schöner wohnen?! ausgabe 10/2015

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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 10, Mai 2015 ALTERNATIV »Wohnprojekt Spreefeld« (Seite 4) IDYLLISCH! »Leben auf dem Hausboot« (Seite 6) HILFREICH? »Mietpreisbremse« (Seite 24) SCHÖNER WOHNEN?!

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 10, Mai 2015

    ALTERNATIVWohnprojekt Spreefeld (Seite 4)

    IDYLLISCH!Leben auf dem Hausboot (Seite 6)

    HILFREICH?Mietpreisbremse(Seite 24)

    SCHNER WOHNEN?!

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 20152 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Tre punkt Ka ee Bankrott in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,Wohnen ist leider kein Grundrecht in Deutschland. Das ist ei-gentlich ein Skandal. Denn was soll Mensch tun, wenn er kein Dach ber dem Kopf hat? Bei Verwandten oder Bekannten unterkriechen, auf der Parkbank schlafen? Das muss dringend nachgebessert werden! Schon 2007 hat die Bundesarbeitsge-meinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) einen Offenen Brief zum Verfassungsrecht auf Wohnen an die Bundeskanzlerin, die Parteivorsitzenden und die Fraktionsvorsitzenden der im Deut-schen Bundestag vertretenen Parteien geschickt. Passiert ist bis heute nichts!

    Das Recht auf Wohnen ist brigens ein Menschenrecht der zwei-ten Generation (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte). Seine Grundlage im internationalen Recht sind Art. 11 des In-ternationalen Pakts ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), Art. 16 der Europischen Sozialcharta vom 16. Dezember 1966 sowie Art. 31 der revidierten Europischen Sozialcharta. Dem UN-Ausschuss fr wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zufolge beinhalten Aspekte des Rechts auf Wohnen unter dem ICESCR auch: rechtlichen Schutz des Arbeitsplatzes; die Verfgbarkeit von Dienstleistungen, Materi-alien, Anlagen und Infrastruktur; Erschwinglichkeit; Bewohn-barkeit; Zugnglichkeit, Lage und kulturelle Angemessenheit. (Quelle Wikipedia)

    Sie alle kennen sicherlich den Spruch: My home is my castle zu Deutsch Mein Haus ist meine Burg. Stimmt, denn die Woh-nung ist fr die meisten von uns ein ganz wunderbarer Ort, an den man sich zurckziehen kann, an dem man geborgen ist, wo man sich wohlfhlen kann. Eine schne, gemtliche Wohnung ist ein rechtes Glck. Die Anstze der Menschen dazu sind un-terschiedlich: Dem einen gengt ein winziges Zimmerchen, der andere bentigt dringend einen ganzen Palast. Mancher wohnt im Bauwagen und fi ndet das toll, andere ziehen ein Leben auf dem Hausboot vor. Viel hngt natrlich auch vom Geldbeutel ab, ist er gut gefllt, fllt es leichter, sich den Wunsch nach ei-ner Traumwohnung zu erfllen. All diesen Dingen sind unsere ehrenamtlichen Autor_innen in dieser Ausgabe nachgegangen. Ganz aktuell brigens Mietspiegel und Mietpreisbremse!

    Ich wnsche Ihnen viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick, Chefredakteur strassenfeger

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    SCHNER WOHNEN?!Bewohnte Trume

    Alternatives Wohnen im Spreefeld

    Idylle auf dem Hausboot

    Stadtplanungsbro Topos

    Mietspiegel

    Rechte und P ichten von Mietern

    Berliner Mietergemeinschaft

    Elektrosmog

    Wohnen aus dem Rucksack

    Therapeutische Wohngemeinschaft

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rDieter Roth im Hamburger Bahnhof

    B re n n p u n k tAG City setzt auf Verdrngung

    Bezirk rumt Obdachlose am Bahnhof Zoo

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    A k t u e l lWundermitt el Mietpreisbremse?

    Republicca

    S p o r tHertha BSC: Wahnsinnskampf um Klassenerhalt

    Fchse-Handballer im Pokalfi eber

    ALBA-Basketballer wollen Meistertitel!

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e r100 Prozent Regelleistung fr Behinderte

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 3

    Ein Dach ber'm Kopf oderBewohnte TrumeT E X T : M i s c h a N a k o n z

    Ein Stuhl, ein Bett, ein Tisch sparta-nisch sollte sie sein, die erste Wohnung, von der ich als Kind trumte, whrend ich zwischen plschigen Kissen, die im rechten Winkel eine uniforme Couchgarnitur schmckten, regungslos sa und in den Fern-seher starrte, der bunte Bilder ausspuckte im Hochglanz einer Schrankwand.

    Alle Kinder, die ich kannte, saen allabendlich zwischen solchen Kissen, nachdem sie ihre Brote an der obligatorischen Essecke eingenommen hatten, an einem mit Wachstuch bespannten Tisch. Manchmal, ich verbot mir aber dies mit-zuteilen, verursachten mir die vielen Blumen auf den Tapeten, Vorhngen und Hkeldeckchen, den Teppichen und dem Badewannenvorleger Kopfschmerzen. Wenn ich nachts und schlaflos unter einer knallbunten Decke lag, all die farbi-gen Kleider meiner Puppen keine einzige von ihnen mochte ich und die roten, gelben Plsch-tiere sich mir aufdrngten wurde mir mitunter bel. Ich war, man hatte es mir gesagt, eben ein undankbares Kind und schloss in heimlicher Dankbarkeit meine Augen, mich meinen eigenen Wohnungstrumen hinzugeben.

    Ich whnte mich zwischen kahlen Wnden eines schmutzigen Hinterhauses, inmitten einer Gro-stadt, in der Gardinen nicht mehr zwingend n-tig und alle Bcherregale, alle Teller wei sein wrden. Man sollte vorsichtig mit Wnschen sein, denn manche erfllen sich tatschlich eher oder spter. Das stundenlange Sitzen auf einem harten Stuhl, dem einzigen, den ich in meiner ersten Wohnung besa, war auf Dauer doch recht unbequem und der Gang zum Klo, das sich eine halbe Treppe tiefer befand, nch-tens, besonders im Winter, eine Plage... und ir-gendwann empfand ich das Hinterhaus, ich gebe es zu, einfach nur muffig.

    Meine Gste schienen sich in meiner einst er-trumten Wohnung auch nicht wirklich wohl zu fhlen, die bucklige Verwandtschaft war sogar offenkundig entsetzt, besonders nachdem die Campingliege - den einzigen Schlafplatz, den ich neben dem Boden noch anbieten konnte - zusam-menbrach. Die dort, immerhin auf einem weien Tuch, angebotenen Speisen, luden und ich habe

    es verstanden die Bewirteten nicht wirklich zum Genieen ein, da die erforderliche berkreuzung der Beine, in anderen Lndern durchaus blich, diesem und jenen zu anstrengend war.

    Ich habe die Notwendigkeit eines Esstisches eingesehen und auch an eine andere kleine Ver-besserung gedacht, an einen Umzug in's Vor-derhaus. Mit Sack und Pack dort angekommen, viel hatte ich nicht zu transportieren, genoss ich den Fensterblick hinunter auf die Strae, auf der sich alles vor meinen Augen wie im Kino auszubreiten schien, lebendig und laut. Ich wei nicht mehr, wann es anfing es erinnerte mich aber an die Kopfschmerzen meiner Kindertage. Hatten sich mir damals die Blumen aufgedrngt, fhlte ich mich nun dem bunten Gewimmel der Stadt ausgeliefert und boten selbst die kahlen Wnde keinen Schutz mehr.

    Wenn ich im Krach der Nacht keinen Schlaf mehr zu finden vermochte trumte ich davon, in einer Waldhtte zu leben oder aber in einem kleinen Haus, am Ende einer Dorfstrae. Ich suchte lesend allen Lrm zu vergessen und er-lag in den Bchern der Faszination einer gnz-lich anderen Wohn- und Lebensform, dem Da-sein einer Intellektuellen im Hotel. Da ich nicht

    einmal Abitur besitze und noch weniger das Geld, um ein solches Zimmer zahlen zu kn-nen, verstand ich diese Trumerei als erlaubte trstende Flucht. Dann hrte ich aber von ei-nem verarmten Schauspieler, der im Norden dauerhaft eine Gstewohnung gemietet hatte, mit Blick auf's Meer. Kann sein, dass ich den Meeresblick dazugedichtet habe - zur eigenen Entspannung, aber in jedem mageren Urlaub an der Ostsee betrachtete ich sehnschtig diese Balkone, whrend ich mit einer Decke unter'm Arm die Promenade entlanglief.

