenwir mit, was in dem geheimsten Allerheiligsten in den Wesen vorgeht, leben uns hinübervon unserer Ich-Sphäre in die Sphäre des andern Wesens. [111] Das heißt: wir kommenvon uns los; wir gehen von dem, daß wir für gewöhnlich im physischen Leibeeingeschlossen sind, hinweg und kommen in das hinüber, was das andere Wesen in sichschließt und was in dieser Welt schon ein Übersinnliches ist, denn wir können nicht mitunseren Sinnen oder unserem Verstande in die Seelensphäre des andern Wesenshinüberkommen. Mitgefühl, daß es da ist in der Welt, ist ein Beweis dafür, daß wir schoninnerhalb der Sinneswelt von uns loskommen, aus uns heraustreten und in andere Wesenhinübergehen können. Wir wissen, daß es ein sittlicher Defekt, ein sittlicher Mangel desMenschen ist, wenn er nicht Mitgefühl entwickeln kann. Wenn er sozusagen in demAugenblick, wo er von sich loskommen sollte und in das andere Wesen hinübertretensollte, um nicht seinen Schmerz, seine Freude, sondern den Schmerz und die Freude desandern Wesens mitzuerleben, wenn er in dem Moment zu fühlen aufhört, gleichsamohnmächtig wird, dann ist das ein sittlicher Mangel. Der vollständige Erdenmensch mußdurch das Mitgefühl mit andern Wesen über sein Erdenleben hinaustreten können, mußmitleben können, was nicht er ist, sondern was ein anderes Wesen ist.

Auf ein Drittes, wodurch der Mensch über das, was er zunächst im physischen Leibeist, hinauskommt, haben wir auch schon aufmerksam gemacht. Es ist das Gewissen. Imgewöhnlichen Leben wird der Mensch dieses oder jenes begehren, was seinen Triebenoder Bedürfnissen entspricht, wird dem nachgehen, was ihm sympathisch ist, wird dasvon sich wegstoßen, was ihm antipathisch ist. Wenn der Mensch so handelt, wird er garmanches tun, wovon er sich dann selber eine Kritik abringt, indem die Stimme desGewissens über ihn kommt, ihn sozusagen korrigiert. Von dieser Stimme des Gewissenshängt es auch ab, je nachdem sie so oder so spricht, ob der Mensch letzten Endeszufrieden sein darf mit dem, was er tut, oder nicht damit zufrieden sein darf. Damit aberist bezeugt, daß der Mensch in dem Gewissen wieder etwas hat, wodurch er über dieSphäre dessen, was er in seinen Trieben und so weiter als sympathisch oder antipathischempfindet, hinausgeht. [112]

Page 74: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

74

Erstaunen und Verwunderung, Mitleid oder Mitgefühl und das Gewissen sind die dreiDinge, durch welche der Mensch schon im physischen Leben über sich hinausgeht;durch die in dieses physische Leben Dinge hereinleuchten, die nicht auf dem Wege desVerstandes und der Sinne in diese menschliche Seele hereinkommen können.

Nun muß es leicht begreiflich sein, daß diese drei Kräfte nur möglich sind, sich nurausbilden können, wenn der Mensch durch die Inkarnationen im fleischlichen Leibedurchgeht, wenn ihn ein fleischlicher Leib abtrennt sozusagen von dem, was da aus einerandern Sphäre in seine Seelensphäre hereintritt. Würde nicht ein fleischlicher Leib denMenschen von der geistigen Welt abtrennen und ihm die Außenwelt als eine sinnlicheWelt darbieten, so würde er nicht erstaunen können. Der sinnliche Leib ist es durchaus,wodurch es kommt, daß der Mensch über die Sinnesdinge erstaunen kann und den Geistzu den Dingen hinzusuchen muß. Wenn der Mensch nicht von den andern abgetrenntwäre, sondern wenn die Menschen als eine Einheit leben würden, so daß sich eingemeinsames Geistiges durch das Bewußtsein eines jeden hindurchziehen würde; wennnicht jede Seele in einem physischen Leibe wäre, der sozusagen eine undurchdringlicheHülle für sie aufbaut und sie abtrennt von den andern, so könnten wir auch nicht dasentwickeln, was wir Mitgefühl nennen. Und wenn dieser sinnliche Leib des Menschennicht dazu veranlagt wäre, Dinge zu suchen, die nur von der sinnlichen Welt bedingt sindund durch etwas anderes in ihm korrigiert werden können, so würde nicht das Gewissenals eine geistige Kraft, die hereinspricht in seine Welt der Triebe, Leidenschaften undBegehrungen, empfunden werden können. So muß der Mensch im physischen Leibeverkörpert sein, damit er diese drei Dinge – Erstaunen oder Verwunderung, Mitgefühlund Gewissen – erleben kann.

In unserer Zeit kümmert man sich wenig um solche Geheimnisse, die aber tiefbedeutsam die Welt des Daseins aufklären. Aber es ist im Grunde genommen noch nichtso lange her, da haben sich die Menschen sehr wohl um solche Geheimnisse gekümmert.Sie brauchen sich nur eines klarzumachen. Versuchen Sie sich einmal zurechtzufindenzum Beispiel in der Welt der griechischen Götter, jener Götter, von denen Homererzählt. [113]

Versuchen Sie einmal alles das auf Ihre Seele wirken zu lassen, was diesegriechischen Götter handelnd vollziehen. Oder versuchen Sie sich klarzumachen, was dieImpulse bei einem Wesen sind, das noch wie ein letzter Rest einer früherenErdengeneration dasteht – bei Achilles, der ja auch von einer göttlichen Mutterabstammt. Gehen Sie durch die Ilias und Odyssee, fragen Sie Homer, ob in diesenzwischen Menschen und Göttern stehenden Wesen je sich so etwas regte, was manGewissen oder Mitleid nennen könnte? Denken Sie nur einmal, daß Homer seine ganzeIlias noch darauf aufbaut, daß eigentlich da wütet und wüstet der «Zorn des Achill». Dasheißt, eine Leidenschaft, eine eminente Leidenschaft ist es, und Sie müssen allesabziehen, was sonst in der griechischen Sage steht: die Ilias handelt von nichts anderem,als von den Ereignissen, die eingetreten sind durch den Zorn des Achill, das heißt durcheine Leidenschaft.

Page 75: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

75

Sehen Sie auf alles, was Achill im Laufe der Darstellung vollbringt und versuchen Sie,ob Sie nur einmal sagen können: Bei Achill regt sich so etwas wie Mitleid oderGewissen. Aber das regt sich auch nicht einmal, was man Erstaunen oder Verwunderungnennen kann. Das ist gerade die Größe des Homer, daß er solche Dinge in einer sobewunderungswürdigen Weise darstellt. Verfolgen Sie in der Ilias, welche Miene Achillmacht, wenn man ihm erzählt, dieses oder jenes Furchtbare ist geschehen. Er verhält sichganz anders als ein Mensch, der erstaunt oder verwundert ist. Und nehmen Sie dann diegriechischen Götter selber: sie entwickeln alle möglichen Triebe, von denen Sie sagenkönnen, daß sie einen entschieden egoistischen Charakter bei einem Menschengewinnen, der im physischen Leibe eingeschlossen ist. Bei den Göttern sind sie geistig.Aber bei allem, was da innerhalb der griechischen Götterwelt vorgeführt wird, ist keinMitleid, kein Gewissen, auch nicht das, was wir Erstaunen nennen können. Warumnicht? [114] Weil Homer und die Griechen wußten: es handelt sich da um Wesen, dieden früheren Zeiten angehören, die der Erdenzeit vorangegangen sind, wo die Wesen, diedamals ihre Menschheitsentwicklung durchgemacht haben, je nach den planetarischenZuständen, die vorher waren, noch nicht in ihre Seele Erstaunen, Mitleid und Gewissenaufgenommen haben. Diesen Zug muß man durchaus beachten, daß frühere planetarischeZustände, die unsere Erde durchgemacht hat und wo solche Wesen, wie sie die Griechenin ihren Göttern verehren, ihre Menschheitsstufen durchgemacht haben, durchaus nichtdazu da waren, um Erstaunen, Mitleid und Gewissen in der Seele anzupflanzen. Dazu istdie Erdenentwicklung da. Das ist der Sinn der Erdenentwicklung, daß auf diesem Bodendas in die Gesamtentwicklung eingepflanzt wird, was ohne die Erdentwicklung nicht dasein würde: Erstaunen, Verwunderung, Mitgefühl und Gewissen.

Erinnern Sie sich, wie ich Sie selbst darauf aufmerksam gemacht habe, wie sozusagendas Gewissen nachweislich in einer gewissen Zeit des Griechentums entstanden ist; wiewir noch zeigen können, daß bei Äschylos das, was wir Gewissen nennen, gar keineRolle spielt, daß bei ihm noch die Erinnerungen an die rächenden Furien vorhanden sindund daß dann erst bei Euripides klar herausgearbeitet ist, war wir Gewissen nennen. Esentsteht der Begriff des Gewissens erst nach und nach in der griechisch-lateinischenKulturepoche. Von dem Begriff der Verwunderung oder des Erstaunens habe ich Ihnenheute sagen können, daß er sich erst in der Zeit entwickelt, als man anfängt zuphilosophieren im Stile der griechisch-lateinischen Zeit. Und wenn wir einemerkwürdige Tatsache der geistigen Erdenentwicklung betrachten, so wirft dieseTatsache ein weithin bedeutsames Licht auf das, was man Mitleid, Mitgefühl, was manim echten Sinne auch Liebe nennen kann. In unserer heutigen materialistischen Zeit istes sogar außerordentlich schwierig, gerade über diesen Begriff von Mitgefühl und Liebedie rechte Anschauung zu erhalten. Denn es werden ja viele von Ihnen wissen, wiegerade in unserer heutigen materialistischen Zeit dieser Begriff verschoben, karikiertwird, indem der Materialismus in unserer Zeit den Begriff der Liebe so nahe wie möglichheranrückt an den Begriff der Sexualität, mit dem er gar nichts zu tun hat. [115]

Page 76: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

76

Das ist ein Punkt, wo unsere gegenwärtige Geisteskultur sogar nicht nur dasVernünftige verläßt, sondern das verläßt, was irgendwie überhaupt noch bei einemgesunden Denken zulässig ist. Hier kommt bereits die Entwickelung in unserer Zeitdurch ihren Materialismus nicht nur in das Unvernünftige und Unlogische, sondern indas Schändliche hinein, wenn so nahe aneinandergerückt werden, was man Liebe nennenkann und was sich unter dem Begriffe der Sexualität verzeichnen läßt. Daß untergewissen Umständen zu der Liebe zwischen Mann und Weib die Sexualität herantretenkann, begründet nicht, daß man diese beiden Begriffe so nahe als möglich aneinanderheranbringt: das Umfassende der Liebe und des Mitgefühles und das ganz Spezifischeder Sexualität. Und logisch ist es ebenso gescheit, wenn man den Begriff, sagen wir derLokomotive und des Menschenüberfahrens, weil manchmal Lokomotiven auchMenschen überfahren, als zwei zusammengehörige Begriffe betrachtet, wie man heuteden Begriff der Liebe und den der Sexualität zusammenrückt, weil sich die Dinge untergewissen Verhältnissen äußerlich beieinander finden. Aber das rührt nicht her vonirgendeiner wissenschaftlichen Voraussetzung, sondern von der unsinnigen und sogarteilweise ganz ungesunden Denkweise unserer Zeit.

Dagegen ist eine andere Tatsache unendlich geeignet, uns hinzuweisen auf dasBedeutsame im Begriffe der Liebe und des Mitgefühls. Nämlich jene merkwürdigeTatsache, daß sich in einem bestimmten Zeitpunkt, man möchte sagen, bis zu allenVölkern hin im Laufe der Menschheitsentwicklung etwas begibt, was in vielemWesentlichen voneinander verschieden ist, in einem aber über die Erde hin gleich: in derAnnahme des Liebesbegriffes, des Begriffes des Mitgefühls. Und da ist es wiedermerkwürdig, daß fünf, sechs, sieben Jahrhunderte vor dem Eintritt des Christus-Impulsesin die Menschheit über die ganze Erde hin Weltanschauungsstifter auftreten. Bei allenVölkern treten sie auf. Höchst bedeutsam ist es, wie man zusammen hat in China sowohlLao-Tse wie Konfuzius sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung, in Indien denBuddha, in Persien den letzten Zarathustra – nicht den ursprünglichen –, in GriechenlandPythagoras. Wie verschieden sind diese Religionsstifter! [116] Nur ein ganz abstrakterSinn, der nicht auf die Unterschiede sehen kann, kann etwa so, wie das heute, aber nurdurch einen Unfug vielfach geschieht, darauf aufmerksam machen, wie Lao-Tse oderKonfuzius dasselbe enthalten wie andere Religionsstifter. Das ist nicht der Fall. Abereines ist bei allen der Fall: sie enthalten alle in ihrer Lehre das Element, daß Mitgefühloder Liebe regieren muß von Menschenseele zu Menschenseele! Das ist das Bedeutsame,daß da sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung das Bewußtsein davon sich zu regenbeginnt, wie jetzt in den fortgehenden Strom der Menschheitsentwicklung Liebe undMitgefühl aufzunehmen sind.

So möchte man also sagen: Alles weist darauf hin, sowohl das Eintreten von Erstaunenund Verwunderung, wie der Eintritt des Gewissens, wie auch das Eintreten von Liebeund Mitgefühl in den fortgehenden Strom der Menschheitsentwicklung, daß in der Zeitder vierten nachatlantischen Kulturepoche alle Zeichen geschehen, daß wirklich in dieMenschheitsentwicklung das eingefügt werde, was wir den Sinn der Erdenentwicklungnennen können.

Page 77: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

77

Wie unendlich oberflächlich, wie unendlich töricht ist es, wenn die Menschen zumBeispiel sagen: Warum mußte der Mensch erst hinuntersteigen aus den göttlich-geistigenWelten in die physische Welt, da er sich doch erst wieder hinaufentwickeln soll? Warumkonnte er nicht droben bleiben? – Er konnte deshalb nicht droben bleiben, weil er die dreiKräfte der Verwunderung oder des Erstaunens, der Liebe oder des Mitgefühls und desGewissens oder der sittlichen Forderung erst auf der Erde, durch das Heruntersteigen indie physische Erdenentwicklung in sich aufnehmen konnte. So müssen wir uns also sagen:Wir blicken hin auf den vierten nachatlantischen Kulturzeitraum und sehen währenddesselben in die Menschheit Impulse hereintreten, welche – eigentlich erst von da ab – inder Menschheit mehr und mehr überhandnehmen müssen. Es ist ja sehr leicht, heute nochdarauf hinzuweisen, wie wenig in der Menschheit schon Mitgefühl und Liebe, wie wenigdas Gewissen herrscht. Gewiß, auf diese Dinge kann man heute noch hinweisen. [117]Aber man muß, wenn man auf diese Dinge hindeutet, zugleich darauf aufmerksammachen, daß noch im griechisch-lateinischen Zeitalter in der Welt so und so vieleanerkannte Sklaven waren, und daß sogar noch ein so großer Philosoph wie Aristoteles dasVorhandensein der Sklaven als in der Menschennatur notwendig begründet angesehen hat,und daß seit jener Zeit sich so weit Liebe eingelebt hat, daß, wenn auch heute nochUngleichheiten unter den Menschen bestehen, jetzt schon in den Menschenseelengegenüber gewissen Dingen so etwas wie Schamgefühl vorhanden ist. Das heißt, geradedie Kräfte, die damals in die Menschheitsentwicklung eingetreten sind, sie entwickeln sichmehr und mehr in den Seelen. Heute wird sich keiner mehr getrauen, wenn er nicht etwa ineiner einseitigen Weise das tragische Schicksal Nietzsches (14) hat – von den AnhängernNietzsches kann dabei ganz abgesehen werden, denn Nietzsche würde sie bei gesundenSinnen abgeschüttelt haben –, sich ganz offen auf den Standpunkt zu stellen, daß heutewieder, wie in Griechenland, bewußt ausgesprochene Sklaverei eingeführt würde. Und eswird keiner leugnen, daß das größte Gefühl in der Menschenseele das der Liebe und desMitgefühls ist und daß es Aufgabe des Menschen sein muß, jene Stimme immer feiner undfeiner zu machen, die wie aus einer andern Welt in die Seele hereintönt.

Nachdem wir uns das in die Seele geschrieben haben, daß es gleichsam der Sinn derErdenentwicklung ist, die drei charakterisierten Kräfte zu entwickeln, blicken wir jetztauf denjenigen Impuls hin, den wir so oft als den wichtigsten Impuls innerhalb derErdenentwicklung angeführt haben, der eben in den vierten nachatlantischenKulturzeitraum hineinfällt, auf den Christus-Impuls. Schon eine äußere Betrachtung zeigtuns, daß er gerade in jenes Zeitalter hineinfällt, in welchem die Erde reif ist, die dreiEigenschaften, die drei Kräfte: Erstaunen oder Verwunderung, Mitleid oder Liebe undGewissen oder sittliche Forderung zu entwickeln, in welchem diese erst als so rechtmenschliche Eigenschaften auftreten. Wie haben wir den Christus-Impuls betrachtet?[118]

Page 78: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

78

Wir haben ihn in der Weise betrachtet, daß wir wissen, wie er eigentlich in dieMenschheitsentwicklung hereingetreten ist. Ich möchte hier eine Anmerkung machen inbezug auf das, was ich über den Christus-Impuls gesagt habe, was ich gesagt habe überdas Zurückbleiben eines Teiles gewisser spiritueller Kräfte wie ein Übermenschliches,als die Menschheit ihre Entwicklung hier auf der Erde anfing durchzumachen, und daßdieser Impuls in der Zeit eingeströmt ist, die wir bezeichnen können als angedeutet in derBibel durch die Johannestaufe im Jordan. So daß eingetreten ist, was nicht dieluziferischen Kräfte aufgenommen hat, was gewartet hat bis zum vierten Kulturzeitraum,um sich dann mit der Menschheit zu vereinigen. Halten Sie das zusammen mit dem, wasich oft erwähnt habe: daß es, wenn man nicht auf diese Art aufmerksam machen kann aufdie Dinge, die uns zeigen, wie die geistige Welt in die physische hereinspielt, eineUnsitte ist, demgegenüber mit den alleräußerst abstrakten Begriffen zu kommen, wiezum Beispiel mit dem von den «drei Logoi». Oft habe ich betont, daß ein gewöhnlicherMensch sich unter «Logoi» meistens nichts anderes vorstellen kann als nur die fünfBuchstaben.

Wenn wir nun den Christus-Impuls so ins Auge fassen, daß wir in ihm dasHerabströmen jenes geistigen Impulses sehen, der in der alten lemurischen Zeitzurückgeblieben ist, und der sich mit der Erdenentwickelung vereinigt hat in der viertennachatlantischen Kulturepoche in dem Zeitpunkt, der durch die Johannestaufe im Jordanbezeichnet wird und der vollendet wird durch das Mysterium von Golgatha, dann habenwir in dem Christus-Impuls, wenn wir ihn so darstellen, etwas, von dem wir immeraussagen, daß das, was wir den Christus nennen, ja auch dazumal nicht in einemgewöhnlichen physischen Menschen verkörpert war. Wir wissen, wie kompliziert jenerJesus von Nazareth gestaltet war, um durch die drei Jahre seines Lebens hindurch denChristus-Impuls aufnehmen zu können. [119] Daher sind wir uns klar, daß durch dreiJahre, umhüllt durch die drei Hüllen eines andern Menschen, der Christus-Impuls auf derErde gelebt hat; sind uns aber auch klar, daß der Christus-Impuls auch dazumal nicht aufder Erde «verkörpert» war, sondern nur das Fleisch desjenigen durchdrang, ausfüllte, derals der Jesus von Nazareth dastand. Das müssen wir verstehen, wenn gesagt wird, daßvon einer Wiederkehr des Christus nicht die Rede sein kann, sondern nur von einemeinmaligen Impuls während der Zeit der palästinensischen Ereignisse, als von dem Jesusvon Nazareth bei der Johannestaufe nur geblieben waren dessen physischer Leib,Ätherleib und Astralleib, und diese ausgefüllt wurden von dem Christus-Impuls, der inihnen gleichsam drei Jahre auf der Erde herumwandelte. Seit jener Zeit wissen wir, istder Christus mit der geistigen Erdenatmosphäre verbunden und kann dort von denengefunden werden, die ihn aufnehmen wollen. Er ist seit jener Zeit in der geistigenErdenatmosphäre vorhanden und war vorher nicht da. Das ist der wichtige Einschnitt inder Erdenentwicklung, daß die Erde von dieser Zeit ab etwas enthält, was sie vorhernicht in sich enthalten hat.

Page 79: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

79

Nun wissen wir aber noch, daß wir, wenn wir um uns herumschauen, dieverschiedenen Reiche der Natur sehen, daß aber die Art, wie wir dieselben ansehen,nichts Wirkliches ist, sondern daß es die Maja ist, die große Illusion. Schauen wir in dasReich der Tiere, so haben wir die einzelnen Gestalten entstehend und vergehend undsehen als bleibend höchstens die Gruppenseele an. Schauen wir auf die Pflanzen, sosehen wir ebenfalls die einzelnen Pflanzen entstehen und vergehen, aber hinter ihnensehen wir den Erdengeist, den wir als etwas Bleibendes dargestellt haben. Und ähnlichist es bei den Mineralien. So sehen wir das Geistige als etwas Bleibendes, aber dasPhysische – gleichgültig ob beim Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich – können wir nichtals bleibend ansehen. Ja, wenn wir den Erdenprozeß mit den äußeren Sinnen verfolgen,so sehen wir, wie sich der Erdenplanet nach und nach pulverisiert und sich einst alsErdenstaub auflösen wird. Wir haben es charakterisiert, was sein wird, wenn der Er-denleib von dem Geiste der Erde abgeworfen wird, wie der einzelne Menschenleib vondem Menschengeist abgeworfen wird. Was wird bleiben als höchste Substanz der Erde,wenn die Erde an ihrem Ziele angekommen sein wird? Der Christus-Impuls war auf derErde da, war gleichsam als geistige Substanz vorhanden. Der bleibt. [120] Der wird vonden Menschen während der Erdenentwicklung aufgenommen. Aber wie lebt er weiter?Als er auf der Erde während der drei Jahre wandelte, hatte er nicht physischen Leib,Ätherleib und Astralleib für sich, er hatte die drei Hüllen angenommen von dem Jesusvon Nazareth. Aber indem die Erde an ihrem Ziele angelangt sein wird, wird sie, wie diemenschliche Wesenheit, eine voll ausgebildete Wesenheit sein, die dem Christus-Impulsentspricht. Aber woher nimmt der Christus-Impuls diese drei Hüllen? Aus dem, was nuraus der Erde genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwicklung, die mitdem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde auslebt seit dem viertennachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen oder Verwunderung über die Dinge, alleswas in uns leben kann als Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an denChristus heran und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in denMenschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den ätherischen Leib desChristus-Impulses, und was als Gewissen in den Menschen lebt und sie beseelt, von demMysterium von Golgatha bis zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oderdas, was ihm entspricht, für den Christus-Impuls.

So bekommt ein Ausspruch des Evangeliums ( 1 5 ) erst seine wahre Bedeutung: «Wasihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!»Da haben wir charakterisiert, wie das, was von Mensch zu Mensch geschieht, derChristus als die aufeinanderfolgenden einzelnen Atome seines eigenen Ätherleibesempfindet: was an Liebe und Mitleid entwickelt wird, formt sich ein dem ätherischenLeibe des Christus. So wird er am Ziele der Erdenentwicklung in dreifacher Weiseumhüllt sein von dem, was in den Menschen gelebt hat und was, wenn sie über ihr Ichhinausgekommen sind, die Hülle des Christus geworden sein wird.

Page 80: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

80

Nun merken Sie, wie sich die Menschen mit dem Christus zusammenleben. [121] Vondem Mysterium von Golgatha bis zum Ziele der Erdenentwicklung werden die Menschenimmer vollkommener und vollkommener werden, indem sie sich hinentwickeln zu dem,was in ihnen bestehen kann, indem sie eine Ich-Wesenheit sind. Aber die Menschenwerden verbunden mit der Christus-Wesenheit, die unter sie getreten ist, indem siefortwährend aus sich herausgehen und durch Verwunderung und Erstaunen denastralischen Leib des Christus begründen. Der Christus baut sich nicht den eigenenastralischen Leib, sondern in dem, was die Menschen in sich finden als Erstaunen oderVerwunderung, werden sie beitragen zu dem astralischen Leib des Christus. Seinätherischer Leib wird gebaut werden durch Mitgefühl und Liebe, welche von Mensch zuMensch walten werden, und sein physischer Leib durch das, was als Gewissen sich inden Menschen heranbilden wird. Was der Mensch auf diesen drei Gebieten sündigt, dasentzieht zugleich dem Christus auf der Erde die Möglichkeit, sich voll zu entwickeln; dasheißt, es läßt die Erdenentwickelung mangelhaft. Die Menschen, die gleichgültig überdie Erde gehen, die sich nicht bekanntmachen wollen mit dem, was sich ihnen auf derErde enthüllen kann, entziehen durch ihre Gleichgültigkeit dem astralischen Leib desChristus die Möglichkeit seiner vollständigen Entwicklung; die Menschen, welchemitleidlos, ohne Liebe zu entfalten dahinleben, verhindern dem Ätherleibe des Christus,daß er sich voll entwickeln kann, und die, welche gewissenlos sind, verhindern dasselbefür seinen physischen Leib. Das heißt aber, daß die Erde überhaupt nicht an das Zielihrer Entwicklung kommen kann.

So müssen wir das Überwinden des egoistischen Prinzips in der Erdenentwicklung inBetracht ziehen. Daher wird der Christus-Impuls sich immer weiter und weiter in derMenschenkultur einleben, und das, was gezeigt wurde, indem aufmerksam gemachtworden ist, wie zum Beispiel in Raffaels Bildern sich der Christus-Impuls in einerinterkonfessionellen Weise in die Menschheit eingelebt hat, das wird seine Fortsetzungerfahren. ja, auch die äußere bildhafte Darstellung des Christus, wie er äußerlich bildhaftvorgestellt werden soll, ist eine Frage, die erst noch gelöst werden soll. [122] Es werdenviele Gefühle durch die Menschenseelen auf der Erde gehen müssen, wenn zu den vielenVersuchen, die im Laufe der Epochen gemacht worden sind, derjenige kommen soll, dereinigermaßen zeigen wird, was der Christus ist als der übersinnliche Impuls, der sich indie Erdenentwicklung hineinlebt. Zu einer solchen Christus-Darstellung sind in denbisherigen Versuchen nicht einmal die Ansätze vorhanden. Denn es müßte dashervortreten, was die werdende Äußerlichkeit darstellt des Herum-sich-Gliederns derImpulse des Erstaunens, des Mitgefühls und des Gewissens. Was sich darin ausdrückt,muß sich so ausdrücken, daß das Christus-Antlitz so lebendig wird, daß dasjenige, wasden Menschen zum Erdenmenschen macht, das Sinnlich-Begierdenhafte, überwundenwird durch das, was das Antlitz vergeistigt, spiritualisiert.

Page 81: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

81

Es muß höchste Kraft in dem Antlitz sein dadurch, daß alles, was als höchsteEntfaltung des Gewissens zu denken ist, sich in dem eigentümlich geformten Kinn undMund zeigt, wenn er vor einem steht, wenn ihn der Maler oder der Bildhauer formenwird, ein Mund, an dem man fühlen kann, daß er nicht zum Essen da ist, sondern dazu,um auszusprechen, was als Sittlichkeit und Gewissen in der Menschheit jemals gepflegtworden ist, und daß dazu das ganze Knochensystem, sein Zahnsystem und Unterkieferals Mund geformt ist. Das wird zum Ausdruck kommen in einem solchen Antlitz. Mitdieser Unterform des Gesichts wird eine solche Kraft verbunden sein, die ausstrahlt,zerstückelt und zerpflückt den ganzen übrigen menschlichen Leib, daß dieser zu eineranderen Gestalt wird, wodurch gewisse andere Kräfte überwunden werden, so daß esunmöglich sein wird, dem Christus, der einen solchen Mund zeigen wird, irgendwie eineLeibesform zu geben, wie sie der heutige physische Mensch hat. Dagegen wird man ihmAugen geben, aus denen alle Gewalt des Mitgefühls sprechen wird, mit der nur AugenWesen ansehen können – nicht um Eindrücke zu empfangen, sondern um mit der ganzenSeele in ihre Freuden und Leiden überzugehen. [123] Und eine Stirn wird er haben, woman nicht vermuten kann, daß die Sinneseindrücke der Erde gedacht werden, sonderneine Stirn, die etwas vorn über den Augen vorstehen wird, sich wölben wird über jenemGehirnteil: aber nicht eine «Denkerstirn», die wieder verarbeitet, was da ist, sondern eswird sich Verwunderung aussprechen in der Stirn, die über die Augen hervortritt undsanft sich wölbt nach rückwärts über den Kopf, dadurch ausdrückend, was manVerwunderung über die Mysterien der Welt nennen kann. Das wird ein Kopf seinmüssen, den der Mensch nicht in der physischen Menschheit antreffen kann.

Jedes Nachbild des Christus müßte eigentlich etwas sein, wie das Ideal der Christus-Gestalt. Und das ist das Gefühl, das diesem Ideal zustrebt, wenn man es in derEntwicklung anstreben wird: immer mehr und mehr muß für dieMenschheitsentwicklung, insofern sich die Menschheit künstlerisch betätigen wird in derDarstellung des höchsten Ideals durch die spirituelle Wissenschaft, das Gefühl entstehen:Du darfst nicht hinschauen auf etwas, was da ist, wenn du den Christus bilden willst,sondern du mußt in dir kraften und wirken lassen und dich innerlich durchdringen mitalledem, was eine geistige Versenkung in den geistigen Werdegang der Welt durch diedrei wichtigen Impulse: Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen hindurch, dir geben kann.[124]

Page 82: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

82

Die Christus-Tat und die ihr widerstrebenden Mächte

Uns soll heute hier die Frage beschäftigen, was der Mensch der Gegenwart eigentlichan der Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, hat; und zwar wollen wir dieseFrage heute beantworten auf Grund von so mancherlei, was wir im Laufe der Vorträge,namentlich des letzten Winters, kennengelernt haben. Zunächst könnte es ja demMenschen erscheinen, als ob diese Geisteswissenschaft eine Weltanschauung wäre wieandere Weltanschauungen in der Gegenwart. Man könnte meinen: Die Rätsel desDaseins sind vorhanden; die Menschen versuchen mit den verschiedensten Mitteln, dieihnen zur Verfügung stehen, auf religiösen, auf wissenschaftlichen Wegen diese Rätseldes Daseins zu beantworten, oder, wie man sagt, ihren Erkenntnisdrang, ihreWißbegierde suchen die Menschen dadurch zu befriedigen. Man könnte nun dieseGeisteswissenschaft ebenso hinstellen wie andere Weltanschauungen der Gegenwart,nennen sie sich nun Materialismus, Monismus, Spiritualismus, Idealismus, Realismusund so weiter, man könnte sie hinstellen wie andere Weltanschauungen der Gegenwart,als etwas, was die bloße Wißbegierde befriedigen soll. So ist es aber nicht. Sondern indem, was der Mensch sich durch diese Geisteswissenschaft erwirbt, hat er ein positives,fortwirkendes Lebensgut, das nicht nur seine Gedanken, sein Erkenntnisbedürfnisbefriedigt, sondern das ein realer Faktor im Leben selber ist. Wollen wir dies verstehen,dann müssen wir heute etwas weiter ausholen. Wir müssen einmal von einem ganzbestimmten Gesichtspunkt aus den Entwicklungsgang der Menschheit vor unsere Seelenstellen. Wir haben es schon oft getan. Heute aber wollen wir es wiederum von einemanderen Gesichtspunkte aus tun. [125]

Wir haben öfters zurückgeblickt in die Zeiten ( 1 7 ) , die der großen atlantischen Flutvorangegangen sind, in denen unsere Vorfahren, das heißt unsere eigenen Seelen in denVorfahrenleibern auf dem alten atlantischen Kontinent zwischen Europa, Afrika undAmerika gelebt haben. Und wir haben zurückgeblickt auf jene noch älteren Zeiten, die wirals die lemurischen Zeiten bezeichnen, in denen die Menschenseelen, die jetzt verkörpertsind, auf viel niedrigerer Stufe des Daseins standen als heute. Auf diesen Zeitraum wollenwir heute noch einmal zurückkommen. Wir wollen uns zunächst sagen: Der Mensch hatseine heutige Stufe des Empfindungslebens, des Willenslebens, der Intelligenz, ja seineheutige Gestalt dadurch errungen, daß im Erdendasein mitgewirkt haben diejenigengeistigen Wesenheiten, die höher stehen im Weltenall als der Mensch. Welche geistigenWesenheiten da beteiligt sind, haben wir ja öfters auseinandergesetzt. Wir habengesprochen von den Geistern, die wir die Throne nennen, die Geister der Weisheit, Geisterder Bewegung, der Form, der Persönlichkeit und so weiter.

Das sind die großen Werk– und Baumeister des Daseins, das sind diejenigenWesenheiten, die Schritt für Schritt unser Menschengeschlecht vorwärtsgebracht haben biszu unserem heutigen Standpunkt des Daseins. Nun müssen wir uns heute einmal rechtdeutlich vor die Seele führen, daß andere Geister und andere Wesenheiten nocheingegriffen haben als diejenigen, welche die menschliche Entwickelung vorwärtsbringen.

Page 83: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

83

Es haben in einer gewissen Weise geistige Wesenheiten eingegriffen, die denvorwärtsschreitenden geistigen Mächten feindlich gegenüberstehen. Und wir können fürjeden dieser Zeiträume, sowohl für das lemurische wie auch für das atlantische Zeitalter,wie auch für unsere nachatlantische Zeit, in der wir leben, angeben, welche geistigenWesenheiten sozusagen die Hemmungen gebracht haben, welche geistigen Wesenheitenfeindlich gegenübertraten denjenigen, die die Menschheit bloß vorwärtsbringen wollen.

Im lemurischen Zeitalter, in dem ersten, das uns heute in dem Erdensein beschäftigt,haben in die menschliche Entwicklung die luziferischen Wesenheiten eingegriffen. [126]Sie stellen sich in einer gewissen Beziehung denjenigen Mächten feindlich gegenüber, diedazumal den Menschen vorwärtsbringen wollten. In dem atlantischen Zeitalter stelltensich feindlich den vorwärtsschreitenden Mächten die Geister gegenüber, die wir als dieGeister des Ahriman oder auch des Mephistopheles bezeichnen. Ahrimanische,mephistophelische Geister sind diejenigen, die, wenn man die Namen genau nimmt, in dermittelalterlichen Anschauung die Geister des Satans genannt wurden, der nicht mit Luziferzu verwechseln ist.

In unserem Zeitalter werden nach und nach noch andere geistige Wesenheiten denvorwärtsschreitenden hemmend in den Weg treten. Von ihnen werden wir nachher zusprechen haben. Wir werden uns jetzt zuerst fragen, was eigentlich diese luziferischenGeister im alten lemurischen Zeitalter bewirkt haben.

Wir wollen heute von einem ganz bestimmten Gesichtspunkte aus das alles ins Augefassen. Wo haben denn eigentlich die luziferischen Geister eingegriffen im altenlemurischen Zeitalter? Sie verstehen am besten, um was es sich dabei handelt, wenn Sienoch einmal den Blick zurückschweifen lassen darauf, wie der Mensch sich entwickelt hat.

Der Mensch hat sich auf dem alten Saturn dadurch entwickelt, daß die Throneausgegossen haben ihre eigene Substanz. Da wurde die erste Anlage gelegt zu demmenschlichen physischen Leib. Dann haben die Geister der Weisheit auf der Sonne ihmden Äther- oder Lebensleib, die Geister der Bewegung auf dem alten Monde denastralischen Leib eingeprägt. Nun war es an den Geistern der Form, auf der Erde demMenschen das Ich zu geben, damit der Mensch dadurch, daß er sich von seiner Umgebungunterscheidet, in einer gewissen Weise ein selbständiges Wesen werden könne. Aber wennder Mensch auch durch die Geister der Form ein selbständiges Wesen geworden wäregegenüber der Außenwelt, gegenüber dem, was ihn auf der Erde umgibt, er würde durchdiese Geister der Form niemals ein selbständiges Wesen – ihnen selbst gegenüber –geworden sein; er wäre von ihnen abhängig geblieben, er wäre an Fäden von ihnen gelenktund geleitet worden. [127] Daß das nicht eingetreten ist, das ist die in gewisser Beziehungsogar wohltätige Wirkung der Tatsache, daß sich in der lemurischen Zeit die luziferischenWesenheiten entgegengestellt haben den Geistern der Form. Diese luziferischenWesenheiten haben dem Menschen die Anwartschaft auf seine Freiheit gegeben.Allerdings haben sie dem Menschen damit auch die Möglichkeit des Bösen gegeben, dieMöglichkeit des Verfalls in sinnliche Leidenschaften und Begierden. In was haben denneigentlich diese luziferischen Geister eingegriffen?

Page 84: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

84

Sie haben eingegriffen in das, was da war, und zwar in dasjenige, was zuletzt demMenschen gegeben worden ist, in den astralischen Leib, was damals in gewisserBeziehung des Menschen Innerstes war. Darin haben sie sich festgesetzt, davon haben sieBesitz ergriffen. Von diesem astralischen Leib hätten sonst, wenn die luziferischenWesenheiten nicht gekommen wären, nur Besitz ergriffen die Geister der Form. Sie hättendiesem astralischen Leib jene Kräfte eingeprägt, die dem Menschen das Menschenantlitzgeben, die den Menschen eben zum Ebenbild der Götter, der Geister der Form machten.Das alles wäre aus dem Menschen geworden, aber der Mensch wäre abhängig gebliebenvon diesen Geistern der Form zeit seines Lebens, durch alle Ewigkeiten.

Nun haben sich gleichsam hineingeschlichen die luziferischen Wesenheiten in denastralischen Leib, so daß jetzt zwei Arten von Wesenheiten in dem astralischen Leibwirkten: diejenigen Wesenheiten, die den Menschen vorwärtstreiben, und diejenigenWesenheiten, die den Menschen in diesem rückhaltlosen Vorwärtstreiben allerdingshemmen, dafür aber seine Selbständigkeit zu einer innerlich gefestigten machten. Wärendie luziferischen Wesenheiten nicht gekommen, so wäre der Mensch im Stande derUnschuld und Reinheit in seinem astralischen Leib geblieben. Keine Leidenschaftenwären in ihm aufgetreten, die ihn hätten begehren lassen, was er auf der Erde allein findenkann. Sozusagen dichter, niedriger haben die luziferischen Wesenheiten dieLeidenschaften, Triebe und Begierden gemacht. Der Mensch wäre sonst so geblieben,wenn die luziferischen Wesenheiten nicht gekommen wären, daß er sich immerfortgesehnt hätte hinauf zu seiner Heimat, zu den geistigen Reichen, von denen erheruntergestiegen ist. [128] Er hätte nicht Gefallen gefunden an dem, was ihn auf der Erdeumgibt, er hätte unmöglich Interesse finden können an den irdischen Eindrücken. Zudiesem Interesse, zu diesem Begehren der irdischen Eindrücke ist er durch dieluziferischen Geister gekommen. Sie haben ihn in die irdische Sphäre dadurchhineingedrängt, daß sie sein Innerstes, seinen astralischen Leib, durchsetzt haben.Wodurch ist es denn nun gekommen, daß in jener Zeit der Mensch nicht ganz abfiel vonden Geistern der Form oder überhaupt von den höheren geistigen Reichen? Wodurch ist esgekommen, daß der Mensch nicht in seine Interessen und Begierden der sinnlichen Weltvollständig verfiel?

Es ist dadurch gekommen, daß die Geister, die den Menschen vorwärtsbringen, ihreGegenmittel ergriffen. Sie haben ihre Gegenmittel in der Art ergriffen, daß sie diemenschliche Wesenheit mit etwas durchsetzt haben, was sonst nicht in diesermenschlichen Wesenheit wäre: sie haben sie durchsetzt mit Krankheit und Leiden undSchmerzen. Das ist das notwendige Gegengewicht geworden gegen die Taten derluziferischen Geister.

Die luziferischen Geister haben dem Menschen die sinnliche Begierde gegeben; diehöheren Wesenheiten haben ihre Gegenmittel ergriffen in dem Sinne, daß der Menschnunmehr nicht unbedingt dieser Sinneswelt verfallen konnte, indem sie ins Gefolge dersinnlichen Begierden und sinnlichen Interessen Krankheit und Leiden gesetzt haben, sodaß in der Welt genau ebenso viele Leiden und Schmerzen sind wie bloßes Interesse fürdie physisch-sinnliche Welt.

Page 85: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

85

Beide halten sich vollständig das Gleichgewicht, von keinem ist mehr in der Weltvorhanden: ebenso viele sinnliche Begierden, ebenso viele sinnliche Leidenschaften wieKrankheit und Schmerzen. Das war die gegenseitige Aufeinanderwirkung derluziferischen Geister und der Geister der Form im lemurischen Zeitalter. Wären dieseluziferischen Geister nicht gekommen, dann würde der Mensch nicht so früh in dieirdische Sphäre hinuntergestiegen sein. [129] Seine Leidenschaft, seine Begierde für diesinnliche Welt hat es auch gemacht, daß er früher seine Augen aufgeschlossen erhaltenhat, daß er früher den ganzen Umkreis des sinnlichen Daseins hat sehen können. DerMensch hätte, wenn es regelmäßig nach den fortschreitenden Geistern gegangen wäre,erst von der Mitte der atlantischen Zeit an die Umwelt gesehen. Aber er hätte sie danngeistig gesehen, nicht so wie heute; er hätte sie so gesehen, daß sie ihm überall derAusdruck von geistigen Wesenheiten gewesen wäre. Dadurch, daß der Mensch verfrühtherunterversetzt worden ist in die irdische Sphäre, daß ihn seine irdischen Interessen undBegierden heruntergedrängt haben, dadurch kam es anders, wie es sonst gekommen wärein der Mitte der atlantischen Zeit.

Dadurch haben sich hineingemischt in das, was der Mensch hat sehen und begreifenkönnen, die ahrimanischen Geister, diejenigen, die eben auch mit dem Namenmephistophelischer Geister bezeichnet werden können. Dadurch verfiel der Mensch inIrrtum, verfiel in das, was man eigentlich erst die bewußte Sünde nennen könnte. Alsovon der Mitte der atlantischen Zeit an wirkt auf den Menschen die Schar derahrimanischen Geister ein. Wozu hat nun diese Schar der ahrimanischen Geister denMenschen verführt? Sie hat ihn dazu verführt, daß er das, was in seiner Umgebung ist,für stofflich, für materiell hält, daß er nicht durch dieses Stoffliche hindurchsieht auf diewahren Untergründe des Stofflichen, auf das Geistige. Würde der Mensch in jedemStein, in jeder Pflanze und in jedem Tier das Geistige sehen, er würde niemals verfallensein in Irrtum und damit in das Böse, sondern der Mensch würde, wenn nur diefortschreitenden Geister auf ihn gewirkt hätten, bewahrt geblieben sein vor jenenIllusionen, denen er immer verfallen muß, wenn er nur auf die Aussage der Sinnesweltbaut.

Was haben nun dagegen diejenigen geistigen Wesenheiten, welche den Menschen inseinem Fortschreiten erhalten wollen, gegen diese Verführung, gegen Irrtum und Illusionaus dem Sinnlichen unternommen? [130] Sie haben dagegen unternommen, daß derMensch tatsächlich nunmehr erst mit Recht – natürlich ist das langsam und allmählichgekommen, aber hier liegen die Kräfte, warum das gekommen ist – in die Lage versetztwird, aus der sinnlichen Welt heraus wiederum die Möglichkeit zu gewinnen, überIrrtum und Sünde und das Böse hinwegzukommen, das heißt, sie haben dem Menschendie Möglichkeit gegeben, sein Karma zu tragen und auszuwirken.

Page 86: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

86

Haben also diejenigen Wesenheiten, welche die Verführung der luziferischenWesenheiten gutzumachen hatten, Leiden und Schmerzen, ja auch das, was damitzusammenhängt, den Tod in die Welt gebracht, so haben diejenigen Wesenheiten,welche auszubessern hatten, was aus dem Irrtum über die sinnliche Welt fließt, demMenschen die Möglichkeit gegeben, durch sein Karma allen Irrtum wieder zu beseitigen,alles Böse wiederum zu verwischen, das er in der Welt angerichtet hat. Denn was wäregeschehen, wenn der Mensch nur dem Bösen, dem Irrtum verfallen wäre? Dann würdeder Mensch nach und nach sozusagen eins geworden sein mit dem Irrtum, er würdeunmöglich haben vorwärtsschreiten können; denn mit jedem Irrtum, mit jeder Lüge, mitjeder Illusion werfen wir uns ein Hindernis des Fortschreitens in den Weg. Wir würdenimmer um so viel zurückkommen in unserem Fortschreiten, als wir uns Hindernisse inden Weg werfen durch Irrtum und Sünde, wenn wir nicht in der Lage wären, Irrtum undSünde zu korrigieren, das heißt, wir könnten in Wahrheit das Menschenziel nichterreichen. Es wäre unmöglich, das, was das Menschenziel ist, zu erreichen, wenn nichtdie gegensätzlichen Kräfte des Karma, wirken würden.

Denken Sie einmal, Sie begehen irgendein Unrecht in einem Leben. Dieses Unrecht,das Sie begangen haben, das bedeutet, wenn es so stehenbliebe in Ihrem Leben, nichtsGeringeres, als daß Sie den Schritt, den Sie vorwärts gemacht hätten, wenn Sie dasUnrecht nicht begangen hätten, verloren haben. Und mit jedem Unrecht würden Sieeinen Schritt verlieren, und dafür wäre gesorgt, daß genügend viele Schritte zurückgemacht werden. Wenn die Möglichkeit nicht gegeben wäre, sich über den Irrtum zuerheben, so müßte der Mensch zuletzt in Irrtum versinken. So aber ist die Wohltat desKarma eingetreten. Was bedeutet diese Wohltat für den Menschen? Ist Karma irgendetwas, vor dem der Mensch sich fürchten soll, vor dem der Mensch schaudern soll?Nein! Karma ist eine Macht, für die der Mensch eigentlich den Weltenplänen dankbarsein sollte. [131] Denn Karma sagt uns: Hast du einen Irrtum begangen – Gott läßt seinernicht spotten! Was du gesät hast, das mußt du auch ernten? Dieser Irrtum bewirkt, daß duihn verbessern mußt; dann hast du ihn aus deinem Karma ausgetilgt und du kannstwieder ein Stück vorwärtsschreiten.

Ohne Karma wäre unser Fortschreiten in der menschlichen Laufbahn unmöglich.Karma erweist uns die Wohltat, daß wir jeden Irrtum wieder gutmachen müssen, daß wiralles, was wir rückwärts getan haben, wieder vernichten müssen. So trat als die Folge derTaten des Ahriman Karma auf.

Und nun gehen wir weiter. In unserer Zeit gehen wir jenem Zeitalter entgegen, in demnun andere Wesenheiten sich an den Menschen heranmachen werden, Wesenheiten;welche immer mehr und mehr in der Menschenzukunft, die vor uns liegt, in diemenschliche Entwicklung eingreifen werden. Genau ebenso wie die luziferischen Geisterim lemurischen Zeitalter eingegriffen haben, die ahrimanischen Geister im atlantischenZeitalter, so werden nach und nach auch in unserem Zeitalter Wesenheiten eingreifen.Machen wir uns einmal klar, was das für Wesenheiten sein werden.

Page 87: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

87

Die Wesenheiten, die im lemurischen Zeitalter eingegriffen haben, von denen mußtenwir sagen: sie haben sich im astralischen Leib des Menschen festgesetzt, haben seineInteressen, seine Triebe und Begierden in die irdische Sphäre heruntergezogen. In was,genauer gesagt, haben sich diese luziferischen Wesenheiten festgesetzt?

Verstehen können Sie das nur, wenn Sie jene Gliederung zugrunde legen, welche inmeinem Buche «Theosophie» (19) gegeben ist. Da ist gezeigt, daß wir am Menschenzunächst seinen physischen Leib zu unterscheiden haben, dann seinen Äther- oderLebensleib und seinen astralischen Leib, oder, wie ich ihn dort genannt habe, denEmpfindungsleib oder Seelenleib.

