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Schöne neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels am Beispiel der Firma EDEKA

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Schöne neue Handelswelt!?

Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels am Beispiel der Firma EDEKA

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Seite 2

Impressum: V.i.S.d.P. ver.di Bundesverwaltung Stefanie Nutzenberger Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin Redaktion und Layout: Hubert Thiermeyer Renate Steiner-Fürk ver.di Landesfachbereich Handel Bayern Druck: Druckwerk München

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INHALTSVERZEICHNIS: 1. UNSERE AUTOREN ........................................................................................................................... 4 2. VORWORT UND EINLEITUNG ............................................................................................................. 6 3. PRAKTISCHE ERFAHRUNGEN IM TÄGLICHEN UMGANG MIT „PRIVATISIERUNGEN“ IM EINZELHANDEL (MANFRED WAGES) ............................................................................................................................. 7 4. „PRIVATISIERUNGEN“ BEIM LEBENSMITTELRIESEN EDEKA – EINE KRITISCHE BESTANDSAUFNAHME) (BERT WARICH) ................................................................................................................................. 10 5. VERTRAUEN IST GUT – VERTRAG IST BESSER (BÄRBEL THAMHAYN, KATHARINA WESENICK) ..................................................................................... 28 6. RECHTLOS NACH DER PRIVATISIERUNG (SABINE BUSCH) ................................................................................................................................ 36 7. TRAURIGE WIRKLICHKEIT (URSULA BAUER) ............................................................................................................................... 37 8. E-CENTER UND E-CENTER – ZWEI WELTEN (HEINZ HENNING) .............................................................................................................................. 39 9. GERADE NOCH MAL GUT GEGANGEN (REINHARDT SEMMLER ) .................................................................................................................... 40 10. WESENTLICHE RECHTLICHE FRAGEN IM ZUSAMMENHANG MIT „PRIVATISIERUNG“ (AGNES GROßE-KOCK, RAINER KUSCHEWSKI) .................................................................................... 41 11. AUSBLICK (STEFANIE NUTZENBERGER) .............................................................................................................. 51

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1) Unsere Autoren

 

Sabine Busch Gewerkschaftssekretärin im ver.di Bezirk Linker Niederrhein

Heinz Henning Gewerkschaftssekretär im Bezirk  Herford‐Minden‐Lippe 

Rainer Kuschewski ver.di Bundesverwaltung  

Stefanie Nutzenberger ver.di Bundesverwaltung  

Agnes Große‐Kock ehemals Gewerkschaftssekretärin beim Hauptvorstand der Gewerkschaft hbv ‐ Abt. Arbeits‐ und Sozialrecht, Rechtsanwältin in Köln, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Fachanwältin für Sozialrecht; sie nimmt ausschließlich die Rechtsinteressen von Arbeitnehmern/innen und Arbeitnehmervertretungen wahr.

Monika Linsmeier Gewerkschaftssekretärin Fachbereich Handel  ver.di Bezirk Niederbayern  

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Reinhardt Semmler Gewerkschaftssekretär im ver.di Bezirk Ingolstadt 

 

Manfred Wages Gewerkschaftssekretär im ver.di Bezirk Mittelfranken

Katharina Wesenick Gewerkschaftssekretärin im ver.di Bezirk Göttingen

Bärbel Thamhayn aktiv in der ver.di Fachgruppe Einzelhandel Südost‐Niedersachsen,  BR‐Vorsitzende E‐Center Bad Gandersheim

Dr. Bert Warich WABE‐Institut Berlin 

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2) Vorwort und Einleitung

Schöne neue Handelswelt!? Der Einzelhandel ist mit seinen über drei Millionen Beschäftigten eine der größten Branchen in Deutschland. Diese Beschäftigten leisten mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag dazu, dass die Warenversorgung der Menschen hier im Land tagtäglich funktioniert. Hierbei sind sie einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt, da die großen Konzerne im Handel versuchen, durch immer mehr Verkaufsflächen, Preiskriege und immer längeren Öffnungszeiten, dem Mittbewerber Umsatz und Kunden abzujagen. Die Zeche zahlen die Beschäftigten aber auch die Lieferanten hier und anderswo, die klein- und mittelständischen Unternehmen und letztendlich auch die Kunden. In diesem Verdrängungswettbewerb werden bei den Beschäftigten nicht nur ständig die Personalkosten gedrückt, es werden auch Angriffe auf die InteressensvertreterInnen und die Tarifverträge als Mindestschutz attackiert. Zwei der größten Konzerne, Edeka und Rewe, tun sich in diesem Verdrängungswettbewerb auch durch ein Betriebsformat hervor, bei denen im Ergebnis nahezu keine Betriebsräte existieren und damit die betriebliche Interessensvertretung und Mitbestimmung nahezu ausgeschaltet ist und die Tarifbindung systematisch unterlaufen wird. Mit dem Ergebnis, dass ca. 250.000 Beschäftigte ohne tariflichen Schutz und ohne den Schutz von Betriebsräten direkt oder indirekt von Dumpinglöhnen betroffen sind. Dabei werden Filialen aus dem Schutz von Tarifverträgen und Betriebsräten ausgegliedert und in den sogenannten „privatisierten“ Einzelhandel überführt. Selbstständige Einzelhändler führen unter dem starken Einfluss der Konzerne ihre Filialen unter dem Namen der Konzerne „selbstständig“ weiter oder die Filialen werden direkt in diese Betreiberform gegründet. Vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern ist es aber nicht egal, unter welchen Bedingungen die Beschäftigten tagtäglich für sie arbeiten und für sie da sind. Die wenigsten Kundinnen und Kunden wissen aber um die Arbeitsbedingungen in diesen Filialen Bescheid. Deshalb wollen wir mit dieser Publikation über die Hintergründe dieser „Privatisierungen“ im Lebensmitteleinzelhandel aufklären. Dies wollen wir am Beispiel des größten Konzerns im Einzelhandel, nämlich Edeka, tun. Fachleute, die seit Jahren als WissenschaftlerInnen, RechtsexpertInnen oder PraktikerInnen mit diesem Betriebsformat zu tun haben, stehen Rede und Antwort. Wir haben auch Erfahrungen von Betroffenen an wenigen Beispielen zusammen getragen, um auch sie zu Wort kommen zu lassen. Unser Ziel ist, dass Menschen im Handel zu guten und gesunden Arbeitsbedingungen, mit fairen Gehältern unter dem Schutz von Tarifverträgen und Betriebsräten arbeiten können und dem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb klare Grenzen gesetzt werden, auch zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Menschen, die bei den Lieferanten und klein und mittelständischen Einzelhändlern arbeiten.

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3) Praktische Erfahrungen im täglichen Umgang mit „Privatisierungen“ im Einzelhandel

(von Manfred Wages) Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns in unserer gewerkschaftlichen Arbeit vor Ort nicht mit den negativen Auswirkungen der ständigen Umstrukturierungen im Lebensmitteleinzelhandel beschäftigten müssen. Dabei ist es uns bis dato mehr oder weniger häufig gelungen, mit Unterstützung der flächendeckend existierenden Betriebsratsgremien in den regiebetriebenen Filialen der Konzerne die vielen kleinen, aber auch größeren Probleme im betrieblichen Alltag klären zu können. Die Lösungsmöglichkeiten nach einem eingeleiteten ‚Privatisierungsprozess‘ (z.B. bei Edeka) bzw. nach der Umsetzung des ‚Partnerschaftsmodells‘ (z.B. bei REWE) werden hingegen immer komplizierter. Im Folgenden soll zunächst einmal geschildert werden, mit welchen Veränderungen die Beschäftigten und ihre Betriebsräte durch die Überführung von Regiemärkten in den selbständigen Einzelhandel konfrontiert werden. Darüber hinaus wollen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, in welcher ‚Entscheidungsfalle‘ sich die Arbeitnehmervertreter der bestehenden Aufsichtsräte befinden, wenn eine Abstimmung „Privatisierung JA oder NEIN?“ im Rahmen der Tagesordnung einer Aufsichtsratssitzung vorgesehen ist. Bei den Beschäftigten in den Lebensmittelfilialbetrieben geht im Zusammenhang mit einer bevorstehenden ‚Privatisierung‘ die Angst um, nämlich die Angst vor einer ungewissen beruflichen Zukunft und davor, ob die über die Jahre erworbenen Rechte aus dem Arbeitsverhältnis beim selbständigen Kaufmann nach der Übergabe des Marktes noch Bestand haben oder nicht. Und dieser nicht gerade hoffnungsvolle Blick in die berufliche Zukunft ist nach unserer Einschätzung vollkommen gerechtfertigt. Denn die durch eine Unzahl von Beratungsgesprächen gemachten Erfahrungen zeigen, dass der neue Arbeitgeber ohne viel Zeit verlieren zu wollen, alles daran setzt, die Personalkosten so schnell wie möglich ‚in den Griff‘ zu bekommen, d.h. sie zu senken. Immer wieder, so berichten uns die betroffenen Mitarbeiter, kommt es gerade in den ersten Tagen und Wochen nach der ‚Privatisierung‘ zu intensiven Gesprächen mit dem neuen Geschäftsinhaber. Dabei wird zum Einen suggeriert, dass man sich selbstverständlich an die gemachten Zusagen im Rahmen des Betriebsübergangs nach § 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) halten werde, zum Anderen aber komme man ‚leider‘ nicht umhin, über die eine oder andere Veränderung im Bezug auf das bestehende Arbeitsverhältnis sprechen zu müssen. Solche Gespräche finden überwiegend unter vier Augen statt, denn während im Regiebetrieb immer die Möglichkeit bestand, ein Betriebsratsmitglied hinzuzuziehen, fällt diese Chance beim ‚privatisierten‘ Einzelhändler meistens unter den Tisch. Daraus ergibt sich die Situation, dass die Beschäftigten unter einen enormen Druck geraten, wenn der neue ‚Chef‘ seine Pläne zur weiteren, zukünftigen Zusammenarbeit präsentiert. Und so sehen dann sehr häufig die wesentlichen Eckpunkte aus: Die Lage der Arbeitszeit soll (noch) flexibler gestaltet werden,

Die Dauer der Arbeitszeit (vor allem bei Vollzeitbeschäftigten) soll reduziert werden,

Geleistete Mehrarbeit (z.B. in Form von Vor- und Nacharbeit) gilt aus Sicht des Arbeitgebers als selbstverständlicher und unentgeltlicher Beitrag zum Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes. Eine entsprechende Vergütung fällt somit nicht an,

Durch die oftmals fehlende Tarifbindung soll sich die Höhe und die Zusammensetzung des Gehalts nach unten verändern und eine ordnungsgemäße Eingruppierung ist nicht mehr vorgesehen,

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Die Auszahlung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds basiert auf Freiwilligkeit, kann jederzeit widerrufen werden und fällt oft wesentlich niedriger aus,

Weitere tarifliche Leistungen wie z.B. Sonderfreistellungen, betriebliche Altersvorsorge, vermögenswirksame Leistungen, besondere Kündigungsschutzregelungen für ältere Beschäftigte etc. sollen ersatzlos gestrichen werden,

Last but not least soll sich der Beschäftigte so schnell wie möglich (am besten schon während des 4-Augen-Gesprächs) von seinem alten Arbeitsvertrag trennen und einen neuen Arbeitsvertrag mit den schriftlich fixierten veränderten Arbeitsbedingungen unterschreiben.

Die oben geschilderte Drucksituation führt in den meisten Fällen dazu, dass die übernommene Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer die neuen Konditionen zähneknirschend akzeptiert und den neuen Arbeitsvertrag unterschreibt. Selbst dann, wenn aus dem bis dahin unbefristeten (Vollzeit-) Arbeitsverhältnis ein prekäres Arbeitsverhältnis wird. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Tatsache, dass der neue Arbeitgeber durch seine Mitarbeit im Markt ständige Präsenz zeigt und somit die Möglichkeit hat, durch permanentes Nachhaken eine schnelle und für ihn gute Lösung herbeizuführen. Und ist erst einmal ein neuer Arbeitsvertrag unterschrieben, dann ist eine Geltendmachung von bis dahin gültigen Standards im Nachhinein (bis auf wenige Abweichungen) praktisch aussichtslos. Eine rechtliche Schutzmauer für die Beschäftigten bilden grundsätzlich die im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) verankerten Betriebsräte. Aber während wir in fast allen Regiebetrieben im Lebensmitteleinzelhandel gewählte Interessensvertretungen entweder auf Einzelfilialebene (§1 BetrVG) oder auf regionaler Ebene (§ 3 BetrVG) vorfinden, bilden sie in den ‚privatisierten‘ Märkten die absolute Ausnahme (zu welchen drastischen Maßnahmen die selbständigen Einzelhändler in der Lage sind zurückzugreifen, um Betriebsräte in ihren Märkten zu verhindern, wird an anderer Stelle dieser Broschüre an Hand eines Beispiels beschrieben). Deshalb ist es umso wichtiger, dass die auf regionaler Ebene gewählten Betriebsräte beim Betriebsübergang das vom Gesetzgeber im § 21a BetrVG vorgesehene Übergangsmandat wahrnehmen, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zumindest für einen überschaubaren Zeitraum (6 Monate) in die berufliche ‚Privatisierungs‘-Zukunft zu begleiten. Je häufiger ein Unternehmen entscheidet, einen Regiemarkt an einen ‚privaten‘ Kaufmann abzugeben, umso greifbarer sind die Probleme, die sich dadurch auch für die Betriebsräte ergeben. Das beginnt u.a. damit, die mitgeteilten Veränderungen aus der Konzernzentrale an die Betroffenen weiterzugeben und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sie über die rechtlichen Hintergründe zu informieren und ihnen eventuelle Alternativen aufzuzeigen. Die Betriebsräte haben zwar ein vom Gesetzgeber vorgesehenes Übergangsmandat; allerdings ist es nach der ‚Privatisierung‘ eines Marktes wesentlich schwerer, den Kontakt zu den Beschäftigten aufrecht zu erhalten, da sich z.B. sehr schnell Arbeits- und Einsatzzeiten verändern und somit die Betriebsräte nicht mehr einschätzen können, wann welcher Mitarbeiter in der Filiale anzutreffen ist oder nicht. Nahezu unmöglich erscheint es, in der oben beschriebenen Übergangsphase die Voraussetzungen zu schaffen, eigenständige Betriebsratsgremien und damit demokratische Strukturen im ‚selbständigen‘ Markt zu etablieren (durch die Entstehung von quasi ‚rechtsfreien‘ Räumen ist der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen Tür und Tor geöffnet). Und individualrechtlich müssen wir feststellen, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die z.T. schon viele Jahre in ‚ihrem‘ Markt arbeiten, der Übernahme nach § 613a BGB innerhalb der gesetzlichen Frist nur selten widersprechen. Aufsichtsräte haben im Rahmen ihrer Tätigkeit primär die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Interessen des beaufsichtigten Unternehmens durch die Arbeit der Vorstände und Geschäftsführungen gewahrt werden.

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Diese Aufgabe ist in der Praxis immer dann schwer wahrzunehmen und umzusetzen, wenn das paritätisch (oder drittelparitätisch) mitbestimmte Unternehmen Teil eines Konzerns ist. Denn dann wird nicht selten den ‚globalen‘ Zielen der Gesamtgruppe mehr Beachtung geschenkt als der satzungsmäßig verankerten Zielsetzung des einzelnen Unternehmens. Am Beispiel der ‚Privatisierung‘ ist das Spannungsfeld der Entscheidungen zwischen Konzern und Unternehmen für Aufsichtsratsmitglieder sehr gut ablesbar. Wenn dann auch noch hinzukommt, dass es personelle Überschneidungen in den Vorständen und Geschäftsführungen gibt (eine Reihe von Führungskräften bekleiden häufig mehrere Geschäftsführerpositionen und sind parallel dazu auch noch Mitglied im Vorstand), lässt sich erahnen, wie viel Druck erzeugbar ist, um das ‚richtige‘ Abstimmungsverhalten herbei führen zu wollen. Und dieses Abstimmungsverhalten ist – zumindest bei den Arbeitgebervertretern in den Aufsichtsräten - nicht immer identisch mit der eigentlichen und oben beschriebenen Aufgabenstellung, nämlich einzig und allein dem Unternehmensinteresse (und nicht dem Konzerninteresse) verpflichtet zu sein! Natürlich versuchen die verantwortlichen Manager, mit vielfältigen Argumentationen auch die Arbeitnehmervertreter davon zu überzeugen, bei der Abstimmung zur ‚Privatisierung‘ eines Marktes grünes Licht für die Maßnahme zu geben und mit ‚JA‘ zu stimmen. Dabei werden gebetsmühlenartig immer wieder folgende Punkte genannt: - Die Umsätze und Erträge der gesamten Gruppe könnten durch eine ‚Privatisierung‘ stabilisiert und gesteigert werden - Durch Umsatz- und Ertragssteigerung in den ‚privatisierten‘ Märkten könne die Nachfrage (und somit auch der Umsatz) im unternehmenseigenen Großhandel gestärkt werden - Junge Kaufleute sollten durch die Möglichkeit der ‚Privatisierung‘ noch stärker in die Gesamtgruppe integriert werden Welche Nachteile die ‚Privatisierung‘ für viele Beschäftigte bedeuten kann (s.o.) und welche Auswirkungen die Abgabe von Märkten in ‚private‘ Hände für das zuständige Regieunternehmen im Regelfall hat, wird bei den Argumenten der Geschäftsführung einfach ‚übersehen‘. Während es früher üblich war, abgegebene Verkaufsflächen durch geplante und gezielte Expansion zu kompensieren, bewirkt die heute praktizierte ‚Privatisierungsoffensive‘ nicht anderes als eine Verringerung des Umsatzvolumens und damit einhergehend eine Verringerung der Ertragskraft des jeweiligen Einzelhandelsunternehmens. Gleichzeitig gehen die meisten der neu ans Netz genommenen Filialen direkt in die Hände des selbständigen Händlers. Somit ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann ein so geführtes Regieunternehmen ganz von der Bildfläche verschwindet. Die gemachten Schilderungen lassen nur einen Schluss zu, nämlich das alle Mitglieder eines Aufsichtsrats im Falle von Beschlussfassungen über die ‚Privatisierung‘ ausschließlich mit ‚NEIN‘ stimmen dürfen, denn nur dann handeln sie in Übereinstimmung mit dem Unternehmensinteresse! Fazit: Durch die täglich in der gewerkschaftlichen Praxis und durch die Arbeit der Betriebsräte gemachten Erfahrungen mit der ‚Privatisierung‘ von regiebetriebenen Filialen zeigen immer häufiger auf, dass vorhandene demokratische Strukturen und Mitbestimmungsmöglichkeiten‚ über Nacht‘ verschwinden und das die Arbeitsbedingungen von vielen Beschäftigten nach der Übernahme durch den selbständigen Kaufmann nicht selten verschlechtert werden. Aus diesen Gründen muss die weitere Expansion der ‚Privatisierung‘ in den großen Lebensmittelkonzernen und –unternehmen nicht nur eingedämmt, sondern auch gestoppt werden.

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4) ‚Privatisierungen‘ beim Lebensmittelriesen EDEKA – eine kritische Bestandsaufnahme

(von Bert Warich)

Inhalt

0 KURZFASSUNG .......................................................................................................... 11 1 PROBLEMLAGE .......................................................................................................... 11 2 EDEKA-PRIVATISIERUNG ZWISCHEN WIRTSCHAFTLICHEN ZWÄNGEN UND GESELLSCHAFTLICHER REALITÄT ........................................................................ 12

2.1 DIE EDEKA-GRUPPE IM ÜBERBLICK ................................................................... 12

2.2 EDEKA – PROFITEUR DER MARKTENTWICKLUNG UND TRIEBKRAFT IM KONZENTRATIONSPROZESS ............................................................................ 14

2.3 INSTITUTIONELLE HERAUSFORDERUNGEN IM WANDEL DER ZEIT .......................... 15

2.4 WIRTSCHAFTLICHE ASPEKTE DER ‚PRIVATISIERUNGEN‘ BEI EDEKA ..................... 18

3 DURCHSETZUNG DER UNTERNEHMENSMITBESTIMMUNG IM SEH ................................. 23 4 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................ 27

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Aufbau des EDEKA-Verbund 2012 (Auswahl) ................................................. 13 Abbildung 2 Zuschnitt der sieben EDEKA-Regionalgesellschaften ..................................... 13 Abbildung 3 Umsatzstruktur der EDEKA-Gruppe 2011 (nach TradeDimensions) ............... 14 Abbildung 4 Entwicklung der Anzahl an Lebensmittelgeschäften der EDEKA

zwischen 1950 und 2011 .................................................................................. 18 Abbildung 5 Veräußerung von Regiebetrieben an selbständige EDEKA-Kaufleute ............ 19 Abbildung 6 Umsatzentwicklung nach SEH und Regieeinzelhandel .................................... 21 Abbildung 7 Durchschnittliche Anzahl von Lebensmittelgeschäften je EDEKA-Kaufmann .. 22

Dem Artikel liegen Vorarbeiten des Autors im Rahmen der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie „Umstrukturierung im Lebensmitteleinzelhandel am Beispiel der Handelskonzerne REWE und EDEKA“ vom Juni 2011 und das Vortragskonzept „Übertragung von Regiefilialen an Selbständige als strategische Option im Wettbewerb“, München, Oktober 2011 zugrunde.