    Meine Plne, auf einem Campingsplatz zu leben, waren nicht hartnckig genug, um sie auch nur im Ansatz tatschlich zu verfolgen. Wenn ich an eine Dachgeschosswohnung denke, denke ich an mein Alter und meine Fahrstuhlangst.

    Ich sitze immer noch auf einem harten Stuhl und besitze kaum mehr als ein Bett, einen Tisch und einen Schrank. Das Bcherregal ist aus Metall, es hat auch, wegen der Enge der Wohnung, nur fr eines gereicht, aber zwischen allen Trumen bin ich doch zufrieden, ein Dach ber dem Kopf zu haben, eine Tr, die ich hinter mir schlieen kann, einen eigenen kleinen Raum, gro genug, sich anderes vorzustellen.

    Eigentumswohnung in der Novaragasse 40, in 1020 Wien (Quelle: www.rustler.eu)

  • 01 Zusammen mit den Bewohnern des gleich neben dem Gelnde der SPREE-FELD Genossenschaft gelegenen Tippi-dorfes organisieren die Genossenschaft-ler viele gemeinsame Veranstaltungen.

    02 Axel Schmidt, Aufsichtsratsvorsitzen-der der SPREEFELD Genossenschaft

    03 Gemeinschaftswerkstatt der SPREE-FELD Genossenschaft

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 20154 | SCHNER WOHNEN?!

    Stadt Land FlussGanz Berlin ist besetzt. Ganz Berlin? Nein! Die kleine Genossenschaft Spreefeld widersetzt sich der Landnahme durch Konzerne und Immobilienspekulanten.B E R I C H T : A n n a G o m e r | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Die Geruschkulisse am Spreeeufer nahe Ostbahnhof ist geprgt von re-ger Bauttigkeit. Das geht seit Jahren so und viele Ergebnisse dieses Bau-ens kann man schon sehen. Denkt man an die-ses Neue Bauen an der Spree, denkt man auch automatisch an die Initiative Mediaspree ver-senken!. Die neu entstandenen Neubauten am Ufer werden von Berlinern vielfach als etwas Fremdes, der Stadt ber ihre Kpfe hinweg Auf-oktroyiertes wahrgenommen. Doch nicht hinter allen Gebuden, die am Spreeufer neu entstan-den sind, stehen groe Firmen, Investoren oder gar Hedgefonds. Nur auf den ersten Blick ist die verhrtete Frontstellung zwischen den nur an der guten Lage ihrer Sitze und an ihren Profiten interessierten mchtigen Unternehmen auf der einen Seite und den ohnmchtigen Stdtebewoh-nern auf der anderen so undurchlssig.

    Zwischen Kpenicker Strae und dem Spreeufer unmittelbar hinter dem Deutschen Architek-turzentrum, ragen seit vier Jahren drei achtge-schossige Wohnhuser aus dem Boden, die man durchaus als ein Symbol dafr ansehen knnte, dass auch Stdtebewohner nicht ganz ohnmch-tig sind. Zumal sich die Initiatoren des Spree-felds so heit der Gebudekomplex und die Genossenschaft dahinter selbst auf die Initia-tive Mediaspree versenken! berufen, die sich erfolgreich gegen eine massive Brohausbebau-ung des Spreeufers in Kreuzberg-Friedrichshain wandte. Das Projekt entstand 2007 vor diesem Hintergrund, betont einer der Hauptinitiatoren des Spreefelds, Christian Schningh.

    In vielerlei Hinsicht sind die drei Huser und das Leben in ihnen bemerkenswert. Ihre Archi-tektur, ihr konomischer Hintergrund, ihr all-tgliches Leben. Die Wohnhuser gehren der genossenschaftlich organisierten Gruppe von mittlerweile 90 Anteilseignern. Die Genossen-schaft entstand aber vor acht Jahren aus einer kleineren Gruppe von Architekten, die ihre Visionen jenseits der Auftraggeber- und Markt-zwngen verwirklichen wollten. Das Vorhaben, das Ausma der administrativen Schwierigkei-ten auf dem Weg dorthin schildern zu wollen, knnte in einen eigenen Artikel oder gar in ei-nen Broroman mnden. Doch schlielich wur-den die Hrden auf dem Weg zur Realisierung des umweltfreundlichen Projekts berwunden.

    entgegenwirken und das Grundstck und vor allem den Uferweg fr Passanten ffnen. Dieser Plan hatte die Aufhebung der Undurchlssigkeit zwischen Privat und ffentlich im Visier. Diese Trennung aber ist eins der wichtigsten Prinzipien des gegenwrtigen politisch- konomischen Sys-tems. Insofern geht das Projekt Spreefeld ber die bloe Innovation hinaus.

    Die Durchlssigkeit findet nicht nur in Bezug auf den Raum, sondern auch in Bezug auf Zeit statt. So ist in jedem Haus ein Optionsraum entstan-den, dessen Nutzung sich je nach Bedarf entwi-ckeln soll. Ernhrung mit Kche und Mittags-tisch, Bewegung und Kunst und Werkstatt sind nur die grob umrissenen Lebensbereiche, die dann in der Zeit und in der Diskussion im-mer neu ausgestaltet werden sollen. Der Garten mit seinem Sandkasten ist fr alle Passanten zugnglich, auch wenn er von der Garten- AG und in den gemeinsamen Subbotniks gepflegt wird. So wurde beschlossen, die Huser auf der Ebene +1 ber Brcken miteinander zu verbin-den. Diese Baumanahme steht allerdings noch aus. Grere Balkone und Terrassen sollen fr die Gemeinschaftsnutzung der Bewohner eben-falls noch mehr ausgebaut werden.

    Ein Blick in die Huser selbst zeigt, dass die Stu-fen der Durchlssigkeit zwischen ffentlich und privat noch viel ausdifferenzierter sind. Hier gibt es neben vielen Einzelwohnungen auch Cluster-wohnungen mit Ein- bis Dreizimmerwohnun-gen, die jeweils um einen Gemeinschaftsbereich angeordnet sind, zu dem eine groe Kche, ein Wohnzimmer und eine Terrasse gehren. In den Clusterwohnungen haben sich verschiedene For-men von Wohngemeinschaften entwickelt. So ist beispielsweise eine ganze Etage von einer Rent-ner-WG bewohnt. Aber auch die blichen Stu-denten-WGs sind selbstredend prsent. Bilden sich innerhalb solcher Studenten-WGs Kleinfa-milien, so ziehen andernorts die jungen Eltern meist aus. Die Menschen passen ihre Lebens-wirklichkeit den Wohngegebenheiten an. Anders hier. Umgekehrt knnen sich die Wohnungen im Spreefeld den vernderten Familienverhltnis-sen anpassen, weil die Wnde trotz optimalem Schallschutz verstellbar sind. Alle Wohnungen und Gemeinschaftsrume sind barrierefrei, da-her war es fr zwei Rollstuhlfahrerinnen und ei-nen Betreuer mglich, hier eine WG zu grnden.

    Von Anfang an wurden die Entscheidungen be-zglich der Architektur, ihrer lebensweltlichen Inhalte und ihrer Ausgestaltung basisdemokra-tisch gefunden. Aus diesem Prozess ist ein alter-natives Wohnkonzept entstanden.