Wenn wir diese drei Glieder betrachten, so sind es genau die drei Glieder, die demMenschen gegeben waren vor seiner irdischen Laufbahn. Was da genannt ist derphysische Leib, das ist auf dem alten Saturn veranlagt worden. [132] Was genannt ist derÄtherleib, das ist auf der Sonne veranlagt, und dasjenige; was da genannt ist der Seelen-oder Empfindungsleib, ist auf dem alten Monde veranlagt. jetzt sind auf der Erde nachund nach dazugekommen die Empfindungsseele, die eigentlich eine unbewußteUmänderung, eine unbewußte Bearbeitung des Empfindungsleibes ist. In derEmpfindungsseele hat sich verankert Luzifer; da hinein hat er sich geschlichen, da sitzter drinnen. Weiter ist entstanden durch die unbewußte Umarbeitung des Ätherleibes dieVerstandesseele. Genaueres ist darüber gesagt in der Abhandlung über «Die Erziehungdes Kindes» (9). In diesem zweiten Glied der menschlichen Seele, der Verstandesseele,also in dem umgearbeiteten Stück des Ätherleibes, da hat sich festgesetzt Ahriman. Daist er drinnen und führt den Menschen zu falschen Urteilen über alles Materielle, führtihn zu Irrtum und Sünde und Lüge, zu allem, was eben aus der Verstandes- oderGemütsseele kommt. In alledem zum Beispiel, daß der Mensch sich der Illusion hingibt,mit der Materie sei das Richtige gegeben, haben wir Einflüsterungen des Ahriman, desMephistopheles zu sehen. Drittens kommt an die Reihe die Bewußtseinsseele, die ineiner unbewußten Umarbeitung des physischen Leibes besteht. Es ist Ihnen jaerinnerlich, wie diese Umarbeitung geschah. Gegen das Ende der atlantischen Zeit tratder Ätherleib des Kopfes ganz hinein in den physischen Kopf und gestaltete allmählichden physischen Leib so um, daß er eine selbstbewußte Wesenheit wurde. An dieserunbewußten Umarbeitung des physischen Leibes, an der Bewußtseinsseele, arbeitet derMensch heute im Grunde genommen noch immer. Und in der Zeit, die jetzt kommenwird, werden sich hineinschleichen in diese Bewußtseinsseele und damit in das, was mandas menschliche Ich nennt – denn das Ich geht auf in der Bewußtseinsseele –, diejenigengeistigen Wesenheiten, die man die Asuras (20) nennt. Die Asuras werden mit einer vielintensiveren Kraft das Böse entwickeln als selbst die satanischen Mächte der atlantischenoder gar die luziferischen Geister der lemurischen Zeit. [133]

Page 88: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

88

Das Böse, das die luziferischen Geister den Menschen zugleich mit der Wohltat derFreiheit brachten, das wird im Verlaufe der Erdenzeit ganz abgestreift. Dasjenige Böse,das die ahrimanischen Geister gebracht haben, kann abgestreift werden in dem Ablaufder karmischen Gesetzmäßigkeit. Das Böse aber, das die asurischen Mächte bringen, istnicht auf eine solche Weise zu sühnen. Haben die guten Geister dem MenschenSchmerzen und Leiden, Krankheit und Tod gegeben, damit er sich trotz der Möglichkeitdes Bösen aufwärts entwickeln kann, haben die guten Geister die Möglichkeit des Karmagegenüber den ahrimanischen Mächten gegeben, um den Irrtum wieder auszugleichen –:gegenüber den asurischen Geistern wird das im Verlaufe des Erdendaseins nicht so leichtsein. Denn diese asurischen Geister werden bewirken, daß das, was von ihnen ergriffenist – und es ist ja des Menschen tiefstes Inneres, die Bewußtseinsseele mit dem Ich –, daßdas Ich sich vereinigt mit der Sinnlichkeit der Erde. Es wird Stück für Stück aus dem Ichherausgerissen werden, und in demselben Maße, wie sich die asurischen Geister in derBewußtseinsseele festsetzen, in demselben Maße muß der Mensch auf der Erdezurücklassen Stücke seines Daseins. Das wird unwiederbringlich verloren sein, was denasurischen Mächten verfallen ist. Nicht, daß der ganze Mensch ihnen zu verfallenbraucht, aber Stücke werden aus dem Geiste des Menschen durch die asurischen Mächteherausgeschnitten. Diese asurischen Mächte kündigen sich in unserem Zeitalter an durchden Geist, der da waltet und den wir nennen könnten den Geist des bloßen Lebens in derSinnlichkeit und des Vergessens aller wirklichen geistigen Wesenheiten und geistigenWelten. Man könnte sagen: Heute ist es erst mehr theoretisch, daß die asurischen Mächteden Menschen verführen. Heute gaukeln sie ihm vielfach vor, daß sein Ich ein Ergebniswäre der bloß physischen Welt. Heute verführen sie ihn zu einer Art theoretischemMaterialismus. Aber sie werden im weiteren Verlauf – und das kündigt sich immer mehran durch die wüsten Leidenschaften der Sinnlichkeit, die immer mehr und mehr auf dieErde herniedersteigen – dem Menschen den Blick umdunkeln gegenüber den geistigenWesenheiten und geistigen Mächten. Es wird der Mensch nichts wissen und nichtswissen wollen von einer geistigen Welt. [134] Er wird mehr und mehr nicht nur lehren,daß die höchsten sittlichen Ideen des Menschen nur höhere Ausgestaltungen dertierischen Triebe sind; er wird nicht nur lehren, daß das menschliche Denken nur eineUmwandlung dessen ist, was auch das Tier hat, er wird nicht nur lehren, daß der Menschnicht bloß seiner Gestalt nach mit dem Tier verwandt ist, daß er auch seiner ganzenWesenheit nach vom Tier abstamme, sondern der Mensch wird mit dieser AnschauungErnst machen und so leben.

Heute lebt ja noch niemand im Sinne des Satzes, daß der Mensch seiner Wesenheitnach vom Tiere abstamme. Aber diese Weltanschauung wird unbedingt kommen, und siewird im Gefolge haben, daß die Menschen mit dieser Weltanschauung auch wie Tiereleben werden, heruntersinken werden in die bloß tierischen Triebe und tierischenLeidenschaften. Und in mancherlei von dem, was hier nicht weiter charakterisiert zuwerden braucht, was sich jetzt namentlich an den Stätten der großen Städte als wüsteOrgien zweckloser Sinnlichkeiten geltend macht, sehen wir schon groteskesHöllenleuchten derjenigen Geister, die wir als die asurischen bezeichnen.

Page 89: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

89

Wenden wir den Blick noch einmal zurück. Wir haben gesagt, daß es die Geisterwaren, die den Menschen vorwärtsbringen wollen, die ihm Leiden und Schmerzen' undauch den Tod geschickt haben. In der biblischen Urkunde wird es deutlich angekündigt:In Schmerzen sollst du deine Kinder gebären! (21) – Der Tod ist in die Welt gekommen.Das ist es ja, was diejenigen Mächte, die den luziferischen entgegenstehen, über denMenschen verhängten. Wer hat dem Menschen Karma, wer hat überhaupt dem Menschendie Möglichkeit gegeben, daß es ein Karma gibt? Verstehen werden Sie nur, was jetztgesagt ist, wenn Sie sich nicht in pedantischer Weise an die irdischen Zeitbegriffe halten.Mit dem irdischen Zeitbegriff glaubt der Mensch, daß das, was da oder dort einmalvorgeht, eine Wirkung nur haben kann in bezug auf das Nachfolgende. In der geistigenWelt ist es aber so, daß das, was geschieht, sich in seinen Wirkungen schon vorher zeigt,daß es schon vorher in seinen Wirkungen da ist. Woher kommt die Wohltat des Karma?[135] Woraus ist eigentlich in unserer Erdenentwicklung diese Wohltat entsprungen, daßes ein Karma gibt? Von keiner anderen Kraft kommt das Karma in der ganzenEntwicklung als von dem Christus.

Wenn der Christus auch erst später erschienen ist, vorhanden war er in der geistigenSphäre der Erde schon immer. Schon in den alten atlantischen Orakeln haben die Orakel-Priester von dem Geist der Sonne, von dem Christus gesprochen. Die heiligen Rishis inder indischen Kulturperiode haben gesprochen von Vishva-Karman; Zarathustra hat inPersien von Ahura Mazdao gesprochen. Es hat Hermes von dem Osiris gesprochen; undes har gesprochen von jener Kraft, die durch ihr Ewiges der Ausgleich alles Natürlichenist, von jener Kraft, die in dem «Ehjeh asher ehjeh» (22) lebt, der Vorherverkündiger desChristus, der Moses. Alle haben von dem Christus gesprochen; aber wo war er zu findenin diesen alten Zeiten? Nur da, wo das geistige Auge hat hineinschauen können: in dergeistigen Welt. In der geistigen Welt war er immer zu finden, und er war in der geistigenWelt wirksam, aus der geistigen Welt heraus wirksam. Er ist derjenige, der demMenschen vorher schon, bevor er auf der Erde aufgetreten ist, heruntergesandt hat dieMöglichkeit des Karma. Dann trat er auf der Erde, selber auf, und wir wissen, was erdem Menschen dadurch geworden ist, daß er auf der Erde auftrat. Wir haben geschildertseine Wirkungen in der irdischen Sphäre selber. Wir haben die Bedeutung desEreignisses von Golgatha dargestellt. Wir haben geschildert seine Wirkung auch beidenen, die damals, als das Ereignis von Golgatha geschah, nicht im irdischen Leibeverkörpert waren, die dazumal in der geistigen Welt waren. Wir wissen, daß in demAugenblick, wo auf Golgatha das Blut aus den Wunden floß, der Geist des Christus inder Unterwelt erschien, und wir haben gesagt: Da ging es durch die ganze Welt desGeistes wie eine Erleuchtung, wie eine Erhellung; kurz, wir haben gesagt, daß dasErscheinen des Christus auf der Erde das wichtigste Ereignis ist, auch für die Welt, dieder Mensch durchlebt zwischen dem Tode und der neuen Geburt.

Page 90: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

90

Es ist durchaus eine reale Wirkung, die von diesem Christus ausgeht. [136] Wirbrauchen uns nur zu fragen, was geschehen wäre mit der Erde, wenn der Christus nichterschienen wäre. Gerade in dem Gegenbild einer Christus-losen Erde können Sie dieganze Bedeutung der Christus-Erscheinung ermessen. Nehmen wir einmal an, derChristus wäre nicht erschienen, das Ereignis von Golgatha hätte nicht stattgefunden inder Zeit, in welcher der Christus erschienen ist.

Vor dem Erscheinen des Christus war es für die Seelen der fortgeschrittenstenMenschen, die das tiefste Interesse für das Erdenleben sich angeeignet hatten, in dergeistigen Welt so, daß wirklich der Ausspruch des Griechen darauf paßte: Lieber einBettler sein in der Oberwelt, als ein König im Reiche der Schatten. Denn einsam und infinsterer Umgebung fühlten sich die Seelen in der geistigen Welt, bevor das Ereignis vonGolgatha eintrat. Die geistige Welt war damals nicht in ihrer ganzen lichtvollen Klarheitdurchsichtig für die, die durch das Tor des Todes kommend in sie hineinschritten. Einjeder fühlte sich allein, sich in sich zurückgestoßen, wie eine Mauer war es aufgerichtetgegenüber jedem anderen. Und das wäre immer stärker und stärker geworden. DieMenschen hätten sich in ihrem Ich verhärtet, die Menschen wären völlig auf sichzurückgewiesen gewesen, keiner hätte die Brücke zu dem anderen gefunden. DieMenschen wären wieder verkörpert worden; und war der Egoismus vorher schon ein sehrgroßer, er wäre mit jeder neuen Inkarnation ungeheurer geworden.

Das ganze Erdendasein würde den Menschen immer mehr und mehr zu dem wüstestenEgoisten gemacht haben. Keine Aussicht wäre gewesen, daß jemals auf dem Erdenrundeine Brüderlichkeit, eine innere Harmonie der Seelen zustande gekommen wäre; dennmit jedem Durchgang durch das geistige Reich wären stärkere Einflüsse in das Egoeingezogen. Das wäre bei einer Christus-losen Erde geschehen. Daß der Menschallmählich wieder den Weg findet von Seele zu Seele, daß er die Möglichkeit gewinnt,die große Kraft der Brüderlichkeit auf die ganze Menschheit auszugießen, das ist derTatsache zu verdanken, daß der Christus erschienen ist, daß das Ereignis von Golgathastattgefunden hat. [137] So erscheint der Christus als diejenige Macht, welche es demMenschen möglich machte, das Erdendasein in der entsprechenden Weise auszunützen,das heißt, gerade Karma in der entsprechenden Weise zu gestalten. Denn Karma muß aufder Erde ausgewirkt werden. Daß der Mensch die Kraft findet, in dem irdisch-physischenDasein sein Karma in der entsprechenden Weise zu verbessern, daß er die Möglichkeitbekommt, eine fortschreitende Entwicklung zu finden, das verdankt er der Wirkung desChristus-Ereignisses, der Anwesenheit des Christus in der irdischen Sphäre.

So sehen wir, wie die verschiedensten Kräfte und Wesenheiten im Verlaufe derMenschheitsentwicklung zusammenwirken. Wäre der Christus nicht auf die Erdegekommen – wir sehen es jetzt ganz klar, was wir vorher nur im allgemeinen andeutenkonnten, indem wir sagten: Der Mensch wäre in seinem Irrtum versunken, weil er immermehr und mehr sich verhärtet hätte, sozusagen eine Kugel für sich geworden wäre, dienichts gewußt hätte von den anderen Wesenheiten, ganz in sich abgeschlossen. Da hineinhätte der Irrtum und die Sünde den Menschen getrieben.

Page 91: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

91

So ist der Christus eben der Lichtführer, der hinausführt aus Irrtum und Sünde; unddadurch ist der Mensch imstande, den Weg aufwärts zu finden. Nun fragen wir uns: Washat denn der Mensch verloren, indem er heruntergestiegen ist aus der geistigen Welt, daßer sich verstrickte unter dem Einfluß Luzifers in die Begierden und Leidenschaften unddann durch den Einfluß Ahrimans in Irrtum, Illusion und Lüge in bezug auf die irdischeWelt? Er hat den unmittelbaren Einblick in die geistige Welt verloren, das Verständnisder geistigen Welt hat der Mensch verloren.

Was soll also der Mensch wiedergewinnen? Wiedergewinnen soll der Mensch dasvolle Verständnis für die geistige Welt. Und die Tat des Christus kann von demMenschen als einem selbstbewußten Wesen erst dadurch ergriffen werden, daß derMensch zum vollen Verständnis der Bedeutung des Christus kommt. Gewiß, dieChristus-Kraft ist da. Die Christus-Kraft hat der Mensch nicht auf die Erde gebracht.[138] Die Christus-Kraft ist eben auf die Erde durch den Christus gekommen. Durch denChristus ist die Möglichkeit des Karma in die Menschheit hineingekommen. Aber nunsoll der Mensch als ein selbstbewußtes Wesen das Wesen des Christus und denZusammenhang des Christus mit der ganzen Welt erkennen. Nur dadurch kann derMensch wirklich als ein Ich wirken. Was tut denn der Mensch, wenn er jetzt, nachdemder Christus da war, nicht nur die Kraft des Christus unbewußt auf sich wirken läßt, nichtnur sagt: Ich bin schon zufrieden, daß der Christus da war, er wird mich schon erlösenund dafür sorgen, daß ich vorwärtskomme! Sondern wenn der Mensch sich sagt: Ich willerkennen, was der Christus ist, wie er herunterstieg; ich will durch meinen Geist Anteilhaben an der Tat des Christus! Was tut der Mensch dadurch?

Erinnern Sie sich, daß dadurch, daß die luziferischen Geister sich einschlichen in denmenschlichen Astralleib, der Mensch in die sinnliche Welt heruntergestiegen ist, daß erdadurch allerdings dem Bösen hat verfallen können, aber auch die Möglichkeit derselbstbewußten Freiheit errungen hat. Luzifer ist im Wesen des Menschen, hat denMenschen heruntergeholt sozusagen auf die Erde, ihn verstrickt in das irdische Dasein,indem er zuerst die Leidenschaften und Begierden, die im astralischen Leib waren, in dieErde geführt hat, so daß dann auch Ahriman angreifen konnte im ätherischen Leib, in derVerstandesseele. Nun ist der Christus erschienen und damit diejenige Kraft, die denMenschen auch wiederum hinauftragen kann in die geistige Welt. Aber jetzt kann derMensch, wenn er will, den Christus erkennen! Jetzt kann der Mensch alle Weisheitsammeln, um den Christus zu erkennen. Was tut er dadurch? Etwas Ungeheures! Wennder Mensch den Christus erkennt, wenn er sich wirklich einläßt auf die Weisheit, um zudurchschauen, was der Christus ist, dann erlöst er sich und die luziferischen Wesenheitendurch die Christus-Erkenntnis. Würde der Mensch sich bloß sagen: Ich bin zufriedendamit, daß der Christus da war, ich lasse mich erlösen unbewußt! – dann würde derMensch niemals zur Erlösung der luziferischen Wesenheiten etwas beitragen. [139]Diese luziferischen Wesenheiten, die dem Menschen die Freiheit gebracht haben, gebenihm auch die Möglichkeit, diese Freiheit jetzt in einer freien Weise zu benutzen, um denChristus zu durchschauen.

Page 92: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

92

Dann werden in dem Feuer des Christentums geläutert und gereinigt die luziferischenGeister, und es wird das, was durch die luziferischen Geister an der Erde gesündigtworden ist, aus einer Sünde in eine Wohltat umgewandelt werden. Die Freiheit isterrungen, aber sie wird als eine Wohltat mit hineingenommen werden in die geistigeSphäre. Daß der Mensch das kann, daß er imstande ist, den Christus zu erkennen, daßLuzifer in einer neuen Gestalt aufersteht und sich als der Heilige Geist mit dem Christusvereinigen kann, das hat der Christus selbst noch als eine Prophezeiung denen gesagt, dieum ihn waren, als er sagte: „Ihr könnt erleuchtet werden mit dem neuen Geist, mit demHeiligen Geist!“ (23) – Dieser Heilige Geist ist kein anderer als der, durch den auchbegriffen wird, was der Christus eigentlich getan hat. Christus wollte nicht bloß wirken,er wollte auch begriffen, er wollte auch verstanden sein. Deshalb gehört es zumChristentum, daß der Geist, der die Menschen inspiriert, der Heilige Geist, zu denMenschen gesandt wird.

Pfingsten gehört im geistigen Sinne zu Ostern und ist nicht zu trennen von Ostern.Dieser Heilige Geist ist kein anderer als der wiedererstandene und jetzt in reinerer,höherer Glorie erstandene luziferische Geist, der Geist der selbständigen, derweisheitsvollen Erkenntnis. Diesen Geist hat Christus selber noch für die Menschenprophezeit: daß er erscheine nach ihm, und in seinem Sinne muß fortgewirkt werden.(24) Und was wirkt in seinem Sinne fort? Wenn sie verstanden wird, wirkt in seinemSinne fort die geisteswissenschaftliche Weltenströmung! Was ist diegeisteswissenschaftliche Weltenströmung? Sie ist die Weisheit des Geistes, diejenigeWeisheit, die das, was sonst unbewußt bleiben würde im Christentum, zum vollenBewußtsein heraufhebt.

Dem Christus trägt voran die Fackel der wiedererstandene Luzifer, der jetzt zumGuten umgewandelte Luzifer. Den Christus selber trägt er. Er ist der Träger des Lichtes,der Christus ist das Licht. Luzifer ist, wie das Wort heißt, der Träger des Lichtes. [140]

Das aber soll die geisteswissenschaftliche Bewegung sein, das ist unter ihr zuverstehen. Und diejenigen, welche begriffen haben, daß der Fortschritt der Menschheitabhängt von dem Begreifen des großen Ereignisses von Golgatha, das sind die, welcheals die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen in der großenführenden Loge der Menschheit vereinigt sind. Und wie einstmals, als in einemlebendigen Welten-Symbole die feurigen Zungen herniederschwebten auf die Gemeinde,so waltet das, was der Christus selber als den Heiligen Geist gesandt hat, als das Lichtüber der Loge der Zwölf (25). Der Dreizehnte ist der Führer der Loge der Zwölf. DerHeilige Geist ist der große Lehrer derjenigen, die wir die Meister der Weisheit und desZusammenklangs der Empfindungen nennen. Sie also sind diejenigen, durch die seineStimme und seine Weistümer in diesem oder jenem Strom auf die Erde zur Menschheitherniederfließen. Was zusammengetragen wird an Weistümern durch diegeisteswissenschaftliche Bewegung, um die Welt und die Geister darinnen zu verstehen,das fließt durch den Heiligen Geist in die Loge der Zwölf, und das ist zuletzt das, wasdie Menschheit zum selbstbewußten freien Verständnis des Christus und des Ereignissesvon Golgatha nach und nach bringen wird.

Page 93: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

93

So heißt Geisteswissenschaft treiben zugleich verstehen, daß der Christus den Geist indie Welt gesandt hat, so daß es im wahren Christentum liegt, Geisteswissenschaft zubetreiben. Das wird mehr und mehr den Menschen klarwerden. Dann werden sieeinsehen, daß sie in der Geisteswissenschaft ein positives Lebensgut haben. DieMenschen haben das an der Geisteswissenschaft, daß ihnen Christus nach und nachbewußt wird als der Geist, der die Welt durchleuchtet. Und als Folge wird eintreten, daßdie Menschen hier auf diesem Erdenrund, in der physischen Welt in moralischerBeziehung, in Beziehung auf den Willen, in intellektueller Beziehung fortschreiten. DieWelt wird durch das physische Leben hindurch immer vergeistigter und vergeistigterwerden. Die Menschen werden besser und stärker und weiser werden und sie werdentiefer und immer tiefer hineinschauen und hinein wollen in die tiefen Untergründe undQuellen des Daseins. [141] Sie werden mitnehmen die Früchte, die sie hier in diesemsinnlichen Leben sich erobern, in das übersinnliche Leben und sie immer wiederzurückbringen aus dem übersinnlichen Leben bei einer neuen Verkörperung.

So wird die Erde immer mehr und mehr der Ausdruck ihres Geistes, des Christus-Geistes werden. So wird Geisteswissenschaft nach und nach verstanden werden aus denGrundlagen der Welt heraus. Man wird verstehen, daß sie eine positive, reale Macht ist.Heute ist die Menschheit an verschiedenen Punkten nahe daran, den Geist ganz zuverlieren. Schon neulich wurde es im öffentlichen Vortrage gesagt, wie die Menschenheute leiden unter der Furcht vor der Vererbung. Die Furcht vor der erblichen Belastungist so recht eine Beigabe unseres materialistischen Zeitalters. Aber ist es genug, wennsich der Mensch der Illusion hingibt: Ich brauche diese Furcht nicht zu haben?Keineswegs reicht das hin. Der Mensch, der sich nicht kümmert um die geistige Welt,der nicht in seine Seele hineingießt, was aus der geisteswissenschaftlichen Bewegungherausfließen kann, er ist unterworfen dem, was aus der physischen Vererbungsliniekommt. Einzig und allein dadurch, daß der Mensch sich durchsetzt mit dem, was ihm ausder geisteswissenschaftlichen Geistesströmung zukommen kann, macht er sich zumHerrn über das, was aus der Vererbungslinie herunterfließt, macht es zu einemUnbedeutenden und wird Sieger über alles, was in der Außenwelt an den Menschendurch hemmende Mächte herantritt. Nicht dadurch, daß er es hinwegphilosophiert,herausdiskutiert, nicht dadurch, daß er sagt: Es gibt einen Geist – gelangt der Mensch zurHerrschaft über das Sinnliche, sondern dadurch, daß er sich mit diesem Geistdurchdringt, daß er ihn in sich wirklich aufnimmt, dadurch, daß er wirklich den Willenhat, ihn in allen Einzelheiten kennenzulernen. Dann werden die Menschen in derphysischen Welt auch immer gesünder werden durch die Geisteswissenschaft. Denn dieGeisteswissenschaft wird selber das Heilmittel werden, welches die Menschen in derphysischen Welt schön und gesund macht. [142]

Noch mehr wird uns die reale Kraft der Geisteswissenschaft klar werden, wenn wireinen Blick darauf werfen, was der Mensch betritt, wenn er durch das Tor des Todesschreitet. Das ist etwas, was der Mensch heute nur sehr schwer einsehen wird. DerMensch denkt: Wozu brauche ich mich um das zu kümmern, was in der geistigen Weltvorgeht?

Page 94: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

94

Wenn ich sterbe, gehe ich ja: ohnehin in die geistige Welt, da werde ich schon sehen undhören, was da drinnen ist! – In unzähligen Variationen können Sie das hören, jenebequeme Weise: Ach, was kümmere ich mich vor meinem Tode um das Geistige! Ichwerde ja sehen, was daran ist, denn das kann ja nichts ändern an meinem Verhältnis zurgeistigen Welt, ob ich mich hier damit befasse oder nicht! – So ist es aber nicht. DerMensch, der so denkt, wird eine finstere und düstere Welt kennenlernen. Es wird sein,wie wenn er nicht viel unterscheiden könne von dem, was Sie beschrieben finden inmeinem Buche «Theosophie» von den geistigen Welten. Denn daß der Mensch hier inder physischen Welt seinen Geist und seine Seele verbindet mit der geistigen Welt, dasmacht ihn erst fähig zu sehen, indem er sich hier darauf vorbereitet. Die geistige Welt istda; die Fähigkeit, darin zu sehen, müssen Sie sich hier auf der Erde erringen, sonst sindSie blind in der geistigen Welt. So ist Geisteswissenschaft die Macht, die Ihnen erst dieMöglichkeit gibt, überhaupt bewußt in die geistige Welt einzudringen. Wäre der Christusnicht in der physischen Welt erschienen, so würde der Mensch in der physischen Weltversinken, könnte nicht in die geistige Welt eintreten. So aber wird er durch den Christusin die geistige Welt hinaufgehoben, daß er darinnen bewußt wird, darinnen sehen kann.Das hängt davon ab, daß er sich auch zu verbinden weiß mit dem, den der Christusgesandt hat, mit dem Geist; sonst ist er unbewußt. Der Mensch muß sich seineUnsterblichkeit erwerben, denn eine Unsterblichkeit, die unbewußt ist, ist noch keineUnsterblichkeit. Schon der Meister Eckhart hat daraufhin das schöne Wort (26)gesprochen: Was nützte es dem Menschen, ein König zu sein, wenn er doch nicht weiß,daß er das ist! – Damit hat er aber gemeint: Was nützt dem Menschen alle geistige Welt,ohne daß er weiß, was die geistigen Welten sind. [143] Aneignen können Sie sich dasSehvermögen für die geistige Welt nur in der physischen Welt. Das mögen diejenigenbeherzigen, die da fragen: Warum ist denn der Mensch überhaupt heruntergestiegen indie physische Welt? Der Mensch ist heruntergestiegen, damit er hier für die geistigeWelt sehend werden kann. Blind würde er bleiben für die geistige Welt, wenn er nichtheruntergestiegen wäre und sich hier das selbstbewußte Wesen angeeignet hätte, mit demer zurückkehren kann in die geistige Welt, so daß sie jetzt lichtvoll vor seiner Seele liegt.

So sehen wir, wie Mächte in der Welt zusammenwirken, wie alles, was scheinbarwiderstrebend ist dem Fortschreiten der Menschheit, hinterher als eine Wohltat sicherweist. So sehen wir auch, daß in der nachchristlichen Zeit von Zeitalter zu Zeitalter,der Geist, der den Menschen befreit hat, wieder auftauchen wird in einer neuen Gestalt –der führende Lichtträger Luzifer wird seine Erlösung finden. Denn alles, was imWeltenplane ist, ist gut, und das Böse hat nur seinen Bestand durch eine gewisse Zeithindurch. Daher glaubt nur der an die Ewigkeit des Bösen, der das Zeitliche mit demEwigen verwechselt; und daher kann derjenige das Böse niemals verstehen, der nichtaufsteigt von dem Zeitlichen zu dem Ewigen. [144]

Page 95: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

95

Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman

Wenn jetzt in dieser Zeit gerade von geisteswissenschaftlicher Seite her auch übersoziale Fragen gesprochen wird, so beruht das ja, wie ich Ihnen übrigens von denverschiedensten Gesichtspunkten aus schon dargestellt habe, wahrhaftig nicht aufirgendeiner subjektiven Maxime, auf irgendeinem subjektiven Antriebe, sondern esberuht auf der Beobachtung der Entwicklung der Menschheit, auf der Beobachtungdesjenigen, was die Entwicklungskräfte der Menschheit gerade für unsere Zeit enthalten,wozu sie uns in der Gegenwart und für die nächste Zukunft besonders auffordern.

Es muß schon gesagt werden, daß die tieferen Impulse desjenigen zu enthüllen, waseigentlich für die gegenwärtige Menschheitsentwicklung in Betracht kommt, eine etwasunbequeme Sache ist; denn man ist in der Gegenwart nicht allzu geneigt, auf die Dinge,auf die es ankommt, einzugehen, sie mit wirklichstem, tiefstem Ernste zu betrachten.Aber unsere Zeit erfordert gegenüber den Angelegenheiten der Menschheit einenwirklichen, gründlichen Ernst. Sie erfordert namentlich das Sich-Freimachen von ganzbestimmten Vorurteilen und namentlich von Vorempfindungen. Ich möchte Ihnen nunheute einige Gesichtspunkte angeben, die Sie in die Lage versetzen, die Dinge, über diewir oft gesprochen haben, von einem tieferen Gesichtspunkte aus zu betrachten. Dawerden wir schon wieder eben den Blick richten müssen über einen etwas größerenMenschheitszusammenhang. [145]

Wir unterscheiden ja denjenigen Zeitraum, in dem wir als in unserer kosmischenGegenwart leben, so von den anderen Zeiträumen, daß wir ihn in der Mitte des 15.Jahrhunderts beginnen lassen, und wir nennen diesen Zeitraum, wie Sie wissen, denfünften nachatlantischen Zeitraum. Wir trennen ihn ab von demjenigen Zeitraume, derdamals sein Ende gefunden hat und begonnen hat im 8. vorchristlichen Jahrhunderte, denwinden griechisch-lateinischen Zeitraum nennen, nach den Bevölkerungen die seineKultur getragen haben. Was voranging, das bezeichnen wir als den ägyptisch-chaldäischen Zeitraum.

Wenn man nun den ägyptisch-chaldäischen Zeitraum ins Auge faßt, ins Seelenaugeselbstverständlich, dann findet man schon, daß die gewöhnliche Geschichtsbetrachtunggar sehr versagt. Man kommt, selbst wenn man die erschlossenen chaldäischen undägyptischen Überlieferungen ins Auge faßt, mit der äußerlichen Geschichte nicht sehrweit zurück in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Aber verstehen kann mandasjenige, was für die Gegenwart bedeutsam ist, doch auch nur, wenn man gerade diesendritten nachatlantischen Zeitraum aus seinen besonderen Eigentümlichkeiten herausrichtig versteht.

Nun wissen Sie ja vor allen Dingen eines. In der gewöhnlichen Geschichte wirddasjenige, was als Kultur, als Zivilisation unter den Menschen war über die damalsbekannte Welt hin, als das Heidnische bezeichnet. Wie eine Oase setzt sich in dieseheidnische Kultur hinein, was das Jüdisch-Hebräische ist, das als Vorbereitung desChristentums aufgefaßt werden muß.

Page 96: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

96

Aber wenn wir absehen von dem, was von ganz anderer Natur als die übrige damaligeKultur als Judentum sich hineinsetzt in das Vorchristliche, so können wir den Blickrichten auf das über die Zivilisation hingehende Heidentum. Was ist das Eigentümlichedieser alten heidnischen Kultur? Das Eigentümliche dieser alten heidnischen Kultur ist,daß sie vorzugsweise eine Kultur der Weisheit ist, eine Kultur des Hineinschauens in dieDinge und Vorgänge der Welt. Wenn auch dasjenige, was der alte Heide von seinemWissen über die Welt wiedergab, was herausgeströmt war aus den alten Mysterien, fürdie heutige «gescheite» Welt einen mythischen Charakter, einen Bildcharakter hat, somuß doch gesagt werden, daß alles dasjenige, was an solchen Bildern auf die Nachweltgekommen ist, tiefen Einblicken in das Wesen der Dinge und Vorgänge entstammt. [146]

Man braucht nur sich zu erinnern übersinnlicher Weistümer, die wir versuchten ausden verschiedenen Gebieten dieser alten Zeit für die Gegenwart bloßzulegen, und manwird schon sehen, daß man es zu tun hat mit einer Urweisheit, die den Grund allesDenkens, alles Empfindens, alles Fühlens der alten Völker bildet. Ein gewisserNachklang dieser Urweisheit, eine Tradition, die diese Urweisheit in sich schloß, war jafür gewisse Geheimgesellschaften auch in einer gedeihlichen Form bis zum Ende des 18.Jahrhunderts, auch noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts vorhanden. Im 19.Jahrhundert ist das mehr oder weniger versiegt, und dasjenige, was geblieben ist, ist inden Dienst einzelner Gruppen, namentlich einzelner Nationalitäten gestellt worden. Undes kann heute dasjenige, was in den gewöhnlichen Geheimgesellschaften vorhanden ist,nicht mehr ein ersprießliches, mit Echtheit überliefertes altes heidnisches Weisheitsgutgenannt werden.

Dieses heidnische Weisheitsgut, es hat eine bestimmte Eigenschaft, die man nie ausdem Auge verlieren darf, wenn man verstehen will, um was es sich eigentlich handelt. Eshat eine Eigenschaft, derentwegen gerade sich hineinstellen mußte wie eine Oase indiesen Strom der alten heidnischen Weisheit die kleinere Strömung, das Judentum, dasdann das Christentum vorbereitete.

Wenn man die alte heidnische Kultur richtig erkennt, so findet man überall, daß siehehre, große Weistümer, ungeheuer tief in das Wesen der Dinge Hineinschürfendesenthält; aber diese heidnischen Weistümer enthalten keinen eigentlich sittlichen Antriebfür das menschliche Handeln. Man brauchte gewissermaßen diese sittlichen Antriebe fürdas menschliche Handeln nicht; denn ungleich dem, was heute als Wissen, als Erkenntnisunter den Menschen figuriert, war diese alte heidnische Weisheit etwas, was demMenschen wirklich das Gefühl und die Empfindung gab, daß er drinnensteht im ganzenKosmos. [147] Der Mensch, der hier auf der Erde stand und herumwandelte, fühlte sichnicht nur zusammengesetzt aus den Stoffen und Kräften, die außer ihm im irdischenLeben, die im mineralischen, im tierischen, im pflanzlichen Reiche vorhanden sind. DerMensch fühlte, wie die Kräfte in ihn hereinspielten, die in den Sternen und in denSonnen kreisten und so weiter. Der Mensch fühlte sich als ein Glied des ganzen Kosmosund er fühlte nicht etwa nur abstrakt, wie er ein Glied des ganzen Kosmos sei, sondern erbekam Anhaltspunkte aus seinen Mysterien heraus, wie er zum Handeln, zu seinemganzen Verhalten vorzuschreiten habe im Sinne des Sternenlaufes.

Page 97: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

97

Alte Sternenweisheit war keineswegs jene rechnerische Astrologie, welche heute dieMenschen für etwas Bedeutsames halten, sondern es war jene alte Sternenweisheit etwas,was von den Leitern der alten heidnischen Mysterien so gefaßt wurde, daß da von diesenMysterien herauskommen konnten wirkliche Antriebe für das Handeln, für das Verhaltendes einzelnen Menschen. Der Mensch wußte sich gewissermaßen geborgen im Kosmos,nicht nur durch eine allgemeine Weisheit, sondern was er vom Morgen bis zum Abendan einem Tag des Jahres zu tun hatte, das lasen ihm ab und gaben ihm als Direktivendiejenigen, die er anerkannte als die Initiierten in den Mysterien. Aber es war aus alldem,was da die Initiierten aus den Mysterien ablasen, für die chaldäische, für die ägyptischeWeisheit nicht zu gewinnen irgendein moralischer Antrieb für die Menschheit. Dereigentlich moralische Antrieb für die Menschheit wurde erst durch das Judentumvorbereitet, dann durch das Christentum weiter ausgebildet.

Und die Frage muß entstehen: Woher kommt es denn, daß die gloriose alte heidnischeWeisheit, die zum Beispiel ja noch im Griechentum eine künstlerische und einephilosophische Blüte schönster Art trug, keinen moralischen Impuls in sich hatte?

Würden wir allerdings weiter zurückgehen hinter das 3. Jahrtausend dervorchristlichen Zeit, so würden wir finden, daß mit dem Weisheitsimpuls zugleich einmoralischer Impuls kommt, und daß das durchaus so ist, wie ich es hier schonauseinandergesetzt habe: daß in dem Weisheitsimpuls zugleich dasjenige enthalten war,was die alten Menschen als ihre Moral„als ihr Ethos brauchten. [148] Aber einbesonderes Ethos, ein besonderer moralischer Impuls, wie er dann mit dem Christentumkam, war der heidnischen Weisheit als solcher nicht eigen. Warum? Aus dem Grunde,weil für die Jahrtausende, die unmittelbar dem Christentum vorangingen, dieseheidnische Weisheit von einer Stelle weit in Asien drüben inspiriert war, aber inspiriertvon einer sehr merkwürdigen Wesenheit, von der im 3. vorchristlichen Jahrtausendwirklich in Asien drüben, weit im Osten inkarnierten Wesenheit des Luzifer.

Und zu dem, was wir über die Menschheitsentwicklung kennengelernt haben, ist esnotwendig, daß wir auch die Erkenntnis hinzufügen, daß es ebenso, wie es die Inkarnationvon Golgatha gegeben hat, die Inkarnation des Christus in dem Menschen Jesus vonNazareth, auch gegeben hat eine wirkliche Inkarnation des Luzifer im 3. vorchristlichenJahrtausend in Asien. Und ein großer Teil der alten Kultur ist eben inspiriert von der Seiteher, die nur bezeichnet werden kann als eine irdische Inkarnation Luzifers in einemMenschen, der in Fleisch und Blut gelebt hat. Es wurde ja sogar das Christentum, dasMysterium von Golgatha, als es unter den Menschen sich abspielte, zuerst so gefaßt, wiedie Menschen es fassen konnten durch dasjenige, was sie aus der alten luziferischenWeisheit bekommen konnten. Auch die Einseitigkeit der aber sonst außerordentlichtiefsinnigen Gnosis rührt davon her, daß eben über die alte Welt diese Luziferinkarnationging. Man versteht nicht richtig die volle Bedeutung des Mysteriums von Golgatha, wennman nicht weiß, daß ihm – nicht ganz dreitausend Jahre –vorangegangen ist eineLuziferinkarnation.

Page 98: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

98

Um zu dieser Luziferinspiration dasjenige hinzuzufügen, was diese Luziferinspirationaus der Einseitigkeit herausholt, kam die Christus-Inkarnation. Und damit kam dasjenige,was nun den menschheitlichen Erziehungsimpuls bildet für die Entwicklung dereuropäischen Zivilisation und ihres amerikanischen Anhanges. Aber seit der Mitte des 15.Jahrhunderts, seit in der Menschheitsentwicklung entstanden ist der Antrieb vorzugsweisezur Individualitäts-, zur Persönlichkeitsentwicklung, liegen in dieser Entwicklung auch dieKräfte, die eine neue Inkarnation eines übersinnlichen Wesens wiederum vorbereiten.[149] Und ebenso wie es gegeben hat eine fleischliche Inkarnation Luzifers, wie esgegeben hat eine fleischliche Inkarnation des Christus, so wird es, ehe auch nur ein Teildes dritten Jahrtausends der nachchristlichen Zeit abgelaufen sein wird, geben im Westeneine wirkliche Inkarnation Ahrimans: Ahriman im Fleische. Dieser Inkarnation Ahrimansim Fleische kann nicht etwa die Erdenmenschheit entgehen. Die wird kommen. Es handeltsich nur darum, daß die Erdenmenschheit ihre richtige Stellung finden muß zu dieserahrimanischen Erdeninkarnation.

In alledem, was auf diese Art vorgeht, wenn sich solche Inkarnationen vorbereiten, mußhingesehen werden auf dasjenige, was nach und nach in der Menschheitsentwicklunghinführt zu solchen Inkarnationen. Solch eine Wesenheit wie Ahriman, die sich einegewisse Zeit nach der unsrigen hier auf der Erde in der westlichen Welt inkarnieren will,bereitet ihre Inkarnation vor. Eine solche Wesenheit wie Ahriman, der auf der Erdeinkarniert werden will, lenkt gewisse Kräfte in der menschlichen Entwicklung so, daß siedieser Wesenheit zu ihrem ganz besonderen Vorteil gereichen. Und schlimm wäre es,wenn die Menschen schlafend dahinleben würden und gewisse Erscheinungen, die imMenschenleben vor sich gehen, nicht so nehmen würden, daß sie in ihnen eineVorbereitung für die fleischliche Inkarnation des Ahriman erkennen können. Nur dadurchwerden die Menschen die rechte Stellung finden, daß sie erkennen: In dieser oder jenerTatsachenreihe, die der menschheitlichen Entwicklung angehört, muß man erkennen, wieAhriman sein irdisches Dasein vorbereitet. Und heute ist es an der Zeit, daß einzelneMenschen wissen, welche von den Vorgängen, die um sie herum sich abspielen,Machinationen Ahrimans sind, die – ihm zum Vorteil – seine demnächstige irdischeInkarnation womöglich vorbereiten. [150]

Am günstigsten würde es ja zweifellos für Ahriman sein, wenn er es dahin brächte,daß die weitaus größte Anzahl der Menschen keine Ahnung hätte von dem, waseigentlich zur Begünstigung seines Daseins hinführen könnte; wenn die weitaus größteAnzahl von Menschen so dahinleben würde, daß diese Vorbereitungen für dieAhrimaninkarnation abliefen, aber die Menschen sie für etwas Fortschrittliches, Gutes,der Menschheitsentwicklung Angemessenes hielten. Wenn sich gewissermaßen Ahrimanin eine schlafende Menschheit hereinschleichen könnte, dann würde ihm das amallerangenehmsten sein. Deshalb müssen diejenigen Ereignisse aufgezeigt werden, indenen Ahriman für seine künftige Inkarnation arbeitet.

Page 99: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

99

Sehen Sie, eine derjenigen Entwicklungstatsachen, in denen deutlich zu vernehmen istder Impuls des Ahriman, das ist die Verbreitung des Glaubens unter der Menschheit, daßman durch jene mechanisch-mathematische Erfassung des Weltenalls, welche durch denGalileismus, Kopernikanismus und so weiter gekommen ist, wirklich verstehen könnedasjenige, was da draußen im Kosmos sich abspielt. Deshalb muß ja so streng vonanthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft betont werden, daß man Geist undSeele suchen muß im Kosmos, nicht bloß dasjenige, was der Galileismus, derKopernikanismus suchen als Mathematik, Mechanik, wie wenn die Welt eine großeMaschine wäre. Es würde eine Verführung durch Ahriman sein, wenn die Menschenstehenbleiben dabei, nur die Umlaufzeiten der Gestirne zu berechnen, nur Astrophysik zustudieren, um hinter die stofflichen Zusammensetzungen der Himmelskörper zukommen, worauf die Menschen heute so stolz sind. Aber es würde schlimm sein, wennnicht entgegengehalten würde diesem Galileismus, diesem Kopernikanismus dasjenige,was man wissen kann über die Durchseelung des Kosmos, über die Durchgeistigung desKosmos. Das ist es, was Ahriman aber zugunsten seiner irdischen Inkarnation ganzbesonders vermeiden möchte. Er möchte gewissermaßen die Menschen so stark in derDumpfheit erhalten, daß sie nur das Mathematische der Astronomie begreifen. Daherverführt er viele Menschen dazu, ihre bekannte Abneigung gegen das Wissen vom Geistund der Seele des Weltenalls geltend zu machen. Aber das ist nur eine von denverführerischen Kräften, die gewissermaßen Ahriman in die Seele der Menschenhineingießt. [151]

Eine andere von diesen verführerischen Kräften des Ahriman – er arbeitet, möchte ichsagen, in entsprechender Weise mit den Luziferkräften zusammen – hängt ja natürlichfür seine Inkarnation zusammen mit dem Bestreben, unter den Menschen nachMöglichkeit die bereits sehr verbreitete Stimmung zu erhalten, daß es für das öffentlicheLeben genügt, wenn dafür gesorgt wird, daß die Menschen wirtschaftlichzufriedengestellt werden. Man berührt dabei einen Punkt, den der moderne Menschoftmals nicht gern zugibt. Für eine wirkliche Erkenntnis des Geistes und der Seele bietetdie heutige offizielle Wissenschaft gar nichts mehr; denn die Methoden, welche man inden heutigen öffentlichen Wissenschaften hat, taugen nur dazu, die äußere Natur, auchvom Menschen nur die äußere Natur aufzufassen. Aber denken Sie sich nur, wieverächtlich so ein Durchschnittsbürger der Gegenwart hinblickt auf alles dasjenige, wasihm idealistisch vorkommt, was ihm auf irgendeine Art wie ein Weg ins Geistige hineinvorkommt! Er fragt doch im Grunde genommen immer wiederum: Ja, was bringt dasein? Was trägt das für irdische Güter? – Er läßt seine Söhne im Gymnasium ausbilden,ist vielleicht selber im Gymnasium oder in einer anderen Anstalt ausgebildet, er läßt siean einer Universität oder an einer anderen Hochschule ausbilden. Allein, all das dient nurdazu, um die Grundlagen für einen Beruf abzugeben, das heißt, um im Leben diemateriellen Güter zu schaffen, die sie ernähren.

Page 100: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

100

Überblicken Sie einmal das, was berührt wird, wenn man gerade diese Frage ins Augefaßt. Wie viele Menschen bewerten heute gar nicht mehr den Geist um des Geisteswillen, die Seele um der Seele willen! Solche Menschen nehmen nur das auf, was ihnenvom öffentlichen Erkenntnisleben als nützlich gepriesen wird. Da muß man sich einesehr wichtige, geheimnisvolle Tatsache der heutigen Menschheit schon zum Bewußtseinbringen. So ein richtiger Durchschnittsbürger der Gegenwart, der von morgens bisabends vielleicht ganz fleißig in seinem Kontor ist, dann die bekannten«Abendformalitäten» durchmacht, der will sich durchaus nicht herbeilassen, solche«Allotria» mitzumachen, wie sie etwa in der anthroposophisch orientiertenGeisteswissenschaft vorgebracht werden. Es erscheint ihm als etwas Unnötiges; denn erdenkt: Das kann man doch nicht essen! – [152] Und schließlich: alles das, was wirklichnützlich ist an Erkenntnis; das soll doch – wenn auch die Menschen es sich nicht immergestehen, aber es ist im öffentlichen Leben so – eine Vorbereitung dazu sein, um dieEssensmöglichkeiten herbeizuführen.

Ja, es ist ein merkwürdiger Irrtum, dem sich eben gerade auf diesem Gebiet dieMenschen der Gegenwart hingeben. Sie glauben, den Geist könne man doch nicht essen.Aber sehen Sie, die Menschen, die dies sagen, sind gerade diejenigen, die den Geistessen! Denn in demselben Maße, in dem man es ablehnt, irgend etwas Geistiges in sichaufzunehmen, das als Geistiges aufgenommen werden würde, in demselben Maßeverzehrt man mit jedem Bissen, den man materiell durch den Mund in den Magen führt,das Geistige und befördert es auf einen anderen Weg, als es gehen sollte, zum Heile derMenschheit.

Ich glaube, daß viele Europäer sich etwas auf ihre Zivilisation zugute tun werdendann, wenn sie sagen können: Wir sind doch keine Menschenfresser! – AberSeelenfresser und Geistesfresser, das sind die Europäer mit ihrem amerikanischenAnhang! Das geistlos verzehrte Materielle bedeutet ein Hingeleiten des Geistes auf einenAbweg. Es ist schwierig, diese Dinge heute der Menschheit zu sagen. Denn erfassen Sienur einmal richtig, in welcher Weise vieles von der heutigen Kultur charakterisiertwerden muß, wenn man diese Tatsache weiß. Und den Menschen in einem solchenseelen- und geistesfresserischen Zustand zu erhalten, das ist einer der Impulse desAhriman, um seine Inkarnation zu befördern. Je mehr es gelingen würde, die Menschenaufzurütteln, daß sie nicht bloß wirtschaften in materiellem Sinne, sondern ebenso wiedas Wirtschaftsleben auch das selbständige freie Geistesleben, das den wirklichen Geisthat, als ein Glied des sozialen Organismus betrachten, in demselben Maße würden dieMenschen die Inkarnation Ahrimans so erwarten, daß sie eine menschheitsgemäßeStellung zu dieser Inkarnation würden einnehmen können.

Eine andere Strömung in unserem jetzigen Leben, die Ahriman benötigt, um seineeigene Inkarnation zu befördern, das ist diejenige, die heute so deutlich hervortritt indem sogenannten nationalen Prinzip. [153] Alles dasjenige, was die Menschen spaltenkann in Menschengruppen, was sie entfernt von dem gegenseitigen Verständnis über dieErde hin, was sie auseinanderbringt, das fördert zu gleicher Zeit Ahrimans Impulse.

Page 101: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

101

Und man sollte eigentlich Ahrimans Stimme entnehmen aus dem, was heute so vielfachals ein neues Ideal über die Erde hin gesprochen wird: Befreiung der Völker, selbst derkleinsten, und so weiter. – Die Zeiten sind vorüber, in denen das Blut entscheidet. Undkonserviert man ein derart Altes, dann fördert man dasjenige, was Ahriman geförderthaben will. Ebenso fördert man dasjenige, was Ahriman gefördert haben will, wenn mandas nicht energisch zurückweist, was ich ja hier schon öfter charakterisiert habe, indemich Ihnen gezeigt habe: Heute gibt es Menschen mit den verschiedenstenParteimeinungen und Parteilebensauffassungen. Man kann davon die eine so gutbeweisen wie die andere. Sie können ebensogut beweisen, was irgendeine sozialistischePartei vertritt, wie das, was eine antisozialistische Partei vertritt, mit gleich gutenGründen, die dann die Menschen in Anspruch nehmen. Werden die Menschen nichteinsehen, daß diese Beweisart so weit an der Oberfläche des Daseins liegt, daß man ebendas Nein und das Ja zugleich beweisen kann mit unserer gegenwärtigen Intelligenz, diefür die Naturwissenschaft sehr brauchbar ist, die aber. für eine andere Erkenntnisunbrauchbar ist, werden die Menschen nicht einsehen, daß diese Intelligenz, die unsererWissenschaft so große Dienste leistet, an der Oberfläche liegt, dann werden sie dieseIntelligenz anwenden auf dasjenige, was soziales Leben ist, auf das geistige Leben. Dannwerden sie das Entgegengesetzte beweisen, der eine dieses, der andere jenes, die eineGruppe dieses, die andere Gruppe jenes; und da man beides beweisen kann, so werdendie Menschen übergehen zu Haß und Erbitterung, die wir ja genügend in unserer Zeitfinden. Das alles sind wiederum Dinge, die Ahriman zur Förderung seiner eigenenErdeninkarnation fördern will.