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Kurzfassung Trotz vielfältiger struktureller Veränderungen und Anpassungen im EDEKA- Unternehmensverbund in der über 100-jährigen Unternehmensgeschichte wurde die genossenschaftliche Grundstruktur nie in Frage zu gestellt. In Zeiten aggressiver Übernahmebestrebungen von Finanzinvestoren erweist sich gerade die genossenschaftliche Struktur als wenig störanfällig. Die strategische Fokussierung der EDEKA auf die Stärkung der genossenschaftlichen Basis durch einen massiv vorangetriebenen ‚Privatisierungsprozess‘ wird damit auch zum Teil erklärbar. Aber genauso muss berücksichtigt werden, dass seit mehr als drei Jahrzehnten und noch bis heute Regiefilialen, also Einzelhandelsbetriebe, die als Tochterunternehmen einer EDEKA- Regionalgesellschaft geführt werden, maßgeblich zur Stabilisierung und wirtschaftlicher Entwicklung des EDEKA-Verbundes beitragen. Dennoch wurde die Entwicklung von Regiebetrieben von den Genossenschaftsmitgliedern, quasi als Mitbewerber, immer kritisch betrachtet. Vielleicht auch deshalb, weil die Entstehung der Regiebetriebe eine ‚ungeliebte‘ mitbestimmungsrechtliche Komponente mit sich brachte: Im EDEKA-Verbund existieren flächendeckend Betriebsräte, die das Mitbestimmungsrecht auf betrieblicher und Unternehmensebene sichern, sich im sozialen Dialog für die Einhaltung der Tarifvereinbarungen einsetzen und sich für die Interessen der Beschäftigten und die Einhaltung von Gesetzen verantwortlich fühlen. Unstrittig bleibt auch für die Zukunft, dass die von den EDEKA- Regionalgesellschaften betriebenen Regiemärkte weiterhin als strategische Option zur Sicherung von Standorten eingesetzt werden. Die Aufgabe, aufgegebene bzw. geschlossene Märkte solange im Filialnetz zu halten, bis ein übernehmender selbständiger Kaufmann gefunden wird, bleibt langfristig bestehen und sichert die weitere Existenz des Unternehmensverbunds. Daneben zwingt der Standortwettbewerb die Regionalgesellschaften dazu, zusätzlich zu den Investitionen der selbständigen Kaufleute, Standorte mit modernen und modernisierten Filialen zu entwickeln. Es stellt sich die Aufgabe, im Bewusstsein des EDEKA-Verbundes diesen engen Zusammenhang zwischen selbständigen Einzelhandel und Regie-Einzelhandel für die Entwicklung und den Erhalt des genossenschaftlichen Konzernverbundes zu verankern. Ein Wechsel von einer Säule in die nächste und ggf. wieder zurück, darf für die Beschäftigten kein Übergang in Unsicherheit und untertarifliche Bezahlung bedeuten. In ihren Unternehmensberichten macht EDEKA keinen Unterschied zwischen selbständigen Einzelhandel (SEH) und Regie-Einzelhandel. Die SEH- und Regie-Beschäftigten sind EDEKA-Beschäftigte, genau wie die in beiden Bereichen erzielten Umsätze als EDEKA-Umsatz ausgewiesen wird. Dennoch trennen die beiden Säulen des EDEKA-Konzerns vielfach Jahrzehnte der gesellschaftlichen Entwicklung mit den wichtigen Errungenschaften wie die betriebliche Mitbestimmung und tarifliche Mindeststandards. Im Ergebnis der strukturellen Veränderungen im Lebensmitteleinzelhandel wandeln sich die selbständigen EDEKA-Unternehmen. Aus dem klassischen EDEKA-Familienunternehmen werden zunehmend mittelständische Handelsunternehmen. Aus der mithelfenden Ehefrau als einzige Angestellte sind mittlerweile Filialbetriebe mit 20 bis über 100 Beschäftigten geworden, das Sortiment hat sich vervielfacht, die logistischen und qualifikatorischen Anforderungen sind immens gewachsen. Bei den mittlerweile bestehenden Filialgrößen kommt zudem die seit Mitte 1952 verpflichtende Beteiligung der Arbeitnehmer an der Unternehmensführung fast durchgehend zum Tragen. Vor allem auch diesen Herausforderungen muss sich der EDEKA-Verbund in ihren Privatisierungsbestrebungen stellen, ansonsten nimmt dieser unternehmensstrategische Ansatz anachronistische Züge an. Ein Zurückfallen auf untertarifliche Standards und ein mitbestimmungsfeindliches Klima beim Übergang in den Selbständigen Einzelhandel ist sowohl aus sozialpolitischer, gewerkschaftlicher sowie mitbestimmungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar.

Problemlage Im Oktober 2011 trafen sich Betriebsräte der EDEKA, dem größten Lebensmitteleinzelhändler Deutschlands, im Gewerkschaftshaus in München, um über eine spezifische Entwicklung im EDEKA-Verbund zu beraten: Seit 2003 wird seitens der EDEKA die ‚Privatisierung‘ des konzerneigenen Filialgeschäfts vorangetrieben, mit dem Ergebnis, dass sich ein – unter gesellschaftsrechtlichen Gesichtspunkten – formal konzernunabhängiger selbständiger Einzelhandel (SEH) ausbreitet. Als ‚Privatisierung‘ wird bei EDEKA die Veräußerung von

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Regiebetrieben der Regionalgesellschaften an selbständige Kaufleute bezeichnet. „Der Begriff Privatisierung hat sich EDEKA intern und in der Folge auch extern fest etabliert, da er treffend den Vorgang beschreibt, wenn EDEKA-Regionalgesellschaften Flächen, die bisher dort operativ geführt wurden, in das Eigentum von selbstständigen Kaufleuten übergehen. Der Begriff beschreibt diesen Vorgang so treffend, dass er auch unternehmensextern ohne größere Erklärungen leicht verstanden und deshalb genutzt wird.“ 1 Diese unternehmensstrategische Entscheidung hat vor allem Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer2 der ehemals konzerneigenen Filialen und auf die betriebliche Mitbestimmung. Das Ausmaß der Betroffenheit kann allein schon daran festgemacht werden, dass mittlerweile 139.000 Beschäftigte3 im SEH der EDEKA arbeiten.

Mit der Überführung der von den EDEKA-Regionalgesellschaften als Regiemärkte geführten Lebensmittelmärkte der EDEKA in den inhabergeführten selbständigen Einzelhandel (SEH) ändert sich die gesellschaftsrechtliche Anbindung der ehemals konzerneigenen Supermärkte, Verbrauchermärkte bzw. SB-Warenhäuser. Nicht mehr EDEKA, in Form einer der sieben Regionalgesellschaften, ist Eigentümer und damit Arbeitgeber, sondern ein selbständiger Kaufmann übernimmt mit der Filiale die komplette Geschäftstätigkeit und die dort angestellten Arbeitnehmer. Während die Regiemärkte der Regionalgesellschaften der EDEKA tarifgebundenen sind und Betriebsratsstrukturen bestehen, werden dem selbständigen Einzelhändler die Tarifabschlüsse bislang nur als Empfehlung von den EDEKA- Regionalgesellschaften weitergegeben. Mit dieser Form der Dezentralisierung werden Arbeitnehmer im Lebensmitteleinzelhandel, deren Interessenvertretung bislang durch Betriebsräte bei den Regionalgesellschaften der EDEKA geregelt war, in mitbestimmungsfreie Zonen abgedrängt und von betrieblicher Mitbestimmung als Kernelement der Wirtschaftsdemokratie weitgehend ausgeschlossen. Da sich der als Verbundunternehmen organisierte EDEKA Konzern über ‚Privatisierungen’ seine genossenschaftliche Basis erhalten, festigen und weiter ausbauen will, wird dieser unternehmensstrategische Ansatz mitbestimmungspolitisch und für die Gewerkschaft ver.di organisationspolitisch relevant.

Der Artikel soll einen Beitrag leisten, diese strategische Entwicklung der EDEKA in den historischen Kontext der bisherigen Unternehmensentwicklung einzuordnen, um daran die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung der genossenschaftlichen Strukturen zu verdeutlichen. Aber vor allem soll auf die entscheidende Schwäche der ‚Privatisierungsstrategie‘ hingewiesen werden: die in diesem strategischen Konzept bislang unberücksichtigte neue Qualität von Arbeitsbeziehungen und Mitbestimmung im EDEKA-Konzern.

EDEKA-Privatisierung zwischen wirtschaftlichen Zwängen und gesellschaftlicher Realität

Die EDEKA-Gruppe im Überblick EDEKA als größter deutscher Lebensmittelhändler und Nr. 7 im Ranking der europäischen Einzelhändler feierte 2007 sein 100 jähriges Bestehen. Damit wurde an die Gründung des „Verband deutscher kaufmännischer Genossenschaften e. V.“, einen Zusammenschluss von insgesamt 23 Einkaufsgenossenschaften am 21. Oktober 1907 sowie gut einen Monat später, am 25. November 1907, an die Gründung der „Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH“ als Geburtsstunde von EDEKA erinnert. Seit dem Gründungsjahr 1907 ist die Grundstruktur regional eigenständig operierender Genossenschaften und die Übertragung übergreifender Aufgaben an die Zentrale, die heutige EDEKA Zentrale AG & Co. KG, beibehalten worden.

1 Antwort der EDEKA, Geschäftsbereich Unternehmenskommunikation auf eine entsprechende Anfrage des WABE‐Instituts vom 30.07.2010. 2 Zur Verbesserung der Lesefreundlichkeit wurde im nachfolgenden Beitrag auf die separate Verwendung der weiblichen und männlichen Form verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Die Gender‐  und Antidiskriminierungsgrundsätze werden vom Autor dennoch vorbehaltlos beachtet. (Bert Warich) 3 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, Unser Auftrag: Zukunft gestalten, Hamburg 2012, S. 46. 

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ABBILDUNG 1 AUFBAU DES EDEKA-VERBUND 2012 (AUSWAHL)4

Die in mittlerweile neun regionalen Genossenschaften zusammengeschlossenen EDEKA-Kaufleute bilden nach wie vor die gesellschaftsrechtliche Basis des Konzerns. Die Genossenschaften halten alle Anteile an der EDEKA Zentrale AG & Co. KG sowie 50 Prozent der Anteile an den sieben Regionalgesellschaften, die für das

Warengeschäft in den Regionen verantwortlich zeichnen. Diese Struktur des Unternehmensverbundes gestattet den sieben EDEKA – Regionalgesellschaften eine relativ eigenständige Steuerung des operativen Warengeschäfts, bspw. indem in den jeweiligen Regionen die selbständigen EDEKA-Einzelhändler und die in Eigenregie betriebenen Lebensmittelfilialen beliefert und eigene Produktionsbetriebe bspw. für Fleisch, Wurst und Backwaren betrieben werden.

ABBILDUNG 2 ZUSCHNITT DER SIEBEN EDEKA-REGIONALGESELLSCHAFTEN5

Im Sinne einer Funktionsausgliederung verantwortet die EDEKA Zentrale in Hamburg die strategische Führung der Gruppe. Das beinhaltet die Bündelung des nationalen Warengeschäfts, einschließlich der Eigenmarkenentwicklung und Qualitätssicherung, Steuerung von Marketing und nationaler Werbung und weitere Dienstleistungsfunktionen. Über das Tochterunternehmen Netto Marken-Discount sowie weitere Beteiligungen ist die EDEKA-Zentrale auch im operativen Einzelhandelsgeschäft tätig. Ebenfalls zur Zentrale gehören das EDEKA Fruchtkontor und das EDEKA Weinkontor mit der Rheinberg-Kellerei in Bingen.6

4 Aufbau des EDEKA‐Verbund, EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 7, eigene Darstellung. 5 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 35, eigene Darstellung. 6 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 41 ff. 

85 % 25 % 50 % 41,1 %

50 % 50 %

100%NettoMarken‐Discount

NettoStavenhagen

7 EDEKARegionalgesellschaften

EDEKA‐Bank

9 regionale Genossenschaften

4.500 EDEKA – Einzelhändler

EDEKA Zentrale AG & CO. KG (Sitz Hamburg)

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Schöne neue Handelswelt!?

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ABBILDUNG 3 UMSATZSTRUKTUR DER EDEKA-GRUPPE 2011 (NACH

TRADEDIMENSIONS)

Quelle: TradeDimension, TOP Firmen 2012, Frankfurt/M., 2011, eigene Zusammenstellung.

Auf dem Weg von der Gründung des „Verband deutscher kaufmännischer Genossenschaften e. V.“ im Jahr 1907 zum größten Lebensmittelhändler Deutschlands, Mitte der dreißiger Jahre, dem Verlust der Vormachtstellung in den achtziger Jahren und der Wiedererlangung der Markführerschaft in Deutschland 2005 war der EDEKA-Verbund permanent vor die Aufgabe gestellt, auf politische, wirtschaftliche und strukturelle Entwicklungen zu reagieren und sich als Konzern anzupassen. Einer dieser grundlegenden Wandlungsprozesse besteht im strategischen Wechselspiel von Konzernexpansion mittels Regiefilialen ab Ende der sechziger Jahre, zum damaligen Zeitpunkt ein grundlegender und umstrittener Paradigmenwechsel in der EDEKA Entwicklung, und in der strategischen Umorientierung durch die Schwerpunktsetzung auf eine „Privatisierungsoffensive“ der EDEKA seit 2003, mit dem Ziel der weitgehenden Rückführung des Bestandes an ‚konzerneigenen‘ Regiefilialen.

EDEKA – Profiteur der Marktentwicklung und Triebkraft im Konzentrationsprozess Wesentliche Anstöße für Veränderungen im ‚zähen‘ Verbund der EDEKA- Unternehmen resultieren aus der satzungsmäßigen Verpflichtung, die Wettbewerbsfähigkeit des Verbundes aufrecht zu erhalten. Vor dem Hintergrund stagnierender Branchenumsätze im Lebensmittelhandel bleibt diese Verpflichtung die größte Herausforderung an den gesamten EDEKA- Unternehmensverbund. Betrachtet man die aktuelle Umsatzentwicklung im Lebensmitteleinzelhandel, dann lag der Umsatz im Jahr 2011 auf Basis konstanter Preise7 um 0,5 Prozent unter dem Niveau des Jahres 1995. Das bedeutet nichts anderes, als dass 2011 im Lebensmitteleinzelhandel mengenmäßig weniger verkauft wurde als vor 16 Jahren. Veränderte Ernährungs- und Essgewohnheiten, gewandelte Ausgabenstrukturen und Effekte des demografischen Wandels tragen zu einer solchen Entwicklung bei. Zu jeweiligen Preisen (unter Berücksichtigung der veränderten Einzelhandelspreise für Lebensmittel) lag der Umsatz im

7 Der Umsatz zu konstanten Preisen ist der um Inflationseffekte bereinigte Wert des Umsatzes zu jeweiligen Preisen. Im Unterschied zum Umsatz zu jeweiligen Preisen, der zu Marktpreisen ermittelt wird, wird der Umsatz zu konstanten Preisen mit Hilfe von Preisindizes anhand der Preise eines festgelegten Basisjahres berechnet. Ziel ist es, die Veränderung der tatsächlich umgesetzten Mengen zu ermitteln und Veränderungen, die sich aufgrund von Preisschwankungen ergeben, herauszufiltern. Dies ist nötig, um die Vergleichbarkeit der Umsätze über mehrere Jahre zu gewährleisten. Der Umsatz zu konstanten Preisen wurde auf der Preisbasis 2005 berechnet. Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2010, Monatsstatistik im Einzelhandel und im Kfz‐Handel – Online‐Datenbank Genesis. 

EdekaAußenumsatz ca. 51.840 Mio. EUR

Edeka – Gruppe45.463 Mio. EUR (+2,5%)

Edeka

Minden‐Hanno

ver

8.451 M

io. €

Edeka Südwest

7.192

 Mio.€

Edeka Hessenring

2.630 M

io. €

Edeka Nord

3.175

 Mio.€

Edeka Rhein‐Ruhr

5.716

 Mio.€

Edeka Nordbayern

3.220

 Mio.€

Edeka Südbayern

3.259

 Mio.€

Netto

11.700 M

io.€

Spar

120 M

io.€

Beteiligungen/Kooperationen

6.377 Mio. EUR

Globus 

Kündigung des Kooperation zum 

31.12.2011

4.363

 Mio.€

Netto Nord

Beteiligung Edeka‐Zentrale 25%

1.175

 Mio.€

Minipreis

210 M

io.€

Budnikowsky

beendet Kooperation zum 

31.12.2011

406 M

io.€

Frey & Kissel

223 M

io.€

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vergangenen Jahr um knapp 18 Prozent über dem Umsatz des Jahres 19958. Mit anderen Worten: Der Umsatzanstieg im Lebensmitteleinzelhandel im Gesamtzeitraum 1995-2011 resultiert ausschließlich aus gestiegenen Einzelhandelspreisen für Lebensmittel. Der Wettbewerb im Lebensmittelhandel wird deshalb meist über einen massiven Preiskampf zwischen Anbietern und Vertriebsformaten, bspw. zwischen Discount und Vollsortiment ausgetragen, dem sich auch der EDEKA-Verbund nicht entziehen kann. Im Gegenteil EDEKA nutzt seine wirtschaftliche Macht, um in diesem Wettbewerb wirtschaftliche Vorteile zu erlangen.

Die Grundtendenz der Umsatzentwicklung im Lebensmitteleinzelhandel wird sich nicht ändern, im Gegenteil, man kann von einer tendenziell weiter rückläufigen Umsatzmengenentwicklung ausgehen. Für die im Lebensmitteleinzelhandel tätigen Unternehmen bedeutet diese Entwicklung, dass man selbst nur auf Kosten von Mitbewerbern wachsen kann. Diese Konstellation hat in den vergangenen Jahren zu einem beispiellosen Verdrängungswettbewerb geführt, bei dem u.a. auch der weltgrößte Einzelhändler Wal-Mart mit seinen Deutschlandaktivitäten auf der Strecke geblieben ist. Klangvolle Namen aus den 90er Jahren wie Asko, Massa, Divi, Spar – um nur einige zu nennen – sind aus dem Lebensmitteleinzelhandel verschwunden.

Im Ergebnis des beispiellosen Wettbewerbs im deutschen Lebensmitteleinzelhandel hat sich der Konzentrationsprozess in der Branche, insbesondere in den vergangenen zehn Jahren, massiv beschleunigt. Allein zwischen 2005 und 2011 hat sich die Zahl der Unternehmen im Lebensmittelhandel (mit einem Umsatz über 3 Mio. Euro) von 126 auf 105 verringert.9

Im Ergebnis dieser Entwicklung hat sich der Marktanteil der fünf größten Lebensmittelhändler in Deutschland erhöht. Erreichten die fünf größten Lebensmittelhändler 1980 – bezogen auf Westdeutschland – einen Marktanteil von 26,3 Prozent, also etwas mehr als ein Viertel des Gesamtmarktes, hat sich deren Marktanteil danach kontinuierlich erhöht. 1990, zehn Jahre später, kamen die fünf Marktführer im vereinten Deutschland immerhin bereits auf 44,7 Prozent Marktanteil10. Wiederum zehn Jahre später im Jahr 2000 bringen es die TOP 5 auf 62,1 Prozent. Zu den TOP 5 gehören seit dem Jahr 2000 EDEKA, REWE, die Metro-Group (real, Metro Cash&Carry), die Schwarz-Gruppe (Kaufland, Lidl) und Aldi (Aldi Nord und Aldi Süd). Aktuell (2011) haben die fünf größten Lebensmittelhändler ihren Marktanteil am Lebensmittelhandel (LEH) der Bundesrepublik Deutschland auf 71,6 Prozent ausgedehnt.

EDEKA, als führender Lebensmittelhändler in Deutschland, kommt mittlerweile allein auf einen Marktanteil von 20%. Unter den verschärften Wettbewerbsbedingungen im Lebensmittelhandel wachsen die Herausforderungen an die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der eigenen Strukturen, den sogenannten ‚institutionellen Wandel‘, und eine wettbewerbsfähige strategische Ausrichtung des EDEKA-Unternehmensverbunds. Trotz des Veränderungsdruckes wurde die genossenschaftliche Grundstruktur bei EDEKA bislang nie in Frage gestellt. Gerade in Zeiten aggressiver Übernahmebestrebungen von Finanzinvestoren erwies sich die genossenschaftliche Struktur als wenig störanfällig. Vor diesem Hintergrund wird die strategische Rückbesinnung der EDEKA auf die Stärkung der genossenschaftlichen Basis zum Teil erklärbar. Daneben muss aber auch berücksichtigt werden, dass der heutige EDEKA-Händler mit dem von vor 100 Jahren nicht viel gemein hat. Aus der mithelfenden Ehefrau sind Filialbetriebe mit 20 bis über 100 Beschäftigte geworden, das Sortiment hat sich vervielfacht, die logistischen Anforderungen sind gewachsen und die seit Mitte 1952 verpflichtende Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmensführung kommt bei den mittlerweile bestehenden Filialgrößen fast durchgehend zum Tragen. Diesen Herausforderungen muss sich der EDEKA-Verbund in ihren Privatisierungsbestrebungen stellen, ansonsten nimmt dieser unternehmensstrategische Ansatz anachronistische Züge an.