    Fr die Genossenschaft ist ihr Ort, das Grund-stck am Ufer, das Bootshaus der ehemaligen DDR-Grenztruppen und die drei Wohnhuser nicht nur ein Ort des gemeinschaftlichen Lebens, sondern auch ein Ort der Stadtentwicklung. Man wollte die eigenen Visionen des Bauens und Lebens mit der ffnung der Stadt gegenber ver-binden. Man wollte der massiven Brobebauung

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  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 5

    Die wirtschaftliche Organisation des Projekts als Genossenschaft verhindert, dass eine zu ausge-prgte Individualisierung und der Rckzug ins Private die Huser den blichen Mietshusern angleichen. Die Genossenschaftsanteile, deren Erwerb von KfW-Frderkrediten auch Men-schen ohne Eigenkapital ermglicht wurde, sind nmlich von der Spekulation und vom Markt ausgeschlossen. Selbst wenn der Mietspiegel also steigt, knnen die Anteilseigner ihre Anteile in einigen Jahren nicht teurer verkaufen. Der Preis der Anteile bleibt gleich. Die Spekulation als Grund fr den Einzug wird somit ausgeschlos-sen. Als alleiniger Grund fr den Einzug in das Projekt sollte also der Wunsch sein, dort zu leben und das Leben mitzugestalten.

    Den Zwang zur stndigen Prsenz gbe es jedoch nicht, wie der Genossenschaftler Axel Schmidt, der uns das Projekt zeigte, betonte. Man habe zwar so viel Privatraum wie man mchte. Doch der Bauherr sei die Genossenschaft selbst, d. h. alle Baumanahmen und alle Nutzungsvorha-ben werden in Plenen besprochen, sodass man spter, wenn man sich in die Diskussion nicht eingemischt habe, sich auch nicht ber die Ent-scheidungen mokieren solle. Man knne sich aber den jeweiligen Interessen entsprechend an verschiedenen Arbeitsgruppen beteiligen, sei es im Garten, sei es in der Werkstatt. Die Interes-sen mssen in der Tat sehr unterschiedlich sein, denn hier wohnt keine homogene Bevlkerungs-gruppe, wie es in Baugruppen mit unterschiedli-chen Bauherren oft der Fall ist, sondern eine Mi-schung von lteren Singles, von Studenten und Berufsttigen bis zu einer jungen Flchtlings-familie aus der Ukraine.

    So sind auch die Innenrume der Wohnungen sehr unterschiedlich ausgestattet, je nach Bud-

    get und Geschmack, mal spartanisches Roh-baudesign, mal gemtliche und kunterbunte Oase. Lediglich die Freiflchen und Gemein-schaftsrume unterliegen der gemeinsamen Konzeption in Workshops. Die Berliner Bros carpaneto-schningh-architekten, F A T_Koehl Architekten und BARarchitekten haben im ge-meinsam festgelegten Rahmen die drei Huser individuell gebaut. Die Ausgestaltung liegt nunmehr in der Hand der Bewohner, zu denen allerdings der eine oder andere Architekt der ersten Stunde, aber auch Handwerker gehren, die immer in der projekteigenen Werkstatt zur Hand gehen knnen. Das materielle Gerst ih-

    res Lebens, die Huser und Rume haben die Bewohner fast ausschlielich in Eigenregie geschaffen, erzhlt Axel Schmidt. Nur einige wenige handwerkliche Leistungen mussten ein-gekauft werden.

    Im Moment steht fr die Bewohner die Ausgestal-tung des gemeinschaftlichen Lebens im Spree-feld im Vordergrund. Es sind unterschiedliche ffentliche und nachbarschaftliche Aktivitten geplant, die im stndigen Dialog mit der Stadt, aber auch mit den Nachbarn wie beispielsweise der benachbarten Kommune TeepeeLand ent-wickelt werden sollen.

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  • Schne Aussicht

    Gemtlicher Decks-Chair

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 20156 | SCHNER WOHNEN?!

    Die Liebe zum Wasser und ein gewisses Gefhl der FreiheitEine schwimmende Wohnidylle inmitten der GrostadtR E P O R T A G E & F O T O S : M a x i m i l i a n N o r r m a n n

    Im Westen Berlins trifft die schnelle, laute Welt der Strae auf ein kleines Paradies in-mitten der pulsierenden Metropole. Hier, nahe des S-Bahnhofs Beusselstrae, liegen aneinander gereiht etwa fnfzehn Hausboote in einem alten Hafenbecken des Westhafens. Es sind ehemalige Lastkhne oder kleinere Boote, die zu Wohnungen auf dem Wasser umfunkti-oniert wurden. Mit flieendem Wasser fr Du-sche und Toilette, Stromanschluss fr die Kche bis hin zu einer Fubodenheizung, knnen die schwimmenden Wohnungen dabei mit gewhn-lichen Wohnungen gut mithalten.

    Es ist frher Sonntagnachmittag. Hausherr Dieter winkt mich mde auf sein Hausboot: Wir sind heute Morgen wohl etwas zu spt ins Bett gegangen und htten fast deinen Besuch vergessen, gibt er zu, whrend er sich schnell etwas berzieht. Der 55-Jhrige lebt seit seiner Ankunft 1994 in Berlin ununterbrochen auf dem Wasser. Der gelernte Schlosser entschied damals zusammen mit seinem Bruder von Stuttgart wegzuziehen und hier in Berlin ein altes ausran-giertes Boot zu ersteigern: Die frheren Was-serbauboote der DDR fanden mit dem Fall der Mauer keine Benutzung mehr und wurden fr wenig Geld angeboten. Von diesem Moment an habe ihn das Leben auf dem Wasser nicht mehr losgelassen. In einer normalen Wohnung kann ich heute nicht mehr gut schlafen. Ihm fehle das gleichmig ruhige Treiben auf dem Wasser, er-klrt Dieter mir.

    Auf ihrem ersten Boot in Treptow htten die Brder nicht nur gewohnt, sondern darauf auch unzhlige Partys geschmissen. In dieser wilden Nachwendezeit seien bis zu zehn DJs auf dem Boot und dem angrenzendem Gelnde in der Rummelsburger Bucht aufgetreten, berichtet mir Dieter stolz. Doch auf Dauer htten die Partys zu viel Arbeit mit sich gebracht. Auerdem habe er in Folge der Aufwertung des Areals rund um die Halbinsel Stralau mit seinem Boot an die K-penicker Strae umziehen mssen. 2001 habe er beschlossen, nun ohne seinen Bruder, wei-tere Boote zu ersteigern oder aufzukaufen, um diese in Hausboote umzubauen. Das Geschft florierte, fr gerade mal 1 000 Mark erstandene Schiffe habe ich als ausgebaute Hausboote sp-ter fr bis zu 56 000 Euro weiterverkauft. Wh-rend Dieter mir begeistert von seinen Anfngen in Berlin erzhlt, fllt mir auf, wie sehr er mich an einen typischen Seemann erinnert: Muskulse,

    der Taten, nicht der berschwnglichen Worte. Heute verdient er sich sein Geld mit dem Instand-setzen alter Motorrder und Arbeiten an kleinen Sportbooten. Er wolle sich nicht beklagen, auch wenn sein jetziges Leben etwas mehr finanzieller Planung bedrfe. Ich pfriemele mich ganz gut durch. Heute verdient man eben besseres Geld mit Sportbooten als mit Hausbooten.

    F l u c h t v o r d e r H e k t i k d e r S t a d t

    Silke ist fnf Jahre jnger als Dieter. Sie hat mich auf das Dach des Bootes eingeladen. Am hohen Himmel ber den Hausbooten ziehen Vgel ihre Kreise. In der Ferne sieht man ein Flugzeug auf den Flughafen Tegel zufliegen. Silke blinzelt zufrieden in die Sonne. Es ist traumhaft hier!

    ttowierte Arme, kleine aber krftige Statur und eine tiefe, rauchige, aber gleichsam freundliche Stimme. Aus einem alten analogen Radio hinter ihm klingt whrend unseres Gesprchs hingegen hippe Popmusik der Neuzeit. Dieter ist ein Mann

  • Silke und Dieter mgen es nostalgisch Auch fr eine gut ausgestatte Kche ist auf dem Hausboot reichlich Platz

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 7

    I N FO

    www.strassenfeger-archiv.org/article/2231.0006.html

    http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/555892/Ich-moechte-auf-einem-Hausboot-wohnen-geht-das

    www.schoener-wohnen.de/bauen/haeuser/203807-hausboot-und-hausboote.html

    www.morgenpost.de/berlin/article112659046/Vertriebene-Hausboote-koennen-in-Niederschoeneweide-anlegen.html

    www.mopo.de/nachrichten/zu-wenig-liegeplaetze-warum-darf-ich-nicht-auf-meinem-hausboot-wohnen-,5067140,26111786.html

    tag bei dem schnen Wetter! Der Bootsnachbar lacht und nickt grend zurck, bevor sie sich noch ein paar Worte ber das Wasser zurufen. Mit dem einen Nachbarn komme man besser aus, dem anderen gehe man lieber aus dem Weg, eigentlich wie in einem normalen Wohnhaus, erzhlt Silke schmunzelnd. Wie die Schiffe, so seien auch deren Besitzer ganz unterschiedlich. Die einen seien Architekten und Chefrzte, die anderen ganz normale Angestellte oder Rentner. Aber alle verbindet die Liebe zum Wasser und ein gewisses Gefhl der Freiheit, was damit ver-bunden ist, erzhlt mir Silke mit glnzenden Augen. Kleiner Spa am Rande: Dieter, so Silke, liebe es brigens, nur mit der Unterhose ber sein kleines Grundstck laufen zu knnen, ohne dass ihn deswegen jemand bld anmacht.