Und was ganz besonders Ahriman dienen wird zur Förderung seiner Erdeninkarnation,das ist die einseitige Auffassung des Evangeliums selbst. [154] Sie wissen ja, wie inunserer Zeit die Vertiefung der Evangelien in geisteswissenschaftlichem Sinne nötiggeworden ist. Sie wissen aber auch, wie sehr heute noch die Gesinnung über die Erde hinverbreitet ist, man solle die Evangelien nicht geistig vertiefen, man solle sich nichtdarauf einlassen, dies oder jenes aus einer wirklichen Erkenntnis des Geistes, desKosmos über die Evangelien zu sagen. «Schlicht hinnehmen» solle man die Evangelien,so sie hinnehmen, wie sie sich heute den Menschen darbieten. Ich will gar nicht davonsprechen, daß sich die wahren Evangelien gar nicht darbieten; denn das, was heute dieMenschen aus den Ursprachen als Übersetzungen der Evangelien haben, sind nicht dieEvangelien. Aber darauf will ich gar nicht eingehen; sondern ich will nur dietieferliegende Tatsache vor Sie hinstellen, die darin besteht, daß man nicht zu einerwirklichen Christus-Auffassung kommen kann, wenn man sich nur, wie es die meistenBekenntnisse und Sekten heute wollen, schlicht, das heißt bequem, in die Evangelienhineinfinden will. Man ist in der Zeit, als das Mysterium von Golgatha sich abgespielthat, und einige Jahrhunderte nachher, zu einer Auffassung des realen Christusgekommen, weil man dasjenige, was überliefert war, fassen konnte mit Hilfe derheidnisch-luziferischen Weisheit.

Page 102: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

102

Diese heidnisch-luziferische Weisheit ist zurückgegangen, und was heute dieMenschen aus Bekenntnissen und Sekten heraus in den Evangelien finden, das führt sienicht zum realen Christus, den wir suchen durch unsere Geisteswissenschaft, sondern dasführt sie nur zu einer Illusion oder höchstens zu einer Halluzination, zu einer seelischenoder vergeistigten Halluzination von dem Christus.

Man kann nicht durch die Evangelien zu dem wirklichen Christus kommen, wenn mandiese Evangelien nicht geisteswissenschaftlich durchdringt. Man kann durch dieEvangelien nur bis zu einer Halluzination der weltgeschichtlichen Erscheinung desChristus kommen. Das hat sich übrigens gründlich auch gezeigt in der Theologie derneuesten Zeit. Warum liebt es denn diese Theologie so sehr, von dem «schlichten Mannaus Nazareth» zu sprechen und den Christus eigentlich nur als den Jesus von Nazarethaufzufassen, der etwas hinausragt über die anderen geschichtlichen Größen? [155] Weilman verloren hat die Möglichkeit, zum realen Christus zu kommen, und weil dasjenige,was die Menschen aus den Evangelien gewonnen haben, lediglich bis zu einerHalluzination, bis zu etwas Illusionsartigem kommt; sie können nicht wirklich dieRealität des Christus durch die Evangelien ergreifen, sondern nur eine halluzinatorischeoder illusorische Vorstellung. Das haben die Menschen auch erfaßt. Wie viele Theologenreden davon, daß Paulus vor Damaskus «nur eine Vision» gehabt habe. Sie kommendarauf, daß eigentlich durch ihre Betrachtung der Evangelien nur eine Halluzination, eineVision zu gewinnen ist. Das ist nicht etwas Falsches, aber eben eigentlich nur ein inneresErleben, das in keinem Zusammenhang steht mit der Realität des Christus-Wesens. Ichnenne das nicht halluzinatorisch mit dem Nebengeschmack, daß es unwahr ist, sondernich will nur charakterisieren, daß die Christus-Wesenheit in derselben Art erfaßt wird,wie eine Halluzination innerlich erfaßt wird. Wenn nun die Menschen dabeistehenbleiben würden, nicht zu dem wirklichen Christus vorzudringen, sondern nurvorzudringen zu der Halluzination des Christus, dann würde Ahriman am meisten seineZwecke gefördert finden. (Zu Halluzinationen läuft das Wirken der Evangelien auch aus,wenn nur ein Evangelium auf die Menschen wirkt.) (27)

Man hat gegen das Prinzip, die Evangelien einzeln zu nehmen, gearbeitet, indem manvier Evangelien von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus hingestellt hat, und da gehtes doch nicht an, diese vier Evangelien, die, wie wir ja oft gesehen haben, sich äußerlichwidersprechen, nun einzeln wörtlich, wortwörtlich zu nehmen. Aber es ist eine großeGefahr, ein einzelnes Evangelium wortwörtlich zu nehmen. Was Sie bei den Sektenerleben, die auf das Johannes- oder auf das Lukas-Evangelium schwören als auf seinenwortwörtlichen Inhalt, ist eine Art Wahnidee-Bildung, eine Art Umdämmerung desBewußtseins. Bei umdämmertem Bewußtsein, das sich gerade durch die Evangelien, dieman nicht geistig vertieft, herausbilden würde, würden sich Menschen ergeben, die ambesten dazu dienen würden, daß Ahriman seine Inkarnation vorbereiten könnte, so daß dieMenschen ganz in seinem Sinne zu ihm einstmals stehen würden. [156]

Page 103: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

103

Sehen Sie, wiederum eine unbequeme Wahrheit für die Menschen der Gegenwart! Daleben die Menschen in ihren Konfessionen und sagen: Wir brauchen nicht irgend etwaswie eine Anthroposophie, denn wir bleiben bei dem schlichten Evangelium. AusBescheidenheit – sagen die Leute – bleiben sie bei dem schlichten Evangelium. InWahrheit ist es die furchtbarste Anmaßung, die nur zu denken ist. Und diese Anmaßungbesteht darin, daß man scheinbar das Evangelium wortwörtlich nimmt, aber sich hermachtüber das, was als Weisheitsgut erarbeitet ist, um es zu beurteilen mit dem, was man durchdie Geburt mitbekommen hat und ,Was aus dem Blute herauswirbelt an Ideen. Die«schlichtesten» Menschen sind meistens die hochmütigsten, gerade auf religiösenGebieten, auf Bekenntnisgebieten. Aber dabei kommt in Betracht, daß diejenigen ammeisten die Inkarnation des Ahriman vorbereiten, die vor den Menschen immer wiederumpredigen: Ihr braucht nichts weiter, als im Evangelium zu lesen!

Und merkwürdig, die zwei Parteien, wenn sie auch sehr, sehr verschieden voneinandersind, arbeiten sich in die Hände: Diejenigen, die ich früher bezeichnet habe alsSeelenfresser, Geistfresser, und diejenigen, welche in der zuletzt charakterisierten Weisedurch das bloße Aufgehen im Wörtlichen der Evangelien die Inkarnation des Ahrimanfördern. Die beiden arbeiten sich furchtbar in die Hände. Denn würde nichts sich geltendmachen als die Weltanschauung der Seelen- und Geistfresser auf der einen Seite, derBekenntnischristen, die nicht auf die Tiefen des Evangeliums eingehen wollen, auf deranderen Seite, dann würde Ahriman alle Menschen zu «Ahrimanianern» auf der Erdemachen können! Was heute vielfach im positiven Christentum der äußeren Welt verbreitetwird, das ist eine Vorbereitung für die Inkarnation des Ahriman. Und aus gar manchem,was mit der Anmaßung auftritt, die Vertretung der rechtgläubigen Kirche zu sein, sollteman heute eigentlich hören eine Vorbereitung des Werkes von Ahriman.

Denn die Dinge sind heute nicht so, wie die Menschen sie wortwörtlich sagen. DieMenschen leben heute, wie ich oftmals auseinandergesetzt habe, eben viel zu sehr inWorten. [157] Wir haben gar sehr nötig, von den Worten weg in die Dinge einzudringen.Heute ist es wirklich so, daß das Wort gewissermaßen die Menschen von dem wirklichenWesen der Dinge trennt. Und am meisten trennen sich die Menschen von dem wirklichenWesen, wenn sie die alten Urkunden, zu denen auch die Evangelien gehören, so nehmenwollen, wie es heute oftmals angedeutet wird: im sogenannten «schlichten Verständnis».Viel schlichter ist dasjenige, was wirklich in den Geist der Dinge hineindringen und auchdie Evangelien selber vom Gesichtspunkt des Geistes aus verstehen will.

Ich habe gesagt: Zusammenwirken werden Ahriman und Luzifer ja immer. Es handeltsich nur darum, welcher von beiden für das Bewußtsein der Menschen gewissermaßendie Übermacht in einem bestimmten Zeitalter erhält. Es war eine stark luziferischeKultur, die der Zeit nach bis über das Mysterium von Golgatha hinüberreichte, von derInkarnation des Luzifer in China im 3. vorchristlichen Jahrtausend ab. Von da strahltevieles aus, was besonders stark bis in die ersten christlichen Jahrhunderte herein wirkte,was aber auch noch in unserer Zeit wirkt.

Page 104: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

104

Nun ist es aber in unserer Zeit so, daß Luzifers Spuren mehr unsichtbar werden, weileine Inkarnation des Ahriman im 3. Jahrtausend bevorsteht, und Ahrimans Wirken insolchen Dingen, wie ich sie Ihnen heute angeführt habe, besonders deutlich seinenSpuren nach wahrnehmbar ist. Ahriman hat gewissermaßen mit Luzifer einen Vertraggeschlossen, den ich so bezeichnen möchte: Ich, Ahriman, finde es für mich besondersgünstig – so sagte Ahriman zu Luzifer –, die Konservenbüchsen in Anspruch zu nehmen;dir überlasse ich den Magen, wenn du es mir nur überläßt, die Mägen in Dämmerung zuwiegen, respektive die Bewußtseine der Menschen in bezug auf den Magen inDämmerung zu wiegen. [158]

Sie müssen nur richtig verstehen, was ich damit meine. In Dämmerung über denMagen sind diejenigen Menschen, die ich eben als Seelenfresser und als Geistesfresserbezeichnet habe; denn sie führen direkt der luziferischen Strömung dasjenige zu, was sieihrem Magen zuführen, wenn sie nicht in ihrer Menschheit Spirituelles tragen. Durch denMagen geht das ungeistig Gegessene und Getrunkene zu Luzifer hin!

Und mit den Konservenbüchsen, was meine ich denn eigentlich damit? Mit denKonservenbüchsen meine ich die Bibliotheken und ähnliches, wo diejenigenWissenschaften aufbewahrt sind, die man zwar treibt, die man aber nicht mit seinemwirklichen Interesse verfolgt, die nicht bei den Menschen leben, sondern in den Büchern,die in den Bibliotheken stehen. Sehen Sie sich diese Wissenschaft an, die abseits von denMenschen getrieben wird! Viele Bücher stehen überall in den Bibliotheken. JederStudent muß schon anfangen, wenn er das Doktorat macht, eine gelehrte Abhandlung zumachen; dann werden diese in möglichst viele Bibliotheken hineingestellt. Dann kommtwiederum eine gelehrte Abhandlung, wenn der Betreffende in irgendeine Stellunghineinrücken will. Aber auch sonst schreiben und schreiben und schreiben die Menschenheute. Aber gelesen wird das wenigste von dem, was heute geschrieben wird. Nur dann,wenn die Menschen sich vorbereiten müssen für dieses oder jenes, dann zitieren sie das,was da in den Bibliotheken drinnen modert, konserviert ist. Diese «Konservenbüchsender Weisheit», das ist dasjenige, was besonders ein gutes Förderungsmittel für Ahrimanist.

Die Art, wie das getrieben wird, aber auch vieles andere, was ähnlich ist, waseigentlich nur in die Welt gesetzt wird, aber einen Sinn nur hätte, wenn sich dieMenschen dafür interessieren würden, für das sie sich aber eigentlich nicht interessieren,sondern das nur in einer von den Menschen getrennten Weise vorhanden ist, findet sichauf allen Gebieten. Man könnte wenn man dazu veranlagt wäre, verzweifeln! Da hat manzum Beispiel einen Prozeß, da muß man sich einen Advokaten nehmen. Dieser Advokatführt den Prozeß. Dann kommen die Zeiten, wo man mit dem Advokaten verhandelnmuß; es häufen sich mehr und mehr Papiere. Die hat er in einer Mappe. Aber wenn mandann mit ihm redet, so hat er keine Ahnung von dem Zusammenhang; er weiß nichts, erschlägt auf und auf und es kommt nichts dabei heraus. Er hat keinen Zusammenhang mitseinen Akten. [159] Da ist eine Aktenmappe, da ist die nächste Aktenmappe. Die Aktenwachsen. Aber das Interesse ist ganz und gar nicht vorhanden. Es ist zum Verzweifeln,wenn man mit den Fachleuten, die so irgendwie die Dinge machen, wirklich zu tun hat.

Page 105: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

105

Sie sind ganz und gar außer Verbindung mit dem, worum es sich handelt, wissen nichtsdavon in Wirklichkeit, denn alles steht in den Akten. Das sind die kleinenKonservenbüchsen; die Bibliotheken sind die großen Konservenbüchsen von Geist undSeele. Da wird alles konserviert. Aber die Menschen wollen es nicht mit sich vereinigen,wollen es nicht mit ihrem Interesse durchdringen. Und schließlich entsteht gerade darausja auch jene Stimmung in der neueren Zeit, welche gar nicht hineinlassen möchte in dasWeltanschauungsbekenntnis dasjenige, wozu schon etwas Kopf notwendig ist. Es istKopf notwendig, um etwas zu verstehen. Die Menschen möchten das Bekenntnis, dieWeltanschauung bloß auf das Herz zurückführen. Gewiß muß es auf das Herzzurückgeführt werden; aber die Art, wie die Menschen gegenwärtig oftmals über dasreligiöse Bekenntnis sprechen, kommt mir vor wie dasjenige, was mit einem Sprichwortgetroffen werden soll, das viel in der Gegend angewendet wurde, wo ich meine Jugendverlebt habe. Da wurde gesagt: «Des mit der Liab, des is a ganz besundere Sach. Wamasie kaft, so kaft ma eigentli nur das Heaz, und in Kobf griag ma umasunst draf.» Also mitder Liebe sei es eine ganz besondere Sache: Wenn man sie kaufe, so kaufe man nur dasHerz, und den Kopf bekomme man umsonst als Zugabe! – So ungefähr, sehen Sie, soll jaauch die Stimmung sein für dasjenige, was die Menschen heute gern als Inhalt ihrerWeltanschauung aufnehmen. Sie möchten alles ohne Anstrengung des Kopfesaufnehmen, durch das Herz, wie sie sagen, das allerdings ohne den Kopf nicht schlägt,aber durch das man gut aufnehmen kann, wenn man eigentlich den Magen meint. Unddann soll dasjenige, was in der Menschheit geleistet werden soll durch den Kopf, das sollumsonst drauf sein, das soll insbesondere in den allerwichtigsten Dingen des Lebensumsonst zugegeben sein. [160]

Alle diese Dinge, sie sind sehr wichtig zu beachten, und es ist sehr wichtig, sie zubeachten. Denn man sieht, wenn man sie beachtet, welch großen Ernst man aufwendenmuß gegenüber dem gegenwärtigen Menschenleben und wie es notwendig ist, zu lernenselbst von den Illusionen, die von den Evangelien ausgehen können; zu lernen von derArt, wie die Menschen gegenwärtig die Illusionen lieben. Mit der Art von Wissen, dasdie Menschen heute oftmals anstreben, ist nicht Wahrheit zu erreichen. Die Menschenfinden es heute sehr sicher, wenn sie mit Zahlen rechnen, statistisch die Dinge der Weltzu beweisen. Mit der Statistik und mit den Zahlen hat Ahriman ein ganz besondersleichtes Spiel; denn er ist ganz besonders froh, wenn ein Gelehrter heute der Menschheitklarmacht: auf dem Balkan muß es so und so aussehen, denn da leben zum Beispiel inMazedonien so und so viele Griechen, so und so viele Serben, so und so viele Bulgaren.Gegen Zahlen läßt sich nichts machen, denn die Menschen glauben an Zahlen. UndAhriman macht mit den Zahlen, an die die Menschen glauben, seine Rechnung in demSinne, wie ich es Ihnen heute erklärt habe. Nur kommt man nachher dahinter, wie«sicher» diese Zahlen sind. Zahlen beweisen ganz bestimmt etwas für den Menschen;aber wenn man nicht stehenbleibt bei dem, was in den Büchern steht, wo mit Zahlenbewiesen wird, sondern genauer nachsieht, so merkt man oftmals:

Page 106: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

106

In diesen Statistiken, sagen wir zum Beispiel den mazedonischen, da ist angeführt einVater, der ist Grieche, ein Sohn, der ist Serbe und ein anderer Sohn, der ist Bulgare; alsosteht der Vater bei den Griechen, der eine Sohn bei den Bulgaren, der andere bei denSerben. Wie das zugeht, daß in derselben Familie der eine ein Grieche ist, der andere einSerbe, der andere ein Bulgare, und wie das in die Zahlen hineingeht, das zudurchschauen wäre das, was wirklich zur Wahrheit führt, nicht das Aufnehmen derZahlen, womit sich die Menschen heute so befriedigen. Die Zahlen sind es, durch welchedie Menschen in einer Richtung verführt werden, durch die Ahriman am besten seineRechnung findet für seine künftige Inkarnation im 3. Jahrtausend. [161]

Page 107: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

107

Erbsünde und Gnade

Am nächsten liegt heute zu betrachten einige Streiflichter, die in unsere spirituelleBewegung hereinfallen können, wenn wir von einem gewissen Gesichtspunkte ausunsere menschliche Entwicklung einmal im Zusammenhang mit der Erdentwicklungbetrachten. Manches von dem, was wir wissen, wollen wir – wie wir das schonmanchmal gemacht haben – in einer besonderen Weise beleuchten. Es wird Ihnenvielleicht doch öfter manches von dem, was auf Sie einen tieferen Eindruck in denreligiösen Empfindungen der Menschen gemacht hat, in den sonstigenWeltanschauungsfragen, so vor Augen getreten sein, daß Sie sich fragen mußten: Wieverhalten sich Dinge, die Gegenstände des religiösen Empfindens der Menschheit sind,oder die Gegenstände sind sonstiger Weltanschauungsfragen, zu unseren tieferenAuffassungen der Weltanschauungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft?

Auf zwei wichtige Begriffe, die öfter vor die Seele des modernen Menschen tretenkönnen, möchte ich da von Anfang an deuten, trotzdem vielleicht diese modernenMenschen glauben, solche Dinge längst abgetan zu haben, auf die zwei Begriffe, die sichgewöhnlich umschreiben mit den Worten: Sünde und Gnade.

Es wissen ja alle, daß diese Worte «Sünde» und «Gnade» zum Beispiel für diechristliche Weltanschauung etwas ungeheuer Bedeutungsvolles sind, daß sie da diegrößte Rolle spielen. Es haben sich allerdings gewisse Theosophen daran gewöhnt, wiesie glauben vom Gesichtspunkte des Karma aus, gar nicht mehr viel über solche Begriffewie Sünde und Gnade nachzudenken, namentlich auch nicht mehr über den erweitertenBegriff von Sünde und Erbsünde. [162] Nun ist dieses Außerachtlassen eines solchenNachdenkens dennoch insoferne von nicht guten Folgen begleitet, als man dadurchverhindert wird, die tieferen Seiten des Christentums zum Beispiel, überhaupt dietieferen Weltanschauungsfragen, zu erkennen. Diese Begriffe «Sünde», «Erbsünde»,«Gnade» haben in der Tat noch einen weit tieferen Hintergrund, als man gewöhnlichmeint. Und daß man diesen tieferen Hintergrund, in unserer Gegenwart nicht mehr sosieht, rührt einfach daher, daß fast alle traditionellen Religionen der Welt – fast alle,mehr oder weniger, so wie sie äußerlich existieren – ihre wirklichen Tiefen verwischthaben, daß kaum in dem, was da oder dort in einem Religionssystem verkündet wird,entfernt noch Ähnliches von demjenigen ist, was sich hinter den entsprechendenBegriffen verbirgt. Hinter den Begriffen Sünde, Erbsünde, Gnade verbirgt sich in der Tatdie ganze Entwicklung des Menschengeschlechts.

Wir haben uns gewöhnt, diese Entwicklung in zwei Teile zu gliedern, in einenabsteigenden Teil, von den ältesten Zeiten der Menschheitsentwicklung bis zu derErscheinung des Christus auf Erden, und in einen aufsteigenden Teil, der mit derErscheinung des Christus auf Erden beginnt und bis in die entferntesten Zukünfte hineinweitergeht. So gliedern wir also die gesamte Menschheitsentwicklung dadurch, daß wirdieses Christus-Ereignis als das größte nicht nur unserer Menschheitsentwicklung,sondern als das größte unserer gesamten planetarischen Entwicklung überhaupt ansehen.

Page 108: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

108

Warum müssen wir denn nun dieses Christus-Ereignis als ein so außerordentlichBedeutsames in die Mitte unserer ganzen Weltentwicklung hineinstellen? – Aus demeinfachen Grunde, weil der Mensch, wie wir wissen, aus geistigen Höhen in materielle,in physische Tiefen heruntergestiegen ist, und weil er wiederum von den materiellen,von den physischen Tiefen zu geistigen Höhen hinaufsteigen muß. Also mit einemHerunterstieg und einem Hinaufstieg des Menschen haben wir es zu tun. Und wirbezeichnen näher diesen Herunterstieg des Menschen in bezug auf sein Seelenlebendadurch, daß wir sagen: [163] Wenn wir in recht alte Zeiten zurückblicken, dann findenwir, daß in diesen alten Zeiten die Menschen im Grunde genommen ein dem Göttlichenviel ähnlicheres geistiges Leben haben führen können als jetzt, daß die Menschengleichsam dem Göttlich-Geistigen nähergestanden haben, daß in die Seele des Menschenmehr göttlich-geistiges Leben hereingeleuchtet hat.

Nur dürfen wir allerdings nicht außer acht lassen, daß es notwendig geworden ist, daßdie Menschheit in die materielle, in die physische Welt heruntergestiegen ist, weil injenen alten Zeiten, wo die Menschen dem Göttlich-Geistigen nähergestanden haben, zugleicher Zeit das ganze Bewußtsein unserer Seele ein dumpferes, ein traumhafteres war:also ein weniger helles, klares Bewußtsein, dafür aber ein mehr von göttlich-geistigenVorstellungen, von göttlich-geistigen Empfindungen, von göttlich-geistigenWillensimpulsen durchzogenes. Der Mensch ist näher dem Göttlich-Geistigen, dafüraber weniger klarer Mensch, mehr träumendes Kind gewesen. Heruntergestiegen ist derMensch, indem er sich die für das physische Leben notwendige Urteilskraft angeeignethat, den Verstand. Er hat sich damit entfernt von den göttlich-geistigen Höhen, wurdeaber klarer in sich selber, hat mehr den festen Stützpunkt in sich selber gefunden. Nunmuß er, um sich wiederum mit diesem inneren Schwerpunkt seines Seelenlebenshinaufzuarbeiten, dieses mit dem ausfüllen, was durch den Christus-Impuls geworden ist.Und je mehr er es ausfüllt mit diesem Christus-Impuls, desto mehr wird er wiederumhinaufsteigen in die göttlich-geistige Welt und nicht ankommen als ein träumendesWesen mit unklarem Bewußtsein, sondern als ein Wesen mit deutlichem, scharf in dieWelt hineinschauendem Bewußtsein. Das haben wir oft von den verschiedensten Seitenaus so beleuchtet.

Nun, wenn wir etwas näher eingehen auf die menschliche Entwicklung, wissen wirwiederum, daß das, was dem Menschen allein die Möglichkeit gebracht hat,verstandesklares, helles Hineinsehen in die sinnlich-physische Welt sich zu erwerben,das Ich des Menschen ist, daß dieses aber als letztes in der menschlichen Entwicklungsich entwickelt hat; daß sich vorher der Astralleib, noch früher der Ätherleib, noch früherder physische Leib in den ersten Anlagen entwickelte. [164] So daß wir uns erinnernwollen heute, daß der eigentlichen Ich-Entwicklung die erste Entwicklung desAstralleibes vorangegangen ist. Wenn wir mancherlei zusammenhalten von dem, was wirim Laufe der Zeit gehört haben, müssen wir allerdings sagen: Uns muß klar sein, daß derMensch, bevor er seine Ich-Entwicklung durchmachen konnte, eine Entwicklungdurchgemacht hat, in der er nur diese drei Glieder hatte: physischen Leib, Ätherleib,Astralleib. Aber der Mensch war trotzdem schon in die Ich-Entwicklung hineinverlegt.

Page 109: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

109

Er lebte in dieser Entwicklung, wartete gleichsam auf die spätere Hinzufügung seinesIch. Wenn wir uns dieses richtig vor Augen halten, dann werden wir einen Begriff davonbekommen, daß Dinge mit dem Menschen und seiner ganzen Entwicklung vorgegangensein müssen, bevor er eigentlich das Ich in sich aufgenommen hat, gleichsam Vor-Ich-Entwicklungstatsachen. Das ist sehr wichtig. Denn wenn der Mensch eine Entwicklungschon durchgemacht hat, bevor er sein Ich aufgenommen hat, dann können wir das, wasdamals in seiner Entwicklung lag, ihm nicht in derselben Weise anrechnen, wie wir ihmanrechnen müssen das, was er mit seinem Ich durchgemacht hat.

Wir kennen Wesenheiten, von denen wir wissen, daß sie ein Ich im menschlichenSinne nicht haben. Es sind die Tiere. Sie bestehen nur aus physischem Leib, ausÄtherleib und Astralleib. Daß die Tiere so sind, zwingt uns, ihnen gegenüber etwas ganzBestimmtes anzuerkennen, was wir widerspruchslos alle tun, wenn wir überhauptvernünftig denken. Es mag uns ein Löwe zum Beispiel noch so wütig anfahren, in demSinne, wie wir von einem Menschen sprechen: er kann böse sein–, werden wir vomLöwen nicht sprechen: er kann böse sein, er kann eine Sünde begehen, er kannUnmoralisches begehen – so sprechen wir von keinem Tier, daß wir ihm irgendeineHandlung als eine unmoralische anrechnen. Das ist sehr bedeutsam. Denn wenn wir auchnicht darüber nachdenken und das anerkennen, erkennen wir zugleich an, daß derUnterschied zwischen Mensch und Tier besteht; daß das Tier nur den physischen Leib,den Ätherleib und Astralleib, der Mensch aber dazu das Ich hat. [165]

Nun hat der Mensch, bevor er das Ich aufgenommen hat, eine Entwicklungdurchgemacht, wo er als höchstes Glied nur den Astralleib hatte. Ist da nun etwasvorgegangen mit dem Menschen, das wir doch in einem anderen Licht sehen müssen, alswir die Handlungen der Tiere sehen? – Ja. Denn darüber müssen wir uns ganz klar sein:Wenn auch der Mensch einstmals aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib bestandenhat, wie die heutigen Tiere war er durchaus nicht. Er war nie ein Tier sondern er hat inanderen Zeiten diese Stufe durchgemacht, wo er aus physischem Leib, Ätherleib,Astralleib bestanden hat, in Zeiten, in denen es Tiere in der heutigen Form noch nichtgegeben hat – in Zeiten, in denen ganz andere Verhältnisse auf der Erde existiert haben.Was ist dazumal aber geschehen mit dem Menschen? Etwas, was wir so bezeichnenkönnen, daß wir sagen: Nun, der Mensch hat zwar nicht das Ich gehabt, wir können ihmalso seine Dinge nicht so zurechnen, wie wir das zum Unterschied von den Tieren heutetun, aber es werden die Tatsachen, die von ihm ausgegangen sind, doch in anderer Weisezu beurteilen sein, als sie heute zu beurteilen sind, da er sein Ich hat. – Dahinein, indieses letzte Übergangsstadium, wo der Mensch vor dem Tor steht, da er sein Ichbekommen soll, fällt noch der luziferische Einfluß. Es konnte damals der Mensch nochnicht so beurteilt werden wie heute, aber doch anders als die Tierheit. Luzifer drängtesich also an den Menschen heran. Der Mensch konnte noch nicht sozusagen unter vollermoralischer Verantwortlichkeit dem Luzifer folgen oder nicht. Aber er konnte doch inanderer Weise, als wir das heute beim Tier bezeichnen, von Luzifer in seine Netzegezogen werden.

Page 110: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

110

So daß wir sagen müssen: Die Verführung des Luzifer, diese Versuchung des Luziferfällt gerade in die Zeit hinein, da der Mensch vor dem Torschluß stand, sein Ich zuerhalten. Es ist also eine Handlungsweise des Menschen, die vor seiner jetzigen Ich-Entwicklung liegt, die aber ihre Schatten in diese ganze Ich-Entwicklung hineingeworfenhat. Also wer ist denn eigentlich Sünder geworden? Der Mensch, insofern er ein Ich-Mensch ist, noch nicht. Durch Luzifer ist der Mensch mit jenem Teil seines WesensSünder geworden, mit dem er heute im Grunde genommen nicht mehr Sünder werdenkann. [166] Denn heute hat er sein Ich. Der Mensch ist also mit dem Astralleib damalsSünder geworden. Das ist der radikale Unterschied zwischen irgendeiner Sünde, die wirheute als Mensch auf uns laden, und dem, was damals als Sünde in die menschlicheNatur eingezogen ist. Als der Mensch damals der Versuchung des Luzifer unterlegen ist,ist er mit seinem Astralleib unterlegen. Es ist das also eine Tat der Vor-Ich-Entwicklung,eine ganz andersartige Tat als alle die Taten, die der Mensch hat tun können, nachdemsein Ich auch nur in den allerersten Andeutungen in seine Natur eingezogen war. So fälltalso eine Tat des Menschen vor dem Einzug des Ich in die menschliche Natur. Aberdiese Tat wirft ihre Schatten in alle späteren Zeiten hinein. Vollbringen konnte derMensch diese Tat, der Versuchung des Luzifer zu folgen, bevor er sein Ich aufnahm,aber er ist unter den Einfluß dieser Tat gebracht worden für alle folgenden Zeiten.Wieso? Dadurch, daß dies geschehen ist, daß unser Astralleib schuldig geworden ist vorunserer Ich-Werdung, dadurch ist die Tatsache herbeigeführt worden, daß der Menschnun in den folgenden Inkarnationen immer tiefer in die physische Welt heruntersinkenmußte. Das ist der Anstoß zum Heruntersinken, diese Tat, die noch im Astralleib sichabgespielt hat. Dadurch war der Mensch auf eine schiefe Ebene nach abwärtsgekommen, dadurch folgt er mit seinem Ich Kräften in seiner Natur, welche aus seinerVor-Ich-Entwicklung herrühren.

Wie drückten sich denn nun diese Kräfte in der Menschheitsentwicklung aus? – Siedrückten sich auf folgende Weise aus. Wir wissen aus früheren Betrachtungen, daß derMensch bis zum siebenten Jahre ungefähr seinen physischen Leib entwickelt, vomsiebenten bis vierzehnten Jahr seinen Ätherleib, vom vierzehnten bis einundzwanzigstenJahr seinen Astralleib und so weiter. Wir wissen, daß er mit der Entwicklung seinesÄtherleibes in ein Stadium eintritt, wo er seinesgleichen aus sich hervorbringen kann.Wir wollen jetzt ganz von der gleichartigen Erscheinung im Tierreich absehen. Wirwissen, daß der Mensch, wenn er seinen Ätherleib entwickelt hat, Menschenseinesgleichen hervorbringen kann. Das ist daran gebunden, daß der Mensch seinenÄtherleib voll entwickelt hat. [167] Wer ein wenig nur nachdenkt – man braucht nichtHellseher zu sein, man braucht nur ein wenig nachzudenken –, wird sich sagen: Alsomuß mit der vollen Entwicklung des Ätherleibes auch die Möglichkeit gegeben sein fürden Menschen, die ganze, die volle Menschheit hervorzubringen, wirklich seinesgleichenhervorzubringen. Das heißt, der Mensch kann nicht dann noch, wenn er sichweiterentwickelt in die Zwanzigerjahre hinein, neue Eigenschaften zur Hervorbringungseinesgleichen entwickeln.

Page 111: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

111

Man kann nicht sagen, daß der Mensch im dreißigsten Jahr dieser Eigenschaft, die ihnbefähigt, seinesgleichen hervorzubringen, noch etwas hinzufügen würde. Der Mensch hatalle Eigenschaften, die ihn fähig machen, den Menschen hervorzubringen, mit derEntwicklung seines Ätherleibes. Was kommt später noch dazu? Vom Menschen selberkommt durch das, was der Mensch später aufnimmt, nichts mehr hinzu. Denn er mußschon die volle Fähigkeit haben, seinesgleichen hervorzubringen. Er kann nichts mehrhinzuerobern, wenn er den Ätherleib voll entwickelt hat. Was kommt noch dazu? Dieeinzige Fähigkeit, die sich der Mensch später in bezug auf die Hervorbringung vonseinesgleichen erwirbt, ist diese, daß er sich den vollen Umfang seiner Fähigkeit,Menschen seinesgleichen hervorzubringen, verdirbt. Was man nach der vollenEntwicklung des Ätherleibes noch sich erwerben kann, kann nicht die Kraft bereichern,seinesgleichen hervorzubringen, sondern sie nur schmälern. Und das ist auch der Fall.Eigenschaften, die man sich nach vollendeter Geschlechtsreife erwirbt, tragen nichtsdazu bei, das Geschlecht des Menschen zu verbessern, sondern können nur dazubeitragen, es zu verschlechtern. Das rührt von dem Einfluß jenes Impulses her, den ichcharakterisiert habe, der ausgeht von der Schuld des Astralleibes. Nachdem der Ätherleibvollständig entwickelt ist, also ungefähr vom vierzehnten Jahr ab, entwickelt sich derAstralleib weiter. In dem steckt aber der Einfluß des Luzifer! Was da aber wiederzurückgeht in die Entwicklung des Ätherleibes hinein, das kann nur die Möglichkeithervorrufen, diese Kräfte des Ätherleibes, die darin beruhen, daß er Wesenseinesgleichen hervorbringen kann, weniger fähig zu machen. Das heißt: [168] Das, wasder Astralleib geworden ist durch jene Versuchung des Luzifer, ist der fortwährendeGrund für eine Degeneration des Menschengeschlechts, für ein Herunterkommen desMenschen.

Ein fortwährendes Herunterkommen durch die Inkarnationen hindurch war in der Tatbei den Menschen der Fall. Und je weiter wir hinaufgehen gegen die atlantische Zeit zu,desto mehr würden wir in den physischen Anlagen des Menschen höhere Kräfte findenals in den späteren Zeiten. Wo hinein wurde also dieser Impuls versenkt, der durch dieVersuchung des Luzifer im Astralleib hervorgebracht worden ist? In die Vererbung! Diemachte er fortwährend schlechter. Die Sünde, welche der Mensch sich erwirbt mitseinem Ich, mag zurückwirken auf den Astralleib, sie kann sich nur im Karma austragen.Die Sünde, welche der Mensch auf sich geladen hat, bevor er ein Ich hatte, trägt bei zueiner fortwährenden Degeneration, Verkümmerung des ganzen menschlichenGeschlechts. Diese Sünde wurde vererbbare Eigenschaft. Und so wahr es ist, daßniemand von seinen Vorfahren etwas in höherem Sinne geistig ererben kann – dennkeiner wird gescheit dadurch, daß er einen gescheiten Vater hat, sondern dadurch, daß eretwas Gescheites lernt; noch niemand hat die Mathematik von seinen Vorfahren ererbt,auch nicht andere Vorstellungen von seinen Vorfahren ererbt –. So wahr es ist, daß wirdiese Eigenschaften nicht ererben können, sondern sie durch Erziehung bekommen, sowahr ist es, daß das, was von unserem Astralleib zurückgeht in den Ätherleib, was wiruns so aneignen, daß es zurückwirkt auf den Ätherleib, nur beiträgt zur Untergrabung derFähigkeiten des menschlichen Geschlechts.

Page 112: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

112

Und das ist Erbsünde. Da haben wir also wirklich den wahren Sinn des BegriffesErbsünde. Die ursprüngliche Sünde, welche noch im Astralleib haftete, pflanzte sichnach und nach fort, so daß sie sich den menschlichen vererbbaren Eigenschaften, diedamals schon in der physischen Degeneration des Menschen wurzelten, mitteilte als einGrund des Herunterstiegs der Menschen von ihren geistigen Höhen zu einer physischenDegeneration. So haben wir in der Tat einen fortwährenden Impuls durch den Einflußdes Luzifer bekommen, den man im allerrichtigsten Sinne als Erbsünde bezeichnen muß.[169]

Denn es vererbt sich das, was hineinkam durch Luzifer in den Astralleib, vonGeschlecht zu Geschlecht. Es gibt keinen treffenderen Ausdruck für das, was dereigentliche Grund ist des Herunterrückens der Menschheit in die materielle, physischeWelt, als den Ausdruck: Erbsünde. Nur müssen wir dann diese Erbsünde nicht soauffassen wie andere Sünden des gewöhnlichen Lebens, die wir uns voll zurechnen,sondern als ein Schicksal des Menschen; als etwas, das notwendigerweise über uns vonder Weltenordnung verhängt werden mußte, weil wir von dieser heruntergeführt werdenmußten, nicht nur etwa, um uns schlechter zu machen, als wir waren, sondern um uns dieKräfte zu erwecken, uns selber wiederum hinaufzuarbeiten, um in uns selber die Kräftezu finden, uns hinaufzuarbeiten. Darum müssen wir diesen Fall der Menschheit als etwasauffassen, was zur Befreiung in das menschliche Schicksal einverwoben worden ist. Niehätten wir freie Wesen werden können, wenn wir nicht heruntergestoßen worden wären.Wir hätten am Gängelband einer Weltordnung geführt werden müssen, der wir hättenblindlings folgen müssen. Wir müssen uns aber wiederum hinaufarbeiten.

Nun gibt es niemals etwas, was nicht auch seinen entgegengesetzten Pol hätte. Wiekein Nordpol ohne einen Südpol, so kann es nicht eine solche Erscheinung geben wiediese Sünde des Astralleibs ohne den anderen Pol. Das heißt, wir haben, ohne daß wir, esuns im gewöhnlichen Sinne zurechnen können, ohne sprechen zu können von dermoralischen Verfehlung, das Schicksal als Menschen, daß wir Menschen Luzifer-erfülltsind. Wir können in gewisser Beziehung nichts dafür, müssen sogar dankbar sein, daß esso gekommen ist. Das ist auf der einen Seite richtig. Wir können nichts dafür. Wirmußten also etwas auf uns laden, für das wir nicht in vollem Sinne verantwortlich seinkönnen.

Dem steht nun in der menschlichen Entwicklung etwas entgegen, was sich dazuverhält wie der nördliche Pol zum südlichen Pol. [170] Dieser Sünde, die vererbbar ist inihrer Folge, die also das Eintreten einer Schuld im Menschen ist, ohne daß der Menschrichtig schuldig ist, muß gegenüberstehen die Möglichkeit, wiederum hinaufzukommen,auch ohne daß eine Schuld des Menschen vorliegt. Wie der Mensch fallen mußte ohneseine Schuld, so muß er auch wieder steigen können ohne seine Schuld, das heißt hier:ohne sein volles Verdienst. Wir sind gefallen ohne unsere Schuld. Wir müssen steigenkönnen deshalb ohne unser Verdienst. Das ist der notwendige andere Pol. Sonst müßtenwir unten bleiben in der physisch-materiellen Welt.

Page 113: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

113

Wie wir also an den Anfang unserer Entwicklung setzen müssen notwendigerweise eineSchuld, ohne daß der Mensch schuldig ist, so müssen wir an das Ende unsererEntwicklung ein Geschenk für den Menschen setzen, welches ohne sein Verdienst an ihnherankommt. Diese zwei Dinge gehören notwendigerweise zusammen. Wie das der Fallist, darüber bekommen wir am besten auf folgende Art eine Vorstellung.

Erinnern Sie sich einmal, daß das, was der Mensch als Angehöriger des gewöhnlichenLebens tut, aus den Impulsen seiner Empfindungen, seiner Affekte, seiner Triebe, seinerBegierden hervorgeht. Der Mensch wird meinetwegen zornig und tut das oder jenes ausdem Zorn heraus; er liebt und tut dieses oder jenes aus der gewöhnlichen Liebe heraus.Es gibt nur ein Wort, das Ihnen bezeichnen kann alles das, was der Mensch so tut. Nichtwahr, Sie werden alle zugeben, daß bei dem, was der Mensch so tut, wenn erleidenschaftlich ist, wenn er zornig ist, wenn er liebt in der gewöhnlichen Weise, etwasist, was spottet aller abstrakten Begriffe; was man nicht definieren kann. Man muß schonein ganz vertrockneter Gelehrter sein, wenn man alles das, was irgendeiner menschlichenHandlung zugrunde liegt, definieren wollte. Aber ein Wort ist doch da, welchesdasjenige bezeichnet, was beim Menschen vorliegt, wenn er irgend etwas imgewöhnlichen Leben tut. Und das ist das Wort «Persönlichkeit». Mit diesem Wortumfassen wir sogleich alle die undefinierten Dinge. Wenn wir eines MenschenPersönlichkeit begriffen haben, dann wissen wir unter Umständen zu beurteilen, warumer diese oder jene Leidenschaft, diese oder jene Begierde und so weiter entwickelte. Dashat alles diesen persönlichen Charakter, was aus unseren Trieben, Begierden,Leidenschaften und so weiter hervorgeht. [171] Da sind wir aber so leicht verstrickt indas physisch-materielle Leben, wenn wir aus unseren Trieben, Begierden,Leidenschaften heraus arbeiten. Da ist geradezu eingetaucht in das Meer der physisch-materiellen Welt unser Ich. Denn wie unfrei ist es, wenn es dem Zorn, der Begierde, derLeidenschaft, auch der Liebe im gewöhnlichen Sinne folgt. Unfrei ist das Ich, weil es inden Banden ist von Zorn, Leidenschaft und so weiter. Nun, wenn wir unser Zeitalter inBetracht ziehen, so werden wir uns gestehen, daß es jetzt schon etwas anderes gibt, wases im Grunde genommen in alten Zeiten nicht gegeben hat.

Nur diejenigen, welche die Geschichte nicht kennen und alles mit einem Zeitmaßbeurteilen, das nicht viel weitergeht als die Nase, können behaupten, daß in den älterenZeiten des Griechentums zum Beispiel solche Dinge vorhanden gewesen wären, die wirheute zusammenfassen mit den Worten, die seit mehr als einem Jahrhundert berühmtgeworden sind, mit Worten wie: Freiheit, Gleichheit der Menschen, mit Worten, die wirbezeichnen als sittliche Ideale, mit Worten, wie sie zum Beispiel auch im erstenGrundsatz der Theosophischen Gesellschaft enthalten sind, «den Kern eines allgemeinenBruderbundes der Menschheit zu bilden ohne Unterschied des Glaubens, der Nation, desStandes, des Geschlechts». Wir folgen als heutige Menschen diesem Ideal. Das war nichtso bei den alten Ägyptern, Persern, überhaupt nicht bei den alten Völkern, in dem Sinn,wie wir davon sprechen.

Page 114: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

114

Die Menschen haben eigentlich in diesem jetzigen Zeitalter solchen Idealen zu folgen,aber was der Mensch tut unter den abstrakten Begriffen von Freiheit, Brüderlichkeit undso weiter, hat eben den Charakter des Abstrakten für die meisten Menschen und läßt sichdefinieren. Für die meisten Menschen können in bezug auf das, was sie erfassen vonFreiheit, Brüderlichkeit und so weiter diese Ideale (nur abstrakt) definiert werden, weilsie wenig davon erfassen. Da haben wir, trotzdem die Leidenschaften geschwellt werden,doch bei vielen Menschen etwas vor uns, was so recht die Idee erweckt von etwasAusgedörrtem. Persönlich können wir diese Dinge noch nicht nennen, es sind abstrakteIdeen. Es ist noch nicht etwas, was das Vollblütige des persönlichen Lebens hat. [172]Und wir bezeichnen solche Individualitäten als sehr hochstehend, bei denen die Idee derFreiheit einen solchen Charakter annimmt, daß sie mit urelementarer Kraft hervorquillt,wie wenn sie aus dem Zorn, aus der Leidenschaft, aus der gewöhnlichen Liebehervorkäme. Wie nüchtern lassen die Menschen vielfach heute noch die Ideen, die wirals die größten sittlichen Ideale betrachten! Dennoch ist es der Anfang eines großenWerdens. Geradeso wie der Mensch mit seinem Ich in das Meer des Physisch-Materiellen hinuntergetaucht ist, da er sozusagen Persönlichkeit entwickelte, indem eretwas tut unter den Einflüssen von Leidenschaften, Trieben, Begierden, geradeso muß ernicht bloß mit den abstrakten Begriffen, sondern mit der Persönlichkeit hinaufrücken indiese abstrakten Ideen, die eben noch abstrakt sind. Mit der urelementaren Kraft, mit derwir heute sehen, daß dieses oder jenes aus dem Haß oder der Liebe im gewöhnlichenSinne entspringt, mit der wird dasjenige entspringen, was unter den geistigen Idealensteht.

Der Mensch wird hinaufrücken in höhere Sphären mit seiner Persönlichkeit. Dazu istaber etwas notwendig. Wenn der Mensch hinuntertaucht mit seinem Ich in das Meer desphysischmateriellen Lebens, findet er eben seine Persönlichkeit, da findet er sein heißesBlut, seine wogenden Triebe und Begierden im astralischen Leib, da taucht er unter inseine Persönlichkeit. Aber nun soll er hinauf in das Gebiet der sittlichen Ideale, und dassoll nicht abstrakt sein. Er muß nach dem Geistigen hinauf, und da muß ihm etwasebenso Persönliches entgegenpulsen, wie ihm Persönliches entgegenpulst, wenn er mitseinem Ich in sein heißes Blut, in seine Triebe untertaucht. Hinauf muß er, ohne insAbstrakte zu verfallen. Wie kommt er denn, wenn er hinaufgeht ins Geistige, in etwasPersönliches hinein? Wie kann er denn diese Ideale so entwickeln, daß sie persönlichenCharakter haben? Dazu gibt es nur ein Mittel. Da muß der Mensch in den geistigenHöhen eine Persönlichkeit anziehen können, die innerlich persönlich ist, wie diePersönlichkeit unten im Fleische ist. Und was ist das für eine Persönlichkeit, die derMensch anziehen muß, wenn er hinaufsteigen will in das Geistige? Das ist der Christus.[173] Geradeso wie einer sagen könnte, der ein entgegengesetzter Paulus ist: Nicht ich,sondern mein astralischer Leib –, so sagt Paulus: Nicht ich, sondern der Christus in mir(28) –, um anzuzeigen, daß dadurch, daß der Christus in uns lebt, die abstrakten Ideeneinen ganz persönlichen Charakter annehmen. Sehen Sie, das ist die Bedeutsamkeit desChristus-Impulses.

Page 115: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

115

Ohne den Christus-Impuls käme die Menschheit zu abstrakten Idealen, zu allerlei Idealenvon moralischen Mächten und dergleichen, zu dem, was heute viele Historiker unter densogenannten geschichtlichen Ideen beschreiben, die nicht leben und nicht sterbenkönnen, weil sie eben keine schöpferische Macht haben. Wenn man von Ideen in derGeschichte spricht, so sollte man sich bewußt werden, daß das tote, abstrakte Begriffesind, die nun wirklich nicht die Geschichtsepochen beherrschen können. Herrschen kannnur das Leben. Und das, wozu der Mensch sich entwickeln soll, ist die Entwicklung zueiner höheren Persönlichkeit. Dies ist die Christus-Persönlichkeit, welche der Menschanzieht, welche der Mensch in sich aufnimmt.

So geht der Mensch wieder ins Geistige hinauf, indem er nicht bloß vom Geist redet,sondern den Geist aufnimmt in der lebendig persönlichen Form, wie er ihm entgegenlebtin den Ereignissen von Palästina, in dem Mysterium von Golgatha. So steigt der Menschunter dem Einfluß des Christus-Impulses wiederum hinauf. Durch nichts anderes kommtman darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persönlichen Charakter immer mehrund mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sichdurchziehen wird mit dem Christus-Impuls. Aber wenn wir auf der einen Seite durch dieSchuld vor der Entwicklung des Ich dasjenige auf uns geladen haben, was wir dieErbsünde nennen, wenn wir da sozusagen etwas haben, was uns nicht voll angerechnetwerden kann, so kann uns im Grunde genommen auch das nicht angerechnet werden, daßder Christus hereingetreten ist, daß wir den Christus anziehen können. Was wir tun, waswir versuchen, um dem Christus nahezukommen, das gehört schon in unser Ich, das istschon unser Verdienst. [174] Daß der Christus da ist, daß wir auf einem Planeten leben,wo der Christus gewandelt ist, in einer Zeit leben, nachdem dies geschehen ist, das istnicht unser Verdienst. Was also ausfließt von dem positiven, dem lebendigen Christus,um uns wiederum hinaufzubringen in die geistige Welt, das ist etwas, was wiederumaußerichlich ist, was uns hinaufzieht, ohne daß wir dazu etwas können, ebensowenig wiewir dazu etwas können, daß wir sozusagen ohne unsere Schuld schuldig geworden sind.Es kommt uns durch das Dasein des Christus auf Erden die Kraft, wiederumhinaufzusteigen, ebenso ohne Verdienst, wie das andere ohne unsere Schuld gekommenist. Denn beide haben es nicht zu tun mit dem Persönlichen, in dem das Ich lebt, sondernmit dem, was dem Ich vorangeht und was dem Ich nachfolgt. Wir haben öfters betont,daß der Mensch sich aus einem Zustand entwickelt hat, wo er nur physischen Leib,Ätherleib und astralischen Leib hatte, und daß der Mensch sich dadurchweiterentwickelt, daß er seinen astralischen Leib umwandelt und durch die Umwandlungdiesen astralischen Leib zu Manas macht. So wie der Mensch seinen astralischen Leibschlechter gemacht hat durch die Erbsünde, so macht er ihn wiederum besser durch denChristus-Impuls. Da fließt etwas herein, was den astralischen Leib um ebensoviel bessermacht, als er dazumal schlechter gemacht worden ist. Das ist das Äquivalent, das istdasjenige, was man im wahren Sinne die Gnade nennt. Gnade ist das Äquivalent, derErgänzungsbegriff zum Erbsündebegriff.