Institutionelle Herausforderungen im Wandel der Zeit Im aktuellen Unternehmensbericht 2011 weist EDEKA insgesamt 306.000 Beschäftigte (2011) aus. Für 139.000 Beschäftigte (45,4%) steht jedoch nur das EDEKA-Logo über der Filiale, der

8 Statistisches Bundesamt (destatis), GENESIS‐Online Datenbank, Umsatz im Einzelhandel (real/nominal) (Messzahlen und Veränderungsraten) für Deutschland, Online‐Abruf vom 04.05.2012, eigene Berechnungen.  9 TradeDimensions, TOP Firmen 2007‐2012, Der Lebensmittelhandel in Deutschland, Frankfurt am Main, verschiedene Jahrgänge, eigene Berechnungen. 10 METRO Handelslexikon 2008/2009, S. 19, Hrsg. METRO AG, Düsseldorf, 2008. 

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Arbeitgeber ist ein selbständiger Einzelhändler11, der als Genossenschaftsmitglied, als Vertragskunde des EDEKA-Großhandels und häufig auch als Mieter vertraglich an die EDEKA (Regionalgesellschaft) gebunden ist. Der EDEKA Verbund zementiert über den Ausbau solcher Vertragsbeziehungen seine genossenschaftliche Basis und seine geschäftlichen Grundlagen. Ein Unterschied besteht jedoch zwischen damals und heute. Während die Gründung und die Daseinsberechtigung der EDEKA-Zentrale und der Regionalgesellschaften viele Jahrzehnte vom Engagement der selbständigen Einzelhändler lebte, die Händler scharenweise sich der EDEKA anschließen wollten, sichern sich heute die Regionalgesellschaften durch ‚Privatisierungen‘ ihre eigene genossenschaftliche Basis und somit ihre Daseinsberechtigung. Damit wird ein wesentlicher Unterschied im Selbstverständnis der EDEKA deutlich: nicht mehr der selbständige Einzelhändler steht im Mittelpunkt der strategischen Überlegungen der EDEKA, sondern der EDEKA-Verbund selbst, was nach der Satzung der EDEKA durchaus auch legitim ist. Dieser Paradigmenwechsel wird offensichtlich, wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung des EDEKA Verbundes unter dem Aspekt veränderter Machtverhältnisse von genossenschaftlicher Basis und (heutiger) Regionalgesellschaften betrachtet.

Bereits kurz nach Gründung des EDEKA-Verbundes, im November 1907, wurde der zentrale Einkauf von den regionalen Einkaufsgenossenschaften in sogenannte Zentralgenossenschaften ausgelagert mit dem Ziel, Größeneffekte und sinkende Transaktionskosten zu realisieren. Die „Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH“ (Z.E.G.), in Berlin gegründet und Ursprung der EDEKA-Zentrale12, verfolgte das Ziel, „den Mitgliedsgenossenschaften rein geschäftliche Vorteile zu verschaffen und zusätzlich die Existenz des Verbandes zu sichern“13. Im damaligen Verständnis bezogen sich die Aufgaben zur Existenzsicherung als Verband vor allem auf eine gemeinsame Werbung und Eigenmarkenentwicklung für die EDEKA Kaufleute, sowie auf Finanzdienstleistungen für die Genossenschaftsmitglieder durch die Gründung einer eigenen Genossenschaftsbank im Jahr 1909. Damit verschmolzen die Einzelinteressen der Kaufleute mit den Bestands- und Fortentwicklungsbestrebungen des EDEKA-Verbandes zum einem insgesamt schlüssigen genossenschaftlichen Geschäftsmodell.

Mit 40.670 Kaufleuten und 43.000 mit dem EDEKA-Logo versehenen Ladengeschäften wird die EDEKA 1960 Europas größte Einkaufsgemeinschaft.14 Damit war der historisch höchste Bestand an selbständigen EDEKA-Kaufleuten und Ladengeschäften aus den dreißiger Jahren wieder erreicht. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik, wachsender Kaufkraft und einem Wandel im Lebensmitteleinzelhandel hin zu neuen Verkaufskonzepten bspw. Selbstbedienung, Discount, Cash & Carry in den sechziger Jahren bekamen die regionalen Einkaufszentralen neue und erweiterte Funktionen zugeordnet. Am genossenschaftlichen Grundgedanken und an der dreistufigen Grundstruktur der EDEKA (Genossenschaften- Großhandel- Einkaufszentralen) änderte sich zunächst nichts. Die eher defensive existenzsichernde Funktion der Einkaufsgenossenschaften wandelte sich vor dem Hintergrund eines zunehmenden Wettbewerbs im Lebensmitteleinzelhandel zu einer Absatz- und marktwirtschaftlich ausgerichteten Orientierung.15 So begannen die regionalen Großhandelsgenossenschaften der EDEKA Ende der sechziger Jahre selbst Einzelhandelsstandorte mit Hilfe der entsprechenden Dienstleistungsgesellschaften ihrer Zentralen16 zu sichern, zu entwickeln und als moderne Einzelhandelsgeschäfte in eigener Regie zu betreiben. Diese neue strategische Ausrichtung der EDEKA Zentralen wurde notwendig, weil ab Mitte der sechziger Jahre ein dramatischer Abschmelzungsprozess bei EDEKA-Kaufleuten und

11 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O. 12 Sebastian Kretschmer, Der institutionelle Wandel der EDEKA‐Gruppe, Münstersche Schriften zur Kooperation, Band 66, Shaker Verlag, Aachen 2006, S. 108. 13 Sebastian Kretschmer, Der institutionelle Wandel der EDEKA‐Gruppe, Münstersche Schriften zur Kooperation, Band 66, Shaker Verlag, Aachen 2006, S. 108. 14 100 Jahre EDEKA. Gemeinsam gewachsen. EDEKA Jubiläumsbuch, Hamburg, 2007, Seite 58. 15 Eli, Max, Die Nachfragekonzentration im Nahrungsmittelhandel, ifo‐Institut für Wirtschaftsforschung, München, 1968, S.95. 16 Vgl. Kretschmer, S. a.a.O. S. 195 Edeka Treuhand, Verwaltungs‐ und Betriebsgesellschaft mbH für die Edeka und Eli, M. a.a.O. S. 105. 

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Einzelhandelsgeschäften begann. Innerhalb eines Jahrzehntes wurden ca. 16.000 Geschäfte geschlossen, weil Geschäftsnachfolger fehlten bzw. die Lebensmittelgeschäfte im Standortwettbewerb mit den aufkommenden Filialisten und Discountern nicht mithalten konnten. Um im Wettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel bestehen zu können, waren deshalb auch strukturelle Anpassungen der EDEKA-Gruppe notwendig. Ein Zugeständnis der regionalen Genossenschaften bestand darin, dass regionale EDEKA Handelsgesellschaften das Warengeschäft der regionalen Einkaufsgenossenschaften übernehmen sollten. So entstand oberhalb der Ebene der Genossenschaften ein Verbund aus Kapitalgesellschaften (Vgl. dazu Abbildung 1). Die damit verbundene Möglichkeit von Kooperationen zwischen den Genossenschaften erlaubte bessere Einkaufskonditionen und damit effizientere Betriebsstrukturen.

Zudem wurden im Rahmen der 1972 umgesetzten Strukturreform im EDEKA- Verbund gesellschaftsrechtliche Veränderungen umgesetzt, in deren Ergebnis die Zentralen zu Aktiengesellschaften umgewandelt wurden. Die Mitgliedergenossenschaften wurden Gesellschafter bzw. Aktionär der neuen Kapitalgesellschaften17. Durch die Strukturreformen 1972 beschleunigte sich das eigene warenwirtschaftliche Engagement der regionalen Großhandlungen. Neben dem selbständigen, vom regionalen Großhandel der Einkaufsgenossenschaft belieferten, Einzelhändler etablierten sich gleichberechtigt, von den Großhandlungen selbst betriebene Regiebetriebe. Die Regiebetriebe waren vollständig in die hierarchische Koordination der als Großhändler fungierenden Regionalgenossenschaften bzw. speziell geschaffener Tochtergesellschaften der Zentralen eingegliedert und wurden von festangestellten Marktleitern über sein ein sog. Marktmanagermodell betrieben. In der Folgezeit wurden Regiemärkte zielgerichtet für die Modernisierung des Filialnetzes und Integration von Akquisitionen eingesetzt, ebenso wurden die von Inhabern aufgegebenen und an die Großhandlungen veräußerten Märkte als Regiemärkte weiterbetrieben.

Trotz der eingeleiteten Reformen zeigte sich, dass die nach wie vor kleinen regionalen Genossenschaften immer mehr Marktanteile an die deutschlandweit zentralgeführten Lebensmittelfilialisten verlieren. Erst ab 1986, nachdem die EDEKA ihre Spitzenposition im deutschen Lebensmitteleinzelhandel eingebüßt hatte, beginnt eine längst überfällige strategische Neuausrichtung des EDEKA-Verbundes. Bis 1989 wurden die 31 regionalen Großhandlungen über Fusionen zu 18 Regionalgesellschaften zusammengeführt, um notwendige Skaleneffekte zu realisieren. Der Ausbau des Anteils an Regiebetrieben war eine direkte Folge der Strukturreformen der EDEKA-Gruppe. Bis 1987 stieg die Zahl der Regiebetriebe im Lebensmitteleinzelhandel der EDEKA auf ca. 1.000 an18 bei noch etwas mehr als 15.000 selbständigen Kaufleuten. Zunehmender Preiswettbewerb und damit sinkende Margen im Lebensmitteleinzelhandel zwingen die EDEKA-Gruppe ab dem Jahr 2000 zu einer zweiten grundlegenden Strukturreform. Im Fokus standen wiederum die Regionalgesellschaften mit ihren Großhandlungen, die für das Warengeschäft der EDEKA verantwortlich zeichnen. Die Zahl der Regionalgesellschaften wurde von 18 auf sieben reduziert. Damit sollte die Zentralität erhöht, die Regionalität erhalten und Voraussetzungen für den Ausbau moderner Logistik- und Lagersysteme geschaffen werden. Durch Akquisitionen und Investitionen in den Ausbau einer modernen großflächigeren Filialstruktur wurde dabei vor allem die Zahl der Regiemärkte deutlich ausgeweitet. Deren Anzahl erreichte 2001 mit 2.473 Märkten einen Höchstwert. Im Zuge der Investitionen vergrößerte sich aber auch die durchschnittliche Verkaufsfläche der als Supermärkte geführten Lebensmittelmärkte im Vollsortiment um fast ein Drittel, von 682 qm je Filiale im Jahr 2000 auf 970 qm in 2011.19

Die Entwicklung der Einzelhandelsgeschäfte der EDEKA-Gruppe im Lebensmitteleinzelhandel zwischen 1950 und 2011 zeigt die folgende Abbildung:

17 Kretschmer,  a.a.O. S. 192, spricht in diesem Zusammenhang von „…einer Genossenschaft in Form einer Aktiengesellschaft.“ 18 100 Jahre EDEKA. Gemeinsam gewachsen. EDEKA Jubiläumsbuch, Hamburg, 2007, Seite 91. 19 Geschäftsberichte der EDEKA‐Gruppe 2004, Hamburg 2005, S. 20 und 2011, Hamburg 2012, S. 14, 17. 

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ABBILDUNG 4 ENTWICKLUNG DER ANZAHL AN LEBENSMITTELGESCHÄFTEN DER

EDEKA ZWISCHEN 1950 UND 2011

Quellen: 1950 bis 1995: Sebastian Kretschmer, Der institutionelle Wandel der EDEKA-Gruppe, Münstersche Schriften zur Kooperation, Band 66, Shaker Verlag, Aachen 2006, S. 196, 2000 bis 2011: Geschäftsberichte und Pressemitteilungen der EDEKA-Gruppe 2000 bis 2011, eigene Berechnungen.

Dieser in der Abbildung dargestellte Abschmelzungsprozess an Lebensmittelgeschäften betraf nicht nur die EDEKA, sondern prägte die Entwicklung des gesamten Lebensmitteleinzelhandels. Nach den Daten der A.C. Nielsen-Handelsforscher sank die Zahl der Lebensmittelgeschäfte (über 100 qm Verkaufsfläche) in Deutschland zwischen 2000 und 2011 um 5.345 bzw. 7,7 Prozent20. Dieser Rückgang betraf ausschließlich kleine Lebensmittelgeschäfte unter 400 qm, sogenannte „Tante Emma-Läden“. Der Rückgang der Zahl an Lebensmittelgeschäften im Vollsortiment bei der EDEKA betrug im gleichen Zeitraum 2.956 Geschäfte bzw. 27,7 Prozent.

Die Entwicklung und der Betrieb von Regiefilialen durch die Regionalgesellschaften hat maßgeblich zur Stabilisierung des EDEKA-Verbundes beigetragen und zur Wiedererlangung der führenden Position im deutschen Lebensmittelhandel. Dennoch wurde die Entwicklung von Regiebetrieben von den Genossenschaftsmitgliedern, quasi als Mitbewerber, immer kritisch betrachtet und jedes diesbezügliche Engagement blieb zustimmungspflichtig durch die vertretungsberechtigten Organe der jeweiligen Großhandlungen.21

Die Entstehung von Regiebetrieben hatte auch eine wesentliche mitbestimmungsrechtliche Komponente: Im EDEKA-Verbund existieren flächendeckend Betriebsräte, die das Mitbestimmungsrecht auf betrieblicher und Unternehmensebene sichern, sich im sozialen Dialog für die Einhaltung der Tarifvereinbarungen einsetzen und sich für die Interessen der Beschäftigten und die Einhaltung von Gesetzen verantwortlich fühlen. Der Ausbau des Netzes an Regiefilialen hat das Filialnetz der EDEKA und damit weite Teile des konzerngesteuerten Lebensmitteleinzelhandels auf ein zeitgemäßes, mitbestimmungsrechtliches Niveau gebracht.

Wirtschaftliche Aspekte der ‚Privatisierungen‘ bei EDEKA Mit einer ‚Privatisierungsoffensive‘ versucht die EDEKA das Rad der strukturellen Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre wieder zurück zudrehen und den Anteil an Regiebetrieben am Filialnetz der Regionalgenossenschaften sowohl in der strategischen Bedeutung, wie auch quantitativ in der Fläche, zu minimieren. Mit dieser Umorientierung werden die Regie-Filialen zu Assistenten für den Erhalt und den Ausbau der genossenschaftlichen Basis degradiert. Diese strategische Orientierung hat das Ziel den selbständigen Einzelhändler als Fundament des genossenschaftlich strukturierten Konzerns zu stärken und eine Fokussierung der EDEKA-

20  A.C. Nielsen GmbH, Zahlen zum Handel ‐ Universen 2001 und 2011, Frankfurt/Main, eigene Berechnungen. 21 Stubbe, H., Edeka‐Gruppe – 70 Jahre Edeka Verband kaufmännischer Genossenschaften e.V.  – Eine genossenschaftliche Gruppe behauptet sich im Markt, in Zeitschrift für Organisation, Band 47, S. 251. 

10.682

0

10.000

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30.000

40.000

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1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000

2.473 2.415 2.059 1.726 1.642 1.433

6.676

5.8336.642

6.411 6.308 6.293

0

2.000

4.000

6.000

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10.000

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

SEH Regie10.074

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Regionalgesellschaften auf ihre Großhandlungsfunktion zu unterstützen. Das seit Gründung der EDEKA vor mehr als 100 Jahren betriebene Kerngeschäft, die Belieferung der von selbstständigen EDEKA -Unternehmern geführten Supermärkte, wurde auf alle drei Vertriebslinien im Lebensmitteleinzelhandel Supermarkt, Verbrauchermarkt und SB-Warenhaus erweitert. Der heutige EDEKA-Kaufmann hat mit dem von vor 100 Jahren, außer der Geschäftsgrundlage den Verkauf von Lebensmitteln, nichts mehr gemein. Den handelsstrukturellen Wandel haben die Kaufleute des EDEKA-Verbundes vollzogen. Großflächige Filialen, Mehrfilial-Unternehmen und eine breite Auswahl an Non-Food Artikeln im Sortiment sind Normalität. Mitbestimmungsrechtliche Veränderungen, die Arbeitsbeziehungen und arbeitsteilige Strukturen ermöglichen, um gewachsene Filialgrößen, erweiterte Sortimente und neue Logistikanforderungen zu beherrschen, versucht man konsequent zu ignorieren und außerhalb der als notwendig erkannten Modernsierung zu stellen.

DIE STRATEGISCHE RÜCKBESINNUNG AUF DEN ERHALT UND AUSBAU DER GENOSSENSCHAFTLICHEN

BASIS als zentrale Existenzbedingung der EDEKA verlangt zugleich, auch die Veränderungen in der Mitbestimmungslandschaft des EDEKA-Verbundes und den gesellschaftlichen Stellenwert geregelter Arbeitsbeziehungen anzuerkennen. Ansonsten nehmen die strukturellen Veränderungen im EDEKA-Konzern anachronistische Züge an. Dennoch, Mitbestimmungsstrukturen und Arbeitsbeziehungen sind in keiner der programmatischen Verlautbarungen in den jährlichen Unternehmensberichten erwähnt und bleiben außerhalb der zentralen Zuständigkeiten in Umsetzung der ‚Privatisierungsstrategie‘. Qualifikation und Motivation werden als Erfolgsfaktoren benannt, qualifizierte Mitbestimmung als Erfolgsfaktor und Ausdruck für den Respekt als Arbeitgeber im Umgang mit den Beschäftigten ist bei EDEKA dagegen nicht.

Die Förderung des selbständigen Einzelhandels durch Veräußerung von Regiefilialen der Regionalgesellschaften, die im Zuge der Stärkung der Marktposition und zur Modernisierung des Filialnetzes entwickelt und betrieben wurden, an selbständige Kaufleute hat mittlerweile eine zentrale Bedeutung für den gesamten EDEKA-Verbund. „Der Förderung des selbstständigen Einzelhandels dient auch die Privatisierung von Märkten, die in direkter Regie der sieben Großhandelsgesellschaften betrieben werden.“22 Binnen acht Jahren, seit dem Bekenntnis des EDEKA-Vorstandes zur „Privatisierungsoffensive“ wurden 1.096 Regiemärkte aus dem Filialnetz herausgelöst und an selbständige EDEKA-Kaufleute übergeben.23

ABBILDUNG 5 VERÄUßERUNG VON REGIEBETRIEBEN AN SELBSTÄNDIGE EDEKA-KAUFLEUTE

Quellen: Unternehmensberichte des EDEKA-Verbundes 2003 bis 2011, eigene Berechnungen.

22 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 15. 23 Eigene Berechnungen anhand der Geschäftsberichte EDEKA‐Gruppe 2002‐2011. 

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Die Rolle und Funktion der Regie-Filialen wird nunmehr auch neu definiert, indem die ‚unterstützende Funktion‘ der Regie-Märkte für den Fortbestand der genossenschaftlichen Verbundorganisation hervorgehoben wird. „Die Regie-Märkte runden das Vertriebsnetz von EDEKA ab und tragen dazu bei, die Nahversorgerfunktion von EDEKA flächendeckend sicherzustellen. Sie werden ebenso benötigt, um das Anlaufrisiko für neue Standorte zu tragen, wie auch um Märkte aufzufangen, die von selbstständigen Kaufleuten nicht mehr weitergeführt werden.“24

Mit dieser neuen Standortbestimmung wird ein immer wieder in der Öffentlichkeitsarbeit von EDEKA beschriebener Effekt bei der Übertragung von Regiefilialen auf einen selbständigen Einzelhändler erklärbar. Trotz gleicher Infrastruktur und auch sonst vergleichbarer Bedingungen sollen die Umsätze von privat geführten Lebensmittelmärkten deutlicher ansteigen als unter den vorherigen (Regie-) Betreibern. Häufig, und das trägt zu weiterer Mystifizierung bei, sind die Marktleiter sogar die gleichen Personen. Branchenkenner, sowohl von EDEKA als auch von Seiten der Betriebsräte und Gewerkschaften, hinterfragen diese Äußerungen zunehmend und verweisen auf andere, z.T. nicht vergleichbare Rahmenbedingungen. Es sind in der Mehrzahl die frisch renovierten und modern umgebauten Regiemärkte, die nach der Veräußerung steigenden Umsatz vermelden. Natürlich kann vor dem Hintergrund der Ambitionen zur Weiterführung von „Privatisierungen“ der EDEKA durchaus ein entsprechendes strategisches Kalkül unterstellt werden. Nur sollte man eingestehen, dass sich steigender wirtschaftlicher Erfolg nicht ausschließlich mit der Überschrift ‚Privatisierung‘ erklären lässt.

Eine weitere notwendige Anmerkung zum „Privatisierungsprozess“ der EDEKA betrifft die vertragliche Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen selbständigem Einzelhändler und der EDEKA. Auch wenn kaum Einzelheiten nach außen dringen, lassen vereinzelt einsehbare Vertragsdokumente durchaus ein sehr starkes Abhängigkeitsverhältnis der selbständigen Einzelhändler zur EDEKA erkennen. In einem Wechselverhältnis von Mietsubventionen durch die EDEKA Immobiliengesellschaft und festgelegten Bezugsquoten im Rahmen einer verpflichtenden Bezugsvereinbarung, deren Höhe von der EDEKA nach Durchschnittswerten vorgegeben wird, erscheint der kaufmännische (eigenverantwortete) Spielraum des „selbständigen“ Einzelhändlers sehr begrenzt. Hinzu kommt eine Verpflichtung an den Einzelhändler, auf Verlangen der EDEKA, Auskunft über den gesamten Warenbezug zu geben. Ein Verstoß gegen die Bezugspflicht beendet das Mietvertragsverhältnis. Von der EDEKA vorgeschriebene Buchführungs- und Steuerberatungsleitlinien festigen den Eindruck, dass ein selbständiger EDEKA-Kaufmann nur begrenzt Herr über seinen eigenen Geschäftsbetrieb ist.