    Seit einigen Jahren liegt das alte Lastschiff nun fest in dem alten Hafenbecken. Dieter fhrt mich unter Deck. Schlielich will ich auch sehen, wie man eigentlich so wohnt auf einem Schiff. Im grten Raum, der das Wohnzimmer und die K-che fasst, setzen wir uns an den Esstisch. Dieter nippt an einer Tasse Kaffee. In einer Ecke lehnt ein altes hlzernes Steuerrad, darauf liegen zwei Motorradhelme. So klein und eng, wie ich es mir vorgestellt hatte, ist es gar nicht. Das Boot ist

    Euro kosten. Genau das sei auch der Grund dafr, dass die Behrden weniger Zulassungen fr Haus-boote erteilen wrden, meint Dieter. Viele seien schlichtweg zu naiv im Umgang mit einem Boot und sich der vielen Probleme gar nicht bewusst, die so ein alter Lastkahn mit sich bringen knne. Erst vor kurzem ist bei uns ein Boot abgesoffen, berichtet mir Dieter. Auch von dem neuen Trend, sich luxurise Hausboote erbauen zu lassen, halte er wenig. Es gibt sogar welche, die sich einen Be-tonboden in einen alten Lastkahn gieen lassen, erzhlt er mir kopfschttelnd.

    Wenn erst einmal die Bume prchtig blhen, sieht und hrt man von der Autobahn noch we-niger, und man hat hier ein richtiges Paradies. Und wenn der Ausflugsdampfer Moby Dick vorbeifahre, gbe es sogar einen richtigen See-gang durch die hohen Wellen, fgt sie vertrumt hinzu. Als sie Dieter vor zwei Jahren kennenlernt habe, sei sie von dem Leben auf dem Schiff fas-ziniert gewesen. An das Leben auf dem Wasser gewhne man sich schnell. Heute geniee sie vor allem die Natur um sich herum und die Mglich-keit, sich von dem hektischen Stadtleben abzu-grenzen. Sobald ich wieder in die Stadt fahren muss, kriege ich bei all dem Stress auf den Stra-en einen dicken Hals.

    Silke blickt auf ein anderes Boot herber und hebt winkend den Arm: Geniee den Sonn-

    geschmackvoll und gemtlich eingerichtet, eine breite Couch mit Tisch und Blick auf die Spree ha-ben hier ebenso Platz, wie mehrere Kommoden.

    Wo h n e n a u f d e m Wa s s e r i s t n i c h t g e r a d e b i l l i g

    Wirklich gnstiger als in einer normalen Wohnung findet Dieter das Leben auf dem Wasser nicht. Zwar hielten sich die Kosten fr die jhrliche Pacht fr den Liegeplatz sowie Strom und Wasser mit ca. 1 000 Euro in Grenzen, allerdings drfe man die Unterhaltungskosten fr das Boot nicht vergessen. Auch ein Hausboot msse schlielich regelmig in die Werft, um es dort ordentlich durchchecken und notfalls in Stand setzen zu lassen. Die ganze Sache knne dann schon mal mehrere tausend

    Wie viele Menschen insgesamt auf Haus-booten in der Stadt leben wei nicht mal die Berliner Wasserbehrde genau. Man fhre dazu keine Statistik, erklrt die Senatsverwaltung fr Stadtentwicklung und Umwelt auf Anfrage ge-genber dem strassenfeger. Erkennbar ist aller-dings, dass die Anzahl von Hausbooten in der Stadt sinkt. Die Senatsverwaltung gibt an, der enorme Nutzungsdruck auf die Berliner Ge-wsser wrden Genehmigungen erschweren. Ob das stimmt, sei hier mal dahingestellt. An-derswo, in Hamburg oder Amsterdam, gibt es viel mehr Hausboote als in Berlin.

    Auch auf dem Wasser gibt es mittlerweile das Problem der Verdrngung. So geschehen zum Beispiel rund um den Treptower Park. Dort gab es vor wenigen Jahren noch eine groe An-

    zahl an Hausbooten. Die meisten Besitzer wur-den gedrngt, sich einen anderen Liegeplatz zu suchen, nicht zuletzt durch den Druck der dort ansssigen Reederei Riedel. Heute liegen an der weitlufigen Stelle zwischen Treptower Park und Insel der Freundschaft gerade mal noch zwei Hausboote.

    Dieter und Silke wollen auf jeden Fall auf dem Wasser wohnen bleiben. Fr beide gibt es derzeit keinen Grund ihr schmuckes Hausboot zu verlas-sen. Dieter: Ich mchte solange auf dem Boot leben, wie ich mich hier noch gut bewegen kann.

  • Sigmar Gude ist Grndungsmitglied von TOPOS (Quelle: Topos)

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 20158 | SCHNER WOHNEN?!

    Wohnungsaufwendungsverordnung benachteiligt Empfnger sozialer TransferleistungenErkenntnisse des TOPOS-Stadtforschers Sigmar GudeB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Vom Institut fr Stadtforschung TO-POS habe ich erstmals 2005/06 im Sprecherrat der AG Leben mit Ob-dachlosen gehrt. Es ging um die Fol-gen der damals von der Berliner Sozialverwaltung neu geschaffenen Ausfhrungsvorschriften zur Gewhrung von Leistungen gem 22 SGB II und 35 und 36 SGB XII (AV-Wohnen). Dabei geht es um die Angemessenheit der Aufwendun-gen fr die Wohnung fr ALG II-Empfnger. Ein Informant hatte uns darber berichtet, dass eine groe Zahl an Menschen aus ihren Wohnungen raus mussten, weil sie zu teuer waren. Damals hrte ich zum ersten Mal den Begriff Zwangs-umzge. Jahre spter erfuhr ich, dass TOPOS regelmig im Kreuzberger Stadtgebiet SO 36 die Empfnger von ALG II dazu befragt. Sigmar Gude ist Soziologe und Grndungsmitglied von TOPOS: Bei der Grndung von TOPOS im Jahr 1984 war er bereits mehr als zehn Jahre als Stadt-forscher ttig. Das Bro engagiert sich in der Stadtplanung, der Landschaftsplanung und der Stadtforschung. Die Gruppe Stadtforschung ist das kleinste Team. Gude ist froh ber diese Kombination bei TOPOS, die ihm mehr Frei-raum lsst als ein reines Stadtforschungsinstitut.

    M rc h e n v o n d e n Zw a n g s u m z g e n u n d v o m s c h l s s i g e n K o n z e p t

    Die erste Untersuchung ber Haushalte mit Emp-fngern von ALG II in SO 36 wurde laut Gude ohne Auftrag durchgefhrt. Von 1993 bis 2012 wurden sechs Untersuchungen in diesem Gebiet regelmig durchgefhrt. Vom Begriff Zwangs-umzge hlt Sigmar Gude brigens gar nichts. Grundstzlich sei kein Mieter gezwungen, we-gen hoher Mieten umzuziehen. Der Begriff ver-schleiere mehr als er erhelle. Er helfe der Poli-tik, das Problem klein zu reden. Etwa 30 000 Haushalte seien von den Jobcentern in Berlin aufgefordert worden, die Kosten fr Unterkunft und Heizung zu senken. In Einzelfllen htten die Vermieter die Miete gesenkt. Die bergroe Mehrheit der von der Aufforderung betroffenen Menschen zahle die Differenz aus dem Regelsatz, laut Gude 28 500. Durch den Blick auf die Um-zge werde das Ausma nicht gengend erfasst und die Politiker knnten sagen, so gro ist das Problem doch nicht, betont Gude.