Page 116: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

116

So daß das Hereinströmen des Christus in den Menschen, die Möglichkeit, eins werdenzu können mit dem Christus, die Möglichkeit, sagen zu können wie Paulus: Nicht ich,sondern der Christus in mir –, zugleich alles das ausdrückt, was wir als den Begriff derGnade bezeichnen.

So dürfen wir sagen: Wir mißverstehen nicht die Karma-Idee, wenn wir davonsprechen, daß es eine Erbsünde und eine Gnade gibt. Denn sofern wir von der Karma-Idee sprechen, sprechen wir von der Reinkarnation des Ich in den verschiedenen Leben.Karma ist für den Menschen ohne die Anwesenheit des Ich gar nicht zu denken. Sofernwir von Erbsünde und Gnade sprechen, sprechen wir von Impulsen, die unter der Flächedes Karma liegen, die im astralischen Leib liegen. Wir dürfen sagen: [175] Dasmenschliche Karma ist erst dadurch herbeigeführt worden, daß der Mensch die Erbsündeauf sich geladen hat. Das Karma läuft durch Inkarnationen hindurch, und vorher undnachher stehen Dinge, welche das Karma einleiten und wieder ausgleichen; vorher dieErbsünde und nachher der volle Erfolg des Christus-Impulses, das Eintreten der Gnade.

Wir können uns sagen: In der Tat, auch von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, hatGeisteswissenschaft gerade in der Gegenwart eine große, bedeutsame Mission. Denn sowahr es ist, daß die Menschheit erst vor kurzem dazugekommen ist, überhaupt Ideale inabstrakter Form anzuerkennen, so wahr die Menschen sozusagen abstrakte Ideen vonFreiheit, von Brüderlichkeit entfalten konnten, so wahr ist es, daß die Zeit vor uns stehenmuß, wo diese Ideen nicht als abstrakte Ideale bloß, sondern als lebendige Kräfte an unsheranrücken. So wahr es ist, daß die Menschen einen Durchgangspunkt durchgemachthaben, da sie abstrakte Ideale fassen konnten, so wahr ist es, daß sie dazu vorschreitenmüssen, diese Ideale persönlich auszuleben, daß sie vorschreiten müssen zum Eintritt inden neuen Tempel. Wir stehen davor. Und die Menschen werden belehrt werden, daßdasjenige, was aus spirituellen Höhen herunterwirkt, nicht bloß Abstracta sind, sondernLebendiges ist. Wenn sie anfangen werden, das zu schauen, was oftmals als demSchauen der Menschen bevorstehend in der nächsten Epoche der Entwicklung genanntworden ist; wenn die Menschen anfangen werden, nicht mehr zu denken: Wie bin ichgut! – sondern wenn ihnen vor Augen treten wird aus dem ätherischen Anschauen dielebendige Macht des Christus, den sie schauen werden im Ätherleib – wie wir wissen,daß das geschieht von der Mitte unseres Jahrhunderts ab bei einzelnen Menschen –;wenn die Menschen beginnen werden, den Christus als Lebendigen zu schauen, dannwerden sie wissen, daß das, was sie eine Zeitlang in Form von abstrakten Ideen erschauthaben, lebendige Wesenheiten sind, die da leben innerhalb unserer Entwicklung:lebendige Wesenheiten. [176] Denn der lebendige Christus, der zuerst in physischerGestalt aufgetreten ist und der sich nur innerhalb derselben dazumal den Menschenmitteilen konnte, daß sie an ihn glauben konnten, auch sofern sie nicht seineZeitgenossen waren, er wird seine Erscheinung erneuern. Dann wird es keines Beweisesbedürfen, daß er lebt, dann werden die Beweisenden da sein: diejenigen, welche selbererleben – auch ohne eine besondere Entwicklung, in einer Art von reifem Schauen –, daßdie sittlichen Mächte der Weltordnung Lebendiges sind, nicht bloß abstrakte Ideale.

Page 117: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

117

So sehen wir, daß unsere Gedanken uns nicht hinaufführen können in die wirklichgeistigen Welten, weil sie ohne Leben sind. Erst wenn diese Gedanken uns nicht mehrerscheinen als unsere Gedanken, sondern als die Bezeugungen des lebendigen Christus,welcher den Menschen erscheinen wird, dann werden wir diese Gedanken in derrichtigen Weise verstehen. Dann wird der Mensch ebenso wahr, wie er einePersönlichkeit wurde, indem er mit dem Ich untergetaucht ist in niedere Sphären, ebensoeine Persönlichkeit sein, wenn er zu den geistigen Höhen hinaufsteigt. Das verkennt derMaterialismus von heute. Dieser wird nur leicht verstehen, daß es abstrakte Ideale gibtdes Guten, des Schönen und so weiter. – Daß es lebendige Mächte gibt, die uns durchihre Gnade hinaufziehen, das muß erst eingesehen werden. Das wird durchgeisteswissenschaftliche Entwicklung eingesehen; das ist der erneuerte Christus-Impuls.Wenn wir unsere Ideale nicht mehr bloß als Ideale sehen, sondern durch sie den Wegfinden zum Christus, dann setzen wir in geisteswissenschaftlichem Sinn das Christentumfort. Dann tritt dieses in eine neues Stadium, dann hört es auf, seine bloße Vorbereitungzu sein. Dann wird das Christentum zeigen, daß es das Allergrößte für alle kommendenZeiten enthält. Dann werden diejenigen, welche glauben, daß das Christentum immergefährdet ist, wenn Entwicklung in es hineingebracht wird, sehen, wie unrecht sie haben.

Denn das sind die Kleingläubigen, die ängstlich werden, wenn gesagt wird: Seht, dasChristentum enthält noch größere Herrlichkeiten, als bisher mitgeteilt worden sind! –[177] Und diejenigen, die groß denken vom Christentum, wissen, daß die Worte wahrsind, daß der Christus bei uns ist alle Tage, (29) das heißt, daß er uns immer Neuesoffenbart und daß es recht ist, wenn bis zum Christus-Quell zurückgegangen wird.Dadurch lebt das Christentum als etwas Größeres, daß man ihm zumutet, daß es immerneuere und lebendigere Schöpfungen aus seinem Schoße hervorbringt. Diejenigen, dieimmer sagen: Ja, das steht nicht in der Bibel, das ist nicht wahres Christentum, undKetzer seien diejenigen, die von etwas anderem behaupten, es sei Christentum – diesesind zu verweisen darauf, daß der Christus auch gesagt hat: «Ich habe euch noch vieleszu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.» (30) Das hat er nicht gesagt, um dieMenschen darauf hinzuweisen, daß er ihnen etwas vorenthalten will, sondern daß erihnen immer von Epoche zu Epoche neue Offenbarungen machen will. Und er wird siemachen durch diejenigen, die ihn verstehen wollen. Und diejenigen, welche das leugnen,verstehen auch nicht die Bibel, auch nicht das Christentum. Denn sie verstehen nichthinzuhorchen auf das, was die christliche Mahnung in diesem Wort ist, das der Christusgemeint hat: Ich habe euch noch vieles zu sagen, bereitet euch aber vor, daß ihr es lerntertragen, damit ihr Verständnis dafür gewinnt.

Page 118: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

118

Das werden in der Zukunft die wahren Christen sein, welche werden hören wollen,was die Christen als Zeitgenossen des Christus noch nicht tragen konnten. Das werdendie wahren Christen sein, welche den Willen haben, von der Christus-Gnade immer mehrund mehr in ihr Herz fließen zu lassen. Das werden die Verstockten sein, welche sichwehren werden gegen die Gnade; die da sagen werden: Nein, geht zurück in die Bibel,nur das, was der Buchstabe enthält und was bisher herausgekommen ist, ist wahr.

Sie verleugnen die Worte, die im Christentum selber ein zündendes Lichtherausentfachen, die Worte, die wir wohl beherzigen wollen: «Ich habe euch noch vieleszu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.» Wohl der Menschheit, wenn sieimmer mehr und mehr in diesem Sinne wird tragen können. Denn dann wird sie immerreifer und reifer sich machen zum Aufstieg in die spirituellen Höhen. Und dazu soll dasChristentum den Weg bahnen. [178]

Page 119: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

119

Bemerkungen zu den Vorträgen 7 – 12

Die begleitenden Bemerkungen zum fünften und sechsten Vortrag, welche die zweiteGruppe (unter dem Leitmotiv «Lebens-Erfahrungen» vgl. S. 100 ff) eröffnen, führten dasMotiv der inneren Erfahrung eines gegenwärtigen Zugangs zum Christusverständnis vomGesichtspunkt der Anthroposophie fort. Dies zum einen über die Grunderfahrungen vonStaunen, Mitgefühl und Gewissen, durch die der Zeitgenosse infolge der Erweiterungseines individuellen Bewußtseins eine «hergestellte Unsterblichkeit» im Hüllenwesen desChristus in sein imaginatives Denken aufnehmen kann. Zum andern führt die individuelleinnere Erfahrung im sechsten Vortrag in die Begegnung mit dem dreifach Bösen ein.Durch die Mächte des Bösen hindurch keimt die Wirksamkeit des Christus-Impulses imweltgeschichtlichen Fortgang auf. Aus der Begegnung mit der Erde im Medium des Bösenerwacht die erworbene Unsterblichkeit der menschlichen Individualität.

*

Die Rückschau auf den siebten Vortrag der zweiten Gruppe Christus im Verhältniszu Luzifer und Ahriman erfaßt die menschheitliche Bedeutung der Einkörperung vonLuzifer und Ahriman in der Evolution vom Gesichtspunkt jener tieferen Impulse, diehinter den sozialen Fragen der Gesellschaftsbildung erkennbar werden. In sehr alter Zeitwaren diese Bildekräfte aus kosmischer Weisheitskultur ohne individuell sittlicheAntriebe für das Handeln hervorgegangen. Sie waren sternenbestimmt. DreiJahrtausende vor der Zeitenwende strömte durch die Luzifer-Inkarnation der Quell derWeisheit in die menschheitlichen Erdenverhältnisse, fern im asiatischen Osten. In derMitte fand zur Zeitenwende des Mysteriums von Golgatha die Christus-Inkarnation statt.[179] Im Westen steht die Inkarnation Ahrimans bevor, «ehe ein Teil des drittenJahrtausend nach Christus abgelaufen ist». Diese Inkarnation ahrimanischer Impulsewird durch die Lenkung der intellektuellen und gesellschaftlichen Kräfte vorbereitet. DieVorbereitung gilt überwiegend einer allein mathematisch-mechanistischen Erfassung desWeltalls. Die Symptome dessen dürfen in der Gegenwart nicht verschlafen, sie müssen«gelesen» werden. Von diesen Symptomen seien angedeutet: die Berechenbarkeit desKosmos – ohne Durchseelung, ohne Durchgeistigung. Sie gipfelt in der perfektenSuggestion, welche der mechanische Mondflug zu erwecken in der Lage ist. Weiterhindie öffentliche Zufriedenheit mit einem allein wirtschaftlichen Wohlstand; dieöffentliche Unterwerfung unter die abstrakte Gottheit der «Wissenschaft», die jedenWegansatz ins Geistige ausschließt. Das Materielle wird geistlos gleichsam verzehrt –wie auch jeder außergedankliche Idealismus. Für diese Vorbereitung sind dieAufspaltungen in Gruppen typisch:

Page 120: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

120

Jede Art Nationalismus (das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das es nichtgibt, weil nur die freie Individualität sich selbst bestimmen kann); das Parteiwesen alsInkarnation absoluter Oberflächlichkeit. Charakteristisch die Tendenz jeder Gruppierung,anderen gegenüber Entgegengesetztes zu «beweisen», aufgrund dernaturwissenschaftlich orientierten Intellektualität, die im Sozialprozeß Haß erweckt underntet. Wichtig unter diesen aufgereihten Merkmalen: daß jede spirituelle,geisteswissenschaftlich orientierte Vertiefung von der Evangelienerkenntnisausgeschlossen wird. Es ist bequem, den «schlichten Jesus» vom Geheimniszustand desChristuswesens abzusondern, um ihn, gegebenenfalls – je nach Neigung – entweder alsRevolutionär oder als Philosophen zu betrachten. Zu diesem Merkmal gehört, daß jedesEvangelium für sich genommen und wörtlich verstanden werden soll, statt diekompositorische Stimme der vier kosmischen Blickorte als Aufgabe anzunehmen,Einklang hinter Widersprüchen zu erfahren. Jene Schlichtheit kennzeichnet RudolfSteiner als eine furchtbare Anmaßung; die verbleibende Christus-Vorstellung alsdämmernde Wahnidee von halluzinatorisch-illusionärer Qualität. [1 8 0 ]

Unter der Perspektive der weltweiten sozialen Auswirkung des Bösen erscheinen, zurJahrtausendwende hingeschaut, Ahriman und Luzifer in einer Art Vertrag. Diegeistverzehrende Wissenschaftshaltung und das abflachende Evangelienverständnis imKirchenglauben («Jesus ist wie du und ich») gehören zusammen. Diese Dekadenzenhaben ihren Quell in einem Doktor-Bewußtsein, Erbe der vierten Kulturepoche, das aufdie «Konservenbüchsen»-Zivilisation in Büchern und Bibliotheken fixiert bleibt. Sieersetzen das Realerleben von Geist und Seele –, was, u. a. über den illusionären,ahrimanischen Zahlenzauber der Statistik und ihre Bewältigung durch moderneComputer, mit verheerenden Folgen in die Gesellschaftsgestaltung des 20.Jahrhundertseinzugreifen begonnen hat.

*

Durch den folgenden Vortrag Erbsünde und Gnade werden die zuvorangesprochenen Erfahrungen aus menschheitlichen Hintergründen bis zur Wirklichkeitdes Karma hin vertieft. Erbsünde und Gnade sind zentrale Begriffe des Christentums. Siewerden vom Lebenskreis der inneren, wenngleich in die objektiven Weltverhältnissevertieften Erfahrung umgriffen. Auf dem Wege des Abstiegs in die Materie bleibt derMensch ohne Urteil über diesen Sachverhalt – ohne identifiziertes Ich, ohne Sünde.Dieser Akzent erfüllt sich im Hinblick auf den physischen Leib, den Ätherleib, denAstralleib. In diesen Zusammenhang hat Luzifer eingegriffen. Der Mensch reagiert innoch «tierhafter» Art, ohne wollentwickeltes Ich. Der abgesonderte Zusammenhang«kommt herunter» durch Luzifer und wird in der Vererbung fortgepflanzt. Der Fall in dieAbsonderung – erkannt unter der Bezeichnung «Erbsünde» – löst ab vom Gängelbandder Weltordnung, und er begründet zugleich den Ausgangspunkt für den ichbestimmtenAufstieg. [181]

Page 121: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

121

Wie der Fall in die Leidenschaftsnatur, in die unfreie Persönlichkeit, im Gang derEvolution ohne Schuld geschah, so auch die Chance zum Aufstieg in eine freie,selbstbestimmte Brüderlichkeit aller Menschen ohne persönliches Verdienst. InGriechenland waren die Ideale noch abstrakt-unpersönlich gefaßt. Allmählich wurden siemit der Kraft persönlicher Liebe begabt; dies gestaltete sie in geistige Ideale um. DerAbstieg in das triebhafte Blut führte die Persönlichkeitsbildung in die Region unfreierEmotionalität, gipfelnd im Haß. Der Aufstieg aufgrund des Mysteriums von Golgathaentwickelt frei geschenkte geistige Liebe, insbesondere zum Unvollkommenen. Letzteresstellt der unfreien Welt des Blutes und der Triebe eine offene Sphäre entgegen, in der dieChristus-Ichkraft und geistige Ideale frei leben können. Aus diesem Entwicklungsschritterwacht menschheitlich das Bewußtsein für Geistiges in persönlicher Form. Es gestaltetin Stufen das heiße Blut hinauf zu erleuchtender Liebe. Wenn der Seelenleib derart ausder «Erbsünde» des absteigenden Astralleibes ein wie nach oben offenes Gefäß sichsteigernder Astralität für den Christus-Impuls entfaltet, so wird diese gesteigerteAstralität durch das polar erzeugte Äquivalent erfüllt: vom Geistselbst. Der christlicheBegriff der «Gnade» bringt dies zum Ausdruck. Die Gnade steht – unter dermenschheitlichen Perspektive aller Evolution im Durchgang durch den Wendepunkt desMysteriums von Golgatha – der Erbsünde gegenüber.

Die Betrachtung findet ihren Gipfel in der Karma-Idee. Karma folgt aus der vonLuzifer mitbewirkten «Erbsünde»; Karma bewirkt den Ausgleich in der christus-bestimmten «Gnade». Geisteswissenschaft schaut auf persönliche Ideale wie auf einenneuen Tempel. Man lernt einen lebendigen Christus in neuer Erscheinung schauen. DerBetrachter erlebt das Gedankenwesen nicht allein als sein Erzeugnis, sondern alsBezeugung des lebendigen Christus, des Logos der Welt in ihm. Dies taucht aus denTiefen der Ich-Entwicklung herauf und kommt in immer neuen Steigerungen bildhaft zurSprache. Sowohl die persönliche Beziehung zur lebendig-sittlichen Weltordnung wieauch die Erfahrung des Logos im Erzeugnis der individuellen Gedankenkraft schließendiese Erwägungen an Paulus an. Auch in der Gegenwart lebt der Erkennende inVorbereitungen – unterwegs, die Zukunft zu gewinnen. [182] Sind wir Verstockte oderOffene angesichts der Frage des Novalis: Wer erklärt das Evangelium für geschlossen?

***

Die folgenden Bemerkungen schauen voraus auf die Gruppe der letzten vierausgewählten Vorträge mit dem Leitmotiv «Die mystische Tatsache». Als solche wirdder anthroposophisch orientierte Weg zum Christus-Verständnis jene Tiefe derchristologischen Fragestellung gewahren, in der die Dimension der Auferstehungerreichbar werden sollte. Dieser Gipfel der ausgewählten Darstellungen Rudolf Steinerskommt in den beiden letzten Vorträgen zu Wort. Sie werden durch die zweivorangehenden vorbereitend gesucht. Die Erkenntnisform der inneren Erfahrung steigertsich in den Keimzustand der Initiation.

Page 122: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

122

Im 20. Jahrhundert muß eine Erneuerung der Christologie eingeleitet werden. Daraufweist der Vortrag Christus zur Zeit des Mysteriums von Golgatha und Christus im 20.Jahrhundert. Die Schallmauer des bloßen Intellekts wird von der Suchbewegungdurchdrungen, wenn sie die Absicht, zu definieren, überwindet. Die übersinnliche Weltkommt in imaginativ beschreibenden Formen zur Erscheinung, wobei der Hörende oderLesende aus seinen Seelenkräften das Wesentliche dieser Beschreibungen mitschaffendhervorbringt. In derart beschreibendem Stil wird der bedeutendste der Erzengel, Michael(«das Antlitz Gottes»), von Rudolf Steiner eingeführt. Er vermittelt in der hebräischenKultur – gleich einem Antlitz, welches als Mond das Sonnenlicht spiegelt – das Wesender Gottheit, die durch ihn erscheint. Er verändert sich im Gang der menschheitlichenEvolution und wird zur Zeit des Mysteriums von Golgatha zum Antlitz Christi. Christus:nicht gespiegeltes Licht, sondern selber Lichtquell, erscheint für drei Jahre in einemmenschlichen Leib.

Erst heute kommt Michael – der große Inspirator der Geschichtsepoche etwa 500 Jahrev. Chr. – wiederum unmittelbar zu Wort. [183] Er inspiriert, wie im intellektuellenBewußtsein der Weg zu einer spirituellen Wissenschaft aufgeschlossen werden kann. Indieser Funktion will der Sendbote Christi das Mysterium von Golgatha in erweitertenDimensionen enthüllen. Christus-Verständnis soll aus der eigenen, selbstbewußtenWillensnatur des Gedankens fortschreitend erwachen.

Zu den im Sinne des michaelischen Geistes vermittelten Einsichten, die – bildhaftgesprochen – die drachenhaft gewordene, einseitig naturwissenschaftlicheBewußtseinsart in ihren Schranken begreifen, gehört auch jene, daß eine Art zweiterKreuzigung im Aufkommen der Bewußtseinstrübung im 19. Jahrhundert infolge desuniversellen Materialismus stattfand. Diese Bewußtseinstrübung wirkt sich insbesonderenach dem Tode aus. Im 20. Jahrhundert muß die Bewußtseins-Auferstehung durchdenkhellseherisches Schauen im Leibe, d. h. selbstbewußt, jene Trübung aufheben.Christus wird diesem Schauen in der Äthergestalt eines Engels erscheinen können. DerTodes-Same des Materialismus wird durch Christus in die Engelsphäre der geistigenWelt aufgenommen, umwandelnd vermittelt durch das schauend beteiligte,denkschöpferische Menschenbewußtsein.

Was dem bloß definitorischen Bewußtsein aus solchen Zusammenhängen als Torheiterscheint, enthüllt sich dem imaginativ begabten Bewußtsein zunehmend als eine höhereWahrheit: den erkennbaren Sonnenaufgang des neuen Christus-Verständnisses, der sichwie durch das Antlitz Michaels hindurch ankündigt. Was als erste Schritte imverstehenden Begleiten zunächst in einer kleinen Gesellschaft beginnt, es wird von derMenschheit ergriffen werden. Erkennbar wird eine Offenbarung, die aber nichteinfachhin aus dem «Jenseits» durch Meister zugesprochen wird, sondern die fürjedermann in der Weise einer mystischen Tatsache erreichbar ist – unabhängig von allemschlußfolgerndem Vorstellen.

Die fortschreitende Gestaltung der Bewußtseinskräfte im 20. Jahrhundert ist in ihrerinspirierten Tiefe auf dem Wege zur paulinischen Erfahrung des Christuswesens, die sichdereinst vor Damaskus ereignete. [184]

Page 123: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

123

*

Der halböffentlich gehaltene Vortrag Erkenntnis des Christus durchAnthroposophie stellt diese Frage auf den Boden der Initiationswissenschaft erneuerterMysterien. Methodisch wird insbesondere auf das im Denken auflebende exakteHellsehen, das sich durch imaginative Bildgedanken zum Ausdruck bringt, abgehoben.Die Denkkraft wird nicht nur in den Spiegelungen am physischen Gehirn erlebt. Sie wirdbelebt durch den Einfluß des meditierenden Willens und greift auf den Ätherleib über.Infolge dieser Beziehung erscheinen vor dem inneren Auge Bildgedanken, wie sonst dievon außen empfangenen Sinnesbilder. Dabei ist die subjektive Willkür im denkendenVorstellen gelöscht. Objektive Bildgüter erscheinen in bewegten, vielfacheZusammenhänge repräsentierenden Fließformen. In diesen keimen Fragen auf, die zuinspirativen, Zusammenklänge eröffnenden Erkenntnisgestaltungen führen. Inanthroposophischer Forschung wird das Denken als Quellkraft der geistigen Welt selbstidentifiziert. Sie wird am Leibe, gespiegelt in Vorstellungen, erfahrbar, insofern dieGestaltungskräfte der Leibes-Organisation zurückgedrängt werden können – zugunstendes damit erscheinenden Denk-Organismus. Dieser wird sowohl tätig hervorgebracht wieals Erscheinung geschaut. (31) Für den Aspekt der Initiation ist jener Leichnam derVorstellung, der aus diesem Prozeß herausfällt, auch nur in der Lage, das Leichenhaftevon der Welt zu erfassen. Grundlegend für jeden Fortschritt auf dem hier skizziertenErkenntnisweg zum Christus-Verständnis ist die intellektuelle Selbstverständigung desBewußtseins angesichts der in ihm erwachenden übersinnlichen Qualitäten. Nach undnach erweisen sich diese Qualitäten in der Art eines Sinnesorgans, das Objektivität zuschauen vermag.

Vor dem Mysterium von Golgatha waren auf dem Wege des sogenannten Animismushellseherische Einblicke in Erdformationen, Flüsse, Bäume, Wolken u. ä. möglich. Dieseübersinnlichen Präsenzen wurden «getastet» –: ohne Beteiligung toter Ge-genständlichkeit. Das Mysterium von Golgatha bildet den Wendepunkt in andereBewußtseinsformen. [185] Zuvor war die Welt des Vorgeburtlichen gegenwärtig;nachher wird immer gegenwärtiger allein die Welt des Erstorbenen. Für Paulusbedeutete dieser Wendepunkt das Initiationserlebnis vor Damaskus, das die zu starkwirkende Ichkraft gewissermaßen zurückdämmte: «Nicht ich, sondern das ICH(Christus) in mir.» Ihm ergab sich auf dem Wege der Initiation die Universalisierungdes persönlichen Ich. Darin war Christus gegenwärtig. Auf seinem persönlichen Wegeerfuhr Paulus die Initiationswahrheit einer «mystischen Tatsache», unabhängig von denEvangelien. Die Tat-Sache brachte zum Ausdruck, daß Christus auferstanden ist. Wäredies nicht geschehen (so sagte er) bliebe aller Glaube eitel und sinnlos. Durch den Todhindurch hat sich ein Gott mit dem Erdenschicksal verbunden und damit der irdischenMenschheitsevolution. Seither entspringt ein Quell lebendigen Denkvermögens innerhalbtoter Weltgegebenheit, der Gestorbenen und schließlich der Erde. Es wurde eineInitiationswissenschaft für das menschliche Erkennen eröffnet aufgrund der Tatsachedes Mysteriums von Golgatha. Die Mysterien der Geburt, deren Weg in das Ersterbenführte, wurden abgelöst durch Mysterien des Todes, die in Auferstehung münden.

Page 124: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

124

Die hiermit angedeutete mystische Tatsache bildet die Basis für alleanthroposophische Bemühung. Die Triumphe der Wissenschaft am Äußeren werdendurch Wege spiritueller Vertiefung aufgewogen und ergänzt. Niemand muß imübermächtigen Bann des Zweifels, den der Intellekt erzeugt, untergehen. Insofernerweckt dieser Ausgangspunkt im Rahmen der neueren Mysterien auch den religiösen«Sinn» – wenn dabei vorausgesetzt ist, daß die erneuerten Mysterien der GegenwartWissenschaft, Kunst und Religion aus ihren gegenseitig abgegrenzten Regionen befreienund zusammenführen. Ohne Verständnis der Menschheitsevolution durch alle ihreausgreifenden Schritte hindurch wäre ein Verständnis des Christentums, wäre eine mo-derne Christologie unmöglich. Anthroposophie versteht sich im Kern als Erweckerin fürdie menschheitliche Aufgabe, das Geheimnis der Auferstehung zu verstehen. [186]

*

Die beiden abschließenden Vorträge, die sich mit der Kernfrage des Christentums, demLeib der Auferstehung beschäftigen, gehören zusammen. Obgleich sie demVortragszyklus «Von Jesus zu Christus» entnommen sind und einen sich selbst tragendenZusammenhang bilden, muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß RudolfSteiner in fünf Anlauf-Betrachtungen die hier ausgewählten Vorträge (im Zyklus dersechste und siebte Vortrag) vorbereitet und in nachfolgenden drei Vorträgen Kon-sequenzen zieht. Mittragende Elemente sind schon in den vorangegangenen Vorträgenausgesprochen. Für das Verstehen der beiden ausgewählten Vorträge soll an dieser Stelleein Hinweis aus dem in dem betreffenden Zyklus vorhergehenden fünften Vortrag in denGang der Betrachtung eingefügt werden. Der angedeutete Sachverhalt wird von RudolfSteiner im Zusammenhang des hier ausgewählten siebten Vortrags kurz angesprochen.

Wie steht das menschliche Ich zum physischen Leib und welche Konsequenz ist zudenken, wenn die einseitige Erfahrung überwiegt, daß die Maja des physischen Leibesim Tode dem Strom der Elemente, offenbar spurlos, übergeben wird? Auf diese leitendeFrage geben verschiedene Kulturen in der Grundstimmung eine gleichartige Antwort:Der Tod ist tödlich. Im' Griechentum wurde der physische Leib mit unendlicher Liebe zudessen Erdenform angenommen. Man blickte pessimistisch auf die Konsequenz für dasan diese physische Erdenform gebundene Ich-Bewußtsein, wenn der Leib durch den Toddem Menschen entfiel. Das griechische Bewußtsein ist von der Trauer um diesen Verlustseiner individuellen Totalität überhaucht: Lieber ein Bettler in der Oberwelt, als einKönig im Reich der Schatten.

Im Buddhismus wird das berühmte Gespräch des Weisen Nagasena mit dem KönigMilinda über das Gleichnis des Wagens überliefert. Alle Teile, alle Glieder desphysischen Leibes, der als Wagen das Ichwesen (den König) trägt, sind nur Name undForm, sind Maja, die der Tod verweht. Der Mensch hat «so wenig sein <Ich>, wie duden Namen <Wagen> an seinen einzelnen Teilen siehst.» [187] Nimm Abschied vonaller Maja, die nur Leiden bedeutet. Was wir das Ich nennen, hat keinen Platz innerhalbdes Buddhismus.

Page 125: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

125

Die althebräische Kultur nimmt durch die Zurückweisung des Bildes Distanz zuräußeren Form, die der Grieche schätzte und die der Buddhist abzustreifen suchte. Wasein Mensch bedeutet, wird durch die Geschlechter fortgepflanzt. Ein «Gerechter» war,wer auf diesem Strom durch die Generationen gesteigert hat, was als Gerechtesgesammelt war. Im Tode der Leibesform überlebte für diese Vorstellungsart undErfahrung das Ich im Schoße der Gottheit. Der Hebräer identifizierte sich mit demgöttlichen Ich, das in der Fortpflanzung überdauert. Nicht ohne tragischen Untertonbricht aus einer Gestalt wie Hiob das Bewußtsein der Unzerstörbarkeit der menschlichenIndividualität hervor, trotz allen Leides und aller Schmerzen; trotz der Tatsache desErdentodes: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt! Ich weiß, daß ich einmal wieder umkleidetsein werde mit meinem Gebein, mit meiner Haut – und anschauen werde den Gott, mitdem ich zusammen bin (vgl. Hiob 19, 25). Dieser Keim im Hebräertum zwischen derbuddhistischen und der griechischen Grundstimmung – ist unterwegs in das Christentum.Dessen entscheidende mystische Grundtatsache bedeutet Auferstehung vom Tode.

*

Der erste der nun folgenden, hier abgedruckten Vorträge mit dem Titel ZurKernfrage des Christentums: Die Auferstehung macht im Gang des Weges zumChristus-Verständnis deutlich, daß nunmehr aus den Perspektiven des Evangeliums undder inneren Erfahrung herausgetreten werden muß auf den Weg der Initiation. Für dieinnere Erfahrung erscheinen den Seelenkräften die Bildbegriffe der Evangelien inkeimend imaginativer Auffassung. Was als innere Erfahrung universale Zusammenhängeauszusprechen beginnt, erscheint dem noch anfänglich inspirativen Vermögen. Für dieKernfrage des Christentums wird die intuitive Einsicht – die mit Paulus verbundenwerden kann – den ersten Zugang zu den Auferstehungsgeheimnissen öffnen. [188] Inunserer Zeit erschließt Rudolf Steiner die Perspektive eines in vieler Beziehung nochzukünftigen Weges, der über die christliche Initiationswissenschaft weiterführt.

Paulus wurde zum historischen Ausgangspunkt des Christentums. Er wirkt und lebt ausder mystischen Tatsache: daß Christus auferstanden ist. Für das gewöhnliche Bewußtseinder Gegenwart trennt ein Riß die Auferstehungsfrage von der gegebenen Naturordnung.Durch die Evangelien kommen initiatorische Tempelgeheimnisse in bildhafter Sprache zuWort. Diese zeichnen Todes- und Auferstehungsvorgänge u. a. in Lebensverläufen vonEingeweihten. Einer derselben war Lazarus. Es besteht ein Unterschied, ob ein Hierophantaus den Kräften der Vatergottheit, aus der Tiefe des Bewußtseins-Todes emporrief oder obChristus durch den Erdentod die Auferweckungs-Tatsache potentiell jedem Menschenvermittelt. Paulus unterschied in der Lehre vom alten und neuen Adam zum einen jenegewordene Menschengestalt, die durch Vererbung vom Urmenschen abstammt. DieseLinie, die den verweslichen Leib betrifft, ist denkbar; sie kann gewissermaßen abgeleitetwerden. Zum andern, ihr gegenüber, die unabhängig von aller Abstammung urbildendeBeziehung einer entstehenden Menschengestalt zum Christuswesen, zu der man aus freierinnerer Entscheidung gelangen kann. Diese ist potentiell zukünftig – und unableitbar. DieKernfrage des Christentums eröffnet durch Paulus ein sehr kompliziertes Problem.

Page 126: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

126

Rudolf Steiner erhellt es durch eine zart der Sache angenäherte Betrachtungsweise.Der physische Leib ist durchdrungen von allen Wesensgliedern. Was geschieht, wenn erim Tode abgelegt wird? Es ist wesentlich, daß die Gegebenheit der Stoffe von derFormgestalt, in welche sie eingebettet sind, unterschieden wird. Der physische Leibkann als Formenleib des Menschen gedacht werden, als «Phantom». Diese Formgestaltstellt ein Geistgewebe für die Einlagerung und Verarbeitung physischer Stoffe undKräfte dar. Seine kosmische Gedankenform ist nicht abstrakt. Sie lebt real in derAußenwelt. Sie ist wesenhafter als alle äußeren Stoffe. [189] Diese Formgestalt desphysischen Leibes ist seit dem Saturn durch die Evolution menschengemäß aufgebautworden. Sie ist unsichtbar. Nur das eingelagert Mineralische macht sichtbar. Vor allemMineralischen bildet diese Kraftgestalt den Ausgangspunkt für das Erdenwerden einesMenschen. Der Ätherleib ist auch heute unsichtbar; erst recht der astralische. Derphysische Leib ist sichtbar dadurch, daß Luzifer dichtere Materie seiner geistigenKraftgestalt einlagerte – wie eine klare Flüssigkeit im Glas, an sich unsichtbar, sichtbarwird, wenn farbige Flüssigkeit zufließt. Im Erdentode wird die eingelagerte Mineralitätweggegeben und strömt ins kosmische Leben der Erde zurück. Die undurchsichtigeirdische Gestalt des Phantoms aber: verliert sie sich oder wird sie gerettet?

Christus zieht durch die Taufe Jesu in den Zusammenhang von Astralleib, Ätherleibund physischem Leib ein. Diese machen ihn sichtbar für irdische Augen. Was alsChristus-Ichimpuls bezeichnet werden kann, lebt für die drei Jahre des Mysteriums vonGolgatha unter den Menschen in dieser sichtbaren Form. Doch ist das Wesen, das diesichtbare Leiblichkeit bewohnt, ohne luziferischen Anteil.

Durch diesen Kerngedanken bereitet Rudolf Steiner eine Grundlagen-Idee für dasGeheimnis der Auferstehung vor, die im anschließenden Vortrag aufgenommen wird.

*

Die Auferstehungsfrage kann nicht ohne eine reale Verständigung über die Ich-Naturdes Menschen aufgeworfen werden. Bezogen auf den erwähnten Riß, bleibt ohne dieseVoraussetzung nicht allein die Auferstehung unbegreiflich, sondern vor allem derVerstand. Seine Inkompetenz ist mitbestimmt durch den Wissenschaftshochmut derGegenwart. Jenseits jenes Risses kommt das Gemüt nicht von der Versuchung frei, fernvom Verstehen in «Wunder» abzutauchen. Anthroposophie will den Verstand für dieAuferstehungsfrage kompetent machen.

Das bewußte Seelenleben wird auf der Grundlage einer «Spiegelung» am physischenLeib gestaltet. [190] Ohne dieses Bewußtsein kein Ich-Erleben – zunächst in der Formdes Selbstbewußtseins. Die Kernfrage ist: Wird dieses und die ihm zugrundeliegendeIch-Substanz mit dem Tode aufgelöst, weil – scheinbar – der physische Leib aufgelöstist? Der luziferische Einfluß über den physischen, ätherischen und astralischen Leibwirkte schließlich auch auf das Phantom zerstörend. Die Folge des Sündenfalles ist derTod. Damit überwiegen die täglichen Abbau– die nächtlichen Aufbauprozesse. DieFrucht des Abbaus erscheint als eben jener selbstbewußte Verstand, der Auferstehungnicht begreift. Das eigentliche Wesen des Ich wird nur mangelhaft erkannt wegen dermangelhaften Formgestalt des physischen Leibes. –

Page 127: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

127

Im vorangehenden Vortrag wies Rudolf Steiner darauf hin, daß die Geistform desphysischen Leibes, das Phantom, seit dem Mysterium von Golgatha den Tod überdauert.

Die Zeitenwende markiert einen Höhepunkt dieses Zerfalls. Das leiblich gebundeneIchgefühl wurde immer dumpfer; der Spiegel immer mangelhafter. Die mystischeTatsache, daß Christus als Mensch durch den irdischen Tod hindurchging und nach dreiTagen aus dem Grabe in der Gestalt eines vollständigen Phantom-Leibes erstand, bildetedie Grundlage dafür, daß das menschliche Ich seither mit dem Tode nicht vergeht. Dergeistige Kraftträger der physisch-materiellen Teile wurde durch Christus gegenwärtig inder Vollkommenheit des Urbeginns. Diese Vergegenwärtigung bildete für Paulus denAusgangspunkt des spirituellen Stammbaums für den zweiten Adam, der den erstenAdam physischer Erbgänge ablöst. Die Teilhabe aller Menschen an dieser urbildlichenVollkommenheit ist damit erst eröffnet.

Paulus schaute auf einen mystisch-christologischen Prozeß, in dem wie durch einegeistige Eizelle das heile Phantom aus dem Auferstehungsleib Christi jedermannzuwächst. Nur wer den Hochmut des Verstandes ablegt und die «okkulte Tatsache» diesesübersinnlichen Prozesses als Kernfrage des Christentums im Grundsatz gelten läßt, wirddas Geheimnis der durch das Mysterium von Golgatha gebildeten unverweslichenLeiblichkeit erkennen können. Anders würden für Paulus alle Aussagen des Christentumsder Nichtigkeit verfallen. [191] Die hier angesprochene geistige Quelle «teilt sich denMenschen mit, die sich dazu geeignet machen». Wer sich im tiefsten Grunde seinerErkenntnisbereitschaft der vollen Reichweite der hiermit gegebenen Ich-Frage stellt, demwird die paulinische Aussage zur Auferstehungsfrage verständlich. Der Inbegriff derpaulinischen Lehre begreift das Mysterium von Golgatha als etwas «Reales»: als dieRettung des menschlichen Ich. Der unverwesliche Leib erhellt durch seine Spiegelfunktionmehr und mehr das tätige Ichbewußtsein, das sich vom passiven Selbstbewußtseinunterscheidet. Es wird die wirkliche Dimension des eigenen Wesens durch die Erfahrungder Reinkarnation erreichen. Alle Lehr-Aspekte, die das Christentum übermittelt, sind –als Theorie – nicht wesentlich gegenüber der Sprache des Christentums als «mystischeTatsache». Nicht durch Lehre, sondern durch Begegnung wird die An-Wesenheit, die Tat-Sache des Auferstehungsleibes erschlossen. Für die Identifikation im Intellekt wird sie fürden begreifbar sein, der sich in das 9. Kapitel der «Philosophie der Freiheit» (31) vertieft.Dort wird nicht in den hier verwendeten Begriffen gesprochen. Doch hat Rudolf Steinerdarauf hingewiesen, daß seine erkenntniswissenschaftlichen Arbeiten eine in gegenwärtigeBegriffe umgesetzte paulinische Theologie beinhalten. (32)

Page 128: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

128

Keine vorchristliche Einweihung führte bis zur Auferweckung des Phantoms; dieÜberwindung des Todes wurde auf Einweihungspfaden alter Mysterien nicht erreichbar.Grundlage des Mysteriums von Golgatha bildet von der Menschheit her die Tatsache, daßdurch die Taufe im Jordan das kosmische Christuswesen in den Zusammenhang vonphysischem Leib, Ätherleib und Astralleib des Menschen Jesus eintauchte. Christuserscheint aufgrund eines Entschlusses vor dem Beginn der Lebensbahn des Menschen aufErden: sich in einem fleischlichen Leibe bis zum Tode hin zu inkarnieren und dessenFolgen für den Menschen wieder aufzuheben. Dieser Zusammenhang weist auf dieSubstanz des Opfers – der Liebe des Menschen Jesus ebenso wie des kosmischen Christus.[192]

Page 129: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

129

Die mystische Tatsache

Christus zur Zeit des Mysteriums von Golgathaund Christus im 20. Jahrhundert

Von allen Mysterien ist das Mysterium von Golgatha am schwersten zu verstehen,sogar für diejenigen, die in okkulten Erkenntnissen schon vorgeschritten sind. Und vonallen Wahrheiten, mit welchen die Menschheit in Beziehung kommen kann, ist esdiejenige, die am leichtesten mißverstanden werden kann. Das hängt mit der Tatsachezusammen, daß das Mysterium von Golgatha ein einzigartiges Ereignis in der ganzenEvolution der Erde war; daß es in der Entwickelung der Menschheit auf Erden einmächtiger Impuls war, der sich nie vorher in derselben Art ereignet hatte und der sich niein gleicher Weise wiederholen wird. Der menschliche Verstand jedoch sucht immer nacheinem Maßstab, nach einem Vergleich, nach welchem die Dinge verstanden werdenkönnen. Aber etwas, was unvergleichbar ist, kann nicht verglichen werden, und weil eseinzigartig ist, wird es schwer verstanden.

Nun haben wir uns in der geisteswissenschaftlichen Bewegung, in der wir arbeitenbemüht, dieses Mysterium von Golgatha von verschiedenen Gesichtspunkten aus zucharakterisieren. Aber neue Gesichtspunkte können fortwährend gewählt, neueCharakteristiken beständig hervorgeholt werden, um dieses mächtige Ereignis in derEvolution der Menschheit auf Erden zu beschreiben.

Ein solcher Gesichtspunkt, ein solcher Aspekt soll heute gegeben werden, undinsbesondere soll die Aufmerksamkeit auf das gerichtet werden, was in einem gewissenSinne die Erneuerung des Mysteriums von Golgatha in unserer Zeit, in unseremgegenwärtigen Menschheitszyklus genannt werden kann. [195]

Wenn man das Mysterium von Golgatha gründlich verstehen will, sollte man es nichtals etwas von der Menschheitsevolution ganz Getrenntes betrachten, was nur währendseiner Dauer von drei oder dreiunddreißig Jahren in Betracht zu ziehen wäre, sondern mansollte betrachten, wie es sich gerade in der vierten nachatlantischen Zeitperiode, in dersogenannten griechisch-lateinischen Kulturepoche ereignete, und man sollte auch inBetracht ziehen, daß dieses Mysterium von Golgatha während der ganzen Entwickelungdes alten hebräischen Volkes vorbereitet wurde. Nicht nur das ist äußerst wichtig für dasMysterium von Golgatha, was sich in der Menschheit zutrug während des viertennachatlantischen Zeitalters, sondern auch das ist von bedeutender Wichtigkeit, was sichwährend der alten hebräischen Kultur vorbereitete, nämlich die Verehrung Jehovas.Zunächst ist es wichtig zu verstehen, wer die Wesenheit war, die sich in den altenhebräischen Zeiten unter dem Namen Jahve oder Jehova offenbarte.

Der Mensch von heutzutage ist ein Wesen, welches vor allem in dem, was seineVernunft und sein Verständnisvermögen betrifft, seinen Intellekt entwickelt, die Dingevom intellektuellen Standpunkt aus zu verstehen liebt.

Page 130: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

130

In dem Augenblick jedoch, wo man die Schwelle von der Sinneswelt in dieübersinnlichen Welten überschreitet, hört die Möglichkeit auf, die Wirklichkeit nur mitden Mitteln des Verstandes zu erfassen. Der menschliche Verstand kann auf Erden guteDienste leisten, aber in dem Augenblick, wo man in die übersinnlichen Welten eintritt,genügt er – obgleich man ihn da noch als ein nützliches Instrument betrachten kann – nichtmehr als Mittel, um Erkenntnis zu erlangen.

Dieser Verstand liebt vor allem Unterscheidungen zu machen, und um eine Sache zuverstehen, hat er eine Definition nötig. Diejenigen unter Ihnen, die meinen Vorträgen öftergefolgt sind, werden das Fehlen von Definitionen bemerkt haben. Man kann die Dinge derWirklichkeit nicht durch Definitionen erfassen. Es gibt gewiß gute und schlechteDefinitionen, Definitionen, die umfassend sind, und andere, die weniger befriedigend sind.Um die Angelegenheiten der Erde zu verstehen, sind Definitionen nötig, aber wenn manDinge, die der Wirklichkeit angehören, verstehen will, namentlich Dinge, die derübersinnlichen Wirklichkeit angehören, dann kann man nicht definieren. [196] Da mußman charakterisieren, denn dann ist es notwendig, die Tatsachen und die Wesenheiten vonallen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Definitionen sind immer einseitig und erinnerndenjenigen, der Logik studiert hat, an die alte griechische Schule der Philosophie, dieeinstmals zu definieren suchte, was ein Mensch ist. Um also eine Idee von dem Menschenzu geben, wurde die folgende Definition aufgestellt: Ein Mensch ist ein zweibeinigesWesen ohne Federn. – Am folgenden Tage brachte jemand ein gerupftes Huhn herein undsagte: Dieses ist ein zweibeiniges Wesen und hat keine Federn, folglich ist es ein Mensch.– Man kann oft daran erinnert werden, wenn Definitionen verlangt werden für etwas, wasso vielseitig und vieldeutig ist, daß Definitionen ungenügend sind und man nurcharakterisieren kann. Aber vor allem, um die verschiedenen Wesenheiten in denübersinnlichen Welten unterscheiden zu können, möchten die Menschen eine Definitionhaben. Sie fragen: Was ist genau genommen eine solche Wesenheit? – Je weiter man nunaber in die übersinnlichen Welten eindringt, desto mehr durchdringen sich dieWesenheiten dort; sie sind nicht mehr voneinander abgegrenzt, so daß es schwer ist, sievoneinander zu unterscheiden.

Vor allem darf man die Evolution nicht außer acht lassen, wenn man den Namen Jahveoder Jehova in Betracht zieht, namentlich wenn man ihn mit dem Namen des Christus inVerbindung bringt. Sogar im Neuen Testament werden Sie finden – und in meinenBüchern habe ich öfters darauf hingewiesen –, daß Christus sich durch Jehova offenbarte,soweit er das vor dem Mysterium von Golgatha konnte.

Wenn man einen Vergleich zwischen Jehova und Christus ziehen will, so ist es gut, dasSonnenlicht und das Mondenlicht als Bild zu gebrauchen. Was ist Sonnenlicht, was istMondenlicht? Sie sind ein und dasselbe und doch sehr verschieden. Das Sonnenlichtströmt von der Sonne aus, aber im Mondenlicht wird das Sonnenlicht vom Mondezurückgeworfen. In der gleichen Weise sind Christus und Jehova ein und dasselbe. [197]Christus ist dem Sonnenlicht gleich, Jehova ist wie das reflektierte Christus-Licht, insofernes sich der Erde offenbaren konnte unter dem Namen des Jehova, ehe das Mysterium vonGolgatha eintrat.

Page 131: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

131

Und wiederum, wenn eine so hehre Wesenheit wie Jehova-Christus in Frage kommt,müssen wir in den erhabenen Höhen der übersinnlichen Welten nach seiner wahrenBedeutung suchen. In Wirklichkeit ist es eine Vermessenheit, sich einer solchenWesenheit wie Jehova-Christus mit alltäglichen Begriffen zu nähern.

Nun bemühten sich die alten Hebräer, einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit zufinden. Die menschliche Denkkraft ist schwach, aber sie versucht, sich eine Idee vondieser erhabenen Wesenheit zu machen. Die Aufmerksamkeit wurde nicht direkt aufJehova gerichtet – ein Name, der an und für sich als unaussprechbar betrachtet wurde –,sondern auf die Wesenheit, welche in unserer westlichen Literatur als Michaelbeschrieben wird. Es kann natürlich manches Mißverständnis aus dieser Behauptungentstehen, aber das ist nicht zu vermeiden. Der eine könnte vielleicht sagen, dies wird dieVorurteile der Christen wieder erwecken, der andere will nichts mit solchen Dingen zutun haben. Aber die Wesenheit, die wir Michael nennen dürfen und die der Hierarchieder Archangeloi angehört – ganz gleich wie wir diese Wesenheit auch nennen mögen –,sie existiert doch. Und es gibt viele solcher Wesenheiten, welche dem gleichen Rangangehören. Aber diese besondere Wesenheit, die esoterisch unter dem Namen Michaelbekannt ist, ist so erhaben über ihre Gefährten, wie die Sonne erhaben ist über diePlaneten, über Venus, Merkur, Jupiter, Saturn und so weiter.