In der Folge der „Privatisierungsoffensive“ ging der Filialisierungsgrad im Lebensmitteleinzelhandel der EDEKA, das ist der Anteil der Regiemärkte an allen belieferten Märkten des EDEKA- Großhandels, seit 2001 kontinuierlich zurück: von 24,5 Prozent auf aktuell (2011) 18,5 Prozent, das sind 1.433 Regiemärkte von insgesamt 7.726 von der EDEKA im Vollsortiment geführten Lebensmittelmärkten25. Zwischen den einzelnen Regionalgesellschaften gibt es beim Anteil der Regiebetriebe an den zu beliefernden Filialen beträchtlich Unterschiede: Den geringsten Anteil an Regiebetrieben betreibt die EDEKA Nord mit einem Filialisierungsgrad von vier Prozent26, die EDEKA Regionalgesellschaft Minden-Hannover mit aktuell knapp 35 Prozent Anteil von Regiebetrieben am Bestand aller belieferten Filialen im Lebensmitteleinzelhandel (Stand 2011)27 befindet sich damit am oberen Rand.

Die strategische Grundsatzentscheidung des EDEKA-Verbundes im Lebensmitteleinzelhandel vorrangig den selbständigen Einzelhandel (SEH) zu unterstützen und zu stärken, zeigt bereits deutliche Auswirkungen in der Umsatzstruktur. Seit 2005 legte der SEH um 48,2 Prozent an Umsatz zu, auf mehr als 20 Mrd. Euro. Die Umsätze im Regie-Einzelhandel sanken im gleichen Zeitraum um 27,7 Prozent, auf 8,4 Mrd. Euro.

Noch deutlicher wird der Strategiewechsel bei der Betrachtung der Umsatzanteile am Konzernumsatz nach den einzelnen Vertriebslinien. Während der SEH seinen Anteil am 24 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 16. 25 EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 15. 26 Geschäftsbericht 2011, EDEKA Nord, Neumünster 2012, S. 2. 27 Geschäftsbericht der EDEKA Minden‐Hannover für das Jahr 2011, Minden, 2012, S. 24, eigene Berechnungen. 

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Gesamtumsatz des EDEKA-Verbundes von 45,0% (2005) auf 46,9% (2011) ausdehnen konnte, sank der Anteil des Regie-Einzelhandels im gleichen Zeitraum von 38,5% auf 19,6%.

Der zweite große Gewinner im Strategiewechsel der EDEKA sind die Discountbeteiligungen der EDEKA-Zentrale an Netto-Markendiscount und Netto Nord (Dansk Supermarket A/S). Der Umsatz stieg von 3,0 Mrd. Euro (2005) auf 11,7 Mrd. Euro (2011). Davon entfällt allein ein Umsatz von 10,7 Mrd. Euro auf die Einzelhandelsaktivitäten der EDEKA Zentrale bei Netto Marken-Discount. Der Umsatzanteil der Discountbeteiligungen am Konzernumsatz erhöhte sich von 9,9% (2005) auf 27,5% (2011). Maßgeblichen Anteil daran hat die Übernahme und Integration des Discounters Plus (Tengelmann-Gruppe) mit dem Jahreswechsel 2009. 2.339 Filialen der knapp 2.800 Filialen gingen an Netto-Markendiscount. Damit wurde EDEKA mit einem Schlag und einem Marktanteil von 18 Prozent neben Aldi und Lidl zu einem Schwergewicht in der Vertriebslinie Discount.

ABBILDUNG 6 UMSATZENTWICKLUNG NACH SEH UND REGIEEINZELHANDEL (IN MIO. EURO)

Quellen: Unternehmensberichte des EDEKA-Verbundes 2005 bis 2011, eigene Berechnungen.

Zudem vollzieht sich seit den 60er Jahren ein zweiter Veränderungsprozess. Neben dem typischen EDEKA - Kaufmann mit „seinem“ Lebensmittelgeschäft wächst die Zahl der EDEKA – Unternehmer mit mehr als einer Filiale. Wie die nachfolgende Abbildung 7 zeigt, war dieser Prozess bereits Ende der 90er Jahre sehr weit fortgeschritten, wo im Durchschnitt jeder EDEKA – Kaufmann bereits mehr als zwei Ladengeschäfte betrieb.

Das durchschnittliche Mehrbetriebsunternehmen im Jahr 2000 bestand jedoch in der Regel aus kleinen Standorten, die im Zuge der massiven Expansion vor allem der Discounter nicht mehr wettbewerbsfähig waren und von den Inhabern ab – bzw. aufgegeben werden mussten. In der Folge schmolz der Bestand an Lebensmittelgeschäften der EDEKA allein im Zeitraum 2000 bis 2005 um 26 Prozent von 10.682 auf 7.892, wodurch dem EDEKA-Verbund fast die Mitglieder ausgingen. Gab es 1987 noch ca. 15.000 EDEKA-Kaufleute28 sank die Zahl bis 2004 auf 3.803 EDEKA-Kaufleute29. Erst nach der Übernahme und Integration der von selbständigen Kaufleuten geführten 1.462 SPAR-Märkte im Jahr 2005 stieg die Zahl der Genossenschaftsmitglieder der EDEKA wieder deutlich auf 4.786 (2006) an.

Das Mehrbetriebsunternehmen von heute hat mit den Mehrbetriebsunternehmen der Jahre vor 2000 wenig gemein. Mit der Abschmelzung der Zahl an Lebensmittelmärkten war gleichzeitig eine deutliche Erhöhung der durchschnittlichen Verkaufsflächen auf knapp 970 qm30 verbunden. Werden heute Märkte „privatisiert“, dann geht es im Regelfall nicht mehr um Nachbarschaftsläden, sondern um modernisierte, großflächige Supermärkte mit durchschnittlich 1.500 qm Verkaufsfläche und einem Personalbestand von 23,8 Beschäftigten auf Vollzeitbasis31 bzw. um SB-Warenhäuser

28 100 Jahre EDEKA. Gemeinsam gewachsen. EDEKA Jubiläumsbuch, Hamburg, 2007, Seite 91. 29 Geschäftsbericht 2004 EDEKA‐Gruppe, Hamburg 2005, S. 21. 30 Eigene Berechnungen nach EDEKA‐Verbund Unternehmensbericht 2011, a.a.O., S. 15 ff. 31 Expansionsbroschüre der EDEKA, Hamburg, 2009, S.9. 

0

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SEH

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(E-Center) mit durchschnittlichen Verkaufsflächen ab 2.500 – 4.500 qm und durchschnittlich 84,4 Beschäftigten auf Vollzeitbasis.32

ABBILDUNG 7 DURCHSCHNITTLICHE ANZAHL VON LEBENSMITTELGESCHÄFTEN JE EDEKA-KAUFMANN

Quellen: 1950 bis 1995: Sebastian Kretschmer, Der institutionelle Wandel der EDEKA-Gruppe, Münstersche Schriften zur Kooperation, Band 66, Shaker Verlag, Aachen 2006, S. 197, 2000 bis 2011: Geschäftsberichte der EDEKA-Gruppe 2000 bis 2011, eigene Berechnungen.

Zur Gruppe der Mehrbetriebsunternehmer zählen ca. 17% der selbständigen EDEKA - Kaufleute33. Dazu gehören als inhabergeführtes Unternehmen z.T. Konglomerate von bis zu 32 Lebensmittelmärkten (Simmel) mit mehr als 1.600 Beschäftigten (Preuß)34. Die acht umsatzstärksten Selbständigen der EDEKA trugen 2009 bereits zu mehr als fünf Prozent zum Umsatz des SEH der EDEKA bei und beschäftigten ca. 6.000 Mitarbeiter35.

Hinter diesen wirtschaftlichen Kennzahlen verbergen sich nicht nur große Potenziale sondern auch Herausforderungen zur Durchsetzung der Mitbestimmung, um den Mitarbeitern vor Ort die Wahrnehmung des „sozialen Bürgerrechts in der Wirtschaft“36 zu ermöglichen.

Mit dem bei EDEKA als ‚Privatisierung‘ bezeichneten Übergang eines Regiebetriebes an einen selbständigen Kaufmann, findet immer ein Eigentümerwechsel statt (Ausnahme Reichelt – Berlin). Für die betroffenen Mitarbeiter bedeutet das arbeitsrechtlich einen Betriebsübergang nach § 613a BGB. Neben dem Erhalt der tariflichen Standards in den neuen Arbeitsverträgen steht auch immer die Frage der betrieblichen Mitbestimmung zur Disposition.

Nach Einschätzung eines Gesamtbetriebsrates der Edeka gibt es im SEH der Edeka nur in 1-2 Prozent der Filialen Betriebsräte. Andere Studien verweisen ebenfalls auf deutliche Defizite bei der Durchsetzung der betrieblichen Mitbestimmung im Handel und beziffern den Anteil der mitbestimmten Unternehmen auf insgesamt 8 Prozent die ihrerseits 31 Prozent der Beschäftigten vertreten.37

Die Möglichkeit z.T. nach der ‚Privatisierung‘ deutlich unter Tariflohn zu zahlen, damit die Personalkosten zu senken, wird von den selbständigen Einzelhändlern als wesentlicher Faktor angesehen, um im anhaltenden Verdrängungswettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel mithalten zu können. Um die Gewinnmargen bei den EDEKA-Einzelhändlern trotz des massiven Wettbewerbs zu sichern, wird der Druck auf die Arbeitskosten und somit auf die 32 EHI Retail Institute, Handel aktuell 2009/2010, Köln, 2009, S.299. 33 EDEKA‐Geschäftsbericht 2007, Hamburg 2008, S. 18. 34 Bert Warich, Umstrukturierung im Lebensmitteleinzelhandel am Beispiel der Handelskonzerne REWE und EDEKA, Hans‐Böckler‐Stiftung, Düsseldorf, Juni 2011, S. 26. 35 Ebenda 36 Manfred Wannöffel „Entscheidend ist im Betrieb“ Qualifizierte Mitbestimmung als Herausforderung für Gewerkschaften und Politik, Gutachten im Auftrag der Friedrich‐Ebert‐Stiftung, Bonn, 2008, S. 4. 37 Manfred Wannöffel; a.a.O., S. 42.  

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Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer verstärkt. Im Internet findet man in entsprechenden Blogs vermehrt Hinweise zu den z.T. schwierigen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im SEH der Edeka. Beispielsweise folgende Fragestellung unter http://www.gutefrage.net : Zahlt Edeka in Bayern Tariflohn? beantwortet von N.N. am 8. November 2008 17:56: „Hallo, ich arbeite auch bei EDEKA; Tariflohn zahlt auf jeden Fall kein Selbständiger. Kann man einfach erkennen. Name hinter der Adresse... Bin jetzt bei der Gewerkschaft und es geht jetzt vors Arbeitsgericht. Alles was unter 30% vom Tariflohn abweicht ist nicht tragbar, nett ausgedrückt. Verstößt sogar gegen das BGB.“

Es gehört zu den strategischen Grundlinien der EDEKA den Bereich des genossenschaftlich eingebundenen, selbständigen Einzelhandels (SEH) weiter auszubauen und als tragenden Pfeiler der Konzernentwicklung, neben dem von der EDEKA Zentrale geführten Discountgeschäft, zu stabilisieren. Die von den Regionalgesellschaften betriebenen Regiemärkte werden dennoch langfristig als strategische Option zur Sicherung von Standorten eingesetzt werden, weil die Aufgabe bestehen bleibt, aufgegebene bzw. geschlossene Märkte solange im Filialnetz zu halten, bis ein übernehmender selbständiger Kaufmann gefunden wird. Daneben zwingt der Standortwettbewerb dazu, zusätzlich zu den Investitionen der selbständigen Kaufleute, Standorte mit modernen und modernisierten Filialen zu entwickeln. Ein Bestand an Regiefilialen wird auch deshalb langfristig bestehen bleiben, damit die Filialrotation zwischen ausscheidenden Genossenschaftsmitgliedern, Existenzgründern und den Mehrbetriebsunternehmern aufrechterhalten werden kann. Es stellt sich die Aufgabe, im Bewusstsein des EDEKA-Verbundes diesen engen Zusammenhang zwischen selbständigen Einzelhandel und Regie-Einzelhandel für die Entwicklung und den Erhalt des genossenschaftlichen Konzernverbundes zu verankern. Ein Wechsel von einer Säule in die nächste und ggf. wieder zurück, darf für die Beschäftigten kein Übergang in Unsicherheit und untertarifliche Bezahlung bedeuten. In ihren Unternehmensberichten macht EDEKA keinen Unterschied zwischen selbständigen Einzelhandel (SEH) und Regie-Einzelhandel. Die SEH- und Regie-Beschäftigten sind EDEKA-Beschäftigte, genau wie die Umsätze. Dennoch trennen die beiden Säulen des EDEKA-Konzerns Jahrzehnte der gesellschaftlichen Entwicklung mit den wichtigen Errungenschaften wie die betriebliche Mitbestimmung und tarifliche Mindeststandards.

Durchsetzung der Unternehmensmitbestimmung im SEH

Die strategische Ausrichtung der EDEKA auf die Stärkung des selbständigen Einzelhandels (SEH) durch gezielte Übertragung von Regiemärkten an selbständige Einzelhändler markiert nicht nur eine Rückbesinnung auf die genossenschaftlichen Wurzeln des Konzerns als Einkaufsverbund selbständiger Einzelhändler sondern auch eine Neubelebung der genossenschaftlichen Idee. Eine Diskussion, ob die genossenschaftliche Idee in der heutigen Zeit nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine zeitgemäße mittbestimmungsrechtliche Komponente enthalten soll, wird in der EDEKA-Strategie ausgespart. Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz mit der verpflichtenden Beteiligung von Arbeitnehmern an der Unternehmensführung und -kontrolle hatte infolge der kleinflächigen Filialstruktur des EDEKA-Einzelhandels noch bis Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre kaum praktische Konsequenzen. Erst mit der zur Existenzsicherung und zum Marktausbau notwendig gewordenen Errichtung, Akquisition und dem Betrieb von eigenen, modernen und großflächigen Regiefilialen, bei der EDEKA ab Ende der 60er Jahre, wurde die mitbestimmungsrechtliche Verantwortung von den Großhandlungen der EDEKA auch auf den Regie-Einzelhandel erweitert. Alle Mitarbeiter in den nach einem Marktmanagermodell als Supermarkt, Verbrauchermarkt oder SB-Warenhaus geführten Lebensmittelfilialen der EDEKA sind gegenwärtig durch Gesamtbetriebsräte mitbestimmungsrechtlich vertreten. Diese Interessenvertretung nach §3 BetrVG endet jedoch, wenn die Filialen an selbständige Einzelhändler veräußert werden, natürlich mit allen gesetzlichen Schutzbestimmungen, die ein Betriebsübergang mit sich bringt. Seit im EDEKA-Verbund im Jahr 2003 eine „Privatisierungsoffensive“ eingeläutet wurde, wird ein Strukturwandel angestoßenen, der auch Veränderungen in der Unternehmensmitbestimmung im Lebensmitteleinzelhandel einschließt. Mit (fast) jedem veräußerten Lebensmittelmarkt aus dem Bestand der EDEKA- Regiefilialen an einen selbständigen Einzelhändler werden ehemals nach der Betriebsverfassung mitbestimmungsrechtlich vertretene Arbeitnehmer in „mitbestimmungsfreien Zonen“ entlassen.

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Obwohl die Zahl an „Privatisierungen“ auf hohem Niveau fortgeführt wird (Vgl. Abbildung 5), scheint sich für die EDEKA-Regionalgesellschaften, die selbst Probleme mit der Anerkennung der Unternehmensmitbestimmung haben, die Frage nach einer zeitgemäßen Modernisierung der genossenschaftlichen Anforderungen im Zuge der Privatisierungen nicht zu stellen. „Betriebsräte sind in der Regel nicht gern gesehen. Auch die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten ist vielen Edekanern ein Dorn im Auge. Bei Edeka liebt man zwar Lebensmittel, aber keine Gewerkschaften. Der Versuch von ver.di, einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat in der Region Nordbayern vor Gericht zu erstreiten, wurde abgewehrt – mit der Gründung einer Stiftung. »Die Strukturen bei Edeka sind mitbestimmungsfeindlich«, sagt Rainer Kuschewski von ver.di. Das könnte sich bald rächen.“38 Dabei entstehen im EDEKA-Unternehmensverbund mittlerweile Konglomerate mit bedeutendem Filial- und Mitarbeiterbestand und im Regelfall ohne jede Form der Unternehmensmitbestimmung.

Die Konsequenzen für die Unternehmensmitbestimmung in den veräußerten Lebensmittelmärkten sind bislang eindeutig. Vor der „Privatisierung“ bestehen in Supermärkten und Verbrauchermärkten in der Regel keine eigenen Betriebsratsstrukturen. In dieser Konstellation kann davon ausgegangen werden, dass die Mitarbeiter im Falle einer „Privatisierung“ in eine mitbestimmungsfreie Zone übergehen und spätestens nach der Übergangsfrist von 12 Monaten mit veränderten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen konfrontiert werden. Versuche von EDEKA-Gesamtbetriebsräten rechtzeitig nach Bekanntwerden der „Privatisierungsabsichten“ in den betreffenden Filialen einen eigenständigen Betriebsrat wählen zu lassen, enden bislang häufig erfolglos. Falls ein Betriebsrat in der Filiale besteht, dann wird versucht, die Betriebsräte mit verschiedensten Methoden zum Verlassen der Filiale zu drängen39.

Hingegen bestehen in den großflächigen E-Centern zum überwiegenden Teil eigene Betriebsratsstrukturen und die Chance bei einem Betriebsübergang diese Betriebsratsstrukturen zu erhalten, ist deutlich größer. Dass damit ein schwieriger Weg verbunden ist, zeigt das Beispiel im rheinischen Korschenbroich40. Dennoch können engagierte Mitarbeiter durchaus auch auf Erfolge verweisen. Sozialpartnerschaftliches Engagement und kooperative Unternehmensführung im selbständigen Einzelhandel (SEH) der EDEKA erfordert intensive Betreuung der Mitarbeiter und eine Begleitung des Partizipationsprozesses durch die Gewerkschaften. Ansonsten werden mit der strategisch angelegten Ausbreitung des SEH in der EDEKA die weißen Flecken auf der Mitbestimmungslandkarte im Einzelhandel größer.

Persönliches Engagement der Mitarbeiter für betriebliche Mitbestimmung im Zuge oder in Vorbereitung der Überführung einer Regiefiliale in den selbständigen Einzelhandel kann auch mit intensiver Überzeugungsarbeit und Betreuung durch den bislang verantwortlichen regionalen Betriebsrat nicht erzwungen werden. Die Arbeitsbelastungen und die in der Mehrzahl prekären Beschäftigungsverhältnisse im Lebensmitteleinzelhandel bilden dafür die denkbar ungünstigsten Rahmenbedingungen. Zudem fehlen wegen der kleinteiligen Unternehmensstruktur im SEH für eine dauerhafte Begleitung des Partizipationsprozesses durch die Gewerkschaft ver.di zum Teil auch die personellen Ressourcen. Wenn es nicht gelingt, mit geeigneten Konzepten den berechtigten Anspruch auf Mitbestimmung unter dem deutschlandweit einheitlichen EDEKA-Logo auch in den Köpfen der Vorstände der EDEKA Regionalgesellschaften zu verankern, dann vergrößern sich mit der strategisch angelegten Ausbreitung des SEH die weißen Flecken auf der Mitbestimmungslandkarte im Einzelhandel.

Untersuchungen belegen, dass lediglich 10 Prozent aller betriebsratsfähigen kleinen und mittleren Unternehmen zwischen 5 und 500 Mitarbeitern über einen Betriebsrat verfügen.41 Im klein- und

38 Quelle: ‚Das System EDEKA‘ von Gunhild Lütge, Die Zeit, Nr. 13/2009 vom 19.03.2009. 39 Nach vertraulichen gewerkschaftsinternen Informationen wurden in einzelnen Regionalgesellschaften zum Teil erhebliche Abfindungen und bezahlte Freistellungen angeboten, um das Betriebsratsmitglied zum Verlassen der Filiale zu bewegen. 40 Gudrun Giese, Rechtlos nach Privatisierung?, EDEKA News 1/2010, Mai 2010, ver.di Fachbereich Handel, Berlin, S. 3. 41 Angaben aus Schlömer, Nadine/Kay, Rosemarie/Backes‐Gellner, Uschi/Rudolph, Wolfgang/Wassermann, Wolfram: Mittelstand und Mitbestimmung – Unternehmensführung, Mitbestimmung und Beteiligung in mittelständischen Unternehmen, Münster. 2007, zitiert nach Ralph Greifenstein/Helmut Weber: Arbeitnehmerbeteiligung im Mittelstand zwischen Patriarchat und Mitbestimmung, WISO direkt, 4 Seiten, herausgegeben von der Abt. 

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mittelständischen selbständigen Lebensmitteleinzelhandel (SEH) tendiert der Anteil von Unternehmen mit Betriebsrat gegen Null. Zu diesem Ergebnis kommen die exemplarisch für zwei Vertriebsregionen der EDEKA erhobenen Statuszustände in den von selbständigen Kaufleuten geführten Super- und Verbrauchermärkten. Zudem wurde beispielhaft dokumentiert, dass in den von Selbständigen geführten Mehr-Filialunternehmen im SEH der EDEKA eine bewusste Abwehrhaltung gegen die Betriebsverfassung und die Einrichtung von Betriebsräten überwiegt42.