    Die Vorschriften zur Ermittlung der ange-messenen Kosten fr Unterkunft und Heizung benachteiligen systematisch die Empfnger sozialer Transferleistungen. Zwei Punkte hat

    Sigmar Gude angesprochen. Das eine ist die Struktur des Wohnungsangebots: In Berlin ha-ben 325 000 Wohnungen unter 50 Quadratme-ter Wohnflche. Auf diese kleinen preiswerten Wohnungen sind neben den 200 000 Einperso-nenhaushalten im Bezug von ALG II tausende Studenten und Singles mit Beschftigung im Niedriglohnsektor angewiesen. Darauf zu ver-trauen, dass angesichts des Wohnungsmangels ein Mensch auszieht, sei illusorisch, so Gude. Das zweite Problem sei die Ermittlung der an-gemessenen Kosten. Das Bundessozialgericht spreche vom schlssigen Konzept, wenn ein qualifizierter Mietspiegel die Grundlage der Berechnung bildet. Das Problem sei, dass diese Methode Bedrftige systematisch benachtei-ligt. Das habe einmal mit dem Zeitablauf von der Ermittlung der Werte bis zum Beschluss der angemessenen Kosten zu tun. Zwei Jahre seien bei einem dynamischen Wohnungsmarkt mit krftigen Steigerungen ein Problem. Dazu komme, dass seit Jahren die Angebotsmieten deutlich ber den Bestandsmieten liegen. Sig-mar Gude bemngelt, dass nicht die Angebots-mieten Basis der Ermittlung der angemesse-nen Kosten sind.

    W i e w o h n t e s s i c h m i t H a r t z I V ?

    Die Empfnger von ALG II blieben in der Re-gel in ihren Wohnungen, sagt Gude. Sie htten so gut wie keine Alternativen. In der Grosied-lung Falkenhagener Feld in Spandau finde ein Bezieher sozialer Transferleistungen nur in Ein-

    zelfllen eine neue Wohnung. In der Siedlung beziehen nach Auskunft von Gude 20 Prozent der Bewohner ALG II. Im Umland finden sie auch keine geeignete Wohnung. Sigmar Gude erluterte das mit einer Anekdote: TOPOS hat Auftrge fr eine neue Schule in Schwanebeck bearbeitet. Bei der Besichtigung habe die Stadt-rtin von Neuklln die Schulleiterin nach dem Anteil der Schler aus Hauhalten mit Bezug von ALG II befragt. Die Antwort: Zehn. Die Stadtrtin fragte nach: Zehn Prozent? Ant-wort: Zehn Schler. Zehn von 700. Selbst das weitere Umland biete kaum Alternativen. Seit Jahrzehnten leer stehende Gebude seien nicht bewohnbar, so Gude.

    M i e t e n b re m s e n i m M a r k t

    Ein Gesetz des Marktes lautet: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Das trifft auch auf die Mietwohnungen zu. Vor Jahrzehnten wurden dunkle Wohnungen im Erdgeschoss ge-mieden. Selbst die werden heute ohne weiteres angemietet. Bleibt die Frage: Kennt der Woh-nungsmarkt gar keine Bremsen? Doch die gibt es, TOPOS hat Untersuchungen in Berlin und Essen gemacht. Dabei sei laut Gude herausge-kommen, dass Lrm eine Mietenbremse ist. An verkehrsreichen Straen wohnten Menschen mit geringem Einkommen. In Essen htten die Woh-nungen in Husern direkt an der Autobahn A40 die preiswertesten Mieten. Auch Mll auf dem Gehweg und verdreckte Treppenaufgnge wr-den den Mietpreis bremsen. Nur nicht so stark.

  • Der Mietspiegel wird im Juni erneuert (Quelle: www.stadtentwicklung.berlin.de/)

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 9

    Wo soll das noch hinfhren?Die Mieten in Berlin explodierenB E R I C H T : A s t r i d

    Betrachtet man den Mietspiegel in Berlin von den Jah-ren 2011 bis heute, kann man sich nur wundern. In den vier Jahren sind die Mietpreise fr eine Wohnung in Berlin exorbitant gestiegen. Nehmen wir mal eine 30 qm Wohnung. Zahlte man 2011 fr diese Wohnung durch-schnittlich noch 8,36 pro qm, sind wir heute bereits bei 11,06 fr den qm angekommen. Ich machte mir mal die Mhe und suchte in dieser Kategorie eine Wohnung. Ich fand einige, da erreichte der Quadratmeterpreis fast die 20 -Marke bzw. ber-schritt sie sogar. Was, das glauben Sie nicht? Dann sehen sie selber mal auf den Seiten mit den Wohnungsanzeigen nach.

    Interessant in diesem Zusammenhang ist der Mietspiegel auch in folgendem Zusammenhang: In Bezirken wie Kreuz-berg, Mitte etc. bezahlt man schon schnell mal zwlf bis 14 fr den Quadratmeter, whrend man in Hellersdorf den niedrigsten Preis bezahlt: 6,08 . Aber, in Kreuzberg ging es auch wieder knapp ber die zwlf -Grenze hinaus, der Nach-barbezirk Neuklln liegt im Durchschnitt um die neun /m2.

    Was mir auch noch auffllt ist, dass die Quadratmeter-Mieten in den Jahren 2011 bis 2014 fast jedes Jahr um einen Euro stiegen, aber dann nur noch um einige Cent. Na gut, die-ses Jahr ist noch nicht vorbei. Die endgltigen Zahlen werden wir wohl erst nchstes Jahr haben.

    A l l h e i l m i t t e l M i e t p re i s b re m s e ?

    Da es diese Entwicklung nicht nur in Berlin gibt, entschloss sich die Bundesregierung dazu, eine Mietpreisbremse einzurichten. Hrt sich ja gut an. Ab 1. Juni dieses Jahres knnen die Bun-deslnder per Verordnung so eine Mietbremse einrichten. Das Wort, worauf es hier ankommt, ist knnen. Berlin ist bisher das einzige Bundesland, in dem diese Regelung sofort in Kraft treten soll, die anderen Bundeslnder sammeln noch Daten.

    Tja, wie in jedem Gesetz oder jeder Verordnung gibt es auch Ausnahmen fr die Mietpreisbremse. Die betreffen Neu-bauten, umfassende Modernisierungen und bereits bestehende Miethhen. Ich kann mir vorstellen, dass es in Zukunft ver-strkt Modernisierungsmanahmen geben wird, schlielich knnen satte elf Prozent solcher Modernisierungskosten auf die Miete umgewlzt werden. Und das auch, wenn die Miete dann die laut Mietbremse festgesetzten Werte bersteigt. Und das gilt auch noch rckwirkend fr Modernisierungen, die schon drei Jahre zurckliegen. Da fasse ich mich an den Kopf: Der Vermieter baut neue Bder und Fenster ein und hebt die Miete an, trotz Mietbremse. Wieso dann aber berhaupt so ein eine Mietbremse einfhren, frage ich mich?!

    Als Neubauten gelten Wohnungen, die erstmals nach dem 1. Oktober 2014 bezogen worden sind. Der Gesetzgeber wollte verhindern, dass noch weniger Neubauten entstehen, wenn man nur Niedrigmieten verlangen kann. Gut, das kann ich ein wenig verstehen. Nur, in den Bezirken, in die die meisten Menschen hinziehen wollen, gibt es keine oder kaum leere Grundstcke, also auch keine Neubauten. Dafr gibt es aber viele Gebude, die verkommen oder leer stehen. Hm, ob die Besitzer nur war-ten, bis sie diese abreien knnen, um dann teurere Wohnungen zu bauen? Ganz falsch liege ich da wohl nicht.