Michael ist die hervorragendste und die bedeutendste Wesenheit in der Hierarchie derErzengel. Die Alten nannten Michael «Das Antlitz Gottes». Wie ein Mensch sich durchseine Gesten und durch den Ausdruck seines Antlitzes offenbart, so wurde in derMythologie der Alten Jehova durch Michael verstanden. Jehova machte sich demEingeweihten auf solche Weise kenntlich, daß der Eingeweihte etwas erfassen konnte,was er mit seinem gewöhnlichen Fassungsvermögen niemals vorher hätte begreifenkönnen, nämlich, daß Michael das Antlitz des Jehova sei. So sprachen die alten Hebräervon Jehova-Michael: [198] Jehova, der Unnahbare, zu dem man nicht gelangen konnte,wie man nicht zu eines Menschen Gedanken, zu seinen Leiden und Sorgen, die hinterseinem äußeren Ausdruck liegen, gelangen kann. Michael ist die äußere Offenbarung desJahve oder Jehova, wie man beim Menschen die Offenbarung seines Ich auf seiner Stirnund seinem Antlitz erkennt.

Und so können wir sagen, daß Jehova sich durch Michael, einen der Erzengel,offenbarte. Die Erkenntnis dessen, den wir als Jahve beschrieben haben, war nicht bloßauf die alten Hebräer beschränkt, sie war viel weiter verbreitet. Und wenn man dieletzten fünf Jahrhunderte vor der christlichen Ära untersucht, so findet man, daß währenddieser ganzen Zeit eine Offenbarung durch Michael stattfand.

Wir können diese Offenbarung in einer anderen Form in Plato, Sokrates, Aristotelesentdecken, in der griechischen Philosophie, sogar in den alten griechischen Tragödienwährend der fünf Jahrhunderte vor dem Ereignis von Golgatha:

Wenn wir uns mit Hilfe der okkulten Erkenntnisse bemühen, hineinzuleuchten indasjenige, was tatsächlich sich ereignete, so können wir sagen, daß Christus-Jehova dieWesenheit ist, welche die Menschheit durch ihre ganze Evolution hindurch begleitet hat.

Page 132: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

132

Aber während der Epochen, die einander folgen, offenbart sich Christus-Jehova immerdurch verschiedene Wesenheiten desselben Ranges wie Michael. Er wählt sozusagenimmer ein anderes Antlitz, mit welchem er sich der Menschheit zuwendet. Und jenachdem der eine oder der andere aus der Hierarchie der Erzengel gewählt wird, um derVermittler zu sein zwischen Christus-Jehova und der Menschheit, werden den Menschensehr verschiedene Ideen und Auffassungen, Impulse des Fühlens, Impulse des Wollensund so weiter offenbart. Wir können die ganze Zeit, welche sozusagen das Mysteriumvon Golgatha umgibt, als die Zeit des Michael beschreiben, und wir können Michael alsden Sendboten des Jehova betrachten.

In jener Zeit, welche dem Mysterium von Golgatha ungefähr um fünfhundert Jahrevorausging und sich mehrere Jahrzehnte nach diesem fortsetzte, trug die führende Kulturder Menschheit sozusagen den Stempel des Michael. [199] Durch seine Eigenschaften,seine Kraft, goß er in die Menschheit dasjenige, was ihr in jenem Zeitpunkte gegebenwerden sollte. Und dann kamen andere Wesenheiten, die gleichfalls von den spirituellenWelten aus die Inspiratoren der Menschheit waren, andere Wesenheiten vom Range derErzengel.

Wie schon erwähnt wurde, war Michael der Größte, der Mächtigste, der Bedeutendste,so daß eine solche Epoche, wie die des Michael, stets eine der bedeutungsvollsten ist, diein der Evolution der Menschheit vorkommen kann. Denn die Epochen der verschiedenenErzengel wiederholen sich. Und die Tatsache ist von größter Wichtigkeit, daß jede solcheWesenheit von der Hierarchie der Erzengel dem Zeitalter den Grundcharakter gibt. Siesind hauptsächlich die Führer der verschiedenen Nationen, aber weil sie die Führerbestimmter Epochen werden und weil sie die Führer verflossener Zeitalter waren, so sindsie in gewissem Sinne auch die Führer der ganzen Menschheit geworden.

Was Michael betrifft, so hat bis zu unserem jetzigen Zyklus der Evolution eineVeränderung stattgefunden, denn Michael selbst ist durch eine Entwicklunghindurchgegangen. Und das ist von großer Wichtigkeit, denn nach der okkulten Erkenntnissind wir seit den paar letzten Jahrzehnten wieder in eine Epoche eingetreten, die durchdieselbe Wesenheit inspiriert wird, die das Zeitalter inspirierte, in welchem sich dasMysterium von Golgatha ereignete. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dürfen wirMichael wieder als Führer ansehen.

Wenn wir dies verstehen wollen, müssen wir das Mysterium von Golgatha von einemanderen Gesichtspunkte aus betrachten und müssen uns fragen: Was ist in diesemMysterium von hauptsächlichster Bedeutung? Daß die Wesenheit, welche mit dem NamenChristus ausgezeichnet wird, zu jener Zeit durch das Mysterium von Golgatha und durchdie Pforte des Todes ging, das ist von der größten Bedeutung! Niemals in der ganzenEvolution der Erde könnte man von dem Mysterium von Golgatha sprechen, ohne dieTatsache, daß Christus durch den Tod gegangen ist, als das Wesentlichste diesesMysteriums anzusehen. [200]

Page 133: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

133

Betrachten Sie die Naturgesetze. Viel kann verstanden werden durch das Studiumderselben, und in der künftigen Evolution der Erde wird noch viel mehr dadurch gelerntwerden, aber wir müssen schon bloße Träumer sein, wenn wir nicht erkennen, daß dasVerständnis für das Leben als solches ein Ideal ist, welches nur durch Entwicklung zubegreifen ist und niemals durch das Studium der Naturgesetze. Gewiß gibt es Träumer inunseren Tagen, welche glauben, daß durch die Erkenntnis der Wissenschaft wahresVerständnis für das Prinzip des Lebens mit der Zeit erlangt werde; aber dies wird niemalsder Fall sein. Während der Evolution der Erde werden noch viele Gesetze durch die Sinneentdeckt werden, aber das Prinzip des Lebens als solches kann sich auf diese Weiseniemals der Welt enthüllen, das kann nur mit den Mitteln der okkulten Erkenntnisgeschehen.

Deshalb erscheint uns das Leben als etwas, was hier auf Erden der Wissenschaftunzugänglich ist. Und ebenso wie das Leben dem menschlichen Wissen unzugänglich ist,so ist dies der Fall mit dem Tod dem wahren Wissen gegenüber, welches in denübersinnlichen Welten erlangt wird. In dem ganzen Gebiet der übersinnlichen Welten gibtes keinen Tod. Man kann nur auf Erden sterben, in der physischen Welt oder in denWelten, welche in der Entwicklung unserer Erde gleichen. Und alle die Wesenheiten, diehierarchisch höher stehen als der Mensch haben keine Kenntnis vom Tode, sie kennen nurverschiedene Bewußtseinszustände. Ihr Bewußtsein kann zeitweise so herabgesetzt sein,daß es unserem irdischen Schlafzustand ähnlich ist, aber es kann aus diesem Schlaf wiederaufwachen. Es gibt keinen Tod in der geistigen Welt, es gibt dort nurBewußtseinsänderung, und die größte Furcht, die der Mensch hat, die Todesfurcht, kannvon einem, der nach dem Tode zu den übersinnlichen Welten aufgestiegen ist, nichtempfunden werden. In dem Augenblick, wo er durch die Pforte des Todes geht, ist seinZustand ein solcher intensiver Sensibilität, aber er kann nur entweder in einem klaren oderin einem verdunkelten Bewußtseinszustand existieren, und es wäre äußerst sonderbar,wenn man sich vorstellen wollte, daß ein Mensch in der übersinnlichen Welt tot seinkönnte. [201]

Es gibt daher keinen Tod für die Wesen, die zu den höheren Hierarchien gehören, mitnur einer einzigen Ausnahme – der des Christus. Aber damit eine übersinnliche Wesenheitwie der Christus durch den Tod gehen konnte, mußte er erst auf die Erde herabsteigen.Und dies ist es, was von so unermeßlicher Wichtigkeit in dem Mysterium von Golgathaist, daß eine Wesenheit, die in ihrem eigenen Reiche in der Sphäre ihres Willens niemalsden Tod hätte erfahren können, hat hinuntersteigen müssen auf die Erde, um eineErfahrung durchzumachen, die dem Menschen eigen ist, nämlich um den Tod zu erfahren.Dadurch wurde jenes tiefe innere Band zwischen der Menschheit auf Erden und Christusgeknüpft, indem diese Wesenheit durch den Tod ging, um dieses Schicksal mit derMenschheit zu teilen. Dieser Tod, wie ich schon betonte, ist von der größten Bedeutunghauptsächlich für unsere jetzige Erdenevolution.

Page 134: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

134

Das, was sich damals wirklich ereignet hat für unsere Erdenevolution, ist schon oftbesprochen worden. Vor allem vereinigte sich ein Wesen, einzig in seiner Art, welchesbis dahin nur kosmisch war, durch das Mysterium von Golgatha, durch den Tod desChristus, mit der Erdenevolution. Es trat ein in die Evolution der Erde zur Zeit desMysteriums von Golgatha. Es war vorher nicht da. Es gehörte nur dem Kosmos an, aberdurch das Mysterium von Golgatha stieg es herunter aus dem Kosmos und verkörpertesich auf Erden. Seitdem lebt es auf eine solche Weise auf Erden, ist so an die Erdegebunden, daß es in den Seelen der Menschen auf Erden lebt und mit ihnen das Lebenauf Erden erfährt. Daher war die ganze Zeit vor dem Mysterium von Golgatha nur eineZeit der Vorbereitung in der Evolution der Erde. Das Mysterium von Golgatha gab derErde ihren Sinn.

Als das Mysterium von Golgatha stattfand, wurde der irdische Körper des Jesus vonNazareth – wie wir ja aus den verschiedenen Berichten wissen, die wir besitzen – denElementen der Erde übergeben, und von der Zeit an war der Christus verbunden mit dergeistigen Sphäre der Erde und lebt darin. Es ist, wie wir schon sagten, außerordentlichschwierig, das Mysterium von Golgatha zu beschreiben, da wir keinen Maßstab haben,womit wir es vergleichen können. Aber wir wollen trotzdem versuchen, uns noch voneinem anderen Gesichtspunkt aus ihm zu nähern. [202]

Christus lebte drei Jahre nach der Taufe im Jordan in dem Leibe des Jesus vonNazareth wie ein menschliches Wesen unter den Menschen der Erde. Wir können diesdie irdische Offenbarung des Christus in einem physischen menschlichen Leibe nennen.Wie offenbart sich dann der Christus seit der Zeit, da er in dem Mysterium von Golgathaseinen physischen Körper ablegte?

Wir müssen uns natürlich das Christus-Wesen als ein überwältigend hohes Wesenvorstellen. Aber obgleich es so hoch erhaben ist, war es ihm trotzdem möglich, sichwährend der drei Jahre nach der Johannestaufe im Jordan in einem menschlichen Leibzum Ausdruck zu bringen. Wie offenbart es sich seit jener Zeit? Nicht mehr imphysischen menschlichen Leib, denn dieser wurde der physischen Erde übergeben undbildet jetzt einen Teil derselben. Denjenigen nun, welche durch das Studium derokkulten Wissenschaft in sich selbst die Möglichkeit entwickelt haben, in dieseVerhältnisse hineinzuschauen, wird es sich offenbaren, daß dieses Wesen wiedererkanntwerden kann in einem der Hierarchie der Engel angehörenden Wesen. Ebenso wie sichder Erlöser der Welt während der drei Jahre nach der Jordantaufe in einem menschlichenLeibe offenbarte, obgleich dieses Christus-Wesen von so außerordentlicher Hoheit war,so offenbart es sich seit jener Zeit in direkter Weise als ein Engelwesen, ein geistigesWesen, welches eine Stufe höher steht als die Menschenwesen. Als ein solches konnte erstets gefunden werden von denen, die hellsichtig waren; als ein solches war er stets mitder Evolution verbunden. So wahr als der Christus, als er im Leibe des Jesus vonNazareth inkarniert war, mehr als Mensch war, so ist das Christus-Wesen mehr alsEngel. Das ist nur seine äußere Gestalt.

Page 135: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

135

Aber in der Tatsache, daß so, wie wir es beschrieben haben, ein mächtiges, erhabenesWesen herunterstieg von den spirituellen Welten und drei Jahre in einem menschlichenLeibe wohnte, ist auch die weitere Tatsache zum Ausdruck gebracht, daß dieses Wesenwährend dieser Zeit selbst in seiner Entwicklung um eine Stufe weitergeschritten ist. [203]

Wenn solch ein Wesen eine derartige Tat vollbringt, indem es eine menschliche odereine Engelform annimmt, so schreitet es selbst weiter fort. Und das ist es, was wir in derEntwicklung des Christus-Jehova angedeutet haben, daß der Christus zu dem Zustandgelangt ist, in dem er von jetzt ab sich selbst offenbart, nicht als ein menschliches Wesen,nicht nur durch seine Spiegelung, durch sein zurückgeworfenes Licht, nicht nur durch denNamen des Jehova, sondern unmittelbar. Und das ist der große Unterschied in all denLehren und all der Weisheit, welche seit dem Mysterium von Golgatha in die Evolutionder Erde gekommen sind, daß durch das Kommen des Michael-Geistes auf die Erde, durchseine Inspiration die Menschheit allmählich anfangen konnte, alles das zu verstehen, wasder Christus-Impuls, was das Mysterium von Golgatha bedeutet. Aber zu jener Zeit warMichael zunächst der Sendbote des Jehova, der die Spiegelung des Christus-Glanzes ist, erwar noch nicht der Sendbote des Christus selbst.

Michael inspirierte die Menschheit mehrere Jahrhunderte hindurch, ungefährfünfhundert Jahre lang vor dem Mysterium von Golgatha, wie schon in den altenMysterien, von Plato und so weiter angegeben wurde. Bald jedoch, nachdem dasMysterium von Golgatha stattgefunden und Christus sich mit der Evolution der Erdevereinigt hatte, hörte der unmittelbare Einfluß des Michael auf. Zu der Zeit, als jene altenDokumente, welche wir in der Form der Evangelien besitzen, geschrieben wurden – wieich es beschrieben habe in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» (33)–, konnte Michael selbst die Menschheit nicht mehr inspirieren, aber durch seineGefährten unter den Erzengeln wurde sie so inspiriert, daß viel Seelenkraft unbewußtdurch Inspiration aufgenommen wurde.

Die Schreiber selbst hatten keine deutliche okkulte Erkenntnis, denn die Inspiration desMichael ging zu Ende kurz nach dem Ereignis des Mysteriums von Golgatha. Die anderenErzengel, die Gefährten des Michael, konnten die Menschheit nicht in der Weiseinspirieren, um das Mysterium von Golgatha verständlich zu machen. Dies erklärt dieabweichenden Interpretationen der verschiedenen christlichen Lehren. In diesen Lehrenwurde viel durch die Gefährten des Michael inspiriert. [204] Diese Lehren wurden nichtvon Michael selbst inspiriert, sondern stehen in demselben Verhältnis zu seinenInspirationen wie die Planeten zu der mächtigen Sonne.

Jetzt erst in unserer Zeit ist wieder ein solcher Einfluß da: eine direkte Inspiration vonMichael. Diese direkte Inspiration von Michael wurde seit dem 16. Jahrhundertvorbereitet. In jener Zeit war es der Erzengel, der Michael am nächsten stand, welcher derMenschheit die Inspiration gab, die zu der Vervollkommnung der Naturwissenschaft inunserer modernen Zeit führte. Die Naturwissenschaft der heutigen Zeit rührt nicht von derInspiration des Michael her, sondern von einem seiner Gefährten, Gabriel.

Page 136: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

136

Diese wissenschaftliche Inspiration neigt dazu, eine Wissenschaft, eine Anschauung zuschaffen, die nur für die materielle Welt Verständnis gibt und mit dem physischen Gehirnzusammenhängt.

Innerhalb der letzten paar Jahrzehnte hat Michael den Platz dieses Inspirators derWissenschaft wieder eingenommen, und in den nächsten paar Jahrhunderten wird Michaelder Welt etwas geben, was in einem spirituellen Sinne ebenso wichtig – ja noch wichtiger,weil noch spiritueller –, also unermeßlich viel wichtiger ist als die materielleWissenschaft, die von Stufe zu Stufe seit dem 16. Jahrhundert fortgeschritten ist. Geradesowie sein Erzengelgefährte ehemals der Welt die Wissenschaft schenkte, so wird Michaeluns in der Zukunft spirituelle Erkenntnis geben, an deren erstem Anfang wir uns jetztbefinden. Genauso wie Michael geschickt wurde als der Sendbote des Jehova, derSpiegelung des Christus, fünfhundert Jahre vor dem Mysterium von Golgatha, um jenerÄra ihren Stempel zu geben, genauso wie er damals noch der Sendbote Jehovas war, so istjetzt für unsere Zeit Michael der Sendbote des Christus selbst geworden. [205] Genausowie in den alten hebräischen Zeiten, welche eine unmittelbare Vorbereitung für dasMysterium von Golgatha waren, die alten hebräischen Eingeweihten sich an Michaelwenden konnten als an die äußere Offenbarung des Jahve oder Jehova, so sind wir jetzt inder Lage, uns an Michael zu wenden, der vom Sendboten des Jehova nun zum Sendbotendes Christus geworden ist, um von ihm während der nächsten paar Jahrhundertezunehmende spirituelle Offenbarung zu empfangen, welche uns immer mehr und mehr dasMysterium von Golgatha enthüllen wird. Was vor zweitausend Jahren stattfand, aber derWelt nur durch die verschiedenen christlichen Sekten bekannt gemacht werden konnte,und dessen Tiefen erst im 20. Jahrhundert enthüllt werden können; wenn statt derWissenschaft spirituelle Erkenntnis, die Gabe von Michael, sich geltend machen wird, dasist es, was unsere Herzen mit unermeßlich tiefen Gefühlen erfüllen sollte gegenüber demSpirituellen in unserer Zeit. Wir werden erfahren können, daß in den letzten paarJahrzehnten ein Tor sich geöffnet hat, durch welches uns Verständnis kommen kann.

Michael kann uns neues spirituelles Licht geben, das wir als eine Umgestaltung jenesLichtes betrachten können, das durch ihn zur Zeit des Mysteriums von Golgatha gegebenwurde, und die Menschen unserer Zeit dürfen sich in dieses Licht stellen. Wenn wir diesempfinden können, so können wir die ganze Bedeutung des neuen Zeitalters begreifen,welches gerade jetzt aus dem unsrigen hervorgeht. Wir können das Aufdämmern einerspirituellen Offenbarung bemerken, die in den nächsten paar Jahrhunderten in das Lebender Menschheit auf Erden kommen soll. In der Tat, da die Menschheit freier geworden istals sie früher war, werden wir durch unseren eigenen Willen fähig sein, fortzuschreiten,um diese Offenbarung empfangen zu können.

Wir wollen jetzt auf das Ereignis in den höheren Welten hinweisen, welches zu diesemveränderten Zustand geführt hat, zu dieser Zeit der Erneuerung des Mysteriums vonGolgatha. Wenn wir auf jene Zeit zurückschauen, so erinnern wir uns an das, was oftdurch unsere Seele geströmt sein mag durch dasjenige, was sich damals bei derJohannestaufe im Jordan ereignete, als Christus sich in einer menschlichen Formoffenbarte, die auf Erden unter den Menschen sichtbar war.

Page 137: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

137

Und weiter wollen wir unsere Seele mit dem Gedanken erfüllen, wie Christus dann, wasseine äußere Form anbetrifft, sich mit der Hierarchie der Engel vereinigte und seit jenerZeit unsichtbar in der Erde gelebt hat.

Erinnern wir uns an das, was gesagt worden ist, nämlich, daß es in den unsichtbarenWelten keinen Tod gibt. [206] Christus selbst, dadurch, daß er auf unsere Welthinunterstieg, ging durch einen Tod ähnlich dem der Menschen. Als er wieder eine reingeistige Wesenheit wurde, behielt er noch immer die Erinnerung an seinen Tod. Aber alseine Wesenheit vom Range der Engel, in welcher er sich weiterhin äußerlich offenbarte,konnte er nur eine Herabminderung des Bewußtseins erfahren.

Durch das, was seit dem 16. Jahrhundert für die Evolution der Erde notwendiggeworden war, nämlich der Triumph der Wissenschaft, welche höher und höher steigt, tratin die ganze Evolution der Menschheit etwas ein, was auch für die unsichtbaren Weltenvon Bedeutung ist. Mit dem Triumph der Wissenschaft kamen in die Menschheitmaterialistische und agnostische Gefühle von größerer Intensität, als es bis dahin der Fallgewesen war. Auch früher gab es materialistische Tendenzen, aber es gab nicht dieseIntensität des Materialismus, wie sie seit dem 16. Jahrhundert vorherrschend gewordenwar. Mehr und mehr nahmen die Menschen, wenn sie durch die Pforte des Todes in diegeistigen Welten eingingen, das Resultat ihrer materialistischen Ideen auf Erden mit sich,so daß nach dem 16. Jahrhundert immer mehr und mehr Samen von irdischemMaterialismus hinübergetragen wurden. Diese Samen entwickelten sich in einerbestimmten Art und Weise.

Obwohl Christus in die alte hebräische Rasse kam und dort zu seinem Tode geführtwurde, erlitt dennoch das Engelwesen, welches seitdem die äußere Form des Christus ist,im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Auslöschen des Bewußtseins als das Resultat derentgegengesetzten materialistischen Kräfte, die in die geistigen Welten heraufgekommenwaren, als das Ergebnis der materialistischen Menschenseelen, die durch die Pforte desTodes gingen. Und das Eintreten von Bewußtlosigkeit in den geistigen Welten in der ebenbeschriebenen Weise wird die Auferstehung des Christus-Bewußtseins in den Seelen derMenschen auf Erden zwischen Geburt und Tod im 20. Jahrhundert werden. In gewissemSinne kann man daher voraussagen, daß vom 20. Jahrhundert an das, was der Menschheitverlorengegangen ist an Bewußtsein, sicherlich wieder heraufsteigen wird für dashellseherische Schauen. [207] Anfangs nur wenige, dann eine immer wachsende Anzahlvon Wesen wird im 20. Jahrhundert fähig sein, die Erscheinung des ätherischen Christus,das heißt Christus in der Gestalt eines Engels, wahrzunehmen. Um der Menschheit willengeschah das, was man eine Zerstörung von Bewußtsein nennen kann, in den Welten, dieunmittelbar über unserer irdischen Welt liegen, und in welchen der Christus in der Zeitzwischen dem Mysterium von Golgatha und dem heutigen Tage sichtbar gewesen ist.

Page 138: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

138

Man kann sagen, daß zur Zeit des Mysteriums von Golgatha sich in einem wenigbekannten Winkel von Palästina etwas ereignete, was tatsächlich das größte Ereignis war,welches jemals in der ganzen Menschheit eintrat, aber von dem wenig Notiz genommenwurde von den damaligen Menschen. Wenn so etwas stattfinden konnte, können wir daerstaunt sein, wenn wir hören, was sich während des i9. Jahrhunderts zutrug, alsdiejenigen, die seit dem 16. Jahrhundert durch die Pforte des Todes gegangen sind, sichdem Christus entgegenstellten?

«Die Samen von irdischem Materialismus», die seit dem 16. Jahrhundert in die geistigeWelt in immer größerem Maße von den durch die Pforte des Todes schreitenden Seelenhinaufgetragen wurden und immer mehr Dunkelheit bewirkten, bildeten die «schwarzeSphäre des Materialismus». Diese schwarze Sphäre wurde von Christus im Sinne desmanichäischen Prinzips in sein Wesen aufgenommen, um sie umzuwandeln. Sie bewirktein dem Engelwesen, in dem sich die Christus-Wesenheit seit dem Mysterium vonGolgatha offenbarte, den «geistigen Erstickungstod». Dieses Opfer des Christus im 19.Jahrhundert ist vergleichbar dem Opfer auf dem physischen Plan im Mysterium vonGolgatha und kann als die zweite Kreuzigung des Christus auf dem Ätherplan bezeichnetwerden. Dieser geistige Erstickungstod, der die Aufhebung des Bewußtseins jenesEngelwesens herbeiführte, ist eine Wiederholung des Mysteriums von Golgatha in denWelten, die unmittelbar hinter der unsrigen liegen, damit ein Wiederaufleben des früherverborgenen Christus-Bewußtseins in den Seelen der Menschen auf Erden stattfindenkann. Das Wiederaufleben wird zum hellseherischen Schauen der Menschheit im 20.Jahrhundert. [208]

So kann das Christus-Bewußtsein mit dem irdischen Bewußtsein der Menschheit vom20. Jahrhundert an vereinigt werden, denn das Ersterben des Christus-Bewußtseins in derEngelsphäre im 19. Jahrhundert bedeutet das Auferstehen des unmittelbaren Christus-Bewußtseins in der Erdensphäre, das heißt, das Leben des Christus wird vom 20.Jahrhundert an mehr und mehr in den Seelen der Menschen gefühlt werden als ein direktespersönliches Erlebnis.

Genauso wie die wenigen Menschen, die in jenen Tagen die Zeichen der Zeit lesenkonnten, in der Lage waren, das Mysterium von Golgatha so zu betrachten, daß sieerfassen konnten, wie diese große, mächtige Wesenheit aus den geistigen Weltenherniederstieg, um auf Erden zu leben und durch den Tod zu gehen, damit durch seinenTod die Substanzen seines Wesens der Erde einverleibt werden konnten, so können wirwahrnehmen, daß in gewissen Welten, die unmittelbar hinter der unsrigen liegen, eine Artgeistiger Tod, eine Aufhebung des Bewußtseins stattfand und hiermit eine Wiederholungdes Mysteriums von Golgatha, damit ein Wiederaufleben des früher verborgenen Christus-Bewußtseins in den Seelen der Menschen auf Erden stattfinden kann.

Page 139: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

139

Seit dem Mysterium von Golgatha konnten viele Menschen den Namen des Christusverkünden, und von diesem 20. Jahrhundert an wird es eine stetig wachsende Anzahl vonsolchen geben, die das Wissen von der Christus-Wesenheit mitteilen können, welches inder Geisteswissenschaft gegeben wird. Sie werden ihn aus ihrer eigenen Erfahrung herauslehren, verkünden können. Zweimal schon ist der Christus gekreuzigt worden: das eineMal physisch in der physischen Welt im Anfang unseres Zeitalters. und ein zweites Malim 19. Jahrhundert spirituell in der beschriebenen Weise. Man könnte sagen, dieMenschheit erlebte die Auferstehung seines Leibes in der damaligen Zeit; sie wird dieAuferstehung seines Bewußtseins vom 20. Jahrhundert an erleben.

Das, was ich nur in einigen Worten habe andeuten können, wird allmählich in dieMenschenseelen eindringen, und der Vermittler, der Sendbote wird Michael sein, der jetztder Abgesandte des Christus ist. [209] So wie er früher die Seelen der Menschen leitete,damit sie das Hinlenken seines Lebens vom Himmel zur Erde verstehen konnten, sobereitet er jetzt die Menschheit vor, damit sie fähig werde, das Hinlenken des Christus-Bewußtseins aus dem Zustand des Unbewußten in den Zustand des Bewußten zu erleben.Und genauso wie zur Zeit des Erdenlebens des Christus die größere Anzahl seinerZeitgenossen unfähig war zu glauben, welch mächtiges Ereignis sich in derErdenevolution zugetragen hatte, so strebt in unserer Zeit die Außenwelt danach, dieMacht des Materialismus zu vergrößern, und wird auf lange Zeit hinaus fortfahren, das,was wir heute besprochen haben, als Phantasie, Träumerei, vielleicht auch als Torheitanzusehen. Und so wird sie auch diese Wahrheit über Michael ansehen, der in der jetzigenZeit anfängt, den Christus von neuem zu offenbaren. Trotzdem werden viele Menschendas erkennen, was jetzt beginnt wie eine Morgenröte aufzugehen und was sich währendder kommenden Jahrhunderte in die menschlichen Seelen wie eine Sonne ergießen wird,denn Michael kann stets mit einer Sonne verglichen werden. Und wenn auch vieleMenschen diese neue Michael-Offenbarung nicht anerkennen werden, so wird sie sichtrotzdem über die Menschheit ausbreiten.

Das ist es, was heute über die Beziehung des Mysteriums von Golgatha gesagt werdenkann, welches sich im Anfang unserer Zeitrechnung ereignete, zu dem Mysterium vonGolgatha, wie es heute verstanden werden kann. Machen wir uns diese Gefühle zu eigen,indem wir erkennen, daß wir nur so wahre Geisteswissenschafter werden können. VonZeit zu Zeit werden andere Offenbarungen kommen, für die wir unseren Sinn offenhaltenmüssen. Sollten wir nicht empfinden, daß es ganz besonders egoistisch sein würde, dieseGefühle ausschließlich zu unserer eigenen Genugtuung zu haben? Fühlen wir doch lieber,daß es unsere ernste Pflicht ist, wie wir sie durch die Geisteswissenschaft erkannt haben,uns zu bereitwilligen Werkzeugen für solche Offenbarung zu machen. [210] Und obgleichwir nur eine kleine Gesellschaft sind in der ganzen Menschheit, die sich bemüht, dieseneue Wahrheit vom Mysterium von Golgatha zu verstehen, diese neue Offenbarung desMichael zu erfassen, so bauen wir trotzdem eine neue Kraft auf, die nicht im geringstenvon unserem Glauben an diese Offenbarung abhängt, sondern die einzig und allein vondieser Offenbarung selbst, von der Wahrheit selbst abhängt.

Page 140: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

140

Dann werden wir ganz ruhig erkennen, daß nur einzelne von uns dazu vorbereitet sind,der Welt folgendes zu erklären, soweit sie es hören will: Von jetzt ab gibt es eine neueOffenbarung des Christus. Wir wollen bereit sein, sie anzuerkennen; wir wollen zu jenemkleinen Kreis gehören, der dazu helfen will, damit sie größer, dauernd werde, wir wollenauf die innere Kraft einer solchen Offenbarung bauen, so daß sie sich unter der übrigenMenschheit ausbreiten möge, denn diese Erkenntnis wird allmählich allen zuteil werden.

Dies ist es, was wir Weisheit nennen, was manche Torheit nennen mögen. Um festdazustehen, brauchen wir uns nur daran zu erinnern, daß diese jetzige Zeit diejenige derzweiten Michael-Offenbarung ist, und auch daran, was von einem der alten Eingeweihtengesagt wurde zur Zeit der ersten Michael-Offenbarung: Was den Menschen oft als Torheiterscheint, ist vor Gott Weisheit. (34)

Versuchen wir heute, Kraft für uns selbst aus solchen Gefühlen, aus solcher geistigenErkenntnis zu ziehen, die in vieler Beziehung der äußeren Welt als Torheit erscheinenmuß. Fassen wir den Mut, anzuerkennen, daß dasjenige, was für die, die sich nur auf dieSinne verlassen, als Torheit erscheint, für uns Weisheit und Licht sein kann und einklareres Verständnis der übersinnlichen, geistigen Welten, zu denen wir mit der ganzenKraft unserer Seelen und unserer Überzeugung streben wollen. [211]

Page 141: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

141

Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie

Ich habe gezeigt, daß man durch gewisse Übungen der Seele dazu kommen kann, sichzuerst imaginative Erkenntnis zu erwerben. Diese imaginative Erkenntnis, sie lebt so inder menschlichen Seele, daß der Mensch in die Lage kommt, durch seine bloßeDenkkraft, die ihm sonst nur schattenhafte, abstrakte Gedanken liefert, Bilder zuerhalten, die ebenso energisch in der Seele leben, ebenso intensiv sind, wie die Bilder,die bei der Sinneswahrnehmung an den Menschen herantreten. Wie wir sonst in Farbendenken, wenn wir uns den Eindrücken unserer Augen hingeben, wie wir sonst in Tönendenken, wenn wir uns den Eindrücken unserer Ohren hingeben, so erleben wir unsereGedanken in der imaginativen Erkenntnis. Wenn wir unsere Gedanken innerlich erlebenkönnen, wenn sie nicht bloß in abstrakten Konturen auftreten, sondern als inhaltsvolleBilder, dann sind wir in imaginativer Erkenntnis. Ich habe angedeutet, daß man denZeitorganismus, den Bildekräfteleib des Menschen durch die imaginative Erkenntnisanschauen könne. (35) Aber wir müssen uns bewußt sein, daß wir, wenn wir zu dieserimaginativen Erkenntnis aufsteigen, etwas Imaginatives in uns haben. Dadurchunterscheidet sich der anthroposophische Forscher von dem Halluzinierten oder von demMedium, daß er zur exakten Clairvoyance kommt, daß er imstande ist zu erkennen, zudurchschauen, daß da erst Bilder sind, die zunächst nur im Menschen selber leben. Auchwenn wir den Bildekräfteleib haben, durch den wir erkennen, wie eine plastischeBildekraft seit unserer Geburt an unserem Erdenorganismus gearbeitet hat, kennen wirdamit nur etwas Subjektives. [212] Dann habe ich aber angedeutet, wie mangewissermaßen sich absuggerieren, auslöschen kann das, was man an Bildern hat, wieman das kann zum Beispiel beim leeren Bewußtsein. Dann hat man aber nicht mehrdiese subjektiven Bilder, die man zuerst gehabt hat. Dieses leere Bewußtsein enthält aberdie Kraft, solche Bilder von außen zu empfangen.

Es ist wichtig, daß wir uns als anthroposophische Forscher bewußt sind, daß man dieerste Form der Imaginationen austilgen muß; daß man dann ein leeres Bewußtsein hat,das aber in sich so wach ist, daß es die energische Kraft hat, nur solche rein geistigenBilder nun von der Außenwelt zu empfangen. Wir haben so zunächst das Bild unsereseigenen seelisch-geistigen Lebens, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigenWelten, um unseren physischen Körper zu bewohnen. Wir können dann aber auchobjektive Bilder von dem bemerken, was Geistig-Seelisches in unserer Umgebung ist.Ein solches objektives Bild wird man dann einfügen, wenn man inspirierte Erkenntnishat. Dem anthroposophischen Forscher fließen da Offenbarungen der geistigen Welt insein leeres Bewußtsein: von objektiven Bildern jetzt, wie er sie früher subjektiv in sichdurch Erkraftung seines Denkens durch exakte Übungen erzeugt hat.

Was erfahren wir über uns selbst, wenn wir in solcher Weise das leere Bewußtseinangefüllt erhalten mit objektiven Imaginationen durch die inspirierte Erkenntnis? Wirerfahren, was uns bekannt war, bevor wir aus der geistigen Welt in eine physische Weltheruntergestiegen sind. Aber wir erfahren auch noch etwas anderes. Wir erfahren, waswir hereingetragen haben aus der geistigen Welt in unser physisches Dasein:

Page 142: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

142

Für unser Bewußtsein ist das zunächst nur die Kraft des Denkens. Es ist eine bedeutsameEntdeckung, die wir da machen. Die Philosophen denken viel darüber nach, wie diesesDenken zustande gekommen ist, der Anthroposoph weiß, daß dieses Denken niemals ausdem physischen Leib herauskommen könnte, sondern daß es die Kraft ist, die erhereingetragen hat aus der geistigen Welt, bevor er zur Erde heruntergestiegen ist. Dortwar dieses Denken etwas ganz anderes als es im gewöhnlichen Erdenbewußtsein ist. Hiersind unsere Gedanken abstrakt, eben geeignet, das Tote zu denken. [213]

Hier muß derjenige, der es ernst meint mit der Initiationswissenschaft der modernenZeit, etwas vor die Menschheit hinstellen, was vielleicht heute nicht gern gehört wird.Ich will das, was ich hingestellt habe, durch einen Vergleich verdeutlichen.

Auf der der Geburt entgegengesetzten Seite des begrenzten menschlichenErdendaseins, da steht das Tote. Durch den Tod lassen wir den Leichnam zurück. Derirdische Leichnam ist das, was nach dem Tode von unserem physischen Leib bleibt, aberder Leichnam wird durch die Bestattung, sei es durch Feuer, sei es durch Erde, in seinElement, die Erde, übergehen. Er hört auf, nachdem er durch den Tod gegangen ist,denjenigen Gesetzen zu folgen, die ihm vom menschlichen Seelendasein seit der Geburtaufgeprägt worden sind. Der Leichnam folgt nunmehr den irdischen Gesetzen. Er trägtnichts Seelisches, nichts Geistiges mehr, im Sinne des Menschlichen in sich; er folgtdenselben Naturgesetzen, denen draußen die Mineralien folgen, indem sie im Reiche derNatur ihr Dasein haben. Das ist, wenn unser Tod eintritt, das physische Schicksal desmenschlichen physischen Leibes. Solch ein Tod – das muß erkannt werden – tritt auchein, wenn die Seele aus dem geistig-seelischen Dasein heruntersteigt, um sich durch dieGeburt einem physischen Körper einzuverleiben. Die Seele dringt in diesen physischenKörper des Menschen so ein, wie eindringt der physische Leib des Menschen nach demTode in die Erdenelemente. Dasjenige aber, was wir zunächst bemerken aus der geistigenWelt für unser Bewußtsein – es sind unsere Gedanken, es ist unsere Gedankenkraft. Undunsere Gedankenkraft ist der Leichnam des Seelisch-Geistigen. Während diesesSeelisch-Geistige vor dem Erdendasein des Menschen sein eigenes Leben in derseelisch-geistigen Welt hatte, nimmt der Mensch von seiner Denkkraft, die er vorhergehabt, nur den Leichnam auf. Wir tragen mit uns in unserem physischen Leib – so wiedie Erde nach unserm physischen Tode den physischen Leichnam – unsere Gedanken:den seelischen Leichnam aus dem seelischen Dasein. Weil das so ist, deshalb ist dieheutige Erkenntnis so unbefriedigend. [214] Denn der Mensch, während er denLeichnam seiner Seele in sich trägt, faßt in gewissem Sinne nur die leblose Natur, und esist eine Illusion, wenn er glaubt, daß er durch Experimente heute etwas anderes erreichenwird als nur die leblose Natur. Gewiß, man wird weiter kommen, als bloß Leblosesdarzustellen, man wird organische Körperhaftigkeiten darstellen. Aber man wird sie mitdem nicht entwickelten Denken, mit dem Denken des persönlichen Bewußtseins nichtverstehen, selbst wenn man sie im Laboratorium selber erzeugt hätte. Mit diesemDenken, das der Leichnam der Seele ist, das geistig tot ist, wird nur das Tote begriffen.

Page 143: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

143

Das ist eine Wahrheit, die man mit voller Unbefangenheit annehmen muß, denn manmuß sich klar darüber sein, daß es einmal eine Entwicklungsepoche der Menschheit gab,in der die Menschen dieses tote, dieses abstrakte Denken in sich aufnahmen. Aber nurdurch das abstrakte Denken, das keine innere Lebendigkeit hat, das keinen Zwang aufden inneren Menschen ausübt, kann der Mensch zur Freiheit kommen. Daher entwickeltsich die Freiheit, seitdem der Tod da ist. Wir werden es im späteren ersehen, was wir nundurch das Denken erreichen von Imagination, Inspiration und Intuition, wie ich esangedeutet habe. Das ist die wirkliche Verlebendigung des toten Denkens. Wenn wir esdurch Übungen so weit bringen, daß die Imagination vor uns steht, dann lebt das Denkenwieder in uns so, daß wir uns sagen können: Vorher gab uns die Denkkraft keineVorstellung darüber, was wir waren, bevor wir aus dem Geistigen in das Irdischeherabgestiegen sind; jetzt, da unser Denken wieder lebt, schauen wir zurück durchimaginiertes und inspiriertes Denken in unser vorgeburtliches Dasein in der geistigenWelt; jetzt erkennen wir, daß wir, bevor wir auf der Erde bei der Empfängnis, bei derKonzeption irgendwie aufgenommen worden sind in das Physisch-Leibliche, gelebthaben in einem geistigen Dasein. Darin ist das Dasein lebendig. So wie wir es denken imeinmaligen Bewußtsein im physischen Leibe, so ist es tot. Durch Imagination wird eswieder lebend. Wir beleben dasjenige, was die ungeborene Seele ist. [215] Und so istdas, was durch Imagination und Inspiration errungen wird, diese geistige Welt, in der wirnun leben, diese höhere wahrhaftige Fähigkeit des Denkens, diese Wahrnehmung vongeistigen Gestalten, geistigen Wesenheiten, geistigen Geschehnissen – sie ist nichtsanderes als eine Belebung desjenigen, was für das gewöhnliche Bewußtsein tot ist. Abernun tritt innerhalb dieser Belebung des gewöhnlichen Denkens zur Imagination undInspiration für den heutigen Menschen etwas ein, was für den alten Griechen, namentlichfür den alten Ägypter oder alten Perser, was für alle diejenigen Menschen in dieInitiationswissenschaft noch nicht eingetreten wäre, die diese Initiationswissenschaft vordem Mysterium von Golgatha aufgenommen haben. Ganz anders ist das Beleben in derInitiationswissenschaft, bevor der Christus aus geistigen Höhen auf die Erdeheruntergestiegen ist, als nachher bei unserer heutigen Menschheit. Die Geschichte wirdheute nach den äußeren Taten betrachtet. Wie aber die menschlichen Seelenzustände imVerlaufe der Geschichte sich geändert haben, wird heute nicht beachtet. Das kann abernur durch Initiationswissenschaft, durch Clairvoyance im exakten Sinne bekannt werden.Nachdem der Mensch Imagination und Inspiration erlangt hat, muß er sich sagen: In mirist etwas eingetreten, was mich beunruhigt. – Ich erwähne das als eine ungewöhnlicheTatsache. Denn es tritt das Erschütternde ein, daß der Mensch heute, wenn er sichaufschwingt zur Imagination und Inspiration, eine wirkliche Beunruhigung hat. Dieskommt daher, weil heute der Mensch, wenn er zum clairvoyanten Menschen wird, sichsagen muß: Ich bin durch meine Entwicklung zu stark egoistisch geworden, mein Ich istzu intensiv geworden, mein Ich ist zu stark geworden.

Page 144: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

144

Kein Mensch, der von diesen Dingen in richtiger Weise unterrichtet ist, wird etwasanderes sagen, wenn er nicht Illusionen erzählt, denn er weiß, daß diese Beunruhigungüber das Gemüt des Menschen kommt, daß der Mensch sich sagt: Mein Ich wirkt zustark. – Bei den Menschen, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen sind, wardieses Erlebnis das Entgegengesetzte. Sie mußten sich sagen: Ich bin durch dieInitiationswissenschaft schwächer geworden in meinem Ich. [216] Ich bin unbewußtgeworden in einem gewissen Sinne, ich bin weniger in mir, ich habe mich als Menschweniger, aber als Ich stärke ich mich, wenn ich keine Initiationswissenschaft habe. – Esist das ein naturgemäßer gesunder Egoismus, der da sein muß im gewöhnlichen Leben,und der in gewissem Sinne durch die Initiation beim Menschen ausgelöscht wurde, dervor dem Mysterium von Golgatha gelebt hat. Er fühlte sich durch sie wie ausgegossen inder Welt; die Höhe, die Stärke seines Bewußtseins war herabgedämpft.

Der heutige Mensch wird durch die Einweihung bewußter: das Ich wird bewußter,wird stärker. Derjenige Mensch, der zuerst gefühlt hat, daß, wenn man initiiert wird, dasIch etwas braucht, damit es nicht in gefahrvoller Weise zu stark werde, war Paulus.Paulus hat dies gewußt seit dem Ereignis, das im Neuen Testament von ihm erzählt wirdals das Erlebnis von Damaskus. (36) Ich brauche das nicht zu erzählen, da es bekanntist. Dasjenige aber, was Paulus gewußt hat durch seine Erkenntnis, durch das Mysteriumvon Golgatha, das ist, daß er Einsicht bekommen hat in die geistige Welt. Damit er dieseEinsicht ohne Gefahr ertragen konnte, mußte er sein Ich schwächer machen. Und eineuniverselle Formel hat Paulus vor die Welt hingestellt, die aussagen kann, was der neueInitiierte sagen muß. Sie lautet: Nicht ich, sondern der Christus in mir.

So wirkt man im Sinne dieser Kraft des Christus: Wenn man erkennt, daß man denChristus in sich aufnimmt in das zu stark gewordene Ich, so durchdringt man sich mit derChristus-Kraft, die durch das Mysterium von Golgatha in die Erde gekommen ist. Dannwird das Ich wieder in der richtigen Weise in den Menschen eingeschaltet. Es ist einuniversell bedeutsames Wort, dieses Paulus-Wort: Nicht ich, der Christus in mir – es istrichtunggebend, orientierend für denjenigen, der die Kraft des Christus durch diemoderne Initiation erlebt.

Was ich darstellte in bezug auf das heutige abstrakte Denken: daß es gegenüber seinerWesenheit im vorgeburtlichen Dasein ein in unserem physischen Leibe wohnenderLeichnam ist – das ist, wie ich ja schon angedeutet habe, nur der Fall bei dem Menschender gegenwärtigen Zeit. [217] Allerdings muß man sich vorstellen unter diesemMenschen der gegenwärtigen Zeit den Menschen, der sich nach und nach in der heutigenSeelenverfassung vorbereitet hat seit dem Mysterium von Golgatha. Leise fing dasDenken an, den Charakter zu bekommen, den es heute hat, eigentlich erst ein paarJahrhunderte nach dem Mysterium – von Golgatha, etwa im dritten, im viertenJahrhundert. Vorher, bei allen alten Völkern, hatte das Denken nämlich noch Leben, nochinnere Lebendigkeit sich mitgebracht in das irdische Dasein herunter. Es hatte sichmitgebracht eine Lebendigkeit, die es vorher im geistig-seelischen Dasein gehabt hat. Werwirklich mit vollem inneren Sinn studiert die Entwicklung der Menschheit in bezug aufdie innere Seelenverfassung, der kann leicht darauf kommen, daß das so ist.

Page 145: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

145

Man sehe sich alle alten Weltanschauungen an, diejenigen, die von Initiationswissenschaftausgegangen sind, und auch diejenigen, die keine Initiationswissenschaft gehabt haben:Alles, was da an Weltanschauung gelebt hat, es ist noch so, daß der Mensch, wenn erhinausschaute in die Mineralwelt, zu den Flüssen, Quellen, zu den Wolken, dem Blitz unddem Donner, den Pflanzen und Tieren, daß der Mensch darauf hinschaute wie auf etwasGeistiges. Es ist nur eine triviale Vorstellung, wenn man heute meint, aus der bloßendichterischen Phantasie wäre die Vergeistigung der Natur hervorgegangen, was mangewöhnlich Animismus nennt. Dieser Animismus hat niemals existiert, wohl aberexistierte in den menschlichen Seelen ein Denken, das, indem es die Pflanzen angeschauthat, zu gleicher Zeit ein Geistiges walten sah. So wie der Mensch heute aus demgewöhnlichen Bewußtsein auf die grüne Blattfarbe oder rote Blumenfarbe sieht, so sah derMensch in alten Zeiten ein Geistig-Seelisches walten; er sah es in Wolken, in Flüssen, inBerg und Tal. Er sah alles dasjenige, was heute nurmehr ungeistig gesehen wird, innerlichdurchgeistigt. Warum sah er es innerlich durchgeistigt? Weil er in sich eine lebende Krafthatte, die in ihn eingezogen war. Dieses Denken streckte sich geistig so hinaus auf dieDinge, wie wenn wir heute unsere Hände ausstrecken, wenn wir Dinge berühren. So erfaßtman, ich möchte sagen, von lebendigen Denkorganen ausgehend zu geistigen Tastorganendas Geistig-Seelische der Dinge. [218] Aber immer geringer wurde das Lebendige desDenkens, das in uralten Zeiten menschlicher Vergangenheit ganz intensiv war, auf das jaeinzig die Initiationswissenschaft hinweist. Mehr und mehr wurde dieses Lebendige desDenkens abgedämpft, und seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert ergibt sichallmählich, daß unser Denken innerlich in sich tot ist; daß, wenn man hinausschaut, mandurch das leblose Denken auch nur Totes schauen kann in dem Lebendigen, impflanzlichen, im tierischen Dasein, ja im äußerlich-menschlichen Dasein. Und so erfuhrder Mensch alter Zeiten, indem er sich selber beobachtete, daß in ihm lebendiges Denkenlebte, was nur die Fortsetzung war desjenigen, was sein Wesen ausmachte in der geistigenWelt vor seiner Geburt, so daß er bewußt sich sagen konnte: Ich lebe in demselbenlebendigen Element, in dem ich gelebt habe, bevor ich auf der Erde Leben gehabt habe. Erfühlte das in sich, was mit ihm geboren ist und nur in den physischen Leib eingezogen ist.Das ist anders beim Menschen seit dem dritten, vierten nachchristlichen Jahrhundert.Wenn dieser in sich hineinschaut, so fühlt er das tote Denken. Es ist das einallerwichtigstes, ein allerbedeutsamstes historisches Ereignis, dieses allmähliche innereErsterben des Denkens.

Nun können wir uns vorstellen, es wäre nichts im Erdendasein geschehen, als daß diesesDenken allmählich in der menschlichen Seelenverfassung als ein Ersterbendes erschiene.Denken wir uns für einen kurzen Augenblick, daß die Erdenentwicklung so fortbestandenhätte, wie sie begonnen hat, daß die Erdenentwicklung so über das dritte, viertenachchristliche Jahrhundert fortgegangen wäre, wie sie fortgegangen wäre, wenn dasMysterium von Golgatha nicht auf der Erde eingetreten wäre. Was wäre dann für diemenschliche Seele geschehen, wenn kein Kreuz auf Golgatha erhöht worden wäre? Dannwäre geschehen, daß die Menschen sich tot gefühlt hätten im Erdenleib, daß sie sich hättensagen müssen beim Hinschauen auf den Tod des physischen Leibes:

Page 146: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

146

Mit der Erdengeburt beginnt mein Seelisches zu sterben, es nimmt teil an dem Tod desphysischen Leibes. – [219] Wenn kein Mysterium von Golgatha dagewesen wäre, dannwäre für die Erdenmenschheit das eingetreten, daß mit dem Tod der physischen Leiber dasSeelische mitgestorben wäre, anfangs in weniger intensivem Sinne, aber dann wäre esweitergegangen über die ganze Erde. Wir können immer mehr erkennen, wie tragisch eswäre, wenn wir uns sagen müßten: Wir Menschen sind mit der Erde so verbunden, daßwir dem Leibe nachsterben. Das Lebendige, das wir gehabt haben bis zum dritten,vierten Jahrhundert, jetzt können wir es nicht mehr haben. Jetzt können wir unserSeelisches nur an dem Schicksal unseres Leiblichen teilhaftig werden lassen, es wirdsterben. Höchstens würden sich die Menschen sagen können: Es wird auf der Erde nocheine Weile fortgehen, weil der Tod noch nicht alle ergriffen hat; aber das Absterben wirdfür alle eintreten. – Nun ist es aber nicht so. Das Mysterium von Golgatha hat sichvollzogen, und es. wird nicht im alten Stil fortgeschritten.