Die Mitbestimmung durch den Betriebsrat ist, neben der Unternehmensmitbestimmung, der institutionelle Grundpfeiler der Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Ohne die Beteiligung von Betriebsräten sind auch im Lebensmitteleinzelhandel zentrale arbeitnehmerorientierte Leitbilder von „Wirtschaftsdemokratie“ und „Guter Arbeit“ kaum umzusetzen.43 Damit sind sowohl die Unternehmen in ihrer sozialen Verantwortung, die Gewerkschaften aber auch die politischen Parteien gefordert, koordiniert darauf Einfluss zu nehmen, dass die Durchsetzung des Betriebsverfassungsgesetzes in „mitbestimmungsfreien Zonen“ sichergestellt wird. „Auch nach der Reform des BetrVG von 2001 existieren immer noch mehrheitlich vertretungslose Unternehmen ohne Betriebsräte bzw. ohne rechtlich abgesicherte Arbeitnehmerbeteiligung vor allem im Klein- und Mittelstand. … Politik und Gewerkschaften sollten daher in einem koordinierten Vorgehen darauf hinwirken, die gesetzlichen Voraussetzungen des Betriebsverfassungsgesetzes zu verbessern.“44

Eine solche anachronistische Grundposition im selbständigen Einzelhandel (SEH) der EDEKA wird durch zwei für den Lebensmitteleinzelhandel spezifische Entwicklungen verfestigt:

A.) Der Wandel hin zu prekären Beschäftigungsverhältnissen im Lebensmittelhandel wird auch für die Kunden zunehmend erlebbar. Existenzsichernde Vollzeitarbeitsverhältnisse werden zum Auslaufmodell. Zwischen 35 und 37,5 Prozent der Mitarbeiter in den Super- und Verbrauchermärkten stehen noch in einem Vollzeitarbeitsverhältnis.45 Dementsprechend wächst die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Das bedeutet konkret, dass der Anteil von Teilzeitbeschäftigten, insbesondere von geringfügig entlohnten Beschäftigten und befristet Beschäftigten, ansteigt. Daneben wächst, statistisch eher unbeobachtet, aber mit folgenreichen Konsequenzen für die Arbeitsbeziehungen in den Filialen des SEH, die Zahl an Leiharbeitnehmern und Arbeitnehmern aus Dienstleistungsunternehmen, die im Rahmen von Werkverträgen arbeiten (z.B. in der Regalverräumung). Im Zusammenhang mit der Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse werden die betrieblichen Arbeitsbeziehungen stark belastet. Hinzu kommen sinkende gewerkschaftliche Organisationsgrade im SEH, was in der Folge ein repressives Betriebsklima befördert.46

B.) Übergeordnete Verpflichtungen bspw. im Rahmen der sozialen Verantwortung (Corporate Social Responsibility – CSR oder tariflicher Vereinbarungen) der Branche Lebensmitteleinzelhandel müssen von den selbständigen Einzelhändlern kaum übernommen werden, da sie nicht zur Mitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels verpflichtet und somit auch nicht tarifgebunden sind.

Wirtschafts‐ und Sozialpolitik d (Warich, Teilbranchenanalyse Lebensmitteleinzelhandel ‐ Branchenüberblick und Konzerndaten, Ausgabe 2012, 2012)er FES, Bonn, August 2008. 42 Bert Warich, Umstrukturierung im Lebensmitteleinzelhandel am Beispiel der Handelskonzerne REWE und EDEKA, Arbeitspapier 228, Hans‐Böckler‐Stiftung, Düsseldorf, Juni 2011, S. 29 ff. 43 Vgl. u.a. Zukunftsfeste betriebliche Mitbestimmung, Eine Herausforderung für Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik, Ralph Greifenstein/Helmut Weber, WISO direkt, 4 Seiten, herausgegeben von der Abt. Wirtschafts‐ und Sozialpolitik der FES, Bonn, Nov. 2009. 44 Ralph Greifenstein/ Helmut Weber: Arbeitnehmerbeteiligung im Mittelstand zwischen Patriarchat und Mitbestimmung, WISO direkt, herausgegeben von der Abt. Wirtschafts‐ und Sozialpolitik der FES, Bonn, August 2008, Seite 2, 4. 45 Bert Warich, Teilbranchenanalyse Lebensmitteleinzelhandel ‐ Branchenüberblick und Konzerndaten, Ausgabe 2012, Berlin, Januar 2012, S. 8. 46 Greifenstein, Ralph; Weber; Helmut: Zukunftsfeste betriebliche Mitbestimmung, a.a.O. 

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Diese komplizierten Rahmenbedingen in Verbindung mit dem Strukturwandel und hohem Wettbewerbsdruck im Lebensmitteleinzelhandel erschweren die Durchsetzung der Betriebsverfassung und des Rechts auf betriebliche Mitbestimmung.

In Hinblick auf Handlungskonzepte, die zur Anerkennung tariflicher Standards und zur Verringerung ‚mitbestimmungsfreier Zonen‘ im SEH von EDEKA beitragen können, sollten vor dem Hintergrund empirischer Studienergebnisse47 mindestens zwei strategische Ansätze verfolgt werden:

1. Im Zuge der ‚Privatisierungsoffensive‘ der EDEKA wächst die Zahl und die wirtschaftliche Bedeutung des privatbetriebenen Lebensmitteleinzelhandels im EDEKA- Verbundunternehmen. Mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen, koordiniert von den Gewerkschaften, kann darauf hingewirkt werden, die Umsetzung der Betriebsverfassung in Form der Arbeitnehmermitbestimmung als wichtiges Element der sozialen Verantwortung (Corporate Social Responsibility – CSR) für diesen wachsenden Unternehmensbereich von den EDEKA- Regionalgesellschaften einzufordern und einen vergleichbaren Stellenwert wie Versorgungsqualität und Lebensmittelsicherheit zuzumessen. Hier kann konzeptionell an erfolgreiche ver.di Kampagnen angeschlossen werden. Dem EDEKA- Verbund muss deutlich gemacht werden, dass es an der Zeit ist, sich in Umsetzung der ‚Privatisierungsstrategie‘ den neuen Gegebenheiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen und nicht nur zeitgemäße wirtschaftliche Konzepte im Umgang mit den genossenschaftlich organisierten Einzelhändlern zu präsentieren, sondern ebenso einen verbindlichen Kodex im sozialpartnerschaftlichen Umgang mit den Beschäftigten einzuführen. Einen ersten Schritt ist die EDEKA- Regionalgesellschaft Minden-Hannover gegangen. Unter dem Titel „So arbeiten wir zusammen!“ wurden am 12. März 2012 von EDEKA Minden-Hannover Regeln der Zusammenarbeit zwischen privaten Einzelhändlern, Arbeitnehmern und Regionalgesellschaft in einem allgemeinverbindlichen Leitbild publiziert. An der Erarbeitung waren sowohl Vorstand als auch Betriebsrat beteiligt. Aussagen zur Verbindlichkeit des Kodex sowie praktische und rechtliche Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer in Umsetzung der ‚Regeln der Zusammenarbeit‘ bei EDEKA Minden-Hannover stehen noch aus, sollten in Hinblick auf tatsächliche Konsequenzen beobachtet und bewertet werden. Bewährt sich ein solches Instrument, kann es auch auf eine mögliche Übertragbarkeit auf andere EDEKA- Regionalgesellschaften geprüft werden. In den anderen sechs Regionalgesellschaften der EDEKA ist mit einer solchen Leitbilddiskussion (nach bisherigem Kenntnisstand) noch nicht begonnen worden.

2. Langfristig kann dem Wandel in den Unternehmens- und Arbeitsstrukturen sowie in den Arbeitsbeziehungen im genossenschaftlich organisierten Lebensmitteleinzelhandel der Bundesrepublik nicht allein durch gewerkschaftliches Engagement vor Ort begegnet werden, vielmehr muss die Betriebsverfassung die fortschreitende Verschlechterung von Arbeitsbeziehungen in diesem spezifischen Wirtschaftsbereich anerkennen. Diesem gerade im Einzelhandel verstärkt anzutreffenden respektlosen Umgang mit den Mitarbeitern, einhergehend mit der Verhinderung von Betriebsratsgründungen, sollte auf gewerkschaftliche Initiative hin ggf. durch einen verpflichtenden Status des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden.“48

„Qualifizierte Mitbestimmung zielt auf die Wiedergewinnung des Respekts im Umgang mit den Beschäftigten und dem Betriebsrat auf Augenhöhe. Der Respekt vor den Arbeitnehmern, die Mitbestimmung der Beschäftigten über die Verwendung ihres Arbeitsvermögens … sind Quellen der Industriellen Demokratie“.49

47 Bert Warich, Umstrukturierung im Lebensmitteleinzelhandel am Beispiel der Handelskonzerne REWE und EDEKA, Arbeitspapier 228, Hans‐Böckler‐Stiftung, Düsseldorf, Juni 2011, S. 29 ff. 48 Ebenda, S. 57f. 49 Wannöffel, Manfred (2008): Entscheidend ist im Betrieb. Qualifizierte Mitbestimmung als Herausforderung für Gewerkschaften und Politik. WISO Diskurs, herausgegeben von der Abt. Wirtschafts‐ und Sozialpolitik der FES, Bonn. (Wannöffel, 2008) 

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Literaturverzeichnis

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5)

(von Bärbel Thamhayn und Katharina Wesenick) In sieben Schritten zum Erfolg: Der Verlauf unserer Kampagne “Vertrauen ist gut, Tarifvertrag ist besser“ zur Beibehaltung der Tarifstandards im privatisierten E-Center Scheuner e. K., Bad Gandersheim 1. Knall auf Fall: Privatisierung des E- Centers

in Bad Gandersheim Im Mai 2010 kommt es zur Wahl des eigenständigen Betriebsrats des E-Centers in Bad Gandersheim . Bärbel Thamhayn wird Vorsitzende. Ende Februar 2011 wird der BR durch die Geschäfts- und Marktleitung äußerst kurzfristig informiert, dass der Markt zum 01.04.2011 privatisiert wird. Als Inhaber und selbstständiger Kaufmann, wird der ehemalige Marktleiter Herr Scheuner das E-Center übernehmen. Wir fragen: Warum wird privatisiert? Weil der Markt so gut gewirtschaftet hat, dass er jetzt in die Privatisierung gehen könne. Dies sei den Mitarbeiter/innen zu danken, die eine so gute Arbeit geleistet hätten, so der Tenor der GL. Es werden die gesetzlichen Bestimmungen erläutert und eingehalten, es wird aber auch darauf hingewiesen, dass der selbstständige Kaufmann als Inhaber sofort ab Übernahme nicht mehr tarifgebunden ist. Die Verunsicherung und Angst vor der Zukunft der Arbeitsbedingungen unter den Kolleg/innen ist groß, haben sie doch schon viel von Privatisierungen gehört und immer gehofft: „möge es noch recht lange dauern bis wir privatisiert werden“. Für den Betriebsrat, die Kollegen und auch die Kollegen aus dem GBR sowie die zuständige Gewerkschaftssekretärin ist dies ein überfallartiger Akt. BR-Vorsitzende B. Thamhayn macht dies der GL (Herrn Berger) unmissverständlich in einer Rede auf der GBR-Sitzung Anfang März 2011 in Berlin deutlich. Die einzige Reaktion nachdem Herr Berger dem Vortrag sehr interessiert folgte, war folgender Kommentar: „wir teilen erst Fakten mit, wenn alle Verträge unterschrieben sind. Man kann mehr Unsicherheit verbreiten, wenn man ständig über Eventualitäten spekuliert als „Knall auf Fall“ die Wahrheit zu hören“.

2. Warum war und ist Privatisierung für viele Beschäftigte im Lebensmittel-

Einzelhandel so bedrohlich?

Wir wussten und wissen, dass nahezu überall dort, wo ehemalige „Regie- Betriebe“ privatisiert werden innerhalb von wenigen Monaten große Teile des Personals „ausgetauscht“ werden: z.B. durch 400 Euro Kräfte und untertariflich bezahlte Neueinstellungen. Und das, obwohl eigentlich über das erste Jahr der gesetzliche „Schutz“ herrscht. Wie das kommt? Indem die neuen Besitzer/innen der Märkte, die so genannten selbständigen Kaufleute Tarifflucht begehen: sie gehören keinem Arbeitgeberverband mit Tarifbindung an und/oder unterschreiben keine so genannten Anerkennungstarifverträge (Übernahme aller tariflichen Leistungen aus dem Flächentarifvertrag). Gibt es keine starken gewerkschaftlichen Strukturen im Betrieb stecken die Beschäftigten oft in Ohnmacht und Angst fest. Die Folge: Berichte von Fällen, in denen „altes“ Stammpersonal gedrängt wird, auf tarifliche Leistungen zu verzichten oder durch Schikane „freiwillig“ geht kursiert durch die ganze Republik. Die Gefahr besteht dann, dass eine Zwei-

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Klassen-Belegschaft entsteht: die „alten, teuren“ werden gegen die „neuen, jungen“ Beschäftigten ausgespielt und so gegenseitig zur Bedrohung. Die fehlende Tarifbindung führt außerdem zu realen Lohnverlusten. Die einzige Lösung war und ist: Beibehaltung der Tarifverträge für alle, damit alle nach den gleichen Standards bezahlt und behandelt werden.

3. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Es geht los….

Sofort Anfang März beginnt B. Thamhayn sich mit dem BR die Kollegen und Kolleginnen gewerkschaftlich zu organisieren. Der BR arbeitet eng mit ver.di Sekretärin Katharina Wesenick zusammen. Für den BR und ver.di steht jetzt die Aufklärung der Kolleg/innen an erster Stelle. Ein erstes Mitgliedertreffen findet statt:

Begrüßung von 18 neuen Mitgliedern – nunmehr 40 Mitglieder – gewerkschaftlicher Organisationsgrad zu diesem Zeitpunkt: bei 90%

Klar ist: dieser Kampf kann nur durch die Mitglieder selbst gewonnen werden Auflistung der bestehenden Gefahren für die Zukunft der Arbeitsbedingungen Mitgliederbefragung nach Wunsch zur Tarifbeibehaltung Gemeinsam erarbeiten wir Pro und Contra zur Verfolgung des Ziels „Tarifsicherheit“ Demokratische Abstimmung: für oder gegen Tarifsicherheit: Alle sind dafür. Beschluss Erste Aktion: Freundliche Aufforderung der Mitglieder in Schriftform an den

Arbeitgeber zum Eintritt in den Arbeitgeberverband mit Tarif oder Abschluss eines Anerkennungs-Tarifvertrages unter Einhaltung einer Frist bis Mitte April. Alle Mitglieder unterschreiben den Brief.

Ergebnis: nach Ablauf der Frist verweigert Herr Scheuner beides. Wir sollten doch „Vertrauen zu ihm haben: wenn es dem Markt gut geht, würde es den Mitarbeite/innen auch gut gehen – wenn es dem Markt schlecht geht könne es auch den Mitarbeiter/innen nicht gut gehen.“ Wir sollen also seinem Gutdünken in Zukunft ausgeliefert sein. Das lehnen wir ab. Es folgen weitere kontinuierliche Treffen der Mitglieder zuerst im Drei- dann im Zwei-Wochenabstand. Hier:

Diskussion und Abstimmung über weiteres Vorgehen zum Erreichen des Ziels Austausch über die Stimmung im Markt. Die Ängste der Kolleg/innen, was inzwischen

passiert ist Stärkung der Kolleg/innen durch Aufklärung Sprecherinnen für die einzelnen Abteilungen werden gewählt (Kontaktpflege und

Arbeitsteilung) Ein soziales Netzwerk wird aufgebaut

1. Betriebsräte in Bad Gandersheim, 2. Politiker/Innen, ver.di Senior/Innen etc. 3. ver.di Sekretärin vermittelt Kontaktdaten, die Sprecher/Innen koordinieren Kontakte

Der Aktionsplan wird erstellt Die Aktionen werden vorbereitet Nach demokratischer Abstimmung unter den Mitgliedern: ver.di fordert Herrn Scheuner zu

Verhandlungen über einen Anerkennungs-Tarifvertrag auf.

Wir sind uns einig: „Tarifverträge fallen nicht vom Himmel… deshalb wollen wir dafür kämpfen.“ Unsere Devise: die Kolleg/innen mitnehmen ohne Druck auszuüben, wenn die Kolleg/innen Angst haben: Verständnis zeigen, es ist normal Angst und Bedenken zu haben. Aber deutlich machen:

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wenn Du Deinen Job behalten willst, dann komm mit ins Boot…nur gemeinsam sind wir stark!!! 4. Wie versucht der Kaufmann nun, (gut beraten von der EDEKA Hannover-

Minden?!) die Unterschrift unter den Tarifvertrag zu vermeiden?

Herr Scheuner nimmt sich eine Rechtsanwältin zur Hilfe und lässt durch sie antworten, dass er zu keinerlei Verhandlungen bereit sei. Ein Sondierungsgespräch wäre vorstellbar. Die ver.di Mitglieder willigen ein.

Anfang Juli 2011: ver.di lädt ein zu einem gemeinsamen Sondierungsgespräch – wird kurzfristig von Dirk Scheuner abgesagt. Der BR und ver.di laden die Solidaritätspartner/innen zu einem Informationsabend ein: Aufklärung der Ist-Situation – Aufforderung zur Unterstützung der Kolleg/innen

Aktion: ein von uns entworfener Button wird während der Arbeit getragen. So werden unsere Kund/innen über unsere Forderung nach Tarifsicherheit informiert.

Ende Juli 2011: ver.di schlägt Termin für ein Sondierungsgespräch vor – wird erneut kurzfristig von Dirk Scheuner abgesagt.

Anfang August: Hr. Scheuner zahlt die von ver.di (Tarifverhandlungen Lohn und Gehalt 2011) ausgehandelte tarifliche Erhöhung von 3 % freiwillig- ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und auch nicht für alle Arbeitnehmer/innen.

Herr Scheuner scheint auf Zeit spielen zu wollen: er verzögert die Sondierungsgespräche immer wieder- mit erstem Erfolg: Zermürbung macht sich unter einige Kolleg/innen breit – die ersten Austritte von Kolleg/innen folgen. Es gibt ernsthafte Hinweise darauf, dass von der Geschäftsführung Spaltungsversuche innerhalb der Belegschaft vorgenommen werden. Denn die größte Stärke der ver.di Kolleg/innen ist ihr Zusammenhalt. Wird der zerstört ist der Erfolg in Gefahr! Aber auch: Die ersten Solidaritätserklärungen von anderen Betriebsräten und Gewerkschafter/innen treffen ein und zwar aus dem ganzen Landesbezirk, z.T. auch von Politiker/innen aus dem Bundestag: das macht MUT. 5. Unsere Ziele haben sich auch im August, nach 5 Monaten nicht geändert,

nun drücken wir auf die Tube….

Auf einem Mitgliedertreffen stimmen wir ab: Weitermachen oder Aufgeben? Alle Stimmen für Weitermachen, keine für Beenden: Gemeinsame Entwicklung eines Spannungsbogens mit Aktionsideen…

für zögerliche Mitglieder für offensive Mitglieder für das soziale Netzwerk Logo für Flugblatt und Plakate wird von BR und Sprecherinnen entworfen Plakate und Flugblätter werden gedruckt Unter die Dauerwerbung vom E-Center in der örtlichen Presse online wird unser „LOGO“

geschaltet B. Thamhayn und eine aktive Kollegin treten in ver.di Film auf, der auf der www.verdi.de

Startseite zu sehen ist: http://www.youtube.com/kaweseni (runter scrollen)

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Anfang September: 2. Button-Tag und Plakate in den Autos der Kolleg/Innen 16. September: Sondierungsgespräch – keine Einigung mit Dirk Scheuner.

Dieser erklärt, die tariflichen Erhöhungen im nächsten Jahr nicht umstandslos umsetzen zu wollen.

September: Hr. Scheuner legt dem Betriebsrat eine Neueinstellung vor, die 300 Euro UNTER Tarif verdienen soll. Der Betriebsrat lehnt ab, da dies zu der gefürchteten 2-Klassenentlohnung führen würde.

21. September: ver.di erklärt die Verhandlungen als gescheitert. 24. September: eine erste Kundgebung findet vor dem E- Center statt.

und Kund/en/Innen erklären sich solidarisch.

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Wir gehen an die Presse:

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6. Nützlich für den Arbeitgeber:

Streit in der Belegschaft! Wer da wohl dahinter steckt? Nach der ersten Kundgebung….

Einige Kolleg/Innen hängen Plakate auf:" Wir sind nicht damit einverstanden wie unser Betriebsrat und die Ver.di gegen unseren Arbeitsplatz demonstriert! Wir werden nach Tarif bezahlt!!! Wir freuen uns weiterhin auf Ihren Einkauf! Ihre Mitarbeiter“

30. September: Hr. Scheuner bietet an, bis 31.12.2012

nach Tarif zu zahlen, aber nur für die alten Beschäftigten. Die Übernahme aller anderen Tarifverträge (Urlaubs-und Weihnachtsgeld, 37,5 Stunden Woche etc.) verweigert er weiter.