    Der soziale Treffpunkt Kaffee Bankrott und die Redak-tion des strassenfeger saen frher ja mal in der Prenzlauer Alle. Fhrt man diese Strae heute entlang, dann sieht man, dass berall modernisiert wird, und man entdeckt auch sehr viele Ferienwohnungen. Ich verteufele nicht die Vermieter, die sich dafr entscheiden, in ihrem Haus Ferienwohnungen ein-zurichten und zu vermieten. Was mich malos rgert ist, dass dafr alteingesessene Mieter verdrngt werden. Denn eins ist doch klar: Den Feriengsten folgen hippe Geschfte, hohe Preise in Lden und Restaurants und leider auch oft Klagen ber Mieter, die nicht mehr in dieses Bild passen. Das hat der mob obdachlose machen mobil e.V. ja selbst erlebt.

    Ein kleiner Nachtrag noch. In einigen deutschen Stdten gibt es eine Steuer fr Bewohner, die dort einen Zweitwohn-sitz haben. Das finde ich gar nicht so schlecht, man ist ja nicht gerade unvermgend, wenn man sich in zwei oder mehreren Stdten ein Haus oder eine Wohnung leisten kann.

    I N FO

    www.stadtentwicklung.berlin.de/ wohnen/mietspiegel/de/broschuere.shtml

  • Bei einem Mieterwechsel ist der Vermieter gefordert. (Quelle: www.ww-ag.com)

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201510 | SCHNER WOHNEN?!

    Renovieren oder nicht renovierenRechte und Pflichten von MieternB E R I C H T : M a n u e l a P e t e r s

    Schon seit langem ist Berlin eine Mieter-stadt. Zwar ruft die Politik regelmig dazu auf, Immobilien zur Altersvorsorge zu erwerben, doch ist das Wohnen zur Miete nicht die schlechtere Alternative.

    Nach dem Gesetz ist es Aufgabe des Vermieters, dem Mieter die Wohnung in einem ordnungsge-men Zustand bereitzustellen und in diesem Zustand whrend der Dauer des Mietverhltnis-ses zu erhalten. Das schliet die Durchfhrung von Schnheitsreparaturen ein. Es ist jedoch b-lich geworden, diese mit Formularklauseln stets dem Mieter aufzuerlegen. Der Bundesgerichts-hof in seinem Urteil vom 18.03.2015 hat diese Praxis nun eingeschrnkt. Die formularmige berwlzung der Verpflichtung zur bernahme laufender Schnheitsreparaturen einer dem Mie-ter unrenoviert oder renovierungsbedrftig ber-lassenen Wohnung ist unwirksam, wenn der Ver-mieter dem Mieter keinen angemessen Ausgleich dafr gewhrt. Dies ist vom Mieter im Streitfall darzulegen und zu beweisen. In einer weiteren Entscheidung vom selben Tag erklrte der Bun-desgerichtshof eine Klausel fr unwirksam, die den Mieter zur Zahlung der anteiligen Kosten von Schnheitsreparaturen gemessen an starren Fristen verpflichtet (Quotenabgeltungsklausel). Dabei sei es gleich, ob die Wohnung dem Mieter renoviert oder unrenoviert bergeben wurde.

    Die Hauptpflicht des Mieters besteht in der pnktlichen Zahlung der Miete und der Nebenkosten. Der Vermieter bedingt sich regelmig ein Recht zur sofortigen Kndi-gung, wenn der Mieter mit zwei oder drei aufeinanderfol-genden Mieten in Verzug ist. Dafr reicht es, wenn ber ei-nen lngeren Zeitraum die Miete nur teilweise gezahlt wird, ohne dass dem Mieter ein Recht zur Minderung zusteht. Mietminderung ist mglich, wenn der tatschliche Zustand der Mietsache vom vertraglich vorausgesetzten Zustand abweicht oder es an einer zugesicherten Eigenschaft fehlt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die tatschliche Woh-nungsgre von der vertraglich vereinbarten um mehr als zehn Prozent abweicht. In diesem Fall wrde die Miete entsprechend prozentual gemindert. Zum Recht zur Miet-minderung und der angemessenen Hhe des Minderungsbe-trages hat sich im Laufe der Jahre eine umfangreiche Recht-sprechung herausgebildet.

    Bevor die Miete wegen eines Mangels, der nicht von Anfang an vorhanden war, gemindert werden kann, muss der Mieter dem Vermieter den Mangel sofort anzeigen und ihm die Mg-lichkeit geben, diesen innerhalb einer angemessenen Frist zu beseitigen. Hat der Vermieter den Mangel innerhalb der ge-setzten Frist nicht beseitigt, kann der Mieter den Mangel auf dessen Kosten beseitigen lassen. Zeigt der Mieter den Mangel nicht sofort an und vergrert sich der Mangel, so haftet der Mieter fr die Kosten, um die sich die Beseitigungskosten ge-genber einer sofortigen Anzeige erhht haben.

    War der Mangel von Anfang an vorhanden und kannte der Mieter den Mangel nicht, so ist eine Anzeige nicht erfor-derlich. Das Recht zur Minderung tritt dann kraft Gesetzes ein. Um hierber spteren Streit zu vermeiden, sollte bei bergabe der Wohnung unbedingt ein Protokoll ber den Zustand der Wohnung gefertigt und von beiden Vertrags-parteien unterschrieben werden. Hat der Mieter die volle Miete gezahlt, weil er den Mangel nicht kannte und entdeckt er ihn spter, so kann er fr die letzten drei Jahre die Miete anteilig vom Vermieter aus ungerechtfertigter Bereicherung zurckverlangen.

    Vorsicht ist anzuraten, wenn ein Mieter seine Wohnung unter-vermietet. Dann ist er gegenber dem Untermieter Vermieter, auch wenn der Vermieter des Mieters diesem die Unterver-mietung gestattet hat. Nur in den seltensten Fllen wird der Vermieter Vertragspartner des Untermieters. Der Mieter haf-tet damit gegenber seinem Vermieter fr seinen Untermieter. Und auch der Untermieter hat nur Ansprche gegen den Mie-ter als Vermieter. Zahlt beispielsweise der Mieter die Miete nicht an seinen Vermieter und kndigt dann der Vermieter, so ist auch der Untermieter von der Kndigung betroffen, auch wenn er selbst seine Miete an seinen Vermieter gezahlt hat. Denn sein Recht zum Besitz und Gebrauch der Sache hngt an dem des Mieters. Mit seinen mieterfreundlichen Entschei-dungen im Mrz dieses Jahres strkte der Bundesgerichtshof die Interessen der Mieter.

    I N FO

    www.mieterbund.de/mietrecht/ bgh-urteile-mietrecht.html

  • I N FO

    www.bmgev.de

    www.bmgev.de/mietrecht/tipps-a-z/artikel/selbst-auskunft.html

    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 11

    Die Politik tut nicht genug fr die MieterBerliner Mietergemeinschaft fordert mehr kommunalen WohnungsbauI N T E R V I E W & F O T O : B o r i s N o w a c k

    Berlin ist in. Weltweit. Immer mehr Menschen mchten im dicken B leben. Folge: Die Mieten steigen, Modernisierungsmanahmen berfor-dern Altmieter, Einkommen reichen nicht aus bei Neuvertrgen. Boris Nowack sprach mit Joachim

    Oellerich vom Verein Mieter Gemeinschaft Berlin ber die momentane Situation.

    Boris Nowack: Der Verein Mietergemeinschaft bietet eine Rechtsberatung an. Welche Fragen stellen die Mieter am hufigsten?

    Joachim Oellerich: Die hufigsten Fragen betreffen Betriebs-kosten und Mieterhhungen. Modernisierungen kommen auch relativ hufig vor. Insbesondere dann, wenn umfassende Ma-nahmen durchgefhrt wurden. Die Modernisierung ist aber auch ein Element, um Mieten ungerechtfertigt zu erhhen. Damit ist sie andererseits ein Element der Kapitalverwertung.

    Hat sich die Inanspruchnahme Ihrer Beratung in den letzten Jahren durch den Wandel des Mietmarktes verndert?

    Nicht merklich. Es gibt zwar einen Anstieg der Mitglieder-zahlen, allerdings nicht im Verhltnis zur ansteigenden Proble-matik auf dem Wohnungsmarkt. Das ist eigentlich erstaunlich.