Derjenige, der durch die Initiationswissenschaft gegangen ist, sieht aber noch inanderer Weise hin auf das Mysterium von Golgatha, als das gewöhnliche Gemüthinschauen kann durch das Evangelium, womit nichts gesagt werden soll gegen diese Artdes Hinschauens durch die Evangelien. Es ist dies die Art, die man zunächst gehen muß,wenn man im Christentum Wurzel faßt. Aber was dem einfachsten Gemüt durch dasEvangelium vermittelt wird, wird weiter ausgebildet, wenn die Menschen an dieInitiationswissenschaft herankommen. Für diejenigen, die nicht festhalten an dem bloßenGlauben, erhebt sich, wenn die Menschen aufsteigen von der Inspiration zur Intuition,eine geistige Welt, die nun das Mysterium von Golgatha gerade für den Initiierten wieden großen Trost im Weltendasein hat. Der Initiierte hat vorher gefühlt, wenn er inrichtiger Weise fortgeschritten ist durch Imagination und Inspiration, daß sein Ich zustark geworden ist. Zwar nicht insofern, als es die Anlage zur menschlichen Freiheitbildet, aber indem dieses zu starke Ich sich in die Entwicklung drängen kann, die denMenschen vor demjenigen retten muß, was durch das tote Denken eintreten würde. Mansieht von dem Gesichtspunkt der Initiationswissenschaft erst recht die Tragik desersterbenden Denkens. Aber es erhebt sich im Hintergrunde die Wahrheit von demMysterium von Golgatha. [220] Während auf der einen Seite dasteht im menschlichenGemüt der Pol, der uns sagt: Dein Ich ist zu stark geworden, da stehst du gefestigt alsgeistige Wesenheit da, erscheint auf der andern Seite, und zwar im richtigengeschichtlichen Zeitpunkt als historisches Ereignis, aber übersinnlich geschaut, derDurchgang des Gotteswesens Christus zuerst durch den Leib des Jesus von Nazareth,dann durch den Tod auf Golgatha.

Wenn man in der richtigen Weise durch die Initiation durchgeht, erlebt man auf dereinen Seite eine Verstärkung des Ich auf dem einen Pol, auf der andern Seite dieWahrheit des Mysteriums von Golgatha. Es erhebt sich hinter den Evangelien, hinterdem, was man durch gewöhnliches Lesen dem Inhalte nach erkennen kann, ein intuitivesSchauen und Blicken, aus dem ja schließlich die Evangelien selber hervorgegangen sind.

Page 147: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

147

Der Initiierte ist nicht angewiesen auf das, was ihm die Evangelien sagen. Durch dieselbeKraft, durch die er das geschilderte Bewußtsein von seinem eigenen Dasein nach demTode erhält, durch Inspiration und Intuition, erhält er die Imagination und die Wahrheitvon der Außenwelt objektiv gegeben, so daß er das Evangelium selbst schreiben könnte,wenn es nicht geschrieben wäre. Er erhält sogar über die Evangelienschreiber dasrichtige Bewußtsein. Er sagt sich. Es war in den ersten drei bis vier christlichenJahrhunderten noch so viel Lebendiges aus der alten Zeit vorhanden, daß einzelneMenschen, dazumal noch ohne daß sie in der Initiationswissenschaft selbst gestandenhatten, auf das Mysterium von Golgatha hinschauen und es in der richtigen Weiseinterpretieren konnten. Hätten nicht die alten Initiierten in den ersten vier christlichenJahrhunderten in der damaligen Gnosis, die nicht identisch, sondern nur ähnlich ist derheutigen Anthroposophie, das Mysterium von Golgatha interpretiert, es würde auchkeine Evangelien geben, denn aus solcher Initiationswissenschaft im alten Stil sind dieEvangelien geschrieben. Man lernt erkennen das Mysterium von Golgatha und zugleicher Zeit den Ursprung der Evangelien, indem man geistig die Ereignisse vor sichhat, die die ersten Evangelisten in die Evangelien hineingeschrieben haben. [221] Solernt man das Mysterium von Golgatha erkennen, man lernt erkennen, wie Pauluswirklich sagen konnte: Wäre der Christus nicht auferstanden, so bliebe eitel unserGlaube und damit unsere Seele tot. – Man lernt jetzt erkennen, was geschehen wäre,wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre, wenn nicht ein Gottherabgestiegen wäre, um durch einen Menschenleib zu gehen, im Menschenleibe denTod zu erleiden und dann sich mit den Kräften der Erde zu verbinden. Denn er hat sichseither mit den Kräften der Erde verbunden, und es leben die Christus-Kräfte seit demMysterium von Golgatha mit der Erde, namentlich mit der irdischenMenschheitsentwicklung, in welcher sie früher nicht enthalten waren. Paulus meinte mitdem auferstandenen Christus, daß der Christus den Tod zu erleben hatte und erlebt hat,daß er aber über den Tod siegte, daß er als Geistig-Lebendiges siegreich mit derAuferstehung aus dem Tode hervorgegangen ist und seither mit der Menschheitweiterlebt für diese Menschheit, die ohne den Christus nur das tote Denken hätte. Erkann sich daher erinnern, daß ein Gott, der Christus, auf die Erde heruntergestiegen istund auf der Erde lebt. Während früher das Denken in alten Zeiten selber noch seinenlebendigen Charakter auf das Erdenleben heruntergetragen hat, kann sich die Erdenseeleseit dem dritten, vierten Jahrhundert – vorher war es leichter – im unmittelbaren Anblickdes Mysteriums von Golgatha das Denken auferwecken lassen. Es ist durch den Tod unddie Auferstehung des Christus diese Seele in ihrem Denken so verlebendigt worden, daßdie Menschen nun nicht mehr mit ihren Leibern zu sterben haben, wie sie sterbenmüßten, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Der Initiierte kanndadurch, daß er aufschaut von seinem zu stark gewordenen Ich und die Bilder desMysteriums von Golgatha schaut, gewissermaßen aus der geistigen Weltherauslesen dieEntwicklung der Menschenseele. Er weiß durch seine Einsicht in dieses spezielle Kapitelder Initiationswissenschaft, daß der Christus durch seine Auferstehung die Seelen derMenschen wieder lebendig gemacht hat.

Page 148: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

148

So führt die moderne Initiationswissenschaft im anthroposophischen Sinne zu einerinnerlich lebendigen Erfassung des Mysteriums von Golgatha. [222] So ist sie nicht einWeg hinweg von dem Christus, sondern ein Weg zu dem Christus. Der Christus wirddurch sie auf eine geistige Weise gefunden.

Gestatten Sie mir am Schluß, daß ich in einer kurzen, flüchtigen Skizze hinstelle eineEntwicklung der Menschheit, wie sie sich aus der modernen Initiationswissenschaft unterdem Einfluß des Mysteriums von Golgatha ergibt.

Wenn wir zurückschauen in sehr alte Zeiten menschlicher geschichtlicherEntwicklung, so finden wir, daß sich das gewöhnliche Bewußtsein durchaus in demSinne gestaltet, wie ich es eben charakterisiert habe. Das Denken ist lebendig; derMensch findet um sich herum in allen Wesen der Natur neben dem Physischen einGeistiges. Allerdings ist sein Bewußtsein ein traumhaftes, wenn er dieses Geistigewahrnimmt. Aber in diesem traumhaften Bewußtsein, ich möchte sagen, in dieseminstinktiven, Hellsehen, ist eben durchaus noch ein ursprünglicher Zusammenhang mitder geistigen Welt durch das lebendige Denken gegeben. Aus der Menge der Menschenhoben sich aber dazumal in der Urzeit, wie heute gelehrte Wissenschafter, diejenigenheraus, die eben eine gewisse Initiationswissenschaft im alten Sinne hatten, und mankann alles Wissen für die ältere Zeit Initiationswissenschaft nennen, weil schon dergewöhnliche Mensch eine Art Clairvoyance hatte. Sie hatten nicht das erworben, was ichgeschildert habe, aber sie hatten es gebracht zu einer gewissen Imagination, Inspirationund Intuition. In der Intuition aber jeglicher Art erlebte der Mensch nicht nur die Bilderder geistigen Welt, er erlebte auch dasjenige, was die geistigen Wesen selber sind. Erströmte gewissermaßen mit seinem Ich-Wesen in das Geistige hinüber. Dieses erlebteman durch die Initiationswissenschaft in alten Zeiten der Menschheitsentwicklung, sodaß man gerade diejenigen Wesen erlebte, die da herunterstiegen aus geistigen Welten zuden Menschen. Es waren keine physischen Wesen, es waren auch keine Wesen, die mitphysischen Sinnen hätten wahrgenommen werden können, die etwa Worte gebrauchthätten, die mit physischen Ohren gehört werden können. Es waren Wesen, mit denenman nur durch Geistesschauen in Verkehr treten konnte. [223] Aber in solch mächtigemGeistesschauen waren eben die Initiierten der Urzeit mit Wesenheiten in Berührung, diezu ihnen herunterstiegen im geistigen Leibe – nicht im physischen Leibe –, die sie ingewisser Weise unterrichteten über das, was sie durch physisches Denken von sich ausnicht über ein geistigseelisches Dasein erreichen konnten. Das aber ist das Wesentlichstedieser alten Erkenntnis. Wenn wir es ausdrücken wollen in einem übersichtlichen Satze,so müssen wir sagen: Die ersten großen Lehrer der Menschheit waren geistigeWesenheiten, die auf geistige Art mit den ersten Initiierten in Verkehr traten, die ihnendie Geheimnisse der Geburt des Menschen beibrachten, die Geheimnisse der lebendenSeele, die ungeboren aus den übersinnlich-geistigen Welten heruntergestiegen ist.

Page 149: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

149

Was man unmittelbar in jenen alten Zeiten durch Offenbarungen der geistigen Weltselber wußte, das waren die Mysterien der Geburt. Der Mensch lernte, was er schonahnte durch sein instinktives Hellsehen, in voller alter hellseherischer Erkenntniseinsehen: daß er ungeboren ist. Er lernte zurückschauen durch die alteInitiationswissenschaft in die Schicksale seiner geistigen Seele, bevor er ins Physischeheruntergestiegen ist. Es waren die Mysterien der Geburt des Menschen, die in altenZeiten gelehrt worden sind. Wenn das auch in den Mysterien äußerlich behandelt wurdedurch gewisse Kultushandlungen, das, was gewissermaßen prophetisch durch dasMysterium von Golgatha geschehen sollte, es war da noch nicht so, wie es später dannfür den Menschen wurde nach dem Mysterium von Golgatha. Vor dem Mysterium vonGolgatha sah der Mensch auf das Sterben noch nicht so hin wie später. Er wußte, er istungeboren, er ist mit einer lebendigen Seele begabt, wie er es war, bevor er in dasphysische Leben heruntergestiegen war. Er rechnete damit, daß diese lebendige Seeledurch den Tod ging. Der Tod stand noch nicht mit der vollen Tragik vor seiner Seele. Ersagte sich noch nicht: Mit dem Tode könnte meine Seele sterben. – Er wußte, daß seineSeele lebendig ist. [224] Aber indem die Zeit heranrückte, in der das Denken immerunlebendiger und unlebendiger wurde, in der das abstrakte Denken als der Leichnamherunterstieg aus der geistigen Welt, indem der Mensch dann erfuhr, was innerlichimmer bedeutsamer wurde, daß der äußerliche Mensch stirbt: durch die Kulte, diegepflogen wurden und die auf das Mysterium von Golgatha hindeuteten, tröstete mansich darüber hinweg. Man sagte sich: Die Götter, und daher auch die göttlichenMenschenseelen, sie können nicht sterben, sie müssen wieder auferstehen. – Das war einnur durch den Kultus herbeigeführter Trost, das war noch nicht Wissen. Wissen trat erstein, übenden Tod hinaus, durch das Mysterium von Golgatha. Da schauten wir hin aufdiese alten geistigen Lehrer, die heruntergestiegen waren aus geistigen Welten. Soparadox das für den Menschen der Gegenwart klingt, aus der Initiationswissenschaftheraus muß gesagt werden: Diese geistigen Lehrer, die als geistige Wesen in derübersinnlichen Welt lebten, sind nur dann heruntergestiegen, wenn die Menschen ihreSeelen ihnen öffneten. Diese geistigen Lehrer der Menschheit waren solche, die in dergöttlichen Welt lebten und nur zu den Menschen herunterstiegen als Lehrer, aber nichtteilnahmen an menschlichen Schicksalen, und die selber das Mysterium des Todes nichtkannten.

Das ist selber ein wichtiges Mysterium, daß im wesentlichen die Menschen in ganzalten Zeiten Lehren aus höheren Welten empfangen haben, die handelten von demMysterium der Geburt, aber nicht von dem Mysterium des Todes. Von Seelen, die selbernur durch die Geburt gegangen waren, erfuhren die Menschen das Mysterium desLebens. Und indem die ersten christlichen Eingeweihten hinschauen konnten auf dasMysterium von Golgatha, vernahmen sie etwas, was man durch keine alteMysterienweisheit hat vernehmen können: Sie vernahmen, daß es in den Welten, ausdenen heraus ihnen jene Weisheiten kundgemacht wurden, selber kein Wissen über denTod gab, weil noch keines dieser Wesen menschliche Schicksale durchgemacht hatte,nämlich selber durch den Tod gegangen war. Von der Geburt wußten diese geistig-göttlichen Lehrer der Menschheit, nicht aber von dem Tode.

Page 150: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

150

Durch ein außer-göttliches Schicksal ist das Denken so geworden, daß die Menschenmit der Furcht leben mußten, mit dem Tod des Leibes zugleich den Tod ihrer Seele zuerleben. [225] Und es wurde beschlossen im Reiche der Götter, einen Gottherunterzuschicken auf die Erde, damit er als Gott durch den Tod ginge und inGötterweisheit das Erlebnis von dem Tode aufnehme. Das enthüllt sich durch dasintuitive Anschauen des Mysteriums von Golgatha, durch das nicht nur etwas für dieMenschen geschehen ist, durch das etwas geschehen ist für die Götter. Die Götter sahengewissermaßen, während sie früher nur sprechen konnten von dem Mysterium derGeburt zu den Erdenmenschen, wie die Erde allmählich entwuchs denjenigen Kräften,die sie selber hineingelegt hatten, und wie der Tod die Seele ergreifen würde. Und soschickten sie den Christus auf die Erde, damit ein Gott den Menschentod kennenlerneund mit seiner Götterkraft den Menschentod besiege. Das ist das göttliche Ereignis: DieGötter haben um ihrer eigenen Schicksale willen das Mysterium von Golgatha als eingöttliches Ereignis eingeleitet in die Evolution des Kosmos, die Götter haben um derGötter willen dieses Mysterium von Golgatha geschehen lassen. Während früher alleEreignisse in geistig-göttlichen Welten geschehen sind, stieg jetzt ein Gott herunter, undes wurde auf der Erde vollzogen ein überirdisches Ereignis in einer irdischen Gestaltselber. Dasjenige, was sich auf Golgatha vollzog, war also ein auf die Erde versetztesgeistiges Ereignis. Das ist das Wichtige, was man durch die moderne anthroposophischeGeisteswissenschaft über das Christentum erfährt.

Wenn der Mensch dann seinen Blick auf das Mysterium von Golgatha richtet, so daßer sehen kann, wie teilnimmt das Göttliche an der Entwicklung der Erde, was es für dasErdenschicksal vollzogen hat, dann wird er hinschauen auf etwas, was die Götter angeht.Solange er mit seinem Wirken nur hier im Erdenleben lebt, lernt er das ausbilden, wasdie Erde und den Menschen angeht. Solange hat man nur geringe Kräfte, die nichtausreichen, das stärkere Ich zu überwinden. Wenn man aber hinausgehen muß zu einemVerstehen und Begreifen des Mysteriums von Golgatha, dann kommt man zu dem, wasüberirdisch ist und was mit dem Erdenverstand nicht mehr begriffen werden kann, wozuman einen Verstand braucht, der über das Irdische hinausgeht. [226] Also bloß aufAnregung der Initiationswissenschaft können wir zu dem innerhalb des Erdendaseinsvollzogenen Ereignis von Golgatha hinschauen als zu etwas, was zugleich als einKosmisches und als ein Irdisches in die Erde hereingestellt worden ist. Dadurch bringtman in sich selber die starke Kraft der Erkenntnis hervor, die nun wirklich dahin führenkann, daß man sich sagt: Durch gewöhnliche irdisch-menschliche Kräfte nehme ich vonder Erde alles das, was die Erde mir als Mensch für mein Ich gibt. Schaue ich zu demMysterium von Golgatha hin, so nehme ich etwas auf, was mich hinweghebt von dieserErde, was in mir ein Leben entzündet, das sonst nicht entzündet werden könnte: ichnehme auf ein Übersinnliches durch meine Hinneigung zu diesem Mysterium vonGolgatha. Ich erkenne, daß die Menschheit auf eine neue Art ein übersinnliches inneresFühlen und Erkennen haben muß – gegenüber der alten Art, wo die Menschen noch daslebendige Denken fühlten; daß der Mensch noch eine solche Erkenntnis durch dasMysterium von Golgatha erhalten kann, wodurch er erlebt sein totes Denken, das er be-wußt einführt in übersinnliches Dasein, so daß er sagen kann:

Page 151: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

151

Nicht ich, sondern der Christus in mir macht mich in Wirklichkeit jetzt lebendig nachdem Mysterium von Golgatha.

Daß der Mensch so etwas sagen kann, dazu will gerade die moderneInitiationswissenschaft, die moderne Anthroposophie, lebendige Anregung geben. Weilwir diese Anregung selber erhalten durch die moderne Initiationswissenschaft, werdenwir aus ihr hervorgehen sehen nicht ein antireligiöses, irreligiöses Leben, sondern einvertieftes religiöses Leben der Menschen, indem wir bewußt abkommen von dem, wasaus alten Zeiten herübergekommen ist. Aber der Mensch wird durch diegeisteswissenschaftliche Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha hinweggeführt überalle Zweifel, die heute so kräftig enthalten sind im religiösen Leben, beim Unterricht inder äußeren Wissenschaft, die uns allerdings zu freien Menschen gemacht hat, die aufder einen Seite große äußere Triumphe erlangt hat, die auf der andern Seite aber in dasHerz des Menschen begreifliche Zweifel setzt in bezug auf seinen religiösen Sinn undauf die Erkenntnis seiner übersinnlichen Wesenheit. [227] Anthroposophie setzt sich zurAufgabe, die stärksten Zweifel, die nur durch äußere Wissenschaft in die menschlicheSeele gesetzt werden können, hinwegzufegen aus dieser menschlichen Seele undWesenheit, weil die anthroposophische Wissenschaft gerade aus dem Geist derWissenschaft heraus dasjenige zu überwinden hat, was die äußere Wissenschaft nichtüberwinden kann. Diese anthroposophische Wissenschaft wird in die menschliche Seelewiederum wahrhaft religiöses Leben pflanzen können. Sie wird nämlich nicht beitragenkönnen zur Ertötung des religiösen Sinnes, sondern sie kann zu derMenschheitsentwicklung hinzufügen, daß der Mensch wiederum einen religiösen Sinnfür alles erhält; daß der Mensch ein neues Verständnis des Christentums erhält durchseine Hinneigung zu dem Mysterium von Golgatha, das von allen Menschen eigentlicherst durch sie richtig verstanden und angenommen werden kann.

Dadurch, daß der Mensch nicht nur eine Belebung des alten religiösen Sinnes, sonderndaß er einen neuen religiösen Sinn durch Erkenntnis auf diesem Wege erhält, kann mandaher sagen, daß Anthroposophie durchaus nicht etwas Sektiererisches anstrebt. Das willsie nicht, ebensowenig wie eine andere Wissenschaft. Nicht sektenbildend willAnthroposophie auftreten; eine Dienerin will sie sein der Religionen, die schon da sind;eine Wiederbeleberin des Christentums in diesem Sinne will sie sein. Damit will sienicht nur alten religiösen Sinn bewahren, nicht nur dazu berufen sein, das alte religiöseLeben weiter fortzubringen. Nicht nur zur Belebung, sondern zur Auferstehung desreligiösen Lebens will sie beitragen, weil dieses religiöse Leben durch das moderneDasein, durch die moderne Zivilisation gar zu sehr gelitten hat. Darum möchte dieAnthroposophie ein Liebesbote sein, nicht nur eine Wiederbeleberin des alten religiösenSinnes, sondern eine Erweckerin zur Auferstehung des inneren religiösen Sinnes derMenschheit. [228]

Page 152: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

152

Die Kernfrage des Christentums: Die Auferstehung (I)

Von denjenigen Dingen ausgehend, die besprochen worden sind, werden wir uns denbedeutsamsten Kernfragen des Christentums nähern können und in das eigentlicheWesen des Christentums einzudringen versuchen. Wir werden sehen, wie wir eigentlichnur auf diesem Wege durchschauen können, was der Christus-Impuls für dieMenschheitsentwickelung geworden ist und was er in Zukunft werden soll.

Wenn die Menschen immer wieder und wieder betonen, daß die Antworten auf diehöchsten Fragen nicht so kompliziert sein sollen, sondern daß die Wahrheit im Grundegenommen in einfachster Art an jeden Menschen unmittelbar herangebracht werdenmüsse, und wenn bei einer solchen Gelegenheit gesagt wird, daß zum Beispiel derApostel Johannes in seinem höchsten Alter den Extrakt des Christentums in dieWahrheitsworte zusammengefaßt habe: Kinder, liebet euch! (37), so darf darausniemand den Schluß ziehen: Ich kenne das Wesen des Christentums, kenne das Wesenaller Wahrheit für die Menschen, indem ich einfach die Worte ausspreche: Kinder, liebeteuch! Denn daß der Apostel Johannes diese Worte einfach aussprechen durfte, dazu hatteer sich mehrere Vorbedingungen erworben. Erstens wissen wir, daß er am Ende eineslangen Lebens im fünfundneunzigsten Lebensjahre erst zu einem solchen Ausspruchübergegangen ist, daß er sich also in seiner damaligen Inkarnation erst das Rechterworben hatte, ein solches Wort auszusprechen. Damit steht er wohl als ein Zeuge da,daß dieses Wort, von jedem beliebigen Menschen ausgesprochen, nicht dieselbe Krafthabe wie bei dem Apostel Johannes. Aber noch etwas anderes hat er sich errungen. [229]Er ist – wenn es auch die Kritik bestreitet – der Verfasser des Johannes-Evangeliums, derApokalypse und der Briefe des Johannes. Er hat also nicht immer sein Leben langgesagt: Kinder, liebet euch!, sondern er hat zum Beispiel ein Werk geschrieben, das zuden schwersten Werken der Menschheit gehört: die Apokalypse – ein Werk, das zu denintimsten und am tiefsten in die menschliche Seele eindringenden Werken gehört: dasJohannes-Evangelium. Er hat sich das Recht, solche Worte zu sagen, erst durch einlanges Leben und durch das, was er geleistet hat, erworben. Und wenn ihm jemanddieses Leben nachlebt und tut, was er getan hat, und dann ihm nachspricht: Kinder, liebeteuch!, dann kann man im Grunde genommen gegen ein solches Vorgehen nichtseinwenden. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß Dinge, die in wenig Wortezusammengefaßt werden können, dadurch, daß wir sie mit so wenigen Wortenausdrücken, recht viel bedeuten können, daß sie aber auch nichtssagend sein können. Sokann auch aus dem Munde des Schreibers der Apokalypse und des Johannes-Evangeliums im höchsten Alter das Wort: Kinder, liebet euch! als aus dem Wesen desChristentums heraus gesprochen sein – dasselbe Wort, das aus dem Munde eines anderneine bloße Phrase sein kann. Deshalb müssen wir uns schon einmal damitbekanntmachen, daß wir die Dinge zum Verständnis des Christentums weit herholenmüssen, gerade damit wir sie dann auf die einfachsten Wahrheiten des alltäglichenLebens anwenden können.

Page 153: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

153

Wir mußten an die für das moderne Denken verhängnisvolle Frage herantreten, wie esmit dem steht, was wir in der viergliedrigen Wesenheit des Menschen den physischenLeib nennen. Wir werden sehen, wie das, was gestern berührt worden ist im Hinblick aufdie dreifache Anschauung des Griechentums, des Judentums und des Buddhismus,weiterführen wird zum Wesens-Verständnis des Christentums. Zunächst aber werden wirhingelenkt auf eine Frage, die tatsächlich im Mittelpunkte der ganzen christlichenWeltanschauung steht, wenn wir uns über die Frage nach dem Schicksal des physischenLeibes unterrichten; denn wir werden damit zu nichts Geringerem hingeführt als zu jenerWesenskernfrage des Christentums: Wie steht es mit der Auferstehung Christi? [230]Dürfen wir annehmen, daß es für das Verständnis des Christentums wichtig ist, einVerständnis zu haben über die Auferstehungsfrage?

Daß dies wichtig ist, dazu brauchen wir uns nur dessen zu erinnern, was im erstenKorintherbriefe des Paulus steht (Kapitel 15, 14-20):

«Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, so ist unsere Predigt nichtig, nichtigaber auch euer Glaube. Dann würden wir aber auch erfunden als falsche Zeugen Gottes,weil wir wider Gott zeugten, daß er Christus auferweckt hätte, während er ihn doch nichtauferweckt hat, wenn wirklich keine Toten auferstehen. Denn werden keine Totenauferweckt, so ist auch Christus nicht auferweckt. Ist aber Christus nicht auferweckt, soist euer Glaube eitel, so seid ihr noch in euren Sünden; dann sind auch verloren, die inChristus entschlafen sind. Wenn wir nur solche sind, die in diesem Leben nichts als ihreHoffnung auf Christus haben, so sind wir die beklagenswertesten aller Menschen. Nunaber ist Christus auferweckt von den Toten als der Erstling der Entschlafenen.» (38)

Wir müssen dabei darauf hinweisen, daß das Christentum, wie es sich über die Weltverbreitet hat, zunächst von Paulus ausgegangen ist. Und wenn wir uns einen Sinn dafürangeeignet haben, die Worte ernst zu nehmen, so dürfen wir nicht an den wichtigstenWorten des Paulus einfach vorübergehen und etwa sagen: Wir lassen die Frage derAuferstehung ungeklärt. Denn was sagt Paulus? Daß überhaupt das ganze Christentumkeine Berechtigung und der Christenglaube keinen Sinn habe, wenn die Auferstehungkeine Tatsache sei! Das sagt Paulus, von dem das Christentum als historische Tatsacheseinen Ausgangspunkt genommen hat. Und damit ist im Grunde genommen nichtsGeringeres gesagt als: Wer die Auferstehung aufgeben will, muß aufgeben dasChristentum im Sinne des Paulus.

Und jetzt wenden wir unseren Blick über fast zwei Jahrtausende und fragen einmal anbei den Menschen der Gegenwart, wie sie sich nach den Vorbedingungen dergegenwärtigen Zeitbildung zu der Auferstehungsfrage verhalten müssen. [231] Ich willjetzt noch nicht auf diejenigen Rücksicht nehmen, die etwa den ganzen Jesuswegleugnen; dann ist es natürlich außerordentlich leicht, sich über dieAuferstehungsfrage klarzuwerden; und sie ist im Grunde genommen am leichtestendamit zu beantworten, daß man sagt: Jesus hat überhaupt nicht gelebt, also braucht mansich nicht über die Auferstehungsfrage die Köpfe zu zerbrechen.

Page 154: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

154

Wenn wir also von solchen Leuten absehen, so wollen wir uns einmal an diejenigenMenschen wenden, die zum Beispiel um die Mitte oder im letzten Drittel des vorigenJahrhunderts zu den gebräuchlichen Vorstellungen unserer Zeit übergegangen sind, indenen wir ja noch selber stecken. Bei ihnen wollen wir einmal Anfrage halten, wie sievermöge ihrer ganzen Zeitbildung über die Auferstehungsfrage denken müssen. Wennwir uns da an einen Mann wenden, der großen Einfluß gewonnen hat auf die Denkweisederjenigen, die sich für die aufgeklärtesten Menschen halten, an David Friedrich Strauß(39) , so lesen wir bei ihm in seiner Schrift über den Denker Reimarus des achtzehntenJahrhunderts folgendes: «Die Auferstehung Jesu ist recht ein Schibboleth, an dem sichnicht nur die verschiedenen Auffassungen des Christentums, sondern verschiedeneWeltanschauungen und geistige Entwicklungsstufen voneinander scheiden.» Und fast zurselben Zeit lesen wir in einer schweizerischen Zeitschrift die Worte: «Sobald ich michvon der Wirklichkeit der Auferstehung Christi, dieses absoluten Wunders, überzeugenkann, zerreiße ich die moderne Weltanschauung. Dieser Riß durch die, wie ich glaube,unverbrüchliche Naturordnung wäre ein unheilbarer Riß durch mein System, durchmeine ganze Gedankenwelt.»

Fragen wir uns, wie viele Menschen unserer Gegenwart, die nach den gegenwärtigenStandpunkten diese Worte unterschreiben müssen und auch unterschreiben werden, sagenwerden: Wenn ich genötigt sein sollte, die Auferstehung als eine historische Tatsacheanzuerkennen, so zerreiße ich mein ganzes philosophisches oder sonstiges System. Fragenwir: Wie sollte auch in die Weltanschauung des modernen Menschen die Auferstehung alseine historische Tatsache hineinpassen? [232]

Erinnern wir uns daran, daß wir schon darauf hingedeutet haben, wie in erster Linie dieEvangelien genommen sein wollen: nämlich als Einweihungsschriften. Die größtenTatsachen in den Evangelien sind im Grunde genommen Einweihungstatsachen,Vorgänge, welche sich zunächst im Innern des Tempelgeheimnisses der Mysterienabgespielt haben, wenn dieser oder jener Mensch, der dafür würdig erachtet worden war,durch die Hierophanten eingeweiht wurde. Da hat ein solcher Mensch, nachdem er langeZeit hindurch dazu vorbereitet worden war, eine Art Tod und eine Art Auferstehungdurchgemacht; und auch gewisse Lebensverhältnisse mußte er durchmachen, welche unsin den Evangelien wiedererscheinen – zum Beispiel als die Versuchungsgeschichte, als dieGeschichte auf dem Ölberg und dergleichen. Weil sich das so verhält, erscheinen auch dieBeschreibungen der alten Eingeweihten, die nicht Biographien im gewöhnlichen Sinne desWortes sein wollen, so ähnlich den Evangeliengeschichten von dem Christus Jesus. Undwenn wir die Geschichte des Apollonius von Tyana, ja selbst die Buddha-Geschichte oderdie Zarathustra-Geschichte lesen, das Leben des Osiris, des Orpheus – wenn wir geradedas Leben der größten Eingeweihten lesen, dann ist es oft, als wenn uns dieselbenwichtigen Lebenszüge da entgegentreten, wie sie in den Evangelien geschildert werdenvom Christus Jesus.

Page 155: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

155

Aber wenn wir auch zugeben müssen, daß wir auf diese Art für wichtige Vorgänge, dieuns in den Evangelien dargestellt werden, die Vorbilder in den Einweihungszeremoniender alten Mysterien zu suchen haben, so sehen wir doch auf der anderen Seitehandgreiflich, daß die großen Lehren des Christus-Jesus-Lebens überall durchtränkt sindin den Evangelien mit Einzelangaben, die nun nicht eine bloße Wiederholung derEinweihungszeremonien sein wollen, sondern die uns recht sehr darauf hinweisen, daßunmittelbar Tatsächliches geschildert wird. [233] Oder müssen wir nicht sagen, daß es ineiner merkwürdigen Weise einen tatsächlichen Eindruck macht, wenn uns im Johannes-Evangelium folgendes geschildert wird (Kapitel 20 , 1-17):

«Am ersten Wochentage aber kommt Maria, die von Magdala, morgens frühe, da esnoch dunkel war, zu dem Grabe, und sieht den Stein vom Grabe weggenommen. Da läuftsie und geht zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, welchen Jesu lieb hatte, undsagt zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grabe genommen, und wir wissen nicht, wosie ihn hingelegt haben. Da ging Petrus hinaus und der andere Jünger, und gingen zumGrabe. Es blieben aber die beiden miteinander, und der andere Jünger lief voraus,schneller als Petrus, und kam zuerst an das Grab, und beugte sich vor und sieht dieLeintücher da liegen, hinein ging er jedoch nicht. Da kommt Simon Petrus hinter ihmdrein, und er trat in das Grab hinein und sieht die Leintücher liegen, und dasSchweißtuch, das auf seinem Kopf gelegen war, nicht bei den Leintüchern liegen,sondern für sich zusammengewickelt an einem besonderen Ort. Hierauf ging denn auchder andere jünger hinein, der zuerst zum Grab gekommen war, und sah es und glaubte.Denn noch hatten sie die Schrift nicht verstanden, daß er von den Toten auferstehenmüsse. Da gingen die Jünger wieder heim. Maria aber stand außen am Grabe weinend.Indem sie so weinte, beugte sie sich vor in das Grab, und schaut zwei Engel in weißenGewändern da sitzen, einen zu Häupten und einen zu Füßen, wo der Leichnam Jesugelegen war. Dieselben sagen zu ihr: Weib, was weinst du? Sagt sie zu ihnen: Weil siemeinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Als siedies gesagt hatte, kehrte sie sich um und schaut Jesus da stehen, und erkannte ihn nicht.Sagt Jesus zu ihr: Weib, was weinst du? Wen suchst du? Sie, in der Meinung, es sei derGartenhüter, sagt zu ihm: Herr, wenn du ihn fortgetragen, sage mir, wo du ihn hingelegt,so werde ich ihn holen. Sagt Jesus zu ihr: Maria! Da wendet sie sich und sagt zu ihmhebräisch: Rabbuni! das heißt: Meister. Sagt Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an; dennnoch bin ich nicht aufgestiegen zu dem Vater!» (40)

Da haben wir eine Situation so mit Einzelheiten geschildert, daß wir kaum etwasvermissen, wenn wir uns in unserer Imagination ein Bild machen wollen; so, wenn zumBeispiel gesagt wird, daß der eine Jünger schneller läuft als der andere, daß dasSchweißtuch, das den Kopf bedeckt hatte, fortgelegt ist an eine andere Stelle und soweiter. [234] In allen Einzelheiten sehen wir etwas geschildert, was keinen Sinn hätte,wenn es sich nicht auf Tatsachen beziehen würde. Auf eins wurde auch schon beianderer Gelegenheit aufmerksam gemacht, daß uns erzählt wird: Maria erkannte denChristus Jesus nicht.

Page 156: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

156

Und es wurde darauf aufmerksam gemacht, wie es möglich wäre, daß man jemanden,den man vorher gekannt hat, nach drei Tagen nicht in derselben Gestalt wiedererkennenwürde? Daß der Christus also in einer veränderten Gestalt der Maria erschienen ist, dasmuß auch berücksichtigt werden; denn sonst hätten diese Worte auch keinen Sinn.

Zweierlei können wir daher sagen: Die Auferstehung müssen wir tatsächlich auffassenals das Historischwerden der Auferweckung in den heiligen Mysterien zu allen Zeiten –nur mit dem Unterschiede, daß wir sagen müssen: Der, welcher die einzelnenMysterienschüler auferweckt hat, war in den Mysterien der Hierophant. In denEvangelien wird aber darauf hingewiesen, wie der, der den Christus auferweckt hat, dieWesenheit ist, die wir mit dem Vater bezeichnen, daß der Vater selber den Christusauferweckt hat. Wir werden damit auch darauf hingewiesen, daß das, was sich sonst ineinem kleineren Maßstabe in den Tiefen der Mysterien zugetragen hat, von dengöttlichen Geistern hingestellt worden ist für die Menschheit einmal auf Golgatha, unddaß die Wesenheit, die als der Vater bezeichnet wird, selber als Hierophant aufgetretenist zur Erweckung des Christus Jesus. So haben wir also ins höchste gesteigert, was sonstim kleineren in den Mysterien aufgetreten ist. Das ist das eine. Das andere ist, daß mitden Dingen, die auf die Mysterien zurückführen, verwoben sind Beschreibungen vonsolchen Einzelheiten, daß wir uns die Situationen auch heute noch an den Evangelien bisin die Einzelheiten – wie wir an dem angeführten Bilde gesehen haben – rekonstruierenkönnen. Eines kommt als noch wichtiger in Betracht. Jene Worte müssen einen Sinnhaben: «Denn noch hatten sie die Schrift nicht verstanden, daß er von den Totenauferstehen müsse. Da gingen die Jünger wieder heim.» Fragen wir also: Wovon hattensich bis dahin die jünger überzeugen können? [235] So klar, wie nur irgend etwas klarsein kann, wird uns geschildert, daß die Leintücher da sind, daß der Leichnam nicht daist; nicht mehr im Grabe ist. Von nichts anderem hatten sich die Jünger überzeugenkönnen, und nichts anderes verstanden sie, als sie jetzt wieder heimgingen. Sonst hättendie Worte keinen Sinn. Je tiefer Sie eindringen in den Text, desto mehr müssen Sie sichsagen: Die Jünger, die am Grabe standen, überzeugten sich davon, daß die Leintücher dawaren, daß aber der Leichnam nicht mehr im Grabe war; und sie gingen heim mit demGedanken: wo ist der Leichnam? Wer hat ihn aus dem Grabe gebracht?

Und jetzt führen uns von der Überzeugung, daß der Leichnam nicht da ist, dieEvangelien langsam zu den Dingen, durch welche die Jünger von der Auferstehungüberzeugt werden. Wodurch werden sie überzeugt? Dadurch, daß, wie die Evangelienerzählen, ihnen nach und nach der Christus erschienen ist; daß sie sich sagen konnten: Erist da! was sogar so weit ging, daß Thomas, der der Ungläubige genannt wird, seineFinger in die Wundmale legen konnte. Kurz, aus den Evangelien können wir sehen, daßsich die Jünger von der Auferstehung erst dadurch haben überzeugen lassen, daß ihnender Christus nachher als Auferstandener entgegengetreten ist. Daß er da war, das war fürdie Jünger der Beweis. Und hätte man diese Jünger, so wie sie sich nach und nach dieÜberzeugung verschafft hatten, daß der Christus lebt, trotzdem er gestorben war – hätteman sie gefragt um den eigentlichen Inhalt ihres Glaubens, so würden sie gesagt haben:

Page 157: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

157

Wir haben die Beweise, daß der Christus lebt! Aber sie würden durchaus nicht sogesprochen haben, wie später Paulus gesprochen hat, als er das Ereignis von Damaskuserlebt hatte.

Wer das Evangelium und die Paulus-Briefe auf sich wirken läßt, wird merken, welchtiefgehender Unterschied in bezug auf die Auffassung der Auferstehung zwischen demGrundton der Evangelien und der paulinischen Auffassung ist. Zwar parallelisiert Paulusseine Auferstehungsüberzeugung mit der der Evangelien. Denn indem er sagt, Christussei erstanden, weist er darauf hin, daß der Christus als ein Lebendiger, nachdem ergekreuzigt worden war, dem Kephas, den Zwölfen, dann fünfhundert Brüdern auf einmalund zuletzt ihm auch, als einer unzeitigen Geburt, erschienen ist aus dem Feuerscheindes Geistigen. [236] So ist er auch den Jüngern erschienen. Darauf weist Paulus hin. Unddie Erlebnisse mit dem Auferstandenen waren für Paulus keine anderen als für dieJünger. Was er aber gleich daran anknüpft, was für ihn das Ereignis von Damaskus ist,das ist seine wunderbare und leicht zu begreifende Theorie von der Wesenheit desChristus. Denn was wird vom Ereignis von Damaskus an für ihn die Wesenheit desChristus? Sie wird für ihn der zweite Adam. Und Paulus unterscheidet sogleich denersten Adam und den zweiten Adam: den Christus. Den ersten Adam nennt er denStammvater der Menschen auf der Erde. Aber in welcher Weise? Wir brauchen nichtweit zu gehen, um uns die Antwort auf diese Frage zu verschaffen. Er nennt ihn denStammvater der Menschen auf Erden, indem er in ihm den ersten Menschen sieht, vondem alle übrigen Menschen abstammen – das heißt für Paulus: (41) derjenige, der denMenschen vererbt hat den Leib, den sie als einen physischen an sich tragen. So hattenalle Menschen von Adam ihren physischen Leib vererbt. Das ist der Leib, der unszunächst in der äußeren Maja entgegentritt, und der sterblich ist; es ist der von Adamvererbte, verwesliche Leib, der dem Tode verfallende physische Leib des Menschen. Mitdiesem Leib – wir können den Ausdruck, denn er ist nicht schlecht, geradezu gebrauchen– sind die Menschen «angezogen». Und den zweiten Adam, den Christus, betrachtetPaulus im Gegensatz dazu als innehabend den unverweslichen, den unsterblichen Leib.Und durch die christliche Entwickelung setzt Paulus voraus, daß die Menschenallmählich in die Lage kommen, an die Stelle des ersten Adam den zweiten Adam zusetzen, an die Stelle des verweslichen Leibes des ersten Adam den unverweslichen Leibdes zweiten Adam, des Christus, anzuziehen. Nichts Geringeres also, als was alle alteWeltanschauung zu durchlöchern scheint, nichts Geringeres scheint Paulus von denen zufordern, die sich echte Christen nennen. Wie der erste, verwesliche Leib abstammt vonAdam, so muß von dem zweiten Adam, von Christus, der unverwesliche Leib stammen.So daß jeder Christ sich sagen müßte: [237] Weil ich von Adam abstamme, habe icheinen verweslichen Leib, wie ihn Adam hatte; und indem ich mich in das rechteVerhältnis zu dem Christus setze, bekomme ich von Christus – dem zweiten Adam –einen unverweslichen Leib. Diese Anschauung leuchtet für Paulus unmittelbar hervoraus dem Damaskus-Ereignis. Mit anderen Worten: was will Paulus sagen? Wir könnenes vielleicht mit einer einfachen schematischen Zeichnung ausdrücken.

Page 158: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

158

Wenn wir eine Anzahl von Menschen zu einer bestimmten Zeit haben (X), so wirdPaulus alle stammbaumgemäß zurückführen zu dem ersten Adam, von dem sie alleabstammen und der ihnen den verweslichen Leib gegeben hat. Ebenso muß nach derVorstellung des Paulus ein anderes möglich sein. Wie die Menschen in bezug auf ihreMenschlichkeit sich sagen können: wir sind verwandt, weil wir von dem einenUrmenschen, von Adam, abstammen, so müssen sie sich auch im Sinne des Paulussagen: Wie wir ohne unser Zutun durch die Verhältnisse, die in der physischenMenschheitsfortpflanzung gegeben sind, diese Linien zu Adam hinaufführen können, somuß es möglich sein, daß wir in uns etwas entstehen lassen können, was uns ein anderesmöglich macht. Wie die natürlichen Linien zu Adam hinaufführen, so muß es möglichsein, Linien zu ziehen, die uns – zwar nicht zu dem fleischlichen Adam hinaufführen mitdem verweslichen Leib, die uns aber ebenso hinführen zu dem Leib, der unverweslich istund den wir durch unsere Beziehung zu dem Christus ebenso in uns tragen können, nachPaulinischer Auffassung, wie wir den verweslichen Leib durch Adam in uns tragen.[238]

Nichts Unbequemeres gibt es für das moderne Bewußtsein als diese Vorstellung. Dennganz nüchtern besehen: was fordert das von uns? Es fordert etwas, was für das moderneDenken geradezu ungeheuerlich ist. Das moderne Denken hat lange darüber gestritten,ob alle Menschen von einem einzigen Urmenschen abstammen; aber das läßt es sichnoch gefallen, daß alle Menschen von einem einzigen Menschen abstammen, der einmalauf der Erde da war für das physische Bewußtsein. Paulus aber fordert folgendes.

Page 159: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

159

Er sagt: Wenn du im rechten Sinne ein Christ werden willst, mußt du dir vorstellen, daßin dir etwas entstehen kann, was in dir leben kann, und von dem du sagen mußt, dukannst ebenso geistige Linien ziehen von diesem in dir Lebenden zu einem zweitenAdam, zu Christus, und zwar zu jenem Christus, der am dritten Tage sich aus dem Grabeerhoben hat, wie alle Menschen Linien hinziehen können zu dem physischen Leib desersten Adam. – So verlangt Paulus von allen, die sich Christen nennen, daß sie in sichetwas entstehen lassen, was wirklich in ihnen ist und was so, wie der verwesliche Leibzurückführt auf Adam, zu dem hinführt, was sich am dritten Tage erhoben hat aus demGrabe, in das der Leib des Christus Jesus hineingelegt worden ist. Wer das nicht zugibt,kann kein Verhältnis zu Paulus gewinnen, kann nicht sagen: er verstehe Paulus. [239]Stammt man ab in bezug auf seinen verweslichen Leib vom ersten Adam, so hat man dieMöglichkeit, indem man die Wesenheit des Christus zu seinem eigenen Wesen macht,einen zweiten Stammvater zu haben. Das ist aber der, der sich am dritten Tage, nachdemder Leichnam des Christus Jesus in die Erde gelegt worden war, aus dem Grabe erhobenhat.

So sei uns zunächst klar, daß dies eine Forderung des Paulus ist, so unbequem es auchdem modernen Denken ist. Wir werden uns schon von dieser Paulinischen Aufstellungdem modernen Denken nähern; nur soll man keine andere Meinung haben über das, wasuns aus Paulus so klar entgegentritt; soll nicht herumdeuteln an dem, was gerade beiPaulus so klar ausgesprochen ist. Es ist freilich bequem, etwas allegorisch auszulegenund zu sagen, er habe es soundso gemeint; aber alle diese Deutungen haben keinen Sinn.Und es bleibt uns nichts übrig, wenn wir einen Sinn damit verbinden wollen – selbstwenn das moderne Bewußtsein es als einen Aberglauben auffassen wollte –, als daß nachPaulinischer Darstellung der Christus nach drei Tagen auferstanden ist. Gehen wir aberweiter.

Ich möchte hier nun auch noch die Bemerkung einfügen, daß eine solche Behauptung,wie sie Paulus getan hat, nachdem er selber den Gipfel seiner Initiation durch dasEreignis von Damaskus erlangt hatte, die Behauptung über den zweiten Adam und seineAuferstehung aus dem Grabe, nur einer machen konnte, der seiner ganzen Denkweiseund seiner ganzen Anschauung nach aus dem Griechentum hervorgegangen war; dereben im Griechentum wurzelte, wenn auch als ein Angehöriger des hebräischen Volkes;der aber all seinen Hebräismus in gewisser Beziehung der griechischen Auffassung zumOpfer gebracht hatte. Denn was behauptet Paulus, wenn wir der Sache nähertreten? Wasdie Griechen geliebt und geschätzt haben, die äußere Form des Menschenleibes, wovonsie die tragische Empfindung hatten: das endet, wenn der Mensch durch die Pforte desTodes schreitet!, von dem sagt Paulus aus seiner Anschauung heraus: Es hat sichtriumphierend aus dem Grabe erhoben mit der Auferstehung des Christus! [240] Undziehen wir eine Brücke zwischen den zwei Weltanschauungen, so können wir sie ambesten so ziehen:

Page 160: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

160

Der griechische Heros sagte aus seiner griechischen Empfindung heraus: Lieber einBettler sein in der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten! Und er sagte es, weiler aus seiner griechischen Empfindung heraus davon überzeugt war, daß das, was derGrieche liebte, die äußere Form des physischen Leibes, mit dem Durchgehen durch diePforte des Todes ein für allemal verloren sei. Auf denselben Boden, auf dem dieseschönheitstrunkene tragische Stimmung erwachsen war, trat Paulus, der Verbreiter desEvangeliums, zunächst unter den Griechen. Und wir weichen nicht von seinen Wortenab, wenn wir sie in folgender Weise übersetzen: «Nicht geht in der Zukunft das, was ihram meisten schätzt, die menschliche Leibesform, zugrunde; sondern der Christus isterstanden als der Erste von denen, die auferweckt werden von den Toten! Die physischeLeibesform ist nicht verloren – sondern zurückgegeben der Menschheit durch dieAuferstehung des Christus!» Was die Griechen am meisten schätzten, das gab der durchund durch griechisch gebildete Jude Paulus den Griechen mit der Auferstehung wiederzurück. Nur ein Grieche konnte so denken und so sprechen, aber nur ein Grieche, der esgeworden war mit all den Voraussetzungen, die zugleich die Abstammung aus demJudentum ergab. Nur ein zum Griechen gewordener Jude konnte so sprechen,nimmermehr ein anderer.

Wie können wir uns aber diesen Dingen vom Standpunkte der Geisteswissenschaft ausnähern? Denn vorerst sind wir erst so weit, daß wir wissen, Paulus habe etwas gefordert,was dem modernen Denken einen gründlichen Strich durch die Rechnung macht. Jetztwollen wir einmal versuchen, uns vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus dem,was Paulus fordert, zu nähern.