Die Spaltung der Belegschaft wird vorangetrieben:

Die zu einer Betriebsfahrt angemeldeten ver.di. Mitglieder werden durch Kolleg/innen anonym aufgefordert fern zu bleiben! „die wollen wir nicht haben!“

Ein Vertreter der Edeka Hannover-Minden-Zentrale soll zu mehreren nicht-ver.di Mitgliedern gesagt haben, dass man doch besser die Aktivitäten für einen Tarifvertrag stoppen solle weil die Zentrale aus Minden ansonsten Herr Scheuner den Markt wegnehmen (!) und einen unangenehmeren neuen Selbständigen in das E-Center „setzen“ würde. Dies führt zu weiterer Verunsicherung und schürt die Abneigung der ausgetretenen ver.di Mitglieder gegenüber den aktiven ver.di Kolleg/innen.

Wir entwickeln eine weitere Aktion: Anfang Oktober: In einer Mitarbeiterversammlung, an der die Gewerkschaft nicht

teilnehmen darf, tritt die beratende Rechtsanwältin von Hr. Scheuner u.E.n. aggressiv auf. Die Kolleg/innen werden gezielt desinformiert: Es wird ver.di und dem Betriebsrat vorgeworfen, Arbeitsplätze zu vernichten.

8. Oktober: zweite Kundgebung mit Presse, musikalische Markt- Demo mit 50 Unterstützer/innen und Filmteam (NDR) Positiver Fernseh- Bericht Im NDR: „Hallo Niedersachsen“ nachzusehen unter:

http://www.youtube.com/user/kaweseni

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Die Eskalation erreicht ihren Höhepunkt Auf Facebook kündigen ehemalige und Nicht-ver.di Mitglieder gegenüber ver.di Kolleg/innen körperliche Gewalt an. ver.di Mitglieder gehen mit Angst zur Arbeit – die Gespräche untereinander brechen ab. Hr. Scheuner hält sich aus diesem Konflikt raus und weigert sich, Stellung zu beziehen. Bärbel Thamhayn sorgt sowohl gegenüber der Presse als auch gegenüber den Kolleg/innen für Klarstellung. Deeskalation, die Facebook- Täter/innen entschuldigen sich schließlich.

Bad Gandersheim!!!DAS AKTUELLSTE SOFORT!!!‐ Dienstag, 11.10.2011 ‐ 09:21 Tarifstreit: Gegenseitige Mobbingvorwürfe – Bärbel Thamhayn versucht Wogen zu glätten – Empörung über Attacken auf facebook – Heute Mitarbeiterversammlung In dem eskalierten Tarifstreit zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem E–Center (Edeka) Bad Gandersheim gibt es neue Entwicklungen. Nach der spektakulären Aktion von ver.dianern am vorigen Samstag im E–Center in Bad Gandersheim sind die Gemüter der organisierten und nichtorganisierten Belegschaftsmitglieder weiter aufgewühlt und Fronten verhärtet. Es gibt gegenseitige Mobbingvorwürfe. Bärbel Thamhayn wies seitens ihrer Gewerkschaft Vorhaltungen zurück, ver.di Aktive hätten abtrünnige Mitglieder in irgendeiner Weise gemobbt. "Es sind Gespräche darüber geführt worden, dass Beschäftigte, die aus der Gewerkschaft austreten wollen, beispielsweise ihren Rechtsschutz verlieren." Thamhayn, die Betriebsratsvorsitzende im E–Center ist, bemühte sich im Gespräch mit gk online, die aufgeheizten Emotionen innerhalb der Mitarbeiterschaft zu beruhigen. "Wir sind an sachlichen Gesprächen interessiert und führen sie bei aller Gegensätzlichkeit in der Sache im gegenseitigen Respekt voreinander." Bestürzt zeigte sie sich über öffentlich bekanntgewordene Attacken von Kolleginnen auf der privaten Internetplattform facebook. Darin werden Gewerkschaftsmitglieder ungewöhnlich scharf angegangen. gk online liegen Protokolle des umstrittenen Chats vor. Thamhayn und eine weitere Mitarbeiterin des E–Centers, die sich massiv durch die Facebook‐Äußerungen bedrängt fühlt und im Gespräch mit gk online ihre Tränen nicht unterdrückten konnte, verlangen von den Urheberinnen zumindest eine Entschuldigung, damit es nicht zur Prüfung einer juristischen Würdigung kommt. Heute bemühen sich die Beteiligten in einer Mitarbeiterversammlung (zu der nur ver.di Mitglieder eingeladen sind), den Zwist innerhalb der Belegschaft zu beruhigen. In der Edeka–Konzernzentrale in Hamburg laufen unterdessen Überlegungen, wie sich mit der Gewerkschaft auf Bundesebene Vereinbarungen in dem schwelenden Tarifkonflikt finden lassen. Die lokalen Kleinkriege, wie sie jetzt am Beispiel Bad Gandersheim bundesweite Aufmerksamkeit auslösten, haben Edeka‐Manager aufhorchen lassen. Mehr zum Thema hier und in der Tageszeitung, dem Gandersheimer Kreisblatt. Zum Foto: Bärbel Thamhayn (rechts) mit der Ver.di Hauptamtlichen Katharina Wesenick bei der Protestveranstaltung am vorigen Samstag vor dem E–Center.fis Quelle: http://www.gandersheimer‐kreisblatt.de/news/?do=archiv&monat=2011‐10 

7. Mit letzter Kraft auf die Zielgerade: Edeka Minden Hannover reagiert auf die mediale Öffentlichkeit

Bärbel Thamhayn fährt nach Minden zur Zentrale und fordert die Geschäftsleitung auf, sich für Einhaltung des Betriebsverfassungsgesetzes durch Hr. Scheuner und die Unterzeichnung des Tarifvertrages stark zu machen.

Auf Rat der EDEKA-Zentrale findet ein 6 stündiges Mediationsgespräch zwischen Herrn Scheuner und Frau Thamhayn unter Teilnahme der GBR-Vorsitzenden mit dem von der EDEKA vorgeschlagenen Mediator Herrn Dannenberg statt.

Wir nehmen den Druck aus der Belegschaft und erhöhen ihn auf H. Scheuner (Arbeitgeber).Unterstützer/innen aus Politik und Gesellschaft rufen bei ihm an und fordern ihn zum Einlenken auf.

Landesfachbereichsleiter Heiner Schilling verabredet sich für folgende Woche für ein Gespräch mit dem Arbeitgeber und macht ein neues Angebot

Die GBR Vorsitzende der EDEKA- Hannover Minden reicht ein zweites Angebot ein: Unterschrift für die gerade einen Tag vorher abgeschlossene BV zur Tarifbindung nach Privatisierungen. Allerdings nur für die „alte“ Belegschaft. Wir sind uns sicher: ohne uns wäre diese Betriebsvereinbarung so schnell nicht abgeschlossen worden.

Anruf Personal - Geschäftsführer bei Bärbel Thamhayn: „Die EDEKA möchte eine Lösung“. Anscheinend sind die „selbständigen Kaufleute“ doch nicht so unabhängig, wie oft von der EDEKA behauptet?!

Die EDEKA ist natürlich an der Vereinbarung interessiert, die sie nun mit dem GBR geschlossen haben. Diese wird vom Betriebsrat und Hr. Scheuner unterzeichnet.

Die neuen BR Wahlen im Dezember werden durch die ver.di Kolleg/innen gewonnen.

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Es besteht nun dank der Kampagne Tarifbindung für die Dauer von drei Jahren für die alte Belegschaft, der Betriebsrat verhindert Neueinstellungen unter Tarif.

Fazit und Resümee Unser Streiten für tarifvertragliche Sicherheit bei der EDEKA hat gezeigt: wir haben Hinweise darauf, dass sich das Unternehmen nicht scheut, auf die legitime Forderung nach Tarifverträgen mit Spaltungsversuchen in der Belegschaft, Desinformation und Drohungen mit Standortschließungen zu reagieren. Das beharrliche Durchhalten der ver.di Aktiven und die öffentliche Wahrnehmung des Konfliktes konnte dadurch jedoch nicht gebrochen worden: Wir haben einen großen Erfolg erzielt, so sind wir einer der wenigen Märkte in Deutschland, in denen auch 1 ½ Jahre NACH der Privatisierung noch die alte Belegschaft mit dem gleichen Arbeitsverträgen und tariflich abgesichert arbeitet. Für viele der ca. 120.000 anderen Kolleg/innen, die in privaten Edeka- Märkten Arbeiten ein frommer Wunsch! Als starker Betriebsrat, wissen wir Einstellungen unter Tarif zu verhindern Die Stimmung im Markt hat sich normalisiert, die Kolleg/innen reden wieder miteinander. Im April 2014 geht es dann an die nächste Runde: die Tarifbindung läuft aus und wird dann erneuert erstritten werden müssen! Tipps für Kolleg/innen die es uns nachmachen wollen:

Mindestens die Mehrheit im Markt sollte gewerkschaftlich organisiert sein, ohne Stärke und Zusammenhalt geht es nicht. Deshalb: Regemäßige Mitgliederversammlungen machen, die Kolleg/innen einzeln anrufen, auf Mitgliedschaft ansprechen, einladen zu Mitgliederversammlungen. ES geht nur, wenn die Kolleg/innen gemeinsam aktiv werden.

Dem Arbeitgeber nicht zu viel Raum für zeitliche Verzögerungen gegeben werden! Ein beliebtes Mittel gegen gewerkschaftliche Kampagnen ist Spaltung und die Verbreitung

von „Halbwahrheiten“) unter der Belegschaft. Deshalb: Ein gutes Informationsnetz zwischen den Kolleg/innen aufbauen. Sich Zeit nehmen für

Gespräche, Einzel Gespräche fördern, Probleme und Ängste müssen ernst nehmen werden.

Kolleg/innen gut informieren über die Arbeitskampfrechte und Varianten des Arbeitskampfes

Die Belastung in der Durchführung auf mehrere Schultern verteilen Förderung des Zusammenarbeit untereinander In „Ruhephasen“ und im Vorfeld die Kolleg/innen auf Gegenstrategien des Arbeitgebers

vorbereiten, und sie stärken am Ziel festzuhalten – regelmäßige Treffen und Gesprächsaustausch – Zukunftsvorbereitung– nächste Schritte planen.

Dem sozialen Netzwerk (den Unterstützer/innen von außen) Verantwortung geben damit es sich verpflichtet fühlt mit zu handeln und vor Ort präsent zu sein – auch in der Ruhephase das soziale Netzwerk mit Informationen versorgen.

Im Internet präsent sein: einen Blog (Internet- Tagebuch) eröffnen, das social web 2.0 nutzen um schnell zu informieren und zu mobilisieren. Und um von der manchmal eher arbeitgeberlastigen Presse unabhängiger zu werden. Unterstützung bekommst du dafür von deiner Gewerkschaft ver.di.

Ihr steht auch kurz vor einer Privatisierung und wollt ebenfalls den Tarifschutz behalten? Ihr seid schon privatisiert und wollt endlich wieder nach Tarif bezahlt werden? Meldet Euch bei uns, wir geben gern unsere Erfahrungen weiter!

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6) Rechtslos nach Privatisierung Neuer Eigentümer verschlechtert Arbeitsbedingungen im E – Center und behindert die BR Wahl (von Sabine Busch) Von Tariflöhnen, gesetzlichen Arbeitszeitregelungen und Mitbestimmung hielt er wenig, der neue Inhaber des E-Centers im niederrheinischen Korschenbroich. Gerhard Handick übernahm das Geschäft von der Edeka Moers (Regiebetrieb) im November 2009 mit 91 MitarbeiterInnen und führte es als privater Kaufmann weiter. Detlef Dahlbeck vom BR der Edeka Neukauf in Moers setzte sich mit seinem Übergangsmandat sogleich für die Wahl eines Betriebsrates ein. Ein Wahlvorstand wurde bestellt, um eine lückenlose Vertretung der Beschäftigten sicherzustellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Handick schon einen Teil der Belegschaft ausgetauscht. Die Kolleginnen des Wahlvorstandes wurden massiv unter Druck gesetzt, 2 erhielten völlig rechtswidrig die Kündigung. Die von Gerhard Handick aufgebaute Drohkulisse blieb nicht ohne Wirkung. Zwar nahm er die Kündigungen auf Druck von ver.di zurück, die BR-Wahl fand jedoch erst einmal nicht statt. Sein Wunsch an die Belegschaft: „Geben Sie mir doch erst einmal die Chance, mich als seriöser und guter Arbeitgeber zu beweisen. Sollte ich Sie enttäuschen, dann habe ich einen BR nur verdient“ wurde seitens der Belegschaft erfüllt. Die Beschäftigten distanzierten sich von einer Wahl. Lange hielt der versprochene Hausfrieden jedoch nicht an, denn er verschlechterte die Arbeitsbedingungen innerhalb kürzester Zeit:

Aushilfen wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bezahlter Urlaub verweigert,

es gab zahlreiche Verstöße gegen tarifliche und gesetzliche Regelungen, die zu Verunsicherung und Verärgerung führten,

es wurden Zuschläge gestrichen und Arbeitszeiten geändert,

Überwachungskameras wurden installiert

die Kassiererinnen sollten evtl. entstehende Kassendifferenzen aus eigener Tasche begleichen.

Im April 2010 lud ver.di erneut zu einer Versammlung ein. Doch trotz der Vielzahl der Probleme kam nur ein kleiner Teil der Beschäftigten. Dieser war sich jedoch sicher: Wir brauchen einen BR. Ein Wahlvorstand wurde gewählt und die BR Wahl eingeleitet. Doch jetzt begann der Krieg erst richtig! Gerhard Handick entließ alle Mitglieder des Wahlvorstandes und erteilte Ihnen obendrein noch Hausverbot. Mit Hilfe von ver.di zogen die Betroffenen vor das zuständige Arbeitsgericht und der ver.di Bezirk Linker Niederrhein erstattete Strafanzeige wegen Behinderung der BR Wahl. Es folgte eine Flut von gerichtlichen Verfahren über 2 Instanzen. Die Kolleginnen setzten sich durch, der BR wurde gewählt und versuchte, seine Arbeit aufzunehmen. Dabei musste jede Selbstverständlichkeit, wie z.B. BR- Büro, PC, Telefon gerichtlich erstritten werden. Der Druck und die Bossingübergriffe auf die 3 betroffenen KollegInnen waren so gravierend, dass der weiteren Belegschaft der Mut fehlte, sich für einen BR auszusprechen. Keiner wollte in eine ähnliche Drucksituation kommen. Nach Monaten voller Beleidigungen, persönlicher Anfeindungen und Intrigen konnten sie die Situation nicht mehr ertragen. Kein BR-Mitglied ist heute noch im Unternehmen beschäftigt. Die Belegschaft ist in der Tat rechtlos nach Privatisierung.

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7) Traurige Wirklichkeit (von Monika Linsmeier)

Meine praktischen Erfahrungen bei „Privatisierungen“ von Edeka Filialen lassen sich am besten am folgenden Beispiel erzählen. In einer Edeka Filiale gab es einen Betriebsrat mit einer Vorsitzenden, die bereits seit 24 Jahren Betriebsrätin in dem Unternehmen war. Bis es zum 01.01.2011 zur Privatisierung der Filiale kam. Der Betriebsrat hatte im Jahr 2010 ca. dreimal Sitzungen und Besprechungen mit dem neuen Arbeitgeber. Die Liste von Fragen wurde auch beantwortet. Problem für den neuen Arbeitgeber waren vor allem die bestehenden Betriebsvereinbarungen. Der Betriebsrat wurde aufgefordert diese aufzulösen bzw. die Vereinbarungen zu kündigen. Außerdem wurde dem Betriebsrat mitgeteilt, dass die Beschäftigten neue Arbeitsverträge bekommen sollten und diese zu unterschreiben seien. Der Betriebsrat war weder bereit die Betriebsvereinbarungen zu kündigen noch neue Arbeitsverträge zu akzeptieren. Am 31.11.2010 erhielten die Beschäftigten per Aushang eine offizielle Einladung zu einem Informationsabend von ihrem künftigen Arbeitgeber. Am Ende der Veranstaltung wurden die Schreiben zum Betriebsübergang nach § 613 a verteilt. Da erhielt der Betriebsrat das erste Mal Kenntnis von der Absicht des neuen Arbeitgebers, dass den Betrieb in zwei einzelne Firmen aufspalten will. Das war für den Betriebsrat der Zeitpunkt des bösen Erwachens. Nach Erhalt des Schreibens zum Betriebsübergang stellte der Betriebsrat fest, dass 4 MitarbeiterInnen ein anderer Arbeitgeber zugeordnet wurde als dem Rest der Belegschaft. Zu diesen 4 MitarbeiterInnen gehörte auch die Betriebsratsvorsitzende, die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende sowie zwei weitere Mitarbeiterinnen. Somit war der Betrieb geteilt in den größeren Lebensmittelbereich und den kleineren Bereich Kiosk. Der Schriftführer des Betriebsrates blieb im Betrieb der zum Lebensmittelbereich gehört. Damit wurde auch der Betriebsrat in zwei Betriebe geteilt. Zu diesem Zeitpunkt war die Angst unter den Kolleginnen und Kollegen schon so groß, dass sie der Rückhalt für Widerstand und mögliche rechtliche Schritte fehlte. Der Betriebsratskollege der im Lebensmittelbereich verblieben war, war arrangierte sich mit seinem neuen Arbeitgeber. Die stellvertretende Vorsitzende war aus Angst um ihren Arbeitsplatz nicht recht bereit was zu unternehmen. So dass die Betriebsratsvorsitzende alleine dastand mit ihrem Ansinnen die Teilung des Betriebes anzuzweifeln. Die Folge der kollegialen Spaltung war, dass kein Einspruch erfolgte und das wiederrum bedeutete dass es keinen Betriebsrat mehr gab. Dann ging es erst richtig los: Im Bereich Lebensmittel wurden mit den MitarbeiterInnen sofort Gespräche über einen neuen Arbeitsvertrag geführt. Die KollegInnen unterschrieben die neuen Verträge mit der Folge, dass sie mit dem neuen Arbeitsvertrag diverse Verschlechterungen wie

- 100,00 Euro weniger Lohn dafür aber Lebensmittelgutscheine - Keine Zuschläge mehr - Keine Vor- und Nacharbeitszeiten mehr - Keine tarifliche Bezahlung mehr - Keine Lohnerhöhungen mehr, dafür zum Teil Benzingutscheine - Teilweise Versetzungen in andere Filialen

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Im Ergebnis, keine Tarifbindung mehr, nur mehr Nachwirkung für wenige Beschäftigte. Der neue Arbeitgeber hat den bisherigen Schriftführer des Betriebsrates offiziell zum neuen Betriebsrat erklärt allerdings ohne Wahlen. Der Arbeitgeber ist der Ansicht, dass bei 35 Beschäftigten ein Betriebsratsmitglied reicht mit dem er alles bereden kann. Das Betriebsverfassungsgesetz interessierte da nicht mehr. Die KollegInnen des Bereichs im Kiosk haben keine neuen Arbeitsverträge unterschrieben. Sie haben allerdings die Tariferhöhung aus dem Tarifabschluss 2011 nicht erhalten und versuchten zum Teil die Ansprüche gerichtlich durchzusetzen. Sie haben Weihnachts- und Urlaubsgeld durch die Nachwirkung des Manteltarifvertrages weiter erhalten, ebenso erhalten sie auch weiterhin die Zuschläge. Da sie sich beharrlich weigerten neue Arbeitsverträge zu unterschreiben, hat der neue Arbeitgeber das Gehalt der Betriebsratsvorsitzenden ohne Vertragsänderung einfach von G III auf G II gekürzt. Eine vertraglich vereinbarte Zulage wurde ihr einfach gestrichen. Zudem erhielt die Kollegin eine Abmahnung, wurde nach ihrer Aussage gemobbt und extrem kontrolliert zum Teil auch vom Marktleiter des Lebensmittelbereiches. Die Kollegin wurde nebenbei von sämtlichen höherwertigen Aufgaben im Kioskbereich enthoben. Sie erhielt die mündliche Mitteilung, dass jetzt eine Kollegin für den Betrieb Kiosk verantwortlich ist. Die Beschäftigten hatten Angst mit der Betriebsratsvorsitzenden zu sprechen. Wenn jemand beobachtet wurde, dass er mit der Vorsitzenden sprach wurde dies sofort an den neuen Arbeitgeber gemeldet. Im Januar 2012 erhielt die bisherige Betriebsratsvorsitzende ihre Kündigung. Die Begründung lautete: betriebsbedingte Kündigung aber mit der mündlichen Erklärung, dass sie ja verheiratet sei und damit nicht auf das Geld angewiesen sei. Sie fand dies höchst diskriminierend. Die Kollegin war insgesamt über 30 Jahre in dem Haus und da kommt ein neuer Arbeitgeber und schickt die Kollegin mit 52 Jahren zur Arbeitsagentur. Nebenbei bemerkt wurde die Kollegin die auch Mitglied des Gesamtbetriebsrates bei der Edeka Neukauf war immer von der Geschäftsleitung von Edeka Neukauf beruhigt, dass die Privatisierung keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigten hätte. Das stimmte ja dann wohl nicht so, denn Die traurige Wirklichkeit ist:

- Die Tarifbindung ist für die Meisten weg - Die Betriebsräte werden gefügig gemacht oder rausgemobbt - Es werden mit den Beschäftigten längere Arbeitszeiten vereinbart - Es gibt unbezahlte Arbeit - Es gibt Lohnkürzungen und neue Arbeitsverträge die schlechter sind für die Beschäftigten