    Sind die Probleme also doch nicht so gro oder wissen die Leute einfach nichts ber Anlaufstellen wie die Mieterge-meinschaft?

    Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Tatschlich haben wir hier seit Jahren einen engen Wohnungsmarkt. Es wird nicht ausreichend gebaut bei gleichzeitigem Anstieg der Nachfrage. In den letzten drei Jahren sind rund 140 000 Neu-berliner zugezogen bei einem Neubau von rund 15 000 Woh-nungen. Das reicht nicht aus, um den Standard von vor fnf Jahren zu halten. Deshalb steigen die Mieten bei Neuvermie-tungen. Allerdings sind Neuvermietungen auch kein Problem, das Mieterorganisationen behandeln knnen. Wir kmmern uns um schon bestehende Mietverhltnisse.

    Sind die Manahmen der Politik gegen steigende Mieten wie Mietpreisbremse berhaupt sinnvoll?

    Sinnvoll sind sie sicherlich, aber eben nicht ausreichend. Was wir brauchen ist ein kommunaler Wohnungsbau mit Woh-nungen, die bezahlbar sind und sich nicht an den Marktmieten orientieren, sondern diese positiv beeinflussen und deckeln. Es wird zwar viel von Neubau geredet, aber das, was gebaut wird, ist ja nur fr die Mittelschicht aufwrts. Wir brauchen jedoch bezahlbaren Wohnungsraum fr die breiten Schichten der Be-vlkerung und jene am unteren Ende der Einkommensskala.

    Vor rund zehn Jahren bekam man in Kreuzberg eine 35-Qm-Wohnung fr unter 300 Euro warm. Was muss man heute verdienen, um fr so eine Wohnung innerhalb des S-Bahn-rings in die engere Auswahl zu kommen?

    Schwer zu sagen. Natrlich werden die Vermieter im sel-ben Mae anspruchsvoller, wie die Nachfrage steigt. Einkom-mensstrkere und Deutsche werden bevorzugt. Allerdings

    sind bei greren Wohnungen durchaus studentische Wohn-gemeinschaften gern gesehen so lange die Brgschaften der Eltern dahinter stehen. Allerdings kommen die Studenten an den Universitten zunehmend aus dem Mittelstand und auf-wrts. Die Situation der 68er-Generation, wo viele Arbeiter-kinder an die Universitten gingen, hat sich verndert. Das ist eine neoliberale Entwicklung, die die Spaltung der Gesell-schaft verstrkt.

    Welche Unterlagen werden heute von potentiellen Mietern verlangt?

    Auf jeden Fall die Schufa-Auskunft. Auerdem werden diese frchterlichen Fragebgen vorgelegt. Wobei man die Fra-gen nicht immer wahrheitsgem beantworten muss. Da wrde ich Sie gerne auf einen Artikel auf unserer Website verweisen.

    Dass man seine Kontoauszge vorlegen muss, finde ich ehr-lich gesagt heftig.

    Natrlich ist das heftig. Aber wenn die Vermieter das ver-langen und man rgert sich darber, nehmen sie den Nchs-ten. Die Bedingungen knnen von dem diktiert werden, der am lngeren Hebel sitzt, und das sind eben in zunehmendem Mae die Eigentmer. Wir haben einen Vermietermarkt. Und das wird in den nchsten Jahren noch zunehmen.

    Sind stdtische Wohnungsbaugesellschaften eine bessere Al-ternative zu privaten Vermietern?

    Die haben eine Norm, an die sie sich halten, was sie grundstzlich zuverlssiger machen sollte. Aber was Miet-hhe oder Neuvermietungen angeht, unterscheiden sie sich nicht von den privaten Vermietern. Fr das geschtzte Markt-segment sind Leute wie Christian Lindner zustndig, und selbst die sagen, dass man das inzwischen vergessen kann. Der Verkauf von rund 100 000 stdtischen Wohnungen der GSW und GEAG war ein Riesenfehler. Auf diese Gesellschaf-ten kann politisch Einfluss genommen werden. Aber auch das macht der Senat seit gut fnfzehn Jahren nicht. Das ist eine Forderung, die immer noch im Raum steht.

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  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201512 | SCHNER WOHNEN?!

    Funk, Felder, WellenGefhrlich oder nicht? Ein paar Fakten zu Elektrosmog im HaushaltT E X T : J u t t a H e r m s

    Sie sind nicht zu sehen, aber sie sind da. Gerade in der Grostadt umgeben uns elektromagnetische Wellen, wo wir auch sind. Selbst, wer kein Handy hat, findet kaum mehr einen Fleck, an den die Wel-len der neuen Kommunikationstechnologien nicht

    hin reichen. Und auch die eigene Wohnung ist kein strah-lungsfreier Ort mehr der WLAN-Router des Nachbarn sen-det seine Funkwellen bis in die eigenen vier Wnde. Eine sachliche Diskussionen darber, ob Smartphones oder Mo-bilfunksendemasten mit ihren Feldern und Wellen schdli-che Auswirkungen auf den menschlichen Krper haben oder nicht, scheint oft nicht mglich zu sein und wird nicht selten ideologisch gefhrt. Hat elektromagnetische Strahlung Aus-wirkungen auf unsere Gesundheit? Reichen die den Handy-herstellern gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte aus, um uns vor zu groer Strahlenbelastung zu schtzen? Wie sieht es mit der Belastung elektromagnetischer Strahlung in der eigenen Wohnung aus? Wie kann man sich vor elektromag-netischer Strahlung schtzen? Im Folgenden sind einige In-formationen zusammengetragen.

    Wa s i s t E l e k t ro s m o g ?

    Mit Elektrosmog bezeichnet man knstliche, also durch Men-schen hervorgerufene, elektrische, magnetische und elektro-magnetische Felder. Zu unterscheiden sind niederfrequente und hochfrequente Felder: In der Umgebung von elektrischen Haushaltsgerten und auch von Stromkabeln, durch die Strom fliet, treten niederfrequente elektrische und magne-tische Felder auf. Die Strke der Felder in der Umgebung von Haushaltsgerten ist in der Regel gering. Nur unmittelbar an der Oberflche einiger Gerte - zum Beispiel bei bestimmten Rasierapparaten oder Fhnen - knnen lokal hohe Werte nie-derfrequenter Strahlung auftreten. Die Feldstrken nehmen mit jedem Zentimeter Entfernung vom Gert erheblich ab, bei Benutzung eines Haushaltsgertes im sogenannten Ge-brauchsabstand gilt die Belastung durch elektrische und mag-netische Wellen deshalb als unbedenklich.

    Mobilfunk, aber auch Rundfunk, Fernsehen, schnurlose Telefone und WLAN nutzen dagegen hochfrequente elektro-magnetische Felder zur bertragung von Sprache und Daten. Da bei hochfrequenten Feldern die elektrische und die ma-gnetische Komponente untrennbar miteinander verbunden sind, spricht man hier von elektromagnetischen Feldern. In Deutschland gibt es rund 300 000 Mobilfunk-Sendeanlagen, etwazwei Millionen kleinere Sendeanlagen, rund 100 Mil-

    lionen husliche Sendeanlagen wie WLAN oder schnurlose Telefone sowie etwa 100 Millionen Mobiltelefone sie alle senden elektromagnetische Strahlen aus.

    G re n z w e r t e

    In Deutschland gelten wie in anderen europischen Lndern Grenzwerte, die die Menschen schtzen sollen vor den hoch-frequenten Feldern des Mobilfunks. In Deutschland sind die Grenzwerte in der 26. Verordnung zum Bundes-Immissions-schutzgesetz festgelegt. Laut Bundesamt fr Strahlenschutz ist bei Einhaltung dieser Werte der Schutz vor gesundheitli-chen Schden gewhrleistet.

    Die wesentliche Messgre fr die Belastung des mensch-lichen Krpers durch hochfrequente Strahlung ist die Spezifi-sche Absorptionsrate (SAR). Dieser Gre liegt die Annahme zu Grunde, dass die wesentlichen Auswirkungen elektromag-netischer Felder auf den Organismus thermischer Natur sind, dass im Krper bei Einwirkung dieser Felder also Wrme ent-steht. Der empfohlene oberste Grenzwert der Weltgesundheits-organisation liegt bei 2,0 Watt pro Kilogramm Krpergewebe.