Nehmen wir einmal die Dinge, die wir aus der Geisteswissenschaft wissen, zusammen,um aus dem, was wir selber sagen, eine Vorstellung zu bekommen gegenüber denBehauptungen des Paulus. Da wissen wir, wenn wir uns die allereinfachstengeisteswissenschaftlichen Wahrheiten noch einmal vor die Seele führen: [241] DerMensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Wenn Sie nunjemanden fragen, der sich ein wenig mit Geisteswissenschaft beschäftigt hat, aber nichtsehr gründlich, ob er den physischen Leib des Menschen kenne, so wird er Ihnen ganzgewiß sagen: Den kenne ich sehr gut; denn ich sehe ihn ja, wenn ein Mensch mir vorAugen tritt. Das andere sind die übrigen unsinnlichen, unsichtbaren Glieder, die kann mannicht sehen; aber den physischen Menschenleib kenne ich sehr gut. – Tritt uns wirklich derphysische Leib des Menschen vor Augen, wenn wir mit unserer gewöhnlichen physischenAnschauung und unserem physischen Verstande dem Menschen entgegentreten? Ich frageSie: Wer hat ohne hellseherische Anschauung jemals einen physischen Menschenleibgesehen? Was haben die Menschen vor Augen, wenn sie nur mit physischen Augenschauen und mit dem physischen Verstande begreifen? Ein Menschenwesen, das aberbesteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich! Und wenn ein Mensch vor unssteht, steht ein organisierter Zusammenhang aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleibund Ich vor uns. Und es hat sowenig Sinn, zu sagen, es stünde ein physischer Leib vor uns,wie es keinen Sinn hätte, zu sagen, wenn wir jemandem ein Glas Wasser vorhalten: darinist Wasserstoff!

Page 161: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

161

Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff, wie der Mensch besteht aus physischemLeib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Was physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ichzusammen ausmachen, das ist äußerlich in der physischen Welt zu sehen, wie das Wasserin dem Glas Wasser. Wasserstoff und Sauerstoff aber wird nicht gesehen, und der irrt sichgewaltig, der da sagen wollte, er würde den Wasserstoff im Wasser sehen. So irrt sich aberauch der, der da meint, er sehe den physischen Leib, wenn er einen Menschen in deräußeren Welt sieht. Nicht einen physischen Menschenleib sieht der mit physischen Sinnenund mit physischem Verstande begabte Beschauer, sondern ein viergliedriges Wesen –und den physischen Leib nur insofern, als er durchdrungen ist von den übrigenmenschlichen Wesensgliedern. Da ist er aber so verändert, wie der Wasserstoff im Wasser,indem er vom Sauerstoff durchdrungen ist. Denn Wasserstoff ist ein Gas, und Sauerstoffist auch eins. Wir haben also zwei Gase; beide zusammengefügt geben eine Flüssigkeit.[242]

Warum sollte es also unbegreiflich sein, daß der Mensch, der uns in der physischenWelt entgegentritt, sehr unähnlich ist seinen einzelnen Gliedern – dem physischen Leib,dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich, wie ja auch das Wasser dem Wasserstoff sehrunähnlich ist? Und so ist es auch! Deshalb müssen wir sagen: Auf jene Maja, als die ihmder physische Leib zunächst erscheint, darf sich der Mensch nicht verlassen. Wir müssenuns den physischen Leib in einer ganz anderen Weise denken, wenn wir uns dem Wesendieses physischen Menschenleibes nähern wollen.

Da handelt es sich darum, daß die Betrachtung des physischen Menschenleibes an sichzu den schwierigsten hellseherischen Problemen gehört, zu den allerschwierigsten! Dennnehmen wir an, wir lassen von der Außenwelt dasjenige Experiment mit dem Menschenvollziehen, das ähnlich ist dem Zerlegen des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff. Nun,im Tode wird ja dieses Experiment von der großen Welt vollzogen. Da sehen wir, wie derMensch seinen physischen Leib ablegt. Legt er wirklich seinen physischen Leib ab? DieFrage scheint eigentlich lächerlich zu sein. Denn was scheint klarer zu sein, als daß derMensch mit dem Tode seinen physischen Leib ablegt! Aber was der Mensch mit demTode ablegt – was ist denn das? Das ist etwas, von dem man zum mindesten sich sagenmuß, daß es das Wichtigste, was der physische Leib im Leben hat, nicht mehr besitzt:nämlich die Form, die von dem Momente des Todes an zerstört zu werden beginnt an demAbgelegten. Wir haben zerfallende Stoffe vor uns, und die Form ist nicht mehreigentümlich. Was da abgelegt wird, sind im Grunde genommen die Stoffe und Elemente,die wir sonst auch in der Natur verfolgen; das ist nicht das, was sich naturgemäß einemenschliche Form geben würde. Zum physischen Menschenleib gehört aber diese Formganz wesentlich. Für den gewöhnlichen hellseherischen Blick ist es zunächst tatsächlichso, als ob einfach der Mensch diese Stoffe ablege, die dann der Verwesung oderVerbrennung zugeführt werden, und sonst nichts von seinem physischen Leibe bliebe.[243] Dann sieht das gewöhnliche Hellsehen nach dem Tode in jenen Zusammenhanghinein, der da besteht aus Ich, astralischem Leib und Ätherleib während der Zeit,während welcher der Mensch seinen Rückblick zum verflossenen Leben hat.

Page 162: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

162

Dann sieht der Hellseher durch das fortschreitende Experiment den Ätherleib sichabtrennen, sieht einen Extrakt dieses Ätherleibes mitgehen und das Übrige sich auflösenin dem allgemeinen Weltenäther in der einen oder anderen Weise. Und so scheint es inder Tat, als ob der Mensch den physischen Leib mit den physischen Stoffen und Kräftenabgelegt hätte mit dem Tode und den Ätherleib nach ein paar Tagen. Und wenn derHellseher den Menschen dann weiter verfolgt während der Kamaloka-Zeit, so sieht er,wie wieder von dem Astralleib ein Extrakt durch das weitere Leben zwischen Tod undneuer Geburt mitgenommen, und wie das andere des Astralleibes der allgemeinenAstralität übergeben wird.

Wir sehen also: Physischer Leib, Ätherleib und Astralleib werden abgelegt, und derphysische Leib scheint erschöpft zu sein in dem, was wir vor uns haben in den Stoffenund Kräften, die der Verwesung oder Verbrennung oder auf eine andere Weise derAuflösung in die Elemente entgegengehen. je mehr sich aber in unserer Zeit desMenschen Hellsichtigkeit entwickelt, desto mehr wird er sich über eines klarwerden: daßdas, was mit dem physischen Leibe abgelegt wird als die physischen Stoffe und Kräfte,doch nicht der ganze physische Leib ist; daß das nicht einmal die ganze Gestalt desphysischen Leibes gäbe. Sondern zu diesen Stoffen und Kräften gehört noch etwasanderes, das wir nennen müssen, wenn wir sachgemäß sprechen, das «Phantom» desMenschen. Dieses Phantom ist die Formgestalt des Menschen, welche als einGeistgewebe die physischen Stoffe und Kräfte verarbeitet, so daß sie in die Formhineinkommen, die uns als der Mensch auf dem physischen Plane entgegentritt. [244]Wie der plastische Künstler keine Statue zustande bringt, wenn er Marmor oder irgendetwas anderes nimmt und wüst darauf losschlägt, daß einzelne Stücke abspringen, wiesie der Stoff eben abspringen läßt; sondern wie der plastische Künstler den Gedankenhaben muß, den er dem Stoffe einprägt, so ist auch für den Menschenleib der Gedankevorhanden; aber nicht so vorhanden – da das Material des Menschenleibes kein Marmoroder Gips ist – wie derjenige des Künstlers, sondern als der reale Gedanke in derAußenwelt: als Phantom. Was der plastische Künstler einprägt seinem Stoffe, das wirdden Stoffen der Erde, die wir nach dem Tode dem Grabe oder dem Feuer übergebensehen, eingeprägt als Phantom des physischen Leibes. Das Phantom gehört zumphysischen Leibe, es ist der übrige Teil des physischen Leibes, ist wichtiger als dieäußeren Stoffe; denn die äußeren Stoffe sind im Grunde genommen nichts anderes alsetwas, was hineingeladen wird in das Netz der menschlichen Form, wie man Äpfel aufeinen Wagen lädt. Das Phantom ist etwas Wichtiges! Die Stoffe, die da nach dem Todezerfallen, sind im wesentlichen das, was wir in der Natur draußen auch antreffen, nur daßes aufgefangen wird von der menschlichen Form.

Wenn Sie tiefer nachdenken: glauben Sie, daß alle die Arbeit, die getan worden ist vongroßen göttlichen Geistern durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit hindurch, nur dasgeschaffen hat, was mit dem Tode den Elementen der Erde übergeben wird? Nein! dasist es gar nicht, was da durch Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit hindurch entwickeltworden ist. Das Phantom ist es, die Form des physischen Leibes!

Page 163: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

163

Das ist es also, worüber wir uns klar sein müssen, daß das Verständnis dieses physischenLeibes nicht so leicht ist. Vor allen Dingen darf das Verständnis des physischen Leibesnicht in der Welt der Illusion, nicht in der Welt der Maja gesucht werden. Wir wissen,daß den Grundstein, sozusagen den Keim zu diesem Phantom des physischen Leibes, dieThrone während der Saturnzeit gelegt haben, daß dann weiter daran gearbeitet haben dieGeister der Weisheit während der Sonnenzeit, die Geister der Bewegung während derMondenzeit und die Geister der Form während der Erdenzeit. Und dadurch erst ist das,was der physische Leib ist, zum Phantom geworden. Daher nennen wir sie die Geisterder Form, weil sie in dem leben, was wir das Phantom des physischen Leibes nennen. Somüssen wir schon, um den physischen Leib zu verstehen, zum Phantom desselbenzurückgehen. [245]

Nun würden wir also sagen können, wenn wir uns an den Beginn unseresErdendaseins versetzen: Die Scharen aus den Reihen der höheren Hierarchien, welcheüber die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit bis zur Erdenzeit den menschlichenphysischen Leib in seiner Form bereitet haben, sie haben dieses Phantom zunächstinnerhalb der Erdenevolution hereingestellt. In der Tat war als erstes von demphysischen Leib des Menschen das Phantom da, das man nicht mit physischen Augensehen kann. Das ist ein Kraftleib, der ganz durchsichtig ist. Was das physische Augesieht, sind die physischen Stoffe, die der Mensch ißt, die er aufnimmt, und die diesesUnsichtbare ausfüllen. Schaut das physische Auge einen physischen Leib an, so sieht esin Wahrheit das Mineralische, das den physischen Leib ausfüllt, gar nicht den physischenLeib. Wodurch ist denn aber das Mineralische – gerade so, wie es ist, hineingekommenin dieses Phantom des physischen Menschenleibes? – Um diese Frage zu beantworten,vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Entstehung, das erste Werden des Menschenauf unserer Erde.

Herübergekommen ist von Saturn, Sonne und Mond jener Kraftzusammenhang, deruns im unsichtbaren Phantom des physischen Leibes in seiner wahren Gestaltentgegentritt, und der gerade für ein höheres Hellsehen erst als Phantom erscheinen wird,wenn wir absehen von alledem, was als äußere Stoffe dieses Phantom ausfüllt. Alsodieses Phantom steht am Ausgangspunkt. Unsichtbar wäre also der Mensch amAusgangspunkte seines Erdenwerdens auch als physischer Leib. Nehmen wir jetzt an, es.würde zu diesem Phantom des physischen Leibes der Ätherleib noch hinzugefügtwerden, würde dadurch der physische Leib nun sichtbar werden als Phantom? Ganzgewiß nicht. Denn der Ätherleib ist sowieso für das gewöhnliche Anschauen unsichtbar.Also physischer Leib plus Ätherleib sind noch immer nicht sichtbar im äußerenphysischen Sinne. Und der Astralleib erst recht nicht; so daß physischer Leib alsPhantom und Ätherleib und Astralleib zusammen noch immer unsichtbar sind. Und dasIch, hinzugefügt, würde zwar innerlich wahrnehmbar sein, aber nicht äußerlich sichtbar.[246] Also der Mensch bliebe uns, wie er aus der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeitherübergekommen ist, etwas Unsichtbares, und würde nur für ein Hellsehen sichtbarsein. Wodurch wurde er sichtbar?

Page 164: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

164

Er würde überhaupt nicht sichtbar geworden sein, wenn nicht das eingetreten wäre, wasuns die Bibel symbolisch und was uns wirklich die Geheimwissenschaft schildert: derluziferische Einfluß. Was ist damit geschehen?

Lesen Sie nach in der «Geheimwissenschaft» (17): Aus jener Entwicklungsbahn, inwelcher der Mensch dadurch war, daß sein physischer Leib, Ätherleib und Astralleib biszum Unsichtbaren gebracht worden sind, ist er heruntergeworfen worden in die dichtereMaterie und hat die dichtere Materie so aufgenommen, wie er sie eben aufnehmen mußteunter dem Einflusse des Luzifer. Wäre also in unserem astralischen Leibe und inunserem Ich nicht das, was wir die luziferische Kraft nennen, so würde die dichteMaterialität nicht so sichtbar geworden sein, wie sie sichtbar geworden ist. Daher müssenwir sagen: Wir müssen den Menschen als einen unsichtbaren hinstellen; und erst mit denEinflüssen des Luzifer sind Kräfte in den Menschen eingezogen, die ihn für die Materiesichtbar machen. Durch die luziferischen Einflüsse geraten die äußeren Stoffe und Kräftein das Gebiet des Phantoms und durchdringen dieses Phantom. Wie wenn wir in eindurchsichtig erscheinendes Glas eine farbige Flüssigkeit hineingießen, so daß unsdasselbe gefärbt erscheint, während es sonst für unser Auge durchsichtig war, so müssenwir uns denken, daß der luziferische Einfluß Kräfte in die menschliche Phantomformhineingegossen hat, wodurch der Mensch geeignet wurde, auf der Erde dieentsprechenden Stoffe und Kräfte aufzunehmen, die seine sonst unsichtbare Formsichtbar werden lassen.

Was also macht den Menschen sichtbar? Die luziferischen Kräfte in seinem Innernmachen den Menschen so sichtbar, wie er uns auf dem physischen Plane entgegentritt;sonst wäre sein physischer Leib immer unsichtbar geblieben. Daher haben dieAlchimisten immer betont, daß der menschliche Leib in Wahrheit besteht aus derselbenSubstanz, aus welcher der ganz durchsichtige, kristallhelle Stein der Weisen besteht.[247] Der physische Leib besteht wirklich aus absoluter Durchsichtigkeit, und dieluziferischen Kräfte im Menschen sind es, welche ihn zur Undurchsichtigkeit gebrachthaben und ihn so vor uns hinstellen, daß er undurchsichtig und greifbar wird. Darauswerden Sie ersehen, daß der Mensch zu dem Wesen, das die äußeren Stoffe und Kräfte derErde aufnimmt, die mit dem Tode wieder weggegeben werden, nur dadurch geworden ist,daß er von Luzifer verführt worden ist, und daß gewisse Kräfte in seinen Astralleibhineingegossen worden sind. Was aber wird denn notwendigerweise daraus folgen?Daraus muß folgen, daß, indem das Ich unter dem Einfluß des Luzifer auf der Erde in denZusammenhang von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib eingezogen ist, derMensch erst das geworden ist, was er auf der Erde ist. Dadurch ist er erst zum Träger derirdischen Gestalt geworden, anders wäre er es nicht geworden.

Und jetzt nehmen wir einmal an, daß von einem menschlichen Zusammenhange, der dabesteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, in einem bestimmtenZeitpunkte des Lebens das Ich herausgeht, daß also dann vor uns stehen würde: physischerLeib, Ätherleib, Astralleib – nicht aber das Ich.

Page 165: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

165

Nehmen wir einmal an, das würde eintreten, das heißt, es würde eintreten, was eingetretenist mit Bezug auf den Jesus von Nazareth im dreißigsten Jahre seines Lebens: da hat dasmenschliche Ich diesen Zusammenhang von physischem Leib, Ätherleib und Astralleibverlassen. Und in dies, was geblieben ist – eben der Zusammenhang von physischem Leib,Ätherleib und Astralleib –, zieht die Christus-Wesenheit ein mit der Johannes-Taufe imJordan. Daher haben wir jetzt physischen Leib, Ätherleib und Astralleib eines Menschen –und die Christus-Wesenheit: Wie sonst das Ich, so sitzt jetzt in einem menschlichenZusammenhange die Christus-Wesenheit. Was also unterscheidet jetzt diesen ChristusJesus von allen anderen Menschen der Erde? Das unterscheidet ihn, daß alle anderenMenschen jenes Ich in sich tragen, das einmal in der Versuchung des Luzifer unterlegenist, und daß der Christus Jesus dieses Ich nicht mehr in sich trägt, sondern statt dessen dieChristus-Wesenheit. [248] So daß er nunmehr von dem, was von Luzifer kommt, den Restin sich trägt – ohne daß ein menschliches Ich weiter in diesen Leib, von der Johannes-Taufe im Jordan angefangen, die luziferischen Einflüsse hineinkommen lassen könnte. Einphysischer Leib, ein Ätherleib, ein astralischer Leib, in denen die Reste der luziferischenEinflüsse von früher drinnen sind, aber in die keine neuen Einflüsse hineinkommenkönnen in den nächsten drei Jahren, und die Christus-Wesenheit: das macht den ChristusJesus aus.

Fassen wir ganz genau ins Auge, was jetzt der Christus von der Johannes-Taufe imJordan bis zum Mysterium von Golgatha ist: ein physischer Leib, ein ätherischer Leib undein astralischer Leib, der diesen physischen Leib und Ätherleib sichtbar macht, weil er dieReste des luziferischen Einflusses noch enthält. Denn dadurch, daß die Christus-Wesenheitdie Reste des astralischen Leibes hat, die der Jesus von Nazareth gehabt hat von derGeburt bis zum dreißigsten Jahre, dadurch ist der physische Leib als der Christus-Trägersichtbar. Seit der Johannes-Taufe im Jordan haben wir also vor uns einen physischen Leib,der als solcher nicht sichtbar wäre auf dem physischen Plan, einen Ätherleib, der alssolcher nicht wahrnehmbar wäre, die Reste des Astralleibes, der die beiden anderen Leibersichtbar macht, der den Jesus-von-Nazareth-Leib zu einem sichtbaren Leib macht von derJohannes-Taufe im Jordan bis zum Mysterium von Golgatha – und die Christus-Wesenheitdarin. Diese viergliedrige Wesenheit des Christus Jesus wollen wir uns einmal recht gut indie Seele schreiben, wollen uns sagen: Ein jeder Mensch, der auf dem physischen Planevor uns steht, besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich; aber dieses Ichist ein solches, das immer in den astralischen Leib hineinwirkt bis zum Tode. DieChristus-Jesus-Wesenheit aber steht als solche vor uns, die an sich hat auch physischenLeib, Ätherleib, Astralleib – aber jetzt kein menschliches Ich, so daß da die drei Jahre biszum Tode nicht dasselbe hineingewirkt wird, was sonst in die menschliche Wesenheit hin-eingewirkt wird, sondern eben die Christus-Wesenheit.

Das wollen wir uns klar vor die Seele schreiben und morgen von diesemAusgangspunkte an die Sache weiter betrachten. [249]

Page 166: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

166

Der auferstandene Leib des Christus (II)

Wir haben durch unsere gestrige Betrachtung gesehen, daß in einer gewissen Beziehungdie Frage des Christentums die der Auferstehung des Christus Jesus ist. Namentlich hatsich uns gezeigt, daß dem Verkünder des Christentums, der sogleich nach seinerErkenntnis des Wesens des Christus-Impulses auch erkannt hatte, daß der Christus nachdem Ereignis von Golgatha lebt, daß dem Paulus nach seinem Erlebnis vor Damaskus eingewaltiges, ein großartiges Geschichtsbild von der Entwicklung der Menschheitaufgegangen war. Und wir haben gestern, von diesem Punkte ausgehend, unsereBetrachtungen so weit geführt, daß wir uns eine Vorstellung verschafft haben von dem,was der Christus Jesus unmittelbar nach der Johannes-Taufe im Jordan war. Unserenächsten Aufgaben werden also darin bestehen, zu untersuchen, was von der Johannes-Taufe im Jordan bis zu dem Mysterium von Golgatha geschehen ist. Um aber von demgestrigen Ausgangspunkte aus aufsteigen zu können zu dem Verständnis diesesMysteriums von Golgatha, wird es notwendig sein, auf einiges hinzuweisen, um gewisseHindernisse aus dem Wege zu räumen, die sich einem entgegenstellen, wenn man in einertiefgehenden und ernsten Weise das Mysterium von Golgatha begreifen will. Sie könnenaus alledem, was über die Evangelien im Laufe der Jahre gesagt worden ist, und auch ausdem, was schon in den wenigen Vorträgen dieser Tage hier gesprochen wurde, entnehmen,daß gewisse, da oder dort für genügend erachtete theosophische Vorstellungen inWirklichkeit durchaus nicht genügen, um die Frage zu beantworten, die uns beschäftigt.[250]

Vor allen Dingen müssen wir ernst nehmen, was über die drei Strömungen derMenschheit gesagt worden ist (s. S. 187f.): die Strömung, die über das Griechentumheraufgeht, dann die zweite, die über das althebräische Altertum geht, und endlichdiejenige Strömung, die ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in dem GotamaBuddha ihren Ausdruck gefunden hat. Gezeigt hat sich uns, daß die Strömung des GotamaBuddha – namentlich so, wie sie sich eingelebt hat in die Bekennerschaft des Buddha – amallerwenigsten geeignet sein kann, ein Verständnis des Mysteriums von Golgatha zuvermitteln. Für den modernen Menschen, der von dem Bewußtsein der gegenwärtigenBildung erfüllt ist, hat ja allerdings gerade die Strömung, die im Buddha-Bekenntnis zumAusdruck kommt, etwas Bequemes; denn kaum eine andere Strömung kommt so denBegriffen der Gegenwart entgegen, insofern diese Begriffe gerade vor dem Größtenstillstehen wollen, was die Menschheit zu begreifen hat: vor der Auferstehungsfrage. Dennmit der Auferstehungsfrage hängt die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheitzusammen. Es ist nun einmal so, daß, wie wir gesehen haben, innerhalb der Buddha-Lehredasjenige verlorengegangen ist, was wir im eigentlichen Sinne das vierte Glied dermenschlichen Natur nennen: die reale Wesenheit des Ich. Gewiß, man kann ja auch beidiesen Dingen allerlei Deutelungen und Interpretationskünste anwenden, und es wird vieleMenschen geben, die in einer gewissen Weise bemängeln werden, was hier über dieBuddha-Strömung gesagt worden ist. Aber darauf kommt es nicht an.

Page 167: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

167

Denn so etwas, wie ich es angeführt habe, was aus dem Herzen eines buddhistischenMenschen kommt, wie zum Beispiel das Gespräch zwischen dem König Milinda und dembuddhistischen Weisen Nagasena, (s. S. 187f.) solche Dinge sprechen deutlich dafür, daßso, wie wir von der Ich-Natur des Menschen sprechen müssen, innerhalb des Buddhismusnicht über die Ich-Natur gesprochen werden kann. Wir müssen es begreifen, daß es füreinen echten Bekenner des Buddhismus sogar eine Ketzerei ist, wenn über die Ich-Naturso gesprochen wird, wie wir es vertreten müssen. Deshalb ist es notwendig, uns über dieIch-Natur zu verständigen. [251]

Was wir das menschliche Ich nennen, was wir bei jedem Menschen – und sei es derhöchste Adept – als von Inkarnation zu Inkarnation gehend auffassen, von diesemmenschlichen ich – das haben wir gestern zum Schluß angeführt – können wir bei demJesus von Nazareth nur sprechen von der Geburt bis zur Johannes-Taufe im Jordan.Dann, nach der Johannes-Taufe, haben wir zwar in der Wesenheit des Christus Jesusnoch vor uns den physischen Leib, Ätherleib und Astralleib des Jesus von Nazareth, aberjetzt sind diese äußeren menschlichen Hüllen bewohnt – nicht von einem menschlichenIch, sondern von einem kosmischen Wesen, das wir als das Christus-Wesen uns nunschon in jahrelangen Bemühungen dem Verständnis durch Worte nahezubringenversuchen. Sobald man nämlich die ganze Wesenheit des Christus Jesus versteht, ist eseigentlich ganz selbstverständlich, daß man für den Christus Jesus eine jegliche Art derphysischen, der fleischlichen Wiederverkörperung ablehnen muß, und daß die in meinemMysteriendrama (42) «Die Prüfung der Seele» gebrauchte Wendung von dem nureinmaligen Vorhandensein des Christus in einem fleischlichen Leibe ganz wörtlich undernst genommen werden muß. Wir müssen demnach zuerst uns beschäftigen mit derWesenheit, mit der Natur des menschlichen Ich, gerade mit demjenigen also, über dassozusagen vollständig hinaus sein mußte die Christus Jesus-Wesenheit von der Johannes-Taufe im Jordan an bis zum Mysterium von Golgatha.

Aus den früheren Vorträgen, wo gezeigt worden ist, daß der Entwicklung der Erde einSaturndasein voraufgegangen ist, ein Sonnendasein, ein Monddasein, und daß auf diesedrei planetarischen Verkörperungen die vierte, unsere eigene Erdenverkörperung gefolgtist – aus solchen Vorträgen wissen Sie, daß erst innerhalb unserer Erde, innerhalb desvierten der planetarischen Zustände, die nötig waren, um unsere Erde mit allen ihrenWesen zustande zu bringen, das mit der menschlichen Natur in eine Verbindung tretenkonnte, was wir das menschliche Ich nennen. [252] Wie wir für die alte Saturnzeitsprechen von dem Beginn des physischen Leibes, so sprechen wir bei der altenSonnenzeit von der ersten Entwicklung des Ätherleibes, bei dem Mondendasein von derersten Entwicklung des Astralleibes und erst bei der Erdentwicklung von der Entfaltungdes Ich. Das wäre die ganze Sache kosmisch-geschichtlich betrachtet. Wie stellt sichdenn aber die Sache, wenn wir den Menschen ansehen?

Page 168: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

168

Da wissen wir aus unseren bisherigen Betrachtungen, daß, wenn auch der Keim desIch schon in der lemurischen Zeit in die menschliche Wesenheit gelegt worden ist, eineMöglichkeit, zum Ich-Bewußtsein zu kommen, für den Menschen erst gegen das Endeder atlantischen Zeit eingetreten ist, und daß eigentlich auch dann noch dieses Ich-Bewußtsein sehr dämmerhaft und dunkel war. Ja, auch noch nach der atlantischen Zeit,durch die verschiedenen Kulturperioden hindurch, die dem Mysterium von Golgathavoraufgegangen sind, war verhältnismäßig lange noch das Ich-Bewußtsein ein dumpfes,traumhaftes, dämmerhaftes. Und wenn Sie die Entwicklung des hebräischen Volkes insAuge fassen, wird Ihnen klar sein, daß gerade bei diesem Volke das Ich-Bewußtsein ineiner sehr eigenartigen Weise zum Ausdruck gekommen ist. Es war eine Art von Volks-Ich, welches gelebt hat in jedem einzelnen Gliede des althebräischen Volkes; und imGrunde genommen hat jeder Angehörige dieses Volkes sein Ich hinaufgeleitet bis zumfleischlichen Stammvater, bis zu Abraham. Deshalb können wir sagen: Das Ich einesGliedes des althebräischen Volkes ist noch ein solches, das wir als ein Gruppen-Ich, einVolks-Gruppen-Ich bezeichnen. Es ist das Bewußtsein da noch nicht durchgedrungen biszum individuellen Einzelwesen des Menschen. Warum ist das so? Aus dem Grunde, weiljenes Gefüge der viergliedrigen Menschenwesenheit, das wir heute als das normaleansehen, erst nach und nach im Laufe der Erdentwicklung sich herausgebildet hat, undweil im Grunde genommen erst gegen Ende der atlantischen Zeit der noch weit außerdem physischen Leib befindliche Teil des Ätherleibes nach und nach hineingezogen istin den physischen Leib. [253] Und erst indem diese eigentümliche Organisation sichherausgebildet hat, die wir jetzt als die normale mit dem hellseherischen Bewußtseinerkennen, daß nämlich der physische Leib und der Ätherleib sich ungefähr decken, erstdamit ist die Möglichkeit für den Menschen gegeben worden, das Ich-Bewußtsein zuentfalten. Aber dieses Ich-Bewußtsein tritt uns in einer sehr eigentümlichen Artentgegen. Machen wir uns allmählich und langsam eine Vorstellung, wie uns dieses Ich-Bewußtsein beim Menschen entgegentritt!

Ich habe Sie gestern darauf aufmerksam gemacht, wie Menschen gesprochen haben,die mit aller Intellektualität der Gegenwart, mit aller Verständigkeit der Zeit vor dieAuferstehungsfrage gestellt wurden; wie sie sagen: Wenn ich zugeben muß, was echtePaulinische Lehre für die Auferstehung ist, dann muß ich einen Riß machen in meineganze Weltanschauung. – So sagen die Menschen der Gegenwart, die Menschen, die alsoaus ihrer Seele herausziehen können alles, was zu unserem gegenwärtigen Verstandegehört. Es ist solchen Menschen, die so sprechen, ganz gewiß außerordentlichfernliegend, was jetzt gesagt werden muß.

Aber wäre es denn nicht möglich, daß solche Menschen einmal folgende Überlegunganstellten: Gut, könnten sie sagen, ich muß einen Riß machen in meine ganzeVerstandesanschauung; in alles, was ich intellektuell denken kann, muß ich einen Rißmachen, wenn ich die Auferstehung annehmen soll. Ist das aber ein Grund, sieabzulehnen? Ist es die einzige Möglichkeit, weil unser Verständnis diese Auferstehungnicht begreift und sie als ein Wunder ansehen soll, über diesen Zwiespalt dadurchhinüberzugelangen, daß wir die Auferstehung ablehnen? Gäbe es nicht noch eine andere

Page 169: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

169

Möglichkeit? – Diese andere Möglichkeit kommt dem modernen Menschen gar nichtleicht; sie würde sich nämlich darin ausdrücken, daß sich der Mensch sagte: Vielleichtliegt es nicht an der Auferstehung, daß ich sie nicht begreifen kann, sondern vielleichtliegt es an meinem Verstande; vielleicht ist mein Verstand nur nicht geeignet, um dieAuferstehung zu verstehen!

So wenig man in unserer Gegenwart diese Sache ganz ernst nehmen wird, so darf dochgesagt werden: den modernen Menschen hindert sein Hochmut, eben weil er gar nichtdaran denkt, daß darin ein Hochmut sitzen könnte, seinen Verstand in bezug auf dieseFrage für inkompetent zu erklären. Denn was könnte erklärlicher sein: [254] Zu sagen,was meine Verstandesanschauung zerreißt, das lehne ich ab, oder sich zu sagen, waseben erwähnt worden ist, daß der Verstand vielleicht nicht kompetent sein könnte? Dasletztere läßt aber der Hochmut nicht zu.

Nun müßte natürlich der Anthroposoph über diesen Hochmut durch Selbsterziehunghinauskommen; und es müßte verhältnismäßig dem wahren, echten anthroposophischenHerzen nicht ferne liegen, sich zu sagen, mein Verstand ist vielleicht nicht kompetent,um über die Auferstehung zu entscheiden. Aber dann kommt für den Anthroposopheneine andere Schwierigkeit, die nämlich, daß er nun doch eine solche Antwort begreifenmuß, warum der Verstand, der Intellekt des Menschen nicht geeignet sein könnte, um diegrößte Tatsache der menschlichen Entwicklung zu begreifen. Die Antwort auf dieseFrage können wir uns dadurch geben, daß wir zunächst einmal etwas genauer eingehenauf das eigentliche Wesen des menschlichen Verstandes. Erinnern möchte ich dabei anmeine Münchner Vorträge (43) «Weitenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbar-ungen», wovon ich jetzt nur– soweit wir es brauchen – kurz den Inhalt angeben will.

Was wir innerlich seelisch verarbeiten, das ist seinem Inhalte nach nicht in unseremgegenwärtigen physischen Leib; sondern das ist seinem Inhalte nach innerhalb unsererOrganisation nur so weit, daß es bis zum Ätherleibe des Menschen geht. UnsereGedanken, Gefühle und Empfindungen, dem Inhalte nach, spielen zunächst bis zuunserem Ätherleib. Um uns das klarzumachen, denken wir uns unsere menschlicheWesenheit, insofern sie besteht aus Ich, Astralleib und Ätherleib, symbolisiert, zu-sammengefügt als eine elliptische Fläche. [255]

Das sei graphisch, schematisch dargestellt, was wir in dieser Beziehung unsereInnerlichkeit nennen können, was wir seelisch erleben können und was so weit geht, daßes sich noch in den Strömungen und Kräften des Ätherleibes zum Ausdruck bringt. Wennwir einen Gedanken, eine Empfindung fassen, so ist das in unserem Seelenwesen in dreiGliedern, die wir uns in der folgenden Figur vorstellen.

Page 170: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

170

Es gibt nun schlechterdings innerhalb unseres Seelenlebens nichts, was nicht gerade indieser Weise in uns wäre. Wenn nun der Mensch mit seinem gewöhnlichen irdischenBewußtsein seine Seelenerlebnisse nur so hätte, wie ich sie jetzt geschildert habe, soerlebte er sie zwar, könnte sich ihrer aber nicht bewußt werden; sie würden unbewußtbleiben. Bewußt werden unsere Seelenerlebnisse erst durch einen Vorgang, den wir unsbegreiflich machen können, wenn wir folgendes Gleichnis gebrauchen. Denken Sie, Siegehen in einer Richtung und schauen geradeaus, und denken Sie, Sie hießen «Müller».Indem Sie so geradeaus gehen, sehen Sie den «Müller» nicht, dennoch sind Sie es,erleben es, sind die Wesenheit «Müller». Und denken Sie weiter, indem Sie so hingehen,schiebt Ihnen jemand einen Spiegel vor: jetzt steht der «Müller» vor Ihnen. Was Siefrüher erlebt haben, sehen Sie jetzt; das tritt Ihnen im Spiegel entgegen. – So ist es mitdem gesamten Seelenleben des Menschen: der Mensch erlebt es, wird sich dessen abernicht bewußt, wenn ihm nicht ein Spiegel entgegengehalten wird (I). [256] Und für dasSeelenleben ist der Spiegel nichts anderes als der physische Leib. Daher können wir denphysischen Leib jetzt schematisch als die äußere Hülle zeichnen, und die Empfindungenoder Gedanken werden zurückgeworfen durch die Hülle des physischen Leibes (II).Dadurch werden uns die Vorgänge bewußt. So ist für uns als irdische Menschen derphysische Menschenleib in Wahrheit ein Spiegelungsapparat.

Wenn Sie in dieser Weise immer tiefer und tiefer in das Wesen des menschlichenSeelenlebens und in das Wesen des menschlichen Bewußtseins eindringen, können Sieunmöglich alle diejenigen Dinge, die immer wieder und wieder von dem Materialismusder spirituellen Weltauffassung entgegengebracht werden, irgendwie gefährlich oderbedeutsam finden. Denn es ist natürlich ein vollständiger Unsinn, daraus – zum Beispiel–, daß bei irgendeiner Beschädigung des Spiegelungsapparates das seelische Erleben fürdas Bewußtsein aufhört wahrgenommen zu werden, den Schluß zu ziehen, daß diesesseelische Erleben selbst an den Spiegelapparat gebunden wäre. Denn wenn jemand denSpiegel zerbricht, dem Sie entgegengehen, und durch den Sie sich wahrnehmen,zerbricht er nicht Sie, sondern Sie verschwinden nur vor Ihrem Blick. So ist es, wenn derSpiegelapparat für das Seelenleben, das Gehirn, zerstört wird: es hört die Wahrnehmungauf. Aber das Seelenleben selbst, insofern es im Ätherleib und Astralleib abläuft, wirdgar nicht davon berührt.

Page 171: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

171

Nun fragen wir weiter: Kommt nicht gerade jetzt, wo wir dieses einsehen, dieWesenheit und die Natur unseres physischen Leibes gar sehr in Betracht? – Eine leichteÜberlegung kann Ihnen zeigen, daß wir ohne Bewußtsein zu keinem Ich kommenkönnen, nämlich zu keinem Bewußtsein vom Ich. Wenn wir kein Bewußtseinentwickeln, können wir auch zu keinem Ich kommen. Daß wir uns auf der Erde das Ich-Bewußtsein aneignen können, dazu muß unser physischer Leib mit derGehirnorganisation ein Spiegelapparat sein. Wir müssen lernen, an der Spiegelung unsunser selbst bewußt zu werden; und hätten wir keinen Spiegelapparat, so könnten wir unsnicht unser selbst bewußt werden. Wie ist aber dieser Spiegel? [257]

Da zeigt sich uns nun, wenn wir eingehen auf die okkulten Forschungen, diezurückgehen durch das Lesen der Akasha-Chronik bis zum Ursprunge unseresErdendaseins, daß in der Tat gerade im Beginne des Erdendaseins dieser Spiegelapparat,der äußere physische Leib, durch den luziferischen Einfluß anders geworden ist, als ergeworden wäre, wenn der luziferische Einfluß nicht vorhanden gewesen wäre. Wir habenes uns ja gestern klargemacht, was dieser physische Leib für den Erdenmenschengeworden ist. Er ist etwas, was zerfällt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todesschreitet. Wir haben aber gesagt: Was da zerfällt, ist nicht dasjenige, was sozusagen diegöttlichen Geister durch vier planetarische Zustände vorbereitet haben, damit es auf derErde zum physischen Leib hat werden sollen; sondern was wir gestern als das Phantombezeichnet haben, das gehört zum physischen Leibe als etwas, was wie ein Formleib diemateriellen Teile, welche unserm physischen Leibe einverwoben sind, durchdringt undzu gleicher Zeit zusammenhält. Wäre kein luziferischer Einfluß geschehen, dann hätteder Mensch im Beginne des Erdendaseins in voller Kraft dieses Phantom mit seinemphysischen Leibe bekommen. Nun aber drangen in die menschliche Organisation,insofern sie besteht aus physischem Leib, Ätherleib und Astralleib, die luziferischenEinflüsse ein, und die Folge davon war die Zerstörung des Phantoms des physischenLeibes. Das ist es, wie wir sehen werden, was uns in der Bibel symbolisch mit demSündenfall ausgedrückt wird, zusammen mit der Tatsache, wie es im Alten Testamentgesagt wird, daß auf den Sündenfall der Tod folgte. Der Tod war eben die Zerstörung desPhantoms des physischen Leibes. Und die Folge davon war, daß der Mensch zerfallensehen muß seinen physischen Leib, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Diesenzerfallenden physischen Leib, dem die Kraft des Phantoms mangelt, hat der Menschüberhaupt sein ganzes Erdenleben hindurch, von der Geburt bis zum Tode. Das Zerfallenist eigentlich fortwährend vorhanden, und das Zersetztwerden, der Tod des physischenLeibes, ist nur der letzte Prozeß, der Schlußstein einer fortdauernden Entwicklung. [258]Denn wenn nicht in gleicher Art, wie die Zerstörung des Phantoms vor sich geht, durchAufbauprozesse diesem Abbauen entgegengetreten wird, kommt es schließlich zu dem,was wir den Tod nennen. Wäre nun kein luziferischer Einfluß geschehen, so wäre imphysischen Leibe ein Gleichgewicht vorhanden zwischen den zerstörenden und denaufbauenden Kräften. Dann aber wäre alles in der menschlichen Natur im Erdendaseinanders geworden; dann gäbe es zum Beispiel keinen solchen Verstand, der dieAuferstehung nicht begreifen kann.

Page 172: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

172

Denn was ist das für ein Verstand, den der Mensch hat, mit dem er die Auferstehungnicht begreifen kann? Das ist der Verstand, der an das Zerfallen des physischen Leibesgebunden ist, und der so, wie er ist, deshalb besteht, weil der Mensch in sich durch denluziferischen Einfluß die Zerstörung des Phantoms des physischen Leibes aufgenommenhat. Deshalb ist der menschliche Verstand, der menschliche Intellekt so dünn, sofadenscheinig geworden, daß er nicht in sich hereinnehmen kann die großen Prozesse derkosmischen Entwicklung. Er sieht sie als Wunder an, oder er sagt, er könne sie nichtbegreifen. Wenn der luziferische Einfluß nicht gekommen wäre, wäre der menschlicheVerstand durch alles, was ihm zugedacht war, so geworden –wegen der dann immenschlichen Leibe befindlichen aufbauenden Kräfte, die den zerstörenden die Waagegehalten hätten –, daß der Mensch mit dem Verstande einsehen würde den aufbauendenProzeß, wie man ein Experiment im Laboratorium einsieht. So ist aber unser Verstand sogeworden, daß er nur an der Oberfläche der Dinge bleibt und nicht in die Tiefen derkosmischen Dinge sieht.

Es müßte also jemand, der diese Verhältnisse richtig charakterisieren wollte, sagen: ImBeginne unseres Erdendaseins ist durch den luziferischen Einfluß der physische Leibnicht so geworden, wie er hätte werden sollen durch den Willen der Mächte, die durchSaturn, Sonne und Mond gewirkt haben; sondern es hat sich ihm ein Zerstörungsprozeßeingegliedert. Und der Mensch lebt fortan – seit dem Beginn des Erdendaseins – ineinem physischen Leib, der der Zerstörung unterworfen ist, der nicht in entsprechenderWeise den zerstörenden Kräften die aufbauenden Kräfte entgegensetzen kann. [259]

So wäre es denn also wahr, was dem modernen Menschen so töricht erscheint: daßdoch eine geheime Beziehung ist zwischen dem, was durch die Wirkung Luzifersgeschehen ist, und dem Tode! Und sehen wir jetzt diese Wirkung einmal an. Welcheswar denn die Wirkung dieser Zerstörung des physischen Leibes? – Hätten wir denphysischen Leib vollständig, wie er uns im Beginne des Erdendaseins zugedacht war, sowürden sich unsere Seelenkräfte in ganz anderer Weise spiegeln, und wir würden dannerst wahrhaftig wissen, was wir sind. So wissen wir nicht, was wir sind, weil uns derphysische Leib nicht in seiner Vollständigkeit gegeben ist. Wir sprechen allerdings vonder Natur und Wesenheit des Ich des Menschen; aber fragen wir einmal: Wie weit kenntdenn der Mensch das Ich? So zweifelhaft ist das Ich, daß es der Buddhismus sogar alsvon einer Inkarnation zur andern gehend leugnen kann. So zweifelhaft ist es, daß dasGriechentum in eine tragische Stimmung verfallen konnte, die wir mit den Worten desgriechischen Heros ausdrückten: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als ein Königim Reiche der Schatten! Nichts Geringeres war damit gesagt, als daß der Grieche wegender Schätzung des physischen Leibes, das heißt dessen, was das Phantom ausmacht, undwegen der Zerstörung des physischen Leibes, sich unglücklich fühlte gegenüber demHinschwinden und Hindämmern des Ich, weil er fühlte, daß das Ich nur beim Ich-Bewußtsein bestehen kann. Und indem er zerfallen sah die Form des physischen Leibes,graute ihm bei dem Gedanken, daß sein Ich hindämmere; dieses Ich, das nur dadurchhervorgeht, daß es sich an der Form des physischen Leibes spiegelt. Und wenn wirverfolgen die menschliche Entwickelung vom Erdenanfang bis zum Mysterium von

Page 173: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

173

Golgatha, so finden wir, daß der Prozeß, den wir eben angedeutet haben, sich in einemimmer steigenderen Maße zeigt. Das können wir schon daraus ersehen, daß zum Beispielin älteren Zeiten niemand sich gefunden haben würde, der in solch radikaler Art dieVernichtung des physischen Leibes gepredigt haben würde, wie sie Gotama Buddhagepredigt hat. [260] Dazu war erst notwendig, daß dieser Zerfall des physischen Leibes,die völlige Vernichtung in bezug auf seine Form, sich immer mehr und mehr vollzog, sodaß jede Aussicht schwand, daß das, was durch den physischen Leib beziehungsweisedurch seine Form bewußt wird, wirklich von einer Inkarnation in die anderehinüberziehen kann. In Wahrheit liegt die Sache so, daß der Mensch im Laufe derErdentwicklung die Form des physischen Leibes verloren hat; daß er nicht das hat, wasihm sozusagen von Göttern zugedacht war vom Erdenanfang an. Das mußte er erstwieder bekommen; das mußte ihm erst wieder mitgeteilt werden. Und es ist unmöglich,das Christentum zu begreifen, wenn man nicht einsieht, daß zur Zeit, als die Ereignissevon Palästina sich abspielten, das Menschengeschlecht über die Erde hin dortangekommen war, wo dieser Zerfall des physischen Leibes seinen Höhepunkt erreichthatte, und wo eben deswegen für die gesamte Entwicklung der Menschheit die Gefahrbestand, daß das Ich-Bewußtsein, die eigentliche Errungenschaft der Erdentwicklung,verlorengehe. Wäre nichts weiter hinzugetreten zu dem, was bis zu den Ereignissen vonPalästina vorhanden war, wäre der Prozeß fortgeschritten – immer mehr und mehr wäredas Zerstörende eingezogen in die physische menschliche Leiblichkeit, und dieMenschen, die geboren worden wären nach der Zeit des Ereignisses von Palästina, hättenleben müssen mit einem immer dumpferen Ichgefühl. Immer stumpfer wäre dasgeworden, was von der Vollkommenheit der Spiegelung eines physischen Leibesabhängt.

Da trat das Mysterium von Golgatha ein, trat so ein, wie wir es charakterisiert haben.Und durch dieses Mysterium von Golgatha ist in der Tat dasjenige geschehen, was soschwierig zu begreifen ist für jenen Verstand, der nur gebunden ist an den überwiegendmit den zerstörenden Kräften behafteten physischen Leib. Es ist eingetreten, daß diesereine Mensch, der der Träger des Christus war, einen solchen Tod durchgemacht hat, daßnach drei Tagen dasjenige, was am Menschen das eigentlich Sterbliche des physischenLeibes ist, verschwinden mußte und aus dem Grabe sich jener Leib erhob, der derKräfteträger der physisch-materiellen Teile ist. [261] Das, was eigentlich dem Menschenzugedacht war von den Beherrschern von Saturn, Sonne und Mond, das hat sich erhobenaus dem Grabe: das reine Phantom des physischen Leibes, mit allen Eigenschaften desphysischen Leibes. Dadurch war die Möglichkeit jenes spirituellen Stammbaumesgegeben, von dem wir gesprochen haben. Denken wir uns den aus dem Grabeerstandenen Leib des Christus, so können wir uns vorstellen: Ebenso wie von dem Leibedes Adam abstammen die Leiber des Erdenmenschen, insofern sie den zerfallenden Leibhaben, so stammen ab von dem, was aus dem Grabe auferstand, die geistigen Leiber, diePhantome für alle Menschen. Und es ist möglich, jene Beziehung zu dem Christusherzustellen, durch welche der Erdenmensch seinem sonst zerfallenden physischen Leibeinfügt dieses Phantom, das aus dem Grabe von Golgatha auferstanden ist.

Page 174: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

174

Es ist möglich, daß der Mensch in seiner Organisation jene Kräfte, die damalsauferstanden sind, so erhält, wie er durch seine physische Organisation im Erdenanfanginfolge der luziferischen Kräfte die Adam-Organisation erhalten hat.

Das ist es, was Paulus sagen will: Wie der Mensch, indem er als Angehöriger derphysischen Entwicklungsströmung den physischen Leib erbte, an dem sich fort und fortdie Zerstörung des Phantoms, des Kräfteträgers vollzog, so kann er erben von dem, wasauferstanden ist aus dem Grabe, das, was er verloren hat; kann es erben und sichanziehen, wie er den ersten Adam angezogen hat; kann mit ihm eins werden und dadurcheine Entwicklung durchmachen, durch die er ebenso wieder hinaufsteigt, wie er vor demMysterium von Golgatha heruntergestiegen ist in der Entwicklung. Das heißt: Was ihmdazumal genommen worden ist durch den luziferischen Einfluß, das kann ihmwiedergegeben werden dadurch, daß es vorhanden ist als auferstandener Leib desChristus. Das will Paulus sagen.

Wie das, was eben in dieser Stunde gesagt worden ist, vom Standpunkte der modernenAnatomie oder Physiologie aus scheinbar zu widerlegen ist, so ist es natürlich auchkinderleicht, einen anderen Einwand zu erheben. Es könnte etwa gesagt werden: [262]Wenn schon wirklich Paulus geglaubt hat, daß da ein spiritueller Leib auferstanden ist,was hat dann dieser spirituelle Leib, der sich damals aus dem Grabe erhoben hat, mitdem zu tun, was nun jeder Mensch in sich trägt? – Zu verstehen ist es schon. Manbraucht es sich nur nach der Analogie dessen zu denken, wodurch jeder Mensch alsphysischer Mensch da ist. Gefragt könnte werden: Wovon geht der einzelne Mensch aus?Als physischer Mensch geht er aus von der einen Eizelle. Ein physischer Leib bestehtaber aus lauter einzelnen Zellen, welche alle die Kinder der ursprünglichen Eizelle sind.Alle Zellen, die einen menschlichen Leib zusammensetzen, führen auf die ursprünglicheEizelle zurück. So denken Sie sich nun, daß der Mensch durch das, was man sich alsmystisch christologischen Prozeß vorstellen kann, einen ganz anderen Leib bekommt, alsder ist, welchen er allmählich in der absteigenden Linie bekommen hat. Und jeden vondiesen Leibern, welche die Menschen bekommen, denken Sie sich mit dem, was aus demGrabe auferstanden ist, ebenso zusammenhängend, wie die menschlichen Zellen desphysischen Leibes mit der ursprünglichen Eizelle zusammenhängen. Das heißt, wirmüssen uns das, was aus dem Grabe auferstanden ist, so in die Zahl schießend, so sichvermehrend denken, wie die Eizelle sich vermehrt, die dem physischen Leib zugrundeliegt. So kann sich in der Tat in der Entwicklung, die auf das Ereignis von Golgathafolgt, jeder Mensch etwas erwerben, was in ihm ist, was geistig ebenso von demabstammt, das aus dem Grabe auferstanden ist, wie – um mit Paulus zu sprechen – dergewöhnliche Leib, der zerfällt, von Adam abstammt.