Wie sagte die Kollegin in einem Gespräch zu mir: „Das sind die Auswirkungen wie ich sie erlebt habe und ich fürchte es geht allen so, die privatisiert werden und die Edeka schaut zu.“

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8) E Center und E Center – Zwei Welten Oder die Probleme mit der Tarifflucht

(von Heinz Henning)

Als Mitarbeiter/in im Handel muss man immer wieder feststellen, dass was drauf steht nicht unbedingt auch drin ist oder zumindest nicht das Gleiche ist. Nach einem Betriebsübergang vom E Center Herford (Regie) zum E Center Wehrmann in Herford ist das Unternehmen ein anderes. Zwar gibt es noch den gewählten bzw. den neu gewählten Betriebsrat, die „Alten“ (Arbeitnehmerinnen) bekommen auch noch die Leistungen nach dem jeweils gültigen Tarifvertrag (Tariferhöhungen, Urlaub, Arbeitszeiten, Zuschläge, Sonderzahlungen, Altersvorsorge etc.), doch es gibt eben auch andere Mitarbeiterinnen. Neue bekommen keine Arbeitsverträge mit Tarifbindung; Aushilfen, geringfügig Beschäftigte und Nachtverräumer leben in einem anderen Universum. Wehrmann betreibt neben dem übernommenen E Center in Herford noch weitere vier Edeka Märkte in der Region. In zwei weiteren Betrieben gibt bzw. gab es ebenfalls Betriebsräte. Zwei weitere sind betriebsratslos. Ein erster Erfolg, nach der Übernahme hat der Betriebsrat des E Center Herford eine Gesamtbetriebsratswahl eingeleitet. Inzwischen ist das Gremium etabliert, es gibt auch einen Wirtschaftsausschuss. Inzwischen haben die Betriebsräte auch schon erste Erfolge und eine ordentliche Grundausstattung für die Arbeit erreicht. Nach langen Auseinandersetzungen gibt es inzwischen abschließbare Schränke, Literatur, EDV und Internetanbindung über das Edeka-System und Mobil-Telefone. Erforderliche Schulungen für die Betriebsratsarbeit wurden durchgesetzt. Der GBR verhandelt zäh an der erneuten Einführung eines elektronischen Arbeitszeitsystems, das nach der Übernahme von Wehrmann sogleich abgeschaltet worden war (ATOSS). Der GBR konnte inzwischen die Vorteile für alle Beteiligten verdeutlichen und arbeitet beharrlich an der Wiedereinführung. Betriebsvereinbarungen über Arbeitszeiten, Kameraüberwachung, innerbetriebliche Stellenausschreibungen etc. werden bearbeitet. Ziel ist auch die Anhebung der individuellen Arbeitsbedingungen. Leider ist das Thema Mindestlohn oder gar Tarifbindung noch sehr weit von einer Lösung entfernt. Arbeitsverträge ohne festgeschriebene Sonderzahlungen, Zuschläge und Arbeitszeiten von 40 Std + sind noch häufig anzutreffen. Bei näherem Hinsehen ergeben sich auch immer wieder Probleme mit der Einhaltung von Gesetzen. Insbesondere bei höchstzulässigen Arbeitszeiten, Pausenregelungen, Mindestruhezeiten und die Erfassung von Arbeitszeiten gibt es Auffälligkeiten. Jobs mit Nachtarbeitszuschlägen wurden ausgegliedert (Nachtverräumung) oder andere spezielle Lösungen gefunden. Die Arbeit geht nicht aus.

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9) Gerade noch mal gutgegangen (von Reinhardt Semmler) Da gab es eine Filiale, die privatisiert werden sollte. Ein E-Center aus Bayern, vergleichbar wie ein gallisches Dorf.

Ein privater Betreiber, der bereits mehrere Niederlassungen in näherer Umgebung besitzt, hatte an dem neueröffnetem Haus Interesse gezeigt.

In meiner Eigenschaft als Fachsekretär für den Handel, habe ich von ver.di Mitgliedern erfahren, dass in einer der Filialen bereits die neuen Baupläne von dem zu privatisierenden Haus öffentlich ausliegen. Daraufhin nahm ich mit dem noch unwissenden Betriebsrat Kontakt auf.

Bei einer Versammlung sagte ich zu den Kolleginnen:“Jetzt wird es für uns ernst:“

Glücklicherweise waren gerade Tarifverhandlungen im bayerischen Einzelhandel und so wurde alles auf eine Karte gesetzt.

Mit mir als Betreuungssekretär von ver.di, hat sich der Betriebsrat geeinigt, sich an Streikaktionen zu beteiligen.

Erstmals seit Bestehen des alten und neuen E-Centers in dieser Ortschaft, ist es trotz großer Angst vor einem Streik gelungen, alle Mitarbeiterinnen zu begeistern und sich bei dieser Aktion einzubringen.

Im Streiklokal trafen die Beschäftigten auf weitere Kollegen und Kolleginnen aus dem Handel und sie merkten, streiken tut nicht weh und die Angst, die sie hatten, war auch weg.

Die Begeisterung der rebellischen Arbeitnehmerinnen war so groß, dass sie sich an zwei weiteren Streiktagen beteiligten.

Der neue Interessent hatte diese Aktionen aus den Medien und aus der örtlichen Presse mit verfolgt und sah, aufgrund dieser Streiks, von seinen Vorhaben, dieses Haus zu übernehmen, erst einmal ab und wollte es auch später nicht mehr haben!

Seine Aussage damals war: „Mit solchen Unberechenbaren und total Durchgeknallten will er nichts zu tun haben!“

Vorerst Glück gehabt.

Bis heute ist diese Filiale nicht nur von einer Privatisierung verschont geblieben, sondern auch von:

neuen Arbeitsverträgen

Niedriglöhnen (hier kann man/ Frau auch von Dumping reden)

12 Tage weniger Urlaub

Streichung von Urlaubs.- und Weihnachtsgeld (Gutscheine für die Einmalzahlungen gibt es bei ihm auch nicht)

Erhöhung der Wochenarbeitszeit ( z. T. 45 Stundenwoche – Überstunden gibt es nicht, das nennt man Betriebsinteresse)

...u.v.m.

Ein Streikslogan aus der Streikversammlung hat sich für die Beschäftigten des E-Centers bewährt:

Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, der hat schon verloren.

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10) Wesentliche rechtliche Fragen im Zusammenhang mit „Privatisierung“

(von Agnes Große-Kock und Rainer Kuschewski)

In diesem Kapitel werden einige - nicht alle (!) - rechtlichen Aspekte der „Privatisierung“ von Filialen im Lebensmitteleinzelhandel beleuchtet - zum einen und vorrangig mit Blick auf den einzelnen Arbeitnehmer50 und damit auf das individuelle Arbeitsrecht, zum anderen mit Blick auf den Betriebsrat und damit auf das kollektive Arbeitsrecht.

Der Aufbau dieses Beitrags orientiert sich an häufigen Fragestellungen von Arbeitnehmern und Betriebsratsmitgliedern aus Anlass der „Privatisierung“ der Lebensmittelfiliale, in der sie arbeiten und für die sie als Arbeitnehmervertreter in betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht zuständig sind.

I. Ich arbeite in der Lebensmittelfiliale eines Handelsunternehmens, die von einem

selbständigen Kaufmann übernommen wird. Der alte Inhaber und der neue Inhaber versuchen, mich mit § 613a Bürgerliches Gesetzbuch zu beruhigen. Was beinhaltet § 613a Bürgerliches Gesetzbuch?

§ 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist eine Vorschrift zu dem Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils und zu dessen Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis. Zugleich dient § 613a BGB der Umsetzung der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen vom 12.03.2001 (RL 2001/23/EG) in nationales Recht. Deswegen sind bei der Anwendung und Auslegung von § 613a BGB die Vorgaben der EU-Richtlinie 2001/23/EG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu beachten. Sowohl die EU-Richtlinie 2001/23/EG als auch § 613a BGB sind darauf gerichtet, möglichst umfassend die Rechte der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Unternehmensinhabers zu sichern. Die Arbeitnehmer sollen im Falle eines Inhaberwechsels vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes geschützt werden. Weiterhin ist es Ziel, grundsätzlich den bisherigen Vertragsinhalt zu sichern, indem der neue Inhaber in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen eintritt. § 613a BGB ist wie folgt aufgebaut: § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ordnet an, dass bei einem Betriebsübergang die Arbeitsverhältnisse

auf den neuen Inhaber übergehen und dass der neue Inhaber in die mit dem bisherigen Inhaber bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt.

§ 613a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BGB regeln die Weitergeltung der bisherigen Kollektivvereinbarungen (Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen).

§ 613a Abs. 2 und 3 BGB enthalten Regelungen über die Haftung des bisherigen Betriebsinhabers und des neuen Betriebsinhabers, was Ansprüche der Arbeitnehmer anbelangt.

§ 613a Abs. 4 BGB beinhaltet eine besondere Kündigungsschutzvorschrift, die die Kündigung wegen des Betriebsübergangs verbietet.

50 Der Einfachheit halber und um die Lesbarkeit des Textes zu erleichtern, wird das generische Maskulinum verwandt, das sowohl männliche als 

auch weibliche Personen umfasst. Die Gender‐ und Antidiskriminierungsgrundsätze werden gleichwohl von der Autorin vorbehaltlos beachtet.  

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§ 613a Abs. 5 BGB trifft Bestimmungen zur Unterrichtung der Arbeitnehmer über die für sie wichtigen Umstände eines Betriebsübergangs.

§ 613a Abs. 6 BGB räumt den Arbeitnehmern ein Widerspruchsrecht ein zum Übergang ihres

Arbeitsverhältnisses auf den neuen Inhaber. Bei § 613a BGB handelt es sich um eine komplexe gesetzliche Vorschrift, die immer wieder und von neuem Anlass zu Rechtsstreitigkeiten gibt - mit der Folge, dass sowohl das Bundes-arbeitsgericht (BAG) als auch der EuGH häufig Entscheidungen in diesem Themenkomplex treffen (müssen) und neue Entwicklungen in der Rechtsprechung zu beobachten sind. Im Folgenden werden einige, im Rahmen dieser Arbeitshilfe wichtige Teilaspekte des § 613a BGB beleuchtet. Wie bereits gesagt, regelt die Vorschrift des § 613a Abs. 1 BGB den rechtsgeschäftlichen Übergang eines Betriebs oder eines Betriebsteils auf einen neuen Inhaber. Die Auslegung der Begriffe Betrieb bzw. Betriebsteil wird durch die Rechtsprechung des EuGH und des BAG bestimmt. Danach ist Voraussetzung für den Betriebsübergang im Sinne von § 613a BGB, dass es sich um eine wirtschaftliche Einheit handelt, die vom neuen Inhaber im Wesentlichen unverändert fortgeführt wird. Ob eine wirtschaftliche Einheit vorliegt und übergegangen ist, ist im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Umstände festzustellen. Als Teilaspekte kommen in Betracht: Art des Betriebes oder Unternehmens Übergang materieller Betriebsmittel (Gebäude und bewegliche Güter) Übergang immaterieller Betriebsmittel (Know-How, Patente etc.) Übernahme von Kundschaft und Lieferantenbeziehungen Übernahme der Hauptbelegschaft Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und nach dem Übergang ausgeübten Betriebstätigkeit Dauer einer eventuellen Unterbrechung der Betriebstätigkeit. Ein Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB ist eine Teileinheit / Teilorganisation des Betriebes. Dies können beispielsweise der Sicherheits- und Schließdienst oder die Reinigung der Lebensmittelfiliale sein. Zwar setzt § 613a BGB im Weiteren einen rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang voraus. Allerdings wird der Begriff Rechtsgeschäft weit ausgelegt. In Betracht kommen unter anderem: Kauf, Pacht, Miete, Nießbrauch, Leasing, Schenkung, Management-Buy-Out-Vertrag. Maßgebend ist die willentliche Übernahme der Organisations- und Leitungsmacht durch den Erwerber. In zeitlicher Hinsicht ist für den Betriebsübergang nach § 613a BGB der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der neue Betriebsinhaber die wirtschaftliche Einheit tatsächlich nutzt und fortführt. Ohne Bedeutung sind etwaige vertragliche Regelungen zwischen altem und neuem Inhaber zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs; auf die tatsächlichen Geschehnisse kommt es an. Ein Betriebsübergang und damit § 613a BGB sind also nicht nur dann zu bejahen, wenn eine Lebensmittelfiliale von einer juristischen Person (z.B. GmbH) auf eine natürliche Person (Herrn/Frau XYZ) übertragen wird und die natürliche Person fortan Inhaber des Lebensmittel-betriebs ist. Vielmehr ist ein Betriebsübergang im Sinne von § 613a BGB auch dann gegeben, wenn eine juristische Person (z.B. GmbH oder AG) eine Lebensmittelfiliale ausgliedert und diese sodann als neue, eigenständige juristische Person (z.B. in Form der GmbH) fortgeführt wird.

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II. Ich arbeite in einem Lebensmittelbetrieb, der in Form einer GmbH geführt wird. Was ist mit der Anwendung des § 613a BGB, wenn Geschäftsanteile dieser GmbH veräußert werden?

Wesentliches Kriterium für den Betriebsübergang nach § 613a BGB ist der Wechsel der natürlichen oder juristischen Person, die für den Betrieb verantwortlich ist, mit tatsächlicher Weiterführung der Geschäftstätigkeit. Der Inhaber des Lebensmittelbetriebs, die XYZ GmbH, erfährt keinen Wechsel dadurch, dass Geschäftsanteile der XYZ GmbH verkauft bzw. erworben werden, d.h. dass Geschäftsanteile den Inhaber und/oder dass Gesellschafter der GmbH wechseln. In solchen Fällen bleibt die juristische Person, nämlich die XYZ GmbH, als Inhaber des Lebensmittelbetriebs identisch. Es liegt kein Wechsel des Betriebsinhabers (= XYZ GmbH) und damit kein Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB vor. Die Veräußerung von Geschäftsanteilen einer GmbH hat also keinerlei Auswirkungen auf den Bestand und den Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Daraus folgt weiterhin: Sofern die XYZ GmbH durch Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband tarifgebunden ist, endet diese Verbandsmitgliedschaft nicht dadurch, dass Geschäftsanteile der XYZ GmbH den Inhaber wechseln oder ein Wechsel der Gesellschafter der XYZ GmbH stattfindet.

III. Brauche ich beim Betriebsübergang einen neuen Arbeitsvertrag? § 613a BGB ist zwingendes Recht. Das Arbeitsverhältnis geht kraft Gesetzes auf den neuen Inhaber über; der neue Inhaber tritt kraft Gesetzes in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Angesichts dessen sind der Abschluss bzw. die Unterzeichnung eines neuen Arbeitsvertrages mit dem neuen Betriebs-/Unternehmensinhaber nicht notwendig! Anzuraten ist, mit dem Abschluss bzw. der Unterzeichnung eines neuen Arbeitsvertrags im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang äußerst sorgsam zu sein. Denn es ist leider nicht selten der Fall, dass der vom neuen Betriebs-/Unternehmensinhaber gewünschte Arbeitsvertrag schlechtere Arbeitsbedingungen zum Inhalt hat. Es ist das Recht eines von Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmers, die Unterzeichnung eines neuen Arbeitsvertrages beim neuen Inhaber und damit beim neuen Arbeitgeber abzulehnen.

IV. Muss ich vor einem Betriebsübergang meinen anteiligen Jahresurlaub genommen haben?

In Fällen des Betriebsübergangs und damit des Übergangs des Arbeitsverhältnisses nach § 613a BGB besteht das Arbeitsverhältnis ununterbrochen fort. Hinzu kommt, dass gemäß § 613a Abs. 2 BGB der neue Inhaber für Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis haftet, soweit sie vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind und vor Ablauf von einem Jahr nach dem Zeitpunkt des Übergangs fällig werden. Damit gibt es keine Pflicht des von Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmers, anteiligen Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen, der sich aus der Zeit vom 1. Januar des Kalenderjahres bis zum Zeitpunkt des Übergangs im selben Kalenderjahr errechnet. Der neue Inhaber hat für den vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstandenen anteiligen Urlaub einzustehen, das heißt ihn zu gewähren.

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V. Wann und wie muss mich der Arbeitgeber von dem beabsichtigten Betriebsübergang informieren?

Gemäß § 613a Abs. 5 BGB müssen der bisherige oder der neue Arbeitgeber die Arbeitnehmer über den Betriebsübergang unterrichten. Die Unterrichtung hat in Schriftform zu erfolgen. § 613a Abs. 5 BGB zählt im Einzelnen auf, worüber die von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer zu informieren sind: Zeitpunkt des Übergangs Grund für den Übergang rechtliche, wirtschaftliche und soziale Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer sowie hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommene Maßnahmen. Darüber hinaus muss die Unterrichtung - so das BAG - dem Arbeitnehmer Klarheit über die Identität des Erwerbers verschaffen. Zu den rechtlichen Folgen des Übergangs, über die die vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer zu informieren sind, gehören auch die kollektivrechtlichen Folgen, z.B. was mit Tarifverträgen und/oder mit (Konzern-/Gesamt-) Betriebsvereinbarungen aus Anlass des Betriebsübergangs geschieht. Auch gehören betriebsverfassungsrechtliche Themen wie Fortbestand oder Übergangsmandat des Betriebsrats, Zugehörigkeit zum Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat zur Unterrichtungs-pflicht nach § 613a Abs. 5 BGB. Die Information muss vollständig und inhaltlich richtig sein und in einer auch für einen juristischen Laien verständlichen Sprache erfolgen. Bei ausländischen Arbeitnehmern ist eine Übersetzung erforderlich, wenn sie nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB hat vor dem Übergang zu erfolgen. Ist die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB unterblieben, so kann sie nachgeholt werden. Die Unterrichtungspflicht bleibt auch nach dem Übergang bestehen. Erst mit Zugang des Unterrichtungsschreibens beim Arbeitnehmer beginnt die Monatsfrist des § 613a Abs. 6 BGB für die Ausübung des Widerspruchsrechts zu laufen, das dem von Betriebs-übergang betroffenen Arbeitnehmer eingeräumt ist. Ist die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB fehlerhaft, weil sie unvollständig ist oder falsche Angaben enthält, beginnt (zunächst) nicht die einmonatige Frist des § 613a Abs. 6 BGB für den Widerspruch. Die Widerspruchsfrist von einem Monat beginnt erst mit Zugang der ordnungs-gemäßen Unterrichtung beim Arbeitnehmer zu laufen, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt des Betriebsübergangs.

VI. Kann ich dem Übergang meines Arbeitsverhältnisses auf den neuen Betriebs-/Unternehmensinhaber widersprechen?

§ 613a Abs. 6 BGB räumt dem Arbeitnehmer das Recht ein, dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses zu widersprechen. Das Schweigen des Arbeitnehmers ist kein Widerspruch! Der Widerspruch muss - sofern das Widerspruchsrecht ausgeübt wird - schriftlich erfolgen. Ein Widerspruch per Telefax reicht für das gesetzliche Schriftformerfordernis nicht aus! Der

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Widerspruch muss keine Begründung enthalten. Die Gründe des Arbeitnehmers für seine Entscheidung sind rechtlich ohne Bedeutung. Der Widerspruch kann gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber oder dem neuen Arbeitgeber erklärt werden. Wie bereits gesagt, beträgt nach § 613a Abs. 6 BGB die Frist für die Ausübung des Widerspruchs einen Monat. Sie beginnt mit Zugang des nach § 613a Abs. 5 BGB ordnungsgemäßen Unterrichtungsschreibens beim Arbeitnehmer zu laufen. Das Widerspruchsrecht kann unter besonderen Umständen verwirken.

VII. Was sind mögliche Folgen eines Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB? Widerspricht der Arbeitnehmer form- und fristgerecht dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses, bleibt das Arbeitsverhältnis zum Veräußerer des Betriebs, also zu dem bisherigen Betriebsinhaber bestehen. Wenn der Widerspruch wegen verspäteter ordnungsgemäßer Unterrichtung im Sinne von § 613a Abs. 5 BGB erst nach dem Betriebsübergang erfolgt, nimmt das BAG an, dass der Widerspruch auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurückwirkt. Zu beachten ist: Für den Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widerspricht, besteht das Risiko, vom Betriebsveräußerer bzw. vom alten Arbeitgeber betriebsbedingt gekündigt zu werden. Dies gilt insbesondere bei fehlender Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Betrieb bzw. im Unternehmen des alten Arbeitgebers.

VIII. Darf mir der alte Inhaber oder der neue Inhaber wegen des Betriebsübergangs kündigen?

Nach § 613a Abs. 4 BGB ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den bisherigen oder den neuen Betriebsinhaber wegen des Betriebsübergangs unwirksam. Allerdings besteht kein absoluter Bestandsschutz gegen Kündigungen im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang! § 613a Abs. 4 BGB verbietet ausschließlich, gerade den Betriebsübergang zum Anlass für eine Kündigung zu nehmen. Das heißt: § 613a Abs. 4 BGB greift nur dann, wenn der Betriebsübergang der tragende Beweggrund für die Kündigung ist. Die Kündigung aus anderem Anlass bleibt zulässig - unter Beachtung der ansonsten für den Arbeitnehmer geltenden Kündigungsschutzvorschriften. So kann der Erwerber - in den Schranken des Kündigungsschutzgesetzes - sowohl personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen aussprechen als auch aus dringenden betrieblichen Erfordernissen z.B. wegen Rationalisierung, Umstrukturierung, Personalabbau kündigen.

IX. Mein bisheriger Arbeitgeber ist tarifgebunden. Muss mein neuer Arbeitgeber die bisherigen tariflichen Standards (z.B. Lohn, Zuschläge, Arbeitszeit) einhalten?

Tarifverträge können aus verschiedenen Gründen Anwendung auf das Arbeitsverhältnis finden. Dementsprechend unterscheiden sich die rechtlichen Folgen hinsichtlich der Weitergeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang.

Die bisher geltenden Tarifnormen finden nach dem Betriebsübergang kraft Tarifbindung Anwendung, wenn sowohl der Arbeitnehmer als auch der Betriebserwerber tarifgebunden sind und das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich des bisherigen Tarifvertrags fällt.

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Ist also der Betriebserwerber bei der „Privatisierung“ an denselben Einzelhandels-tarifvertrag gebunden wie mein bisheriger Arbeitgeber, tritt keine Änderung im Hinblick auf die bisherigen tariflichen Standards ein.

Die Tarifnormen eines bisher für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages gelten nach einem Betriebsübergang dann mit unmittelbarer und zwingender Wirkung weiter, wenn das Arbeits-verhältnis weiterhin von dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag erfasst wird. In Fällen der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (§ 5 Tarifvertragsgesetz = TVG) wird bei der „Privatisierung“ einer Lebensmittelfiliale das Arbeitsverhältnis weiterhin von dem für allgemeinverbindlich erklärten Einzelhandelstarifvertrag erfasst - mit der Folge, dass die tariflichen Standards auch vom neuen Betriebsinhaber einzuhalten sind.

Enthält der mit dem bisherigen Betriebsinhaber geschlossene Arbeitsvertrag eine Vereinbarung, wonach ein Tarifwerk für das Arbeitsverhältnis gelten soll, greift § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. In diesem Fall verhält es sich so, dass die in Bezug genommenen Tarifnormen von vornherein Inhalt des Arbeitsverhältnisses waren bzw. sind; die Rechte und Pflichten aus den in Bezug genommenen Tarifregelungen gehen bereits gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den neuen Betriebsinhaber über. Wird im Arbeitsvertrag auf einen Tarifvertrag Bezug genommen, kommt es - nach der Rechtsprechung des BAG - für die rechtliche Beurteilung, welcher Tarifvertrag in welcher Fassung (Dynamische Bezugnahmeklausel? Oder statische Bezugnahmeklausel?) nach dem Betriebsübergang Anwendung findet, auf die Umstände beim Abschluss des Arbeitsvertrags an, wie beispielsweise Datum der Vereinbarung der Bezugnahmeklausel (bis zum 31.12.2001 oder nach dem 31.12.2001, d.h. vor oder nach dem Inkrafttreten der Schuldrechtsmodernisierung) und Wortlaut der Bezugnahmeklausel.

Wenn keine der drei vorbeschriebenen Ausgangssituationen zutrifft, d.h. wenn die Tarifgebundenheit des neuen Betriebsinhabers fehlt, wenn eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (§ 5 TVG) fehlt und wenn schließlich eine Inbezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag fehlt, dann kommt es zur sog. Transformation des Tarifrechts in Individualarbeitsrecht. Die Tarifregelungen werden - soweit es um die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien geht - zum (ungeschriebenen) Inhalt des Arbeitsverhältnisses. So bestimmt es § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Nach alledem ist wichtig: Der Umstand, dass der neue Betriebsinhaber bei der „Privatisierung“ eines Lebensmittelbetriebs nicht tarifgebunden ist, führt nicht zwangsläufig zum Ende der Geltung von Tarifverträgen! Wenn der neue Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist, kommt es im Übrigen für die Belegschaft im Zusammenwirken mit der Gewerkschaft ver.di in Betracht, den Abschluss eines Haustarifvertrages zu erwirken - gegebenenfalls im Wege des Streiks.

X. In unserer Lebensmittelfiliale gibt es einen Betriebsrat, der verschiedene Betriebsvereinbarungen abgeschlossen hat (z.B. Arbeitszeit, Urlaubsgrundsätze). Muss mein neuer Arbeitgeber diese Betriebsvereinbarungen einhalten?

Die Betriebsvereinbarung gilt kollektivrechtlich, das heißt unmittelbar und zwingend weiter, wenn die Identität der bisherigen betrieblichen Einheit erhalten bleibt. Mit der Identität des Betriebes bleibt eine entscheidende Grundlage für die verbindliche Fortgeltung der Betriebsvereinbarung aufrecht erhalten. § 613a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BGB sollen nur Lücken im Betriebsverfassungsrecht und im Tarifrecht schließen.

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Die bisherige Identität der betrieblichen Einheit geht in denjenigen Fällen verloren, in denen der übertragene Betrieb bzw. Betriebsteil in den Betrieb des Übernehmers eingegliedert oder mit einem anderen Betrieb bzw. Betriebsteil des Übernehmers zusammengelegt wird. Diese Fallkonstellationen dürften bei der „Privatisierung“ von Lebensmittelbetrieben kaum auftreten. Vielmehr ist in der Mehrzahl der Fälle davon auszugehen, dass die Identität der bisherigen betrieblichen Einheit bzw. des bisherigen Betriebes erhalten bleibt und damit die Betriebsvereinbarung unmittelbar und zwingend weiter gilt.

XI. Für unsere Lebensmittelfiliale gibt es einen Betriebsrat, der auf der Grundlage eines besonderen Tarifvertrages für mehrere Filialen zuständig ist (Regionalbetriebsrat). Wie verhält es sich hier mit den Betriebsvereinbarungen beim Betriebsübergang?

§ 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) räumt die Möglichkeit ein, dass durch Tarifvertrag andere, von der Struktur des BetrVG abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen für Unternehmen und/oder Konzerne gebildet werden können. Zuweilen gibt es - gerade im Einzelhandel - Tarifverträge nach § 3 BetrVG, die die Bildung eines Betriebsrats für mehrere Filialen vorsehen. Wird beispielsweise von fünf Lebensmittelfilialen, die in die Zuständigkeit eines Regionalbetriebsrats fallen, der wiederum auf der Grundlage eines Tarifvertrages nach § 3 BetrVG gebildet ist, eine Lebensmittelfiliale ausgegliedert und im Wege der „Privatisierung“ auf einen neuen Inhaber übertragen, so gelten die bisherigen Betriebsvereinbarungen fort. Sie fallen keineswegs ersatzlos weg, auch wenn es (vorübergehend) in der abgespaltenen Lebensmittelfiliale keinen Betriebsrat gibt! Der vorübergehende oder gar endgültige Wegfall des Betriebsrats lässt die bestehenden Betriebsvereinbarungen in ihrer unmittelbaren und zwingenden Wirkung unberührt (vgl. unter anderem BAG, Beschluss vom 18.09.2002 - 1 ABR 54/01). Wegen des Übergangsmandats des Regionalbetriebsrats nach § 21a Abs. 1 BetrVG wird auf die Ausführungen zur Frage unter Ziffer 14.) verwiesen.

XII. Was hat es mit der Schutzfrist von einem Jahr nach dem Betriebsübergang auf sich? Die Schutzfrist von einem Jahr, die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BetrVG genannt ist, erstreckt sich nicht auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nach Übergang auf den neuen Betriebsinhaber! Es gibt keinen einjährigen Kündigungsschutz nach Übergang des Arbeitsverhältnisses! Die Veränderungssperre von einem Jahr in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erstreckt sich ausschließlich auf Tarifverträge und/oder Betriebsvereinbarungen, die aus Anlass des Betriebsübergangs in Individualarbeitsrecht transformiert bzw. umgewandelt werden. Sofern Tarifverträge weder kollektivrechtlich beim Betriebsübernehmer weiter gelten noch durch Tarifverträge beim Betriebsübernehmer verdrängt werden, weil der Erwerber/Übernehmer nicht tarifgebunden ist, wird der Inhalt der bisher geltenden Tarifverträge - soweit die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien geregelt sind - (ungeschriebener) Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Betriebserwerber und dem Arbeitnehmer. Sofern Betriebsvereinbarungen - mangels Identität des Betriebes vor und nach dem Betriebsübergang - nicht kollektivrechtlich beim Betriebsübernehmer weiter gelten und sofern Betriebsvereinbarungen auch nicht durch Betriebsvereinbarungen beim Betriebsübernehmer verdrängt werden, wird ihr Inhalt, soweit die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien

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geregelt sind, (ungeschriebener) Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Betriebserwerber und dem Arbeitnehmer. Hierbei ist es ohne Bedeutung, welches Betriebsverfassungsorgan die Vereinbarung ehemals geschlossen hat. Die sog. Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gilt daher auch für Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen. Grundsätzlich darf der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB individualrechtlich weiter geltende Inhalt von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen nicht vor Ablauf eines Jahres nach Betriebsübergang zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden! Von dieser einjährigen Veränderungssperre gibt es Ausnahmen (§ 613a Abs. 1 Satz 4 BGB). Nach Ablauf der einjährigen Veränderungssperre (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB) darf der Betriebsübernehmer nicht einseitig inhaltliche Änderungen vornehmen, sondern es bedarf insoweit der Änderungsvereinbarung oder der Änderungskündigung. Findet das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) Anwendung, so ist zu beachten, dass die Rechtmäßigkeit der Änderungskündigung, mit der Arbeitsbedingungen geändert bzw. angepasst werden sollen, voraussetzt, dass sie sozial gerechtfertigt ist (§ 1 KSchG). Der bloße Wille des Arbeitgebers, einheitliche Arbeitsbedingungen im Betrieb herzustellen, reicht hierfür nicht aus! Auch sonstige Kündigungsschutzvorschriften (z.B. für schwerbehinderte Menschen, für Schwangere und/oder für Menschen in Elternzeit) sind bei Ausspruch der Änderungskündigung unbedingt zu beachten.

XIII. In unserer Lebensmittelfiliale besteht ein Betriebsrat. Was passiert mit ihm beim Betriebsübergang?

Bleibt beim Betriebsübergang die Identität des Betriebes erhalten, so führt der Betriebsrat sein Amt unverändert und uneingeschränkt weiter.

XIV. Für unsere Lebensmittelfiliale gibt es einen Betriebsrat, der auf der Grundlage eines besonderen Tarifvertrages für mehrere Filialen gewählt ist (Regionalbetriebsrat). Ist er nach dem Betriebsübergang weiterhin für uns zuständig?

Wegen des Beispielfalls (Ausgliederung einer Lebensmittelfiliale) verweise ich auf die Antwort zur Frage unter Ziffer 11.). Die einzelne Lebensmittelfiliale ist im Falle des Regionalbetriebsrats als Betriebsteil zu sehen. Wird dieser Betriebsteil ausgegliedert und im Wege der „Privatisierung“ auf einen neuen Inhaber übertragen, so bleibt die Identität des Ursprungsbetriebs im Wesentlichen erhalten - mit der Folge, dass der Regionalbetriebsrat unverändert und uneingeschränkt im Amt bleibt. Wird der abgespaltene und sodann übertragene Betriebsteil als selbständiger Betrieb vom Erwerber fortgeführt, hat der Betriebsrat des Ursprungsbetriebs, das heißt hier der Regionalbetriebsrat, gemäß § 21a Abs. 1 Satz 1 BetrVG zunächst ein Übergangsmandat. Sinn und Zweck des Übergangsmandats ist es insbesondere bis zur Neuwahl eines Betriebsrats in der neu gebildeten Einheit eine betriebsratslose Zeit zu vermeiden. Während der Dauer des Übergangsmandats bleibt der Regionalbetriebsrat in der personellen Zusammensetzung, wie sie vor der Umstrukturierung / Abspaltung bestanden hat, sowohl für den Ursprungsbetrieb als auch für die neue betriebsratsfähige Organisationseinheit zuständig, für die erst noch ein Betriebsrat zu wählen ist. Die sich aus dem Übergangsmandat ergebenden Rechte und Befugnisse sind in keiner Weise eingeschränkt.

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§ 21 Abs. 1 Satz 2 BetrVG betont die Pflicht, unverzüglich den Wahlvorstand für die Wahl eines neuen Betriebsrats in der abgespaltenen Einheit zu bestellen, damit eine betriebsratslose Zeit nach Ablauf der begrenzten Dauer des Übergangsmandats vermieden wird. Die Dauer des Übergangsmandats ist zeitlich befristet, und zwar auf sechs Monate. Die Dauer kann durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung um weitere sechs Monate auf insgesamt zwölf Monate verlängert werden. Die Bestellung eines Wahlvorstands für die abgespaltene Lebensmittelfiliale und die Wahl eines Betriebsrats in der abgespaltenen Lebensmittelfiliale, die als selbständiger Betrieb vom Erwerber/Übernehmer fortgeführt wird, ist insbesondere deswegen bedeutsam, weil nicht auszuschließen ist, dass es nach Betriebsübergang zur Betriebsänderung durch den neuen Inhaber einschließlich Personalabbaumaßnahmen kommen kann.

XV. Ist der Betriebsübergang zugleich eine Betriebsänderung aus Sicht des Betriebsrats? Gibt es dabei Unterschiede, ob es sich um einen örtlichen Betriebsrat oder um einen Regionalbetriebsrat für mehrere Filialen handelt?

Die Betriebsänderung im Sinne von § 111 Satz 1 BetrVG ist grundsätzlich jede Änderung der betrieblichen Organisation, der Betriebstätigkeit, der Arbeitsweise, des Standorts und dergleichen, sofern sie wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder für erhebliche Teile der Belegschaft haben kann. Bei den in § 111 Satz 3 Nummer 1 bis 5 BetrVG aufgezählten Maßnahmen handelt es sich nicht um eine abschließende Aufzählung. Liegt allerdings einer der beispielhaft genannten Fälle vor, werden nachteilige Folgen unterstellt; die tatsächlich entstehenden Nachteile werden erst bei der Aufstellung eines Sozialplans geprüft. Aus Anlass einer geplanten Betriebsänderung hat der Unternehmer - mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern - den Betriebsrat zu unterrichten und mit ihm die geplante Betriebsänderung zu beraten (§ 111 BetrVG). Ziel der Beratungen ist der sog. Interessenausgleich, der sich auf das „Ob“, das „Wann“ und das „Wie“ der geplanten Betriebsänderung erstreckt. Außerdem haben der Unternehmer und der Betriebsrat den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile zu beraten, die den Arbeitnehmern infolge der geplanten Betriebsänderung entstehen (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG). Ziel dieser Beratungen ist der sog. Sozialplan. Geht der Betrieb als Ganzes auf einen neuen Inhaber über, liegt - nach der Rechtsprechung des BAG - keine Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG vor, weil der Betrieb als solcher erhalten bleibt und nur der Arbeitgeber wechselt. Anders ist die Beurteilung in denjenigen Fällen, in denen ein Betriebsrat auf der Grundlage eines besonderen Tarifvertrages für mehrere Filialen gewählt und zuständig ist (Regionalbetriebsrat): Betriebsverfassungsrechtlich bilden die Lebensmittelfilialen einen Betrieb und die einzelne, in die Zuständigkeit des Regionalbetriebsrats fallende Lebensmittelfiliale stellt einen Betriebsteil im Sinne von § 111 BetrVG dar. Wird ein Betriebsteil - hier: eine Lebensmittelfiliale - auf einen neuen Inhaber übertragen, handelt es sich in der Regel um die Spaltung des Betriebes im Sinne von § 111 Satz 3 Nummer 3 BetrVG (vgl. unter anderem BAG, Beschluss vom 10.12.1996 - 1 ABR 32/96). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann zusätzlich eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation im Sinne von § 111 Satz 3 Nummer 4 BetrVG vorliegen. Es ist also eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG gegeben, wenn eine von mehreren Lebensmittelfilialen, für die ein Regionalbetriebsrat zuständig ist, auf einen neuen Inhaber übertragen, „privatisiert“ wird. Für die Beratungen zur Betriebsänderung (§§ 111, 112 BetrVG) ist

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der Regionalbetriebsrat zuständig; sein Verhandlungspartner ist der veräußernde bzw. abgebende Unternehmer. Die Verhandlungen zum Interessenausgleich haben vor der Abspaltung und Übertragung des Betriebsteils, d.h. vor der „Privatisierung“, stattzufinden. Zu beachten ist: Womöglich führt der Erwerber kurze Zeit nach dem Betriebsübergang eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG durch (z.B. grundlegende Änderung der Betriebsorganisation im Sinne von § 111 Satz 3 Nummer 4 BetrVG) - mit der Folge, dass entweder der im Amt bleibende Betriebsrat oder der Regionalbetriebsrat im Rahmen seines Übergangs-mandats Verhandlungen zu Interessenausgleich und Sozialplan gegenüber dem neuen Betriebsinhaber beanspruchen können.

XVI. Mein neuer Arbeitgeber ist nicht tarifgebunden. Was kann der Betriebsrat tun, wenn neue Mitarbeiter eingestellt, aber nicht nach Tarifvertrag bezahlt werden sollen?

Bis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs erfolgte die Vergütung der Mitarbeiter - wegen der Tarifgebundenheit des Unternehmens - nach einem bestimmten Tarifvertrag, d.h. nach einer tariflichen Vergütungsordnung. Sofern der Übernehmer der Lebensmittelfiliale nicht tarifgebunden ist, kann bzw. darf er nicht einseitig die bisher im Betrieb geltende tarifliche Vergütungsordnung in ihrer Struktur ändern. Auch nach dem Wegfall der Tarifbindung des Arbeitgebers hat dieser das bisher im Betrieb geltende tarifliche Entgeltschema und die in ihm enthaltene abstrakte Entgeltstruktur weiter anzuwenden, solange der Betriebsrat einer Änderung nicht zugestimmt hat. Die tarifliche Vergütungsordnung stellt nach dem Wegfall der Tarifbindung des Arbeitgebers weiterhin die im Betrieb geltende Vergütungsordnung im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG dar. Der Betriebsübernehmer muss deshalb auch die Vergütung neu eingestellter Arbeitnehmer an der Struktur der bisherigen Vergütungsordnung ausrichten. Die Änderung dieser Vergütungsstruktur bedarf - weil der neue Betriebs-/Unternehmensinhaber nicht tarifgebunden ist - der vorherigen Zustimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Vgl. unter anderem BAG, Beschluss vom 02.03.2004 - 1 AZR 271/03. Beachte: Die Vergütungsordnung ändert sich nicht, wenn der - tariflich ungebundene - Arbeitgeber die bisherigen tariflichen Entgeltbeträge bei Neueinstellungen sämtlich um den gleichen Prozentsatz absenkt. Bei Missachtung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat die Möglichkeit bzw. das Recht, ein entsprechendes Unterlassungsverfahren beim Arbeitsgericht gegen den (neuen) Arbeitgeber einzuleiten. Wie bereits zu der Frage unter Ziffer 9.) angemerkt, kommt es in dem Fall, dass der neue Betriebs-/Unternehmensinhaber nicht tarifgebunden ist, außerdem in Betracht, dass die Belegschaft im Zusammenwirken mit der Gewerkschaft ver.di den Abschluss eines Haus-/Firmentarifvertrages erwirkt - gegebenenfalls im Wege des Streiks.

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11) Ausblick (von Stefanie Nutzenberger)

Das Lesen der Publikation macht eines klar: Privatisierung hat mindestens drei Dimensionen. Eine ökonomische im Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel, eine berufliche durch Veränderungen der Arbeitsbedingungen in der Arbeitswelt und eine persönliche auf dem Mensch bezogene, durch Konflikte, durch mögliche Verluste und auch gegebenenfalls durch (Ohn-)Machtgefühle.

Sie zeigt auch das Kämpfen, das sich Auseinandersetzen, das sich Positionieren lohnt, es richtig ist, sich nicht damit abzufinden, sondern sich für gute Arbeit und gute Lebens- und Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dieses gibt Kraft, Macht und führt zu einem selbstbestimmten besseren Leben. Auch dies zeigen die Berichte.

Unsere Publikation ist geschrieben worden, für Betriebsrätinnen und Betriebsräte im Handel, GewerkschaftssekretärInnen, Bündnispartner, für andere in den ver.di Fachbereichen und natürlich für die Arbeitgeber. Sie gibt einen Einblick in einen Teil der Welt des Einzelhandels, des Lebensmitteleinzelhandels und die Folgen, die bestimmte Formate für Beschäftigte haben „Schöne neue Handelswelt“!?

Schlechte Arbeitsbedingungen durch geringe Löhne und ohne Betriebsräte arbeiten müssen, hier ist es unsere Aufgabe als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter die Verbesserung mit den Betroffenen anzugehen, die Situation zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten für gute Arbeit zu entwickeln und umzusetzen.

Gewinne, die durch Lohndumping erwirtschaftet werden, Geschäftsmodelle, die nur funktionieren, wenn schlechte Arbeitsbedingungen die Basis sind, werden von uns Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern nicht akzeptiert.

Mitbestimmung, gute Arbeit, Tarifverträge, Arbeit die Menschen Freude macht und von der sie leben können und zwar nicht nur in jungen Jahren sondern auch wenn sie im Alter Rente beziehen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Unsere Publikation dient als Basis, als Denkanstoß, als Ideengeber, als Orientierung für mögliches Handeln.

Herzlichen Dank an alle diejenigen, die an der Publikation mitgewirkt haben, entweder aktiv durch Schreiben oder durch ihr Handeln dazu beigetragen haben, dass es überhaupt zu den Inhalten kommen kann, die in der Publikation vermittelt werden.

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