Selbstverständlich ist es ein Hohn auf den menschlichen Verstand, wie er sichgegenwärtig so hochmütig dünkt, wenn man sagt: ein ähnlicher Prozeß wie der derVermehrung der Eizelle, den man allenfalls sehen kann, spielt sich im Unsichtbaren ab.Und was mit dem Mysterium von Golgatha geschehen ist, bedeutet eine okkulteTatsache.

Page 175: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

175

Da spielt sich für den, der mit hellseherischem Auge die Entwicklung betrachtet, dieTatsache ab, daß jene geistige Zelle – das heißt der Leib, der den Tod besiegt hat, derLeib des Christus Jesus – aus dem Grabe auferstanden ist und sich jedem mitteilt, der dieentsprechende Beziehung zu dem Christus sich aneignet im Laufe der Zeit. [263] Fürden, der übersinnliche Prozesse überhaupt leugnen will, wird das natürlich etwasAbsurdes sein. Wer aber übersinnliche Prozesse zugibt, für den wird dieser übersinnlicheProzeß zunächst so vorgestellt werden müssen, daß sich das, was sich aus dem Grabeerhebt, denjenigen Menschen mitteilt, die sich dazu geeignet machen. So ist es für jeden,der Übersinnliches zugibt, eine verständliche Sache.

Wenn wir uns dieses, was wirklich die paulinische Lehre wiedergibt, in die Seeleschreiben, dann kommen wir dazu, das Mysterium von Golgatha als etwas Reales zubetrachten; als etwas, was in der Erdentwicklung geschehen ist und geschehen mußte;denn es ist ja wörtlich die Rettung des menschlichen Ich. Wir haben gesehen, wenn derEntwicklungsprozeß fortgegangen wäre, wie er sich bis zu den Ereignissen von Palästinaabgespielt hatte, dann hätte sich das Ich-Bewußtsein nicht entwickeln können, wäre nichtnur nicht weiter gekommen von der Zeit des Christus Jesus ab, sondern wäre immermehr und mehr in die Dunkelheit hinuntergestiegen. So aber trat es den Weg aufwärts anund wird in demselben Maße aufsteigen, als die Menschen ihr Verhältnis zur Christus-Wesenheit finden.

Jetzt können wir auch im Grunde genommen den Buddhismus sehr gut verstehen.Denken wir uns einmal ein halbes Jahrtausend vor den Ereignissen von Palästina einenMenschen die Wahrheit aussprechen – nur vermöge seiner Entwicklungsrichtung nichtachtend auf das Ereignis von Golgatha: Alles was den Menschen als physischer Leibumschließt, was ihn zu einem Wesen in fleischlicher Inkarnation macht, das muß alswertlos angesehen werden; das ist im Grunde genommen etwas Letztes, das abgestreiftwerden muß. – Bis dahin war es allerdings so, daß die Menschheit einer solchenWeltanschauung hätte zusteuern müssen, wenn nichts anderes gekommen wäre. Aber estrat eben das Ereignis von Golgatha ein und bewirkte eine vollständigeWiederaufrichtung der verlorenen Entwicklungsprinzipien des Menschen. [264] Indemder Mensch das aufnimmt, was wir gestern schon mit dem Namen «unverweslicherLeib» belegten, und was wir uns heute genauer vor die Seele gestellt haben; indem ersich diesen unverweslichen Leib einverleibt, wird er immer mehr dazu kommen, seinIch-Bewußtsein heller und heller zu machen, wird er immer mehr das in seiner Naturerkennen, was sich von Inkarnation zu Inkarnation hindurchzieht.

So wird das, was mit dem Christentum in die Welt gekommen ist, anzusehen seinnicht bloß als eine neue Lehre – das muß ausdrücklich betont werden –, nicht als eineneue Theorie, sondern als etwas Reales, Tatsächliches. Wenn daher die Menschenbetonen, daß alles, was der Christus gelehrt habe, schon früher da war, so würde dasnichts bedeuten für das wirkliche Verständnis des Christentums; denn das ist nicht dasWesentliche. Das Wesentliche ist nicht, was der Christus gelehrt hat, sondern was derChristus gegeben hat: seinen Leib!

Page 176: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

176

Denn bis dahin war niemals mit einem Menschen, der gestorben war, dasjenige in dieErdentwicklung hineingekommen, was aus dem Grabe von Golgatha auferstanden ist.Niemals seit dem Beginn der Menschheitsentwicklung auf der Erde war durch einenMenschen, der durch den Tod gegangen war, auf der Erde das dagewesen, was mit demauferstandenen Leib des Christus Jesus da war. Denn von allem, was in einer ähnlichenWeise da war, kann gesagt werden: es war da dadurch, daß die Menschen, nachdem siedurch die Pforte des Todes gegangen sind und die Zeit zwischen Tod und neuer Geburtdurchgemacht haben, mit einer neuen Geburt ins Dasein getreten sind. Dann haben sieaber das mangelhafte, dem Verfall preisgegebene Phantom mitgebracht, das heißt, siehaben nicht ein Phantom auferstehen lassen, das vollständig ist. Und dann könnten wirnoch die Fälle der Eingeweihten oder der Adepten anführen. Bei diesen war es immer so,daß sie die Einweihung empfangen mußten außerhalb ihres physischen Leibes, mitÜberwindung ihres physischen Leibes, die sich aber nicht erstreckt hat auf eineAuferweckung des physischen Phantoms. Alle Einweihungen der vorchristlichen Zeitwaren so, daß sie nur bis zu der äußersten Grenze des physischen Leibes gegangen sind;nicht berührt hatten sie die Kräfte des physischen Leibes – nur in dem allgemeinenMaße, wie überhaupt die innere Organisation die äußere berührt. [265] In keinem Fallewar jemals vorgekommen, daß das, was durch den menschlichen Tod gegangen war, alsmenschliches Phantom diesen Tod überwunden hätte. Es waren ja allerdings ähnlicheDinge vorgekommen, aber niemals dies eine, daß durch einen vollständigen menschlichenTod geschritten worden wäre und nachher das völlige Phantom über den Tod den Siegdavongetragen hätte. So wahr also, als nur dieses Phantom uns die vollständigeErdenmenschheit im Laufe der Erdentwicklung geben kann, so wahr ist es, daß diesesPhantom von dem Grabe von Golgatha seinen Ausgangspunkt genommen hat.

Das ist das Wichtige in der christlichen Entwicklung. Deshalb ist es kein Tadel, wennimmer wieder und wieder von Aufklärern gesagt wird, daß sich die Lehre des ChristusJesus in eine Lehre von dem Christus Jesus verwandelt hätte. Das mußte so sein. Denn dasWichtige ist nicht, was der Christus Jesus gelehrt hat, sondern was er der Menschheitgegeben hat. Seine Auferstehung ist das Geborenwerden eines neuen Gliedes dermenschlichen Natur: eines unverweslichen Leibes. Daß dies aber geschehen konnte, daßdurch den Tod hindurch gerettet werden konnte dieses menschliche Phantom, das hängtvon zwei Dingen ab. Einmal davon, daß die Christus-Jesus-Wesenheit das war, was wirgestern charakterisiert haben: physischer Leib, Ätherleib und Astralleib, wie wir siebeschrieben haben – und nicht ein menschliches Ich, sondern die Christus-Wesenheit. Unddas andere ist, daß die Christus-Wesenheit sich dazu entschlossen hatte in einenmenschlichen Leib unterzutauchen, in einem menschlichen fleischlichen Leib sich zuinkarnieren. Denn wenn wir diese Christus-Wesenheit im rechten Lichte betrachtenwollen, müssen wir sie als Wesenheit in der Zeit suchen, die vor demMenschheitsursprung auf der Erde liegt. Da ist die Christus-Wesenheit natürlichvorhanden. Sie geht nicht ein in den Kreislauf der menschlichen Entwicklung; sie lebt inder geistigen Welt weiter.

Page 177: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

177

Der Mensch steigt immer tiefer und tiefer. Und in einem Zeitpunkt, wo die Krisis fürdie menschliche Entwicklung gekommen war, verkörperte sich die Christus-Wesenheit indem fleischlichen Leib eines Menschen. – Das ist nichts anderes als das größte Opfer, dasvon der Christus-Wesenheit der Erdentwicklung hat gebracht werden können! [266] Unddas ist das Zweite, was wir werden verstehen müssen: worin das Opfer besteht, das dieChristus-Wesenheit der menschlichen Entwicklung auf der Erde gebracht hat. Daherhaben wir gestern den einen Teil der Frage nach dem Wesen des Christus im Hinblick aufdie Zeit nach der Johannes-Taufe im Jordan gestellt. Heute haben wir die andere Fragegestellt: Was bedeutet es, daß mit der Johannes-Taufe im Jordan die Christus-Wesenheituntergetaucht ist in einen fleischlichen Leib.

[267]

Page 178: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

178

Nachwort

Zeitgenossenschaft und Initiationsimpuls

Rudolf Steiner gewann seinen Zugang zum Christentum als Zeitgenosse souverän.Diese Aussage kennzeichnet eine Aktualität: unabhängig von und un-bedingt durchjedwede Art historischer Überlieferung. Daß diese existiert und Beachtung verdient –ebenso wie die Realität von innen her karmisch getragener Bezüge – steht dabei außerFrage. Doch ist sein Verhältnis zum Christentum als Zeitgenosse von diesenGegebenheiten nicht ableitbar; diese Realitäten treten in den Hintergrund zurück ange-sichts jener Souveränität, mit der sich Rudolf Steiner voraussetzungslos, ohne Vorgaben,den eigenen, zur Wende ins 20. Jahrhundert aktuellen Zugang bahnte. Die angedeutetePerspektive leitet den Blick auf ein gleichartiges Zeugnis erkennender Aktualität mitbezug auf die Stellung zum Christentum als Zeitgenosse. Hegel deutete darauf in seiner«Phänomenologie des Geistes» in der ihm eigenen abstrakten, gleichwohl klarerhellenden Sprache. Die Geistigkeit des Christentums kann offenbar werden imschaffenden Entstehungsmoment denkenden Selbstbewußtseins: («Seyn Offenbarsein)wird ... gewußt, indem es als Geist gewußt wird, als Wesen, das wesentlichSelbstbewußtseyn ist ... (das) Geheimseyn hört auf, indem das absolute Wesen als GeistGegenstand des Bewußtseyns ist; denn so ist er als Selbst in seinem Verhältnisse zu ihm;das heißt dieses weiß unmittelbar sich darin oder es ist sich in ihm offenbar.»

Aller Aufschwung des Erkennens in der Seele Rudolf Steiners – alles, was zurJahrhundertschwelle hin den herrschenden Geist des Materialismus überstieg –, sollte aufsolche Art legitimiert sein, daß der Autor Goethe oder Hegel nicht ausweichen müßte.[268] Spricht man von der Souveränität Rudolf Steiners im Zusammenhang mit seinemZugang zum Christentum, so muß – um Mißverständnisse auszuschließen – dieseabendländische Linie des philosophierenden Sinnens für seinen Ansatz in denQuellgebieten des Goetheanismus und des deutschen Weltanschauungs-Idealismusausdrücklich erwähnt werden.

Unter diesem Vorzeichen sollen zwei Elemente hervorgehoben werden. Der Blickrichtet sich einerseits auf die Erkenntnisquelle selbst, die Rudolf Steiner im Sinne derBemerkung Hegels als Grundlage für die Erfahrung des Weltwesens aufschloß – unddarin die Erkenntnisquelle für die wesentlichen Erscheinungsformen des Christentums.In dieser Erfahrung keimte auf, was die Identität des Ich vertieft zur welthaftenDimension des universalen Ich, in das – unter dem Namen des Christus – diespiritualisierende Kraft des Denkens erwacht. – Andererseits soll angedeutet werden, wiediese mehr gedanklich entwickelte Erkenntnisart, gesteigert, vertieft wird durch diewillensgestaltete Erfahrungsart der Initiation. Insofern sie, sowohl tätig wie erfahrend,das eigene Wesen für den Geistauftrag der Epoche aufschloß, führte sie Rudolf Steinerschließlich zu dem, was er, die Konsequenz zusammenfassend, als sein «geistigesGestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha» ausgedrückt hat.

Page 179: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

179

Der doppelten Gebärde der Souveränität im Ausgangspunkt seines Ringens begegnete –gleichsam paulinisch – das Wesen des Christus-Impulses in der Gegenwart. DieseSchrittfolge kann nur anfangsweise durch eine eigene, meditativ sich vertiefende Erfah-rungsbereitschaft begleitet werden.

Die Quelle des Erkennens

Gewißheit des Geistes wird offenbar in der Gewißheit des schöpferischenSelbstbewußtseins. Dieser Satz versammelt prismatisch alle Perspektiven auf denBrennpunkt eines Grunderlebnisses: Insofern die Tätigkeit des eigenen Geistes dieErscheinung des Weltgeistes gewahrt, ist dieser im Selbst unmittelbar offenbar, d. h. freierkannt. [269] Das Werk Rudolf Steiners ist heute nahezu überblickbar. Doch ist esschwer, die komplexe Perspektive der Christologie eingrenzend zu ermessen. Für dieChristologie essentielle Aussagen durchziehen das ganze Werk – besonders, was dieStufenwerte vom Geschichtlichen bis zur Esoterik betrifft, die Übergänge und dieWandlung der Ausdrucksweisen. Der oben genannte Brennpunkt hält – gleich einemKompaß – die sich entwickelnde Aufmerksamkeit auf eine intime Aktualität eigenenErfahrens orientiert. Interpretation kann diese Eigenerfahrung nicht ersetzen. Ob sie eineerläuternde «Übersetzung» vom Entfernten der Aussage in mehr greifbare Nähe einesinneren Anschauens sucht, d. h. die scheinbar zunächst unerreichbare Lebensleistung einesebenso scheinbar entrückten «Übermenschen» den Zeitgenossen anzunähern sucht; oderaber im Sinne belehrender Systematik die Inhalte des sehr umfangreichen Werks zubewältigen trachtet: Der Leser sollte sich entscheiden, in den entsprechendenZusammenhängen der Gesamtausgabe selber nachzulesen, die anfängliche Ohnmachtdurchstehen und daraus einen eigenen Ertrag in sein biographisches Lebensgefügeeinbringen. Aktuell bleibt jene Aufmerksamkeit dadurch, daß sein Zugang zumChristentum von Rudolf Steiner nicht gelehrt, sondern erzählt erscheint: Als dieBiographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele. Dies wird für den Leser realdurch das Medium der Verwirklichung der eigenen Biographie. Die Quelle imErfahrungsfeld der eigenen Seele begründet den individuellen Ausgangspunkt für die ausihm konsequent aufkeimende Ur-Offenbarung der Religion als Christentum. Nur dies kannaktuell sein. Man schaut auf eine Eigenauseinandersetzung im dramatischen Null- undWendepunkt innerer Freiheit. (44)

Der Weg Rudolf Steiners sollte auf die Waage des eigenen Wegs jedes Lesers gelegtwerden: Schritt für Schritt im Risiko, daß alle Gewinne durch neue, erweiterndeErkenntnis-Schritte in Frage gestellt werden. Jeder Fortschritt stellt konsequent auch inFrage. [270] Aber eben dadurch wird die Chance greifbar, daß schließlich eineuniverselle, zusammengewachsene «Erkenntnis-Schrift» in der eigenen Biographieoffenbar, «lesbar» werden kann. Solche Experimente auf eigenen Freiheitswegen hat sichRudolf Steiner gewünscht.

Page 180: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

180

Unter den genannten Vorzeichen kann Nachfolge nur bedeuten: den eigenen Weg realmachen aus den Anregungen jener autoritätsfrei aufschließenden Macht, welche dieredliche, stufenweise entfaltete Darstellung eines Weges vermittelt, der für das eigeneZeitalter und die Zeitgenossen als «vor-bildlich» gelten kann. Das moderne VerhältnisRudolf Steiners gegenüber einer aktuellen Grunderfahrung des Geistes reifte ausangewandter Freiheit – und so setzt sie auch frei. Für jene aktualisierende Grundhaltungim Erkennen als einem schöpferischen Element gilt das Paradox: Je sicherer der diesesWerk studierende Begleiter auf den übermittelten Wegen frei bleibt – auch gegenüberder Persönlichkeit Rudolf Steiners selbst –, desto unmittelbarer wird dieser und seineganz individuelle Darstellung von innen her erreichbar sein.

Damit sei nichts gesagt gegen ein spontanes, gleichsam schicksalbestimmtesVerhältnis, etwa über die Brücke des realen Wahrheitsgefühls vermittelt, betroffenimmer wieder von unmittelbar zusprechender Nähe. Jedoch wird mehr und mehr die imfreien, mitschöpferischen Erkenntnisakt ergreifbare Wegqualität, der je fortwährend neuhervorbringende Ausgangspunkt entscheidend sein: Abgrund und Quell zugleich imindividuell bewußten Erkenntnisakt. Dies gilt überhaupt für die lebendige «Verwirk-lichung» von Rudolf Steiners Werk, insbesondere aber für eine weitere Entfaltung desZugangs zum Christentum. Aus dem Keim und Ausgangspunkt des schöpferisch mit sichselbst verständigten Bewußtseins – einem Denken, dem als Organ der Auffassung dieeigene Tätigkeit und die darin gegebene Erscheinung des Geistes selbst zur mehr undmehr durchdrungenen Gewißheit wird– entfaltet sich die Erfahrung des Christentums alsmystische Tatsache. «Mystisch» insofern, als im Selbstbewußtsein die individuelleTatseite jener Weltsache mitgeschaffen wird. Diese Wirklichkeit entsteht durch und fürden Menschen; sie ist nicht, wie irgendein gegebener Gegenstand.

Der Weg führt über die produktive Erkenntnisart Goethes. [271] Diese überwindetjede abstrakt, nur durch Schlußfolgerung zu konstatierende Jenseitigkeit. Der Weltgeistist offenbar in verwirklichender, «anschauender Urteilskraft» des Menschengeistes. InAbgrenzungen gegenüber dem einseitigen Empirismus (in der gegebenen Erfahrungerscheine die fertige Wirklichkeit) und gegenüber dem einseitigen Idealismus (in derhervorgebrachten Idee erscheine das dem Menschen übergeordnete fertige Weltwesen)verdeutlicht die angedeutete Grundposition einen konsequenten Erkenntnis-Individualismus. Er steht der Konsequenz aller Offenbarungsformen gegenüber, welchedie Selbstverantwortung aufheben – so z. B. im historischen Kirchen-Christentum, wieauch in den gegenwärtig verstaatlichten Polit-Ideologien. In der ZeitgenossenschaftRudolf Steiners machen die Biographien von Stirner und Nietzsche zeichenhaft jeneGrenzerfahrung sichtbar, in die das Experiment des individuellen Bewußtseinseinmündet. Rudolf Steiner durchmißt auf seinem Weg konsequent diese Dimension desNihilismus: «Es wird für jeden, der zur höheren Erkenntnis kommen will, einmalWirklichkeit. Er langt da an, wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt ... Ervollzieht die Hadesfahrt. Wohl ihm; wenn er nicht versinkt; wenn sich vor ihm eine neueWelt auftut. Er schwindet dahin, oder er steht als Verwandelter neu vor sich». (33)

Page 181: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

181

Dem Begleiter des Weges, den Rudolf Steiner auf das Christentum zu nimmt,erschließt sich die gegenseitige Verwebung von biographischen Schritten mitBewußtseins-Schritten. Ihre Steigerung führt in die miterlebte göttliche Natur desErkenntniswesens als Weltwesen: «offenbar» in Geist-Geburt, Tod und Wiedergeburtdurch den Geist. Jeder kann nur selbst verwirklichen, daß sich ihm aus der Tätigkeit deseigenen Geistes (im Gang durch den Hades schöpferischer Selbst-Verdichtung und ihrerschließlichen, möglichen Entäußerung zur Welt) die Erscheinung des Geistes entbindet.[272]

In der Grundschrift «Die Philosophie der Freiheit» (31) findet sich im 2. Kapitel diepaulinische Wendung, in der sich schon der christologische Schritt durch das Geheimnisder Selbsterkenntnis als ursprüngliche Form der geistigen Welterkenntnis ankündigt:«Wir wollen ... hinuntersteigen in die Tiefen unseres eigenen Wesens, um da jeneElemente zu finden, die wir hinübergerettet haben bei unserer Flucht aus der Natur.» DieEntwicklung führt aus der geistig offenliegenden Natur heraus, die als gegenständlicheErfahrung verbleibt; sie führt in das selbstbewußte Ich hinein. Im Ich, als in den Tiefenunseres Wesens, können wir dem geistigen Beweggrund der Natur in der Form unsereseigenen Denkschaffens begegnen. Dieser Keim wird im Bewußtsein die Wiedergeburt indie Geistigkeit der Natur heraufführen können. Schon im Frühwerk kann die wirkendeNähe der christologischen Fundamentalerfahrung geahnt, gespürt werden: daß dieInkarnation des Weltgeistes im Ich die Grundlage dafür darstellt, daß dieses sich selbstaus der Verdichtung wiederum frei entäußern kann. Das Ich wird zum Mitgestalter anden künftigen Schicksalen im Weltgeschehen.

Diese Schritte führen auch zur Steigerung begrifflich-ideeller Ausdrucksformen ineine mehr und mehr bildhafte Sprechweise. Es bildet sich die Sprache der Bilder ebensokonsequent heraus wie eine sich unterwegs stetig steigernde Wissenschaftsart. Die Bildersind nicht hinzuerfundene Metaphern. Mit ihnen erschließen sich dem bildkräftigwerdenden Denken (als Organ der Auffassung) die entsprechend verwirklichtenAusdrucksarten der Mysterien des Altertums, die Urkunden der Evangelien. Sie werdenim mitschöpferischen Bewußtsein gegenwärtig, d. h. mystische Tatsache. Als zeitlose –in Ewigkeit geboren – steht diese im geschichtlichen Prozeß jeder Epoche; imerkennenden Bewußtseinsvollzug: dessen Grundlage und Inbegriff zugleich. «Durch dasInnere erlebt der Mensch den Christus. Daß er aber die Seele intim über sich selbsthinaussteigern kann, rührt davon her, daß die geistige Sonne, das Mysterium vonGolgatha, in die Weltgeschichte eingetreten ist» (Vgl. S. 37).

Diese Grunderfahrung spricht sich im frühen Werk hinsichtlich des Denk-Wesensschon keimhaft aus. Die Hadesfahrt in den Nihilismus (in der Ausprägung von Stirnerund Nietzsche) durchschreitet mit philosophierender Redlichkeit die Keimnatur desgewöhnlichen Ich. [273] Das in dieser Keimnatur aufquellende Denken leitet dieErfahrung aus der Krise heraus in die Sphäre des universalen Ich. Die in derSelbstbetrachtung des Denkens offenbare Tatsache eröffnet wiederum einebiographische Konsequenz.

Page 182: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

182

In der Lebenskrise, die der skizzierte Durchgang bedeuten muß, kann Christus – durchdie persönliche Ohnmacht hindurch – in der Welt geschaut werden, sofern im Fortgangder Biographie das Denken durch Meditation verstärkt wird. Bei der Erforschung derTiefen unseres Wesens kommen wir an einen Punkt, «wo wir uns sagen können: Hiersind wir nicht mehr bloß <Ich>, hier liegt etwas, was mehr als <Ich> ist ... Ich darfniemals sagen, daß mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr von desDenkens Gnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich über mein Selbsthinausführt und mit den Objekten verbindet.» (45) Das Denken ist eine Tatsache: «BeimDenken hört alles Beweisen auf. Denn der Beweis setzt bereits das Denken voraus.» (46)Faßt man diese Elemente zusammen, so wird deutlich, wie im Denkerleben als einemOrgan der Auffassung der Mensch «mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchstenPotenz eins (wird). Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahreKommunion des Menschen.» 47 Diese Formulierung läßt, hinschauend auf das Wesender erlebend erreichten Tat-Sache, die christologische Qualität anklingen – im Sinne desabgewandelten Paulus-Wortes: Nicht ich, sondern die Wahrheitswelt in mir.

Der Weg der Initiation

Die nur zurückhaltend anzudeutende Initiations-Perspektive im Lebensgang RudolfSteiners – soweit er selbst darüber sprach – kann noch eine andere Dimension seinesZugangs zum Christentum aufschließen.

Jeder Schritt in der Biographie Rudolf Steiners sollte als Element einerschicksalbestimmten Initiation angeschaut werden. [274] Unter diesem Gesichtspunkt gibtdas Buch «Mein Lebensgang» (48) intime Auskünfte über seelisch-soziale und geistigeStufengänge. Setzt man dies voraus, so kann man insbesondere auf den Umkreis desJahres 1896 hinblicken. In dieser Zeit in Berlin – bis hin zur Jahrhundertwende – ereignetesich ein tiefer Einschnitt, ein Umschwung in seinem Verhältnis zur gegebenen Außenwelt,zur Sozietät, vor allem für sein Verhältnis zur Erfahrung des Geistes. Rudolf Steiner gehtüber die Schwelle des 36. Lebensjahres. In jedem Menschen prägt der Reichtum aus derVorwelt der Geburt von innen her den Kosmos seiner Begabungen. Dieser Zustrom klingtzur Lebensmitte hin aus. In der Lebensmitte findet eine tiefgreifende Selbstbegegnungstatt. In dieser verschlingen sich Tod und Wiedergeburt mit je individuell verschiedenerIntensität. Rudolf Steiner deutet – im Maßstab seiner Biographie – die innere Wucht einerschicksalsschweren Prüfungsepoche in der Lebensmitte an. Sein Selbst gewinnt ein vonGrund auf verwandeltes Verhältnis zur Welt. Prägt die Vergangenheit von innen herBegabungen, so lebt Zukunft auf durch Anfänge (initio: anfangen, einweihen). DiePrägungen des Lebensgefüges erwachen an und aus der Umwelt. Begabungen stehen –über die Selbstbegegnung in der Lebensmitte hinweg – Motiven gegenüber. In letzterensind die schicksalsbildenden Konsequenzen veranlagt, die das Leben nach dem Todeausgestalten.

Page 183: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

183

Rudolf Steiner beschreibt im «Lebensgang» (22. Kapitel) den erwähnten Einschnittund Umschwung: daß er sich bewußt in die Mächte des Weltumkreises versenkt. DiePrüfungssituation erwacht dadurch, daß das Ich mit dem Strom der Aufmerksamkeithinausgeht und untertaucht in jene Weltumkreis-Mächte – besonders imErkenntniserleben. Dies aber reicht hinein in die Gestaltung der Schicksals-Erfahrung amSozialumkreis. Vor jener gesetzhaft erfahrenen Beschlossenheit des Weltumkreises, derEndzustände, erwacht die Frage: Ist wahr, daß der Mensch sich als Glied imschweigenden All-Gesetz erleben muß? Daraus die Frage: Kann er sich gleichwohl alsUnterbrecher identifizieren, als ein Freier im vollendeten All, indem er sich selbst in dasSchweigen hinein ausspricht; indem er als «Anfänger» Initiation begründet? [275] Diefolgenden Bemerkungen versuchen, sehr komplexe innere Erfahrungszusammenhängeverkürzt anzudeuten. Der erwähnte Umschwung beinhaltet für Rudolf Steiner, daß sichnunmehr Geistanschauung und Sinneserfahrung voneinander gesondert offenbarten.Vorher durchdrang die mitgebrachte Begabung, Geistiges bildhaft (und in Ideenform) zuschauen, alle sinnlichen Gegebenheiten. Jetzt treten beide Elemente unvermischt inErscheinung. Im 36. Jahr seines Lebens fand er sich mit voller Wucht dem Erlebendieses Gegensatzes ausgesetzt: Ist der Mensch ein Abbild der geschaffenen Welt – oderergreift er sich als Mitschöpfer einer schaffenden Weltwirklichkeit? Was in dieser Artverkürzt nur abstrakt ausgesagt werden kann, wird zum Inhalt schwerer innererKonflikte; einer umfassenden Seelenprüfung. Deren Entfaltung gipfelt in einerBeschreibung, die im «Lebensgang» (Kapitel 26) aufgezeichnet ist. GegenwärtigeGeisterkenntnis muß von der naturwissenschaftlichen Bewußtseinsart ausgehen. Siewirkt sich für jeden Zeitgenossen aus. Doch in einer Seele wie der Rudolf Steiners zeitigtsie eine bestimmte, ungewöhnliche Konsequenz:

«Für den, der die Geist-Welt erlebt, bedeutet sie (die naturwissenschaftlicheGedankenart) etwas wesentlich anderes. Er wird in die Nähe von Wesen in der Geist-Welt gebracht, die eine solche Denkrichtung zur allein herrschenden machen wollen. Daist Einseitigkeit in der Erkenntnis nicht bloß der Anlaß zu abstrakter Verirrung; da istgeist-lebendiger Verkehr mit Wesen, was in der Menschenwelt Irrtum ist. Vonahrimanischen Wesenheiten habe ich später gesprochen, wenn ich in diese Richtungweisen wollte. Für sie ist absolute Wahrheit, daß die Welt Maschine sein müsse. Sieleben in einer Welt, die an die sinnenfällige unmittelbar angrenzt. ... Um so bewußterwar auch mein innerer Kampf gegen die dämonischen Mächte, die nicht aus derNaturerkenntnis Geist-Anschauung, sondern mechanistisch-materialistische Denkartwerden lassen wollten.

Der nach geistiger Erkenntnis Suchende muß diese Welten erleben; bei ihm genügtnicht ein bloßes theoretisches Denken darüber. [276] Ich mußte mir damals meineGeistanschauung in inneren Stürmen retten.»

In der erkenntnissuchenden Hingabe an jene schweigende, «maschinenhafte»Offenbarung der All-Gesetzmäßigkeit, erlebt als wesenhafte Wahrheit, könnte dasEigenwollen erlöschen. Es verliert sich in Endzuständen. Jener oben so bezeichnete«Anfänger» aber fügt sich als Unterbrecher in einen ehern kausalen Zusammenhang ein.

Page 184: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

184

Er richtet sich vom Weltenwillen her im Selbst auf. Außen und innen sind für seinBewußtsein keine feindlichen Gewalten, sobald er jene Endzustände besonnen«durchlebt». Aus dieser ichhaften Aufrichtung angesichts der Wucht des offenbarenTodes: einer nicht nur gedanklich vorgestellten Welt Ahrimans, sondern deren Gültigkeitin voller, spirituell gegründeter Erfahrung, vertiefte sich für Rudolf Steiner dieNotwendigkeit der Meditation. Sie begründet individuelle Freiheit innerhalb derGesetzmäßigkeit des Kosmos: «In einer solchen, aus innerer geistigerLebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt sich immer mehr das Bewußtseinvon einem <inneren geistigen Menschen>, der in völliger Loslösung von dem physischenOrganismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. Dieser in sichselbständige geistige Mensch trat in meine Erfahrung unter dem Einfluß der Meditation»(Lebensgang, Kapitel 22). Der Mensch ist nicht Glied eines abgeschlossenen,schweigenden All-Gesetzes. Er ist Anfänger, indem er initiativ diese Gestalt des Kosmosunterbricht, um sich selbst zu setzen. Dieser Anfang begründete seit uralter Zeit dieInitiation in den Mysterien, die das Bewußtsein unter den jeweils epochalenBedingungen in das Weltwesen eintauchen läßt, ohne daß der Mensch sich selbstverliert.

Die Aufgabe der vorbereitenden Schulung in den Mysterien – und dies ist heuteebenso gültig – bestand darin, eine Umstülpung der Interessensphären in ausschließlichinneren Vorgängen (also ohne Drogen oder andere Hilfsmittel) derart durchzuführen, daßeine Unabhängigkeit von der Macht der Außenwelt, wie sie der physische Leib durch dieSinne vermittelt, erreicht wird. [277] In einem Vortrag (49) schildert Rudolf Steinerausführlicher den im Lebensgang nur andeutend erwähnten Vorgang: daß ein zweiterMensch als Frucht der Meditation aus dem gewöhnlicherweise gegebenen Menschen wieherausgehoben erfahren wird. Er schildert z. T. in Bildbegriffen, die aufInitiationsvorgänge in Mysterienzusammenhängen überhaupt hinweisen.

Meditation bedeutet, daß für kurze Zeit die äußere Sinneswelt absolut gleichgültigwird; daß alle Interessenskräfte diese Fesselung ablegen. Dadurch erobert der Menschdie Erfahrung einer ihm möglichen, zweifach offenbaren seelischen Natur. Denn erbleibt frisch in seinem Erleben an der Umwelt – befreit aber davon jene zweiteInteressensphäre, die ihn von der Erde abhebt in höhere Welten; die ihn für Eindrückevon der anderen Seite der Natur ausbildet. Was wir in Freiheitsaugenblicken derMeditation vom Interesse an der Außenwelt «abtöten», lebt in höherem Maße in derselbstgestalteten Innenwelt auf. «Es gibt ein völlig anderes Leben ... in der geistigenWelt; eine Auferstehung in der geistigen Welt, ein Hinausschreiten über das, was mansonst das Leben nennt, ... so daß nicht der Tod eintritt, sondern ein höheres Lebenresultiert.» – Der Ätherleib ist gewöhnlicherweise aus den Bildekräften des Leibes vonunten herauf «in Form» gebracht und gehalten. Nunmehr wird dem Ätherleib eine Formvermittelt, die zuvor durch Meditation und Konzentration dem Astralleib eingeprägtwurde. Diese Umwandlung nannte und nennt man Läuterung: Der Astralleib wirdgereinigt von der Macht der Außenwelt und fügt sich inneren, selbstgestalteten Kräften.

Page 185: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

185

Gelingt es dem Astralleib, seine neu gewonnene Geistgestalt dem Ätherleib einzuprägen,so entsteht eine Organfähigkeit, eine Art hellseherischer «Sinn» für die geistige Welt.Deren Offenbarwerden in diesem «Sinn» nannte und nennt man Erleuchtung.

Die erwähnte, frei geschaffene «zweite Persönlichkeit» ist normalerweise unerkannt,weil sie – bildhaft gesprochen – im physischen Leibe steckt wie das Schwert in seinerScheide: als wäre es mit der hüllenden Scheide vollständig, untrennbar verschmolzen.Die genannte Läuterungs-Übung durchbricht schöpferisch das bannende Einssein underschafft innere Beweglichkeit, welche die Haut des physischen Leibes mit «geistigenFühlhörnern» in die Welt hinaus durchdringt. [278] Tritt die so beschriebene Erfahrungein, so zieht man die «zweite Persönlichkeit» – bildhaft gesprochen – wie ein Schwertaus der Scheide und erlebt als erste Erfahrung vor dem Hintergrund der geistigen Weltsich selbst als nächstes der Geistwesen. Nicht nur in formal-begrifflicher Art, sondernmit großer moralischer Resonanz tritt man sich selbst entgegen wie einem Doppelgänger:Damit beginnt die Erleuchtung. Immerhin verläßt der Mensch auf diesem Übungswegeden von Göttern errichteten Tempel seines physischen Leibeslebens, durch den erwährend des Tages normalerweise der Götterschöpfung seiner Umwelt hingegeben ist.Verläßt er diese Sphäre, so geht er durch einen mystischen Tod. Was sind wir wirklich,wenn wir – außerhalb jenes Tempels und seiner Welt – uns selbst gegenüberstehen? Wirschauen uns nicht als Glied einer göttlichen Tempel-Schöpfung, sondern in dem, was wiraus uns selbst gemacht haben, fortschreitend von Leben zu Leben, jetzt ohne Korrektur.Der Mensch gewahrt sich als Doppelgänger, d. h. als Inbegriff eines Wesens, gefügt ausallen Unvollkommenheiten, die er selbst auf sein Karma geladen hat. Dieses Wesenmacht sichtbar alle Neigungen und Leidenschaften, die aus dem verblieben, was wir imfrüheren Erdenleben gewesen sind. Der Doppelgänger wird zugleich gegenwärtig als«Hüter der Schwelle», der die Vergangenheiten versammelt – auch, um sie durch dieGegenwart für die Zukunft freimachen zu können. Sie wird entbunden, wenn der Menschdie Kraft aufbringt, im schöpferischen Eigenwillen gegen ein Allmaschinenhaftes, gegenein Beschlossenes von Gestern sich geduldig aufzurichten in eben den stiftenden Willen:alles Unvollkommene zu lieben und verbleibende Daseinsreste in der Zukunft fruchtbarauszugleichen. jeder Strebende erfaßt sich selbst tief unterhalb der Vollkommenheit derGötterschöpfung. Doch in diesem doppelgängerhaften Ansatz zur Erleuchtung schwebtihm die Vollkommenheit einer aufsteigenden Menschenschöpfung vor. Den «Hüter derSchwelle», der real existiert, sehen wir ohne Erleuchtung nicht, weil der Mensch sichselbst nicht wirklich gegenübersteht in jenem inneren Umschwung des Lebens, der sichin der Lebensmitte eröffnen kann. [279] Der «Hüter der Schwelle» behütet nicht etwa diegeistige Welt vor uns, sondern er behütet uns vor dem unvermittelten, direkt treffendenEindruck unserer eigenen Wirklichkeit.

Die Kraft des Paulus, sich aufzurichten mitten im Niederbruch seiner Erfahrung vorDamaskus, erschuf die weltweite Gelassenheit, den todüberwindenden Mut, welche diesePersönlichkeit fortan auszeichnen, deren geistige Lebenskraft und christliche Intensitätnicht mehr nur ein Volk, eine spezifische Religion, sondern die Menschheit umfaßte.

Page 186: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

186

Es geht darum, «daß wir insbesondere die aktiven, die positiven Eigenschaften unsererSeele stark ... machen; daß wir unseren Mut, unser Freiheitsgefühl, unsere Liebe, unsereEnergie des Denkens, ... des klarsichtigen Intellekts so steigern, ... daß wir nicht alsschwache, sondern als starke Menschen heraustreten aus unserem physischen Leben.»(49)

Die Meditation «versöhnt» unter den erwähnten Bedingungen Innen und Außen. Siestellt den Tod frei her; sie entfaltet Leben im leibfreien Bewußtsein. Der «zweiteMensch» Rudolf Steiners gewann die volle Sicherheit, auf eigenem Geist-Grund zustehen gegenüber der Wucht jener Wahrheit Ahrimans, daß das Weltall Maschine sei.Der «zweite Mensch» stellte ihn wie in den Vorgang des Atmens, der zweierlei Gnadenverknüpft – die Gabe aus der Sinneswelt und die aus der Geistwelt. Immer neu wird imGleichgewicht mit Gegebenem der Anfang gesetzt, aus dem der selbstgeschaffeneBeweggrund für das Geist-Ziel hervorgeht. Die Weltziel-Gestalt hatte Rudolf Steiner imChristentum als mystische Tatsache «erfahren». Diese Erfahrungs-Wanderschaft nahmihren Anfang in der von ihm beschriebenen «Hadesfahrt» des Nihilismus, da auf denWegen der inneren Biographie die Episode Stirner-Nietzsche auftauchte. Sie steigerte dieKraft der eigenen Individualität in ihre radikale Phase, gegen die Lebensmitte hin.Rudolf Steiner stellte sich der ahrimanischen Weltoffenbarung, der Wirklichkeit desbeschlossenen Kosmos als All-Maschine. Doch erwachte daraus in seiner Seele – gegendas Jahrhundertende hin – die eigenständige Erfahrungs-Gestalt des Christentums. [280]Er verdankte sie der freien Ich-Aufrichtung im gegenständlich erlebten Welt-Umkreis.«In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechendenAussprüche über das Christentum (in seiner kirchlich-konfessionellenErscheinungsform) tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann, keimhaftvor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende desJahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende standdie geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor demMysterium von Golgatha in innerster, ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meinerSeelen-Entwicklung an.» (Lebensgang, Kap. 26).

Ebenso wie auf dem Wege zur Erschließung der spirituellen Dimension des Ich-Erlebens im freien Erkenntnisakt, der zu einer paulinisch-christlichen Grunderfahrungleitete, ist die Aneignung des Christentums als Welttatsache durch den Initiationsimpulsin Rudolf Steiner wirklich geworden. Diese Initiation bedeutet die freie Individuationeines Zeitgenossen in den Gesamtumkreis des esoterischen Christentums. BeideErlebnisgestaltungen führten den Urteils-Schritt seines Erkennens durch Tod undWiedergeburt. Er bezeichnet zugleich die Art des Schrittes, durch den Anthroposophieeinen freien Weg zum Christusverständnis für jeden Zeitgenossen eröffnet. [281]

Page 187: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

187

Anmerkungen

1 Die erwähnten Vorträge wurden am 4. und 18. Januar 1912 in Berlin gehalten undsind in dem Band «Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung» (GA 61,Dornach 1983) enthalten.

2 Adolf Harnack: «Das Wesen des Christentums», sechzehn Vorlesungen an derUniversität Berlin, Leipzig 1910.

3 William Benjamin Smith: «Der vorchristliche Jesus. Vorstudien zurEntstehungsgeschichte des Urchristentums». Jena 1911. «Ecce Deus. Die urchristlicheLehre des reingöttlichen Jesu». Jena 1911. «Ist <der vorchristliche Jesus> widerlegt?Eine Auseinandersetzung mit Weinel.» In Arthur Drews «Die Christusmythe», Teil 2.,Jena 1911.

4 Leopold von Ranke: 1795–1886

5 in einem Vortrage: gehalten am 20. Oktober 1910 in Berlin. Enthalten in dem Band«Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins» (GA 6o,Dornach–1983).

6 Goethe: «Entwurf einer Farbenlehre, Einleitung».

7 Goethesche Ausspruch: «Die Geheimnisse, ein Fragment».

8 «Wir haben unsere Hände in seine Wunde gelegt ... »: Wörtlich «Das da von Anfangwar, ..., das wir gesehen haben mit unseren Augen, das ... unsere Hände betastet haben...» Erster Brief Johannes 1,1.

9 «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» (1. Auflage1907; Einzelausgabe aus GA 34, Dornach 1985).

10 «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» (1. Auflage 1911; GA15, Dornach 1974).

11 wie Paulus besonders betont: Phil. 2,8.

12 «Lieber ein Bettler... » Homer, Odyssee, XI. Gesang 489–91

13 daß Pythagoras ... der trojanische Held war, der im Homer entsprechend angeführtwird: Euphorbos, Sohn des Panthoos, der von Menelaos getötet wird. Siehe den XVI.und XVII. Gesang von Homers «Ilias».

Page 188: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

188

14 Friedrich Nietzsche, 1844–1900. Über Sklaverei vgl. z.B. «Die Wiederkunft desGleichen». Drittes Buch: Die Einverleibung des Wissens. Leidenschaft der Erkenntnis.

15 Ausspruch des Evangeliums: Matthäus 25, 40.

16 Hier bezieht sich Rudolf Steiner auf den Vortrag vom 2. Mai 1919 in Berlin(enthalten in GA 133, Dornach 1964).

17 Über die Entwicklungsmomente von Erde und Menschheit orientiert Rudolf Steinerin seiner «Geheimwissenschaft i m Umriß» (1. Auflage 1910; GA 13, Dornach 1977).

18 «Was Du gesäht hast ...» Gal. 6, 7.

19 Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung(1. Auflage 1904; GA 9, Dornach 1978).

20 Zurückgebliebene Wesen aus der Hierarchie der Archai (Geister derPersönlichkeit). Sie verleiten zum Egoismus und tragen in negativer Bedeutung denNamen, der ursprünglich die ganze Hierarchie umfaßte.

21 «In Schmerzen sollst Du ... » 1. Mose 3, 16.

22 - 2. Mos. 3, 14:«Ich bin der Ich-bin».

23 «Ihr könnt erleuchtet werden ...» Lukas 12, 12, Joh. 14. 26, 15, 26.

24 Joh. 16, 13.

25 Bezeichnet in der «Welt der Vorsehung» den Zusammenklang der zwölfInspiratoren der Menschheit. Der Dreizehnte – Christus – strömt ihnen sonnenhaft dieWeisheit zu. Vgl. Vortrag vom 21. September 1909 in dem Zyklus «Das Lukasevan-gelium» (GA 114, Dornach 1985).

26 Meister Eckhart hat ... das schöne Wort gesprochen: Wörtlich: «Wenn ich einKönig wäre und wüßte es selber nicht, so wäre ich nicht König.» Zitiert nach MeisterEckeharts Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und her-ausgegeben von Herman Büttner, 1. Band, Jena 1923, S. 135.

27 Der eingeklammerte Satz wurde vom Bearbeiter eingefügt.

Page 189: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

189

28 So sagt Paulus: Gal. 2, 20.

29 daß der Christus bei uns ist alle Tage: Matth. 28, 20.

30 daß der Christus auch gesagt hat: Joh. 16, 12.

31 Vgl. hierzu: Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einermodernen Weltanschauung (1. Auflage 1894; GA4, Dornach 1978), 9. Kapitel.

32 In dem Zyklus «Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. DasKarma des Materialismus (Gehalten in Berlin 1917; GA 176, Dornach 1982).

33 «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums» (1.Auflage 1902; GA 8, Dornach 1976).

34 «Was den Menschen ... » Paulus I. Kor. 2, 14/15 und 3, 19.

35 Vgl. Vortrag vom 14. April 1922, gehalten in London; GA 211, Dornach 1963.

36 Das Erlebnis von Damaskus: Vgl. Apostelgeschichte, Kap. 9.

37 Kinder, liebet euch!: I. Joh. 4.

38 Paulus–Zitate: Freie Wiedergaben von Rudolf Steiner.

39 David Friedrich Strauß, 1808–1874, protestantischer Theologe.

über Reimarus: «H. S. Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen VerehrerGottes» (Band V der Gesammelten Schriften).

40 Johannes-Evangelium, Kap. 20,1–17: Zitiert nach Carl Weizsäcker: Das NeueTestament, Tübingen 1904 (9. Auflage der Originalausgabe).

41 Paulus-Zitat: 1. Kor., 15, 45

42 daß die in meinem Mysteriendrama «Die Prüfung der Seele» gebrauchte Wendungvon dem nur einmaligen Vorhandensein des Christus in einem fleischlichen Leibe ganzwörtlich und Ernst genommen werden muß «Die Prüfung der Seele», 8. Bild, Worte des2. Zeremonienmeisters:

Page 190: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

190

«Wir wissen aus der Meister Offenbarung,

Wie künftig Menschen durch das Geisteslicht

Das hohe Sonnenwesen schauen werden,

Das einmal nur im Erdenleibe wohnte.»

(Enthalten in GA 14, Dornach 1981, 1. Auflage 1911)

43 meine Münchner Vorträge «Weltenwunder, Seelenprüfungen undGeistesoffenbarungen»: Ein Zyklus von zehn Vorträgen, München 1911; GA 129,Dornach 196o.

44 Vgl. das diese Frage erhellende Buch von Christoph Lindenberg: Individualismusund offenbare Religion; Stuttgart 1970

45 «Philosophie der Freiheit», a. a. O. 3. und 5. Kapitel.

46 Rudolf Steiner: Wahrheit und Wissenschaft, 5. Kapitel (I. Auflage 1892; GA 3,Dornach 198o).

47 Rudolf Steiner: Goethes naturwissenschaftliche Schriften, Kapitel «GoethesErkenntnisart» (1. Auflage 1887; GA 1, Dornach 1973).

48 GA 28, Dornach 1982, 1. Auflage 1925

49 München, 24. August 1909, in: Der Orient im Lichte des Okzidents; GA 113,Dornach 1982.

Page 191: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

191

Quellennachweis

Vorträge nach der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe (GA), erschienen im Rudolf Steiner-Verlag, Dornach /Schweiz.

Christus und das 20. Jahrhundert. Berlin, 25. Januar 1912; in: Menschengeschichte imLichte der Geistesforschung (GA 61).

Das Christentum hat begonnen als Religion, aber es ist größer als alle Religionen.Berlin, 13. Mai 1908; in: Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen (GA102).

Drei Wege der Seele zu Christus: Der Weg durch die Evangelien – Der Weg derinneren Erfahrung (I). Stockholm, 16. April 1912; in: Erfahrungen des Übersinnlichen.Die Wege der Seele zu Christus (GA 143).

Drei Wege der Seele zu Christus: Der Weg der Initiation (II). Stockholm, 17. April1912; in: Erfahrungen des Übersinnlichen. Die Wege der Seele zu Christus (GA 143).

Staunen, Mitgefühl und Gewissen. Das Bleibende des Christus-Impulses. Berlin, 14.Mai 1912; in: Der irdische und der kosmische Mensch (GA 133).

Die Christus-Tat und die widerstrebenden Mächte Luzifer, Ahriman, Asuras. Berlin,22. März 19o9; in: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (GA 107).

Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman. Dornach, 1.November 1919; in:Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (GA 191).

Erbsünde und Gnade. München, 3. Mai 1911; in: Die Mission der neuenGeistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen derErdenevolution (GA 127).

Christus zur Zeit des Mysteriums von Golgatha und Christus im 20. Jahrhundert.London, 2. Mai 1913; in: Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (GA 152).

Page 192: RUDOLF  STEINER - TTB 14 - CHRISTOLOGIE

Rudolf Steiner Thementaschenbuch TTB-14 – Christologie

192

Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie. London, 15. April 1922; in: DasSonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches undesoterisches Christentum (GA 211).

Zur Kernfrage des Christentums: Die Auferstehung (I). Karlsruhe, 10. Oktober 1911;in: Von Jesus zu Christus (GA 131).

Der auferstandene Leib des Christus (II). Karlsruhe, 11. Oktober 1911; in: Von Jesuszu Christus (GA 131).