    Das Bundesamt fr Strahlenschutz erfasst die SAR-Werte von auf dem Markt erhltlichen Mobilfunkgerten. Bis zu ei-nem SAR-Wert von 0,6 Watt pro Kilogramm gilt ein Gert als

    Mobilfunkmasten auf einem Wohnhaus (Foto: Wikimedia Commons)

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 13

    Funk, Felder, WellenGefhrlich oder nicht? Ein paar Fakten zu Elektrosmog im HaushaltT E X T : J u t t a H e r m s

    strahlungsarm. 46 Prozent der aktuell erhltlichen Smartphones knnen demnach als strahlungs-arm eingestuft werden. SAR-Werte von aktuell auf dem Markt erhltlichen Mobilfunkendgerten sind unter www.bfs.de/sar-werte-handy verffentlicht.

    G e fa h r f r d i e G e s u n d h e i t ?

    Nach Aussage des BfS geht nach derzeitigem Kenntnisstand der Wissenschaft von Mobilfunk keine gesundheitliche Gefahr fr den Menschen aus. Die den Herstellern von Mobilfunkgerten vorgegebenen Grenzwerte reichten aus, um vor nachgewiesenen Gesundheitsrisiken zu scht-zen. Gleichzeitig sieht das Amt noch nicht alle Risiken geklrt. Auf seiner Webseite ist in Bezug auf niederfrequente Stromfelder zu lesen: Trotz umfassender Forschung gibt es in Bezug auf mgliche Wirkungen nieder- wie hochfrequenter Felder bei Intensitten unterhalb der Grenzwerte noch offene Fragen. So finden im Fall der nieder-frequenten Felder der Stromversorgung epide-miologische Studien Hinweise darauf, dass ma-gnetische Flussdichten () fr eine bestimmte Form von Leukmie im Kindesalter erhhen knnten. Ob tatschlich ein urschlicher Zusam-menhang besteht, ist jedoch noch unklar.

    Beim hochfrequenten Mobilfunk sieht das Bundesamt fr Strahlenschutz vor allem die langfristigen Wirkungen im Hinblick auf die Entstehung von Hirntumoren bei Handy-nutzern noch nicht abschlieend geklrt. Es bestnden nach wie vor Unsicherheiten in der Risikobewertung. Diese betrfen ins-besondere mgliche gesundheitliche Risiken bei Erwachsenen, die langfristig und intensiv hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung

    durch Telefonate mit dem Handy ausgesetzt seien sowie die Frage, ob Kinder mglicher-weise empfindlicher auf die elektromagneti-schen Felder reagierten als Erwachsene. Auf-grund dieser ungeklrten Fragen hlt das BfS einen vorbeugenden Gesundheitsschutz fr erforderlich: Die Exposition durch elektro-magnetische Felder sollte so gering wie mg-lich sein.Bezogen auf niederfrequente Felder (Hochspannungsleitungen, elektrische Gerte) rt das Amt ebenfalls, die individuelle Belas-tung so gering wie mglich zu halten.

    E m p fe h l u n g e n

    Das Bundesamt fr Strahlenschutz empfiehlt unter anderem folgende Vorsorgemanahmen gegen die Einwirkung hochfrequenter elektro-magnetischer Strahlung zu treffen:

    Bei der Nutzung von Handys bzw. Smartphones: - Wer die Wahl hat, sollte das Festnetz benutzen - Telefonate sollten mglichst kurz gehalten werden

    - Beim Telefonieren sollte ein Headset verwendet werden, da die Strahlenbelastung mit zuneh-mendem Abstand zwischen Krper und Telefon abnimmt

    - Auf Telefonate bei schlechtem Empfang sollte mglichst verzichtet werden, da das Handy bei schlechter Verbindung mit hherer Leistung sendet

    - beim Kauf eines Handys sollte auf einen nied-rigen SAR-Wert geachtet werden

    - Beim Tragen des Handys oder Smartphones am Krper sollte der vom Hersteller angegebene Mindestabstand zum Krper eingehalten werden

    - Beim Telefonieren sollte der Hintergrunddaten-verkehr abgeschaltet werden

    Bei der Nutzung von WLAN-Routern und schnurlosen (DECT-)Telefonen:

    - Kabelverbindungen sollten Drahtlostechnik vorgezogen werden

    - Die Aufstellung von zentralen WLAN-Zugangs-punkten sollte vermieden werden in unmittel-barer Nhe von Orten, an denen sich Personen stndig aufhalten

    - Falls vorhanden sollte die Reichenweitenbe-grenzung eingestellt werden

    - Beim Neukauf eines schnurlosen DECT-Telefons sollte darauf geachtet werden, dass die Basisstation im Standby nicht sendet, die Reichweite der Strahlung begrenzt werden kann und sich die aktuelle Strahlungsleistung automatisch dem Bedarf anpasst

    - Bei herkmmlichen DECT-Telefonen sollte die Basisstation an einen Ort gestellt werden, an dem sich Personen nicht stndig aufhalten. Zu-dem sollten Telefonate kurz gehalten werden

    Das Bundesamt fr Strahlenschutz rt, vor allem nachts ausreichend Abstand zu elektromagne-tischen Wellen aussendenden Gerten zu halten. Netzbetriebene Radiowecker sollten nicht direkt neben dem Kopfteil des Bettes aufgestellt werden.

    Fr ganz besonders wichtig hlt das Bun-desamt fr Strahlenschutz die Minimierung der Strahlenbelastung fr Kinder. Sie befinden sich noch in der Entwicklung und knnten deshalb ge-sundheitlich empfindlicher reagieren. Beim Sen-der des Babyphons und vor allem beim Netzgert sollte auf einen ausreichenden Abstand zum Bett des Kindes geachtet werden.

    Dicht am Kopf: Telefonieren mit einem Smartphone (Foto: Jutta Herms) WLAN-Router der Deutschen Telekom (Foto: Thomas Grabka)

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201514 | SCHNER WOHNEN?!

    Unterwegs leben & wohnenWenn alles in einen Rucksack passt ein Erfahrungsbericht B E T R A C H T U N G : L e o n i e v o n H a r t m a n n

    Ich liebe meinen Rucksack. Er war mir oft der einzig vertraute Gegenstand fr eine lange Zeit, er hat viel mit mir gesehen und erlebt und so einige Krisen durchge-standen. Ich habe ihn verflucht und gefoltert bei dem verzweifelten Versuch, die 55+10 Liter auf mindestens

    80 auszuquetschen. Aber als er einmal in Moskau hngen blieb, whrend ich schon in Thailand war, fhlte ich mich tatschlich etwas verlassen ohne ihn und war richtig traurig von der abwesenden Zahnbrste und anderen Scherereien mal abgesehen. Rucksackreisende kennen dieses Gefhl. Die Menschen, die sich fr ein Leben ( & Wohnen) aus dem Ruck-sack entscheiden an dieser Stelle muss festgehalten werden, es geht in diesem Artikel tatschlich nur um diejenigen Glck-lichen, die das Rucksackleben aus freier Wahl und nicht etwa aus Mangel an einem Wohnplatz gewhlt haben diese Ruck-sackbewohner also kennen dieses innige Gefhl. Wenn man nur einen Rucksack besitzt, ob nun fr einige Monate, ein Jahr oder auf unbestimmte Zeit, dann ist in diesem Rucksack eben nur Platz fr diese paar Dinge, die man wirklich braucht.

    Das Kleid dahinten im Schrank, dass man bestimmt irgend-wann nochmal anzieht, der Kaffeebecher von der Tante, der eigentlich zu kitschig, aber irgendwie zu witzig zum Weg-schmeien ist, all diese Dinge passen nicht in einen Rucksack. Prioritten sind gefordert. Worauf kann ich eigentlich ver-zichten? Worauf auf keinen Fall? Ich habe gelernt, ich kann beispielsweise auf Panzertape nicht verzichten. Ich repariere alles damit. Mir geht auch stndig was kaputt. Eine Auswahl an Fotos und Erinnerungen und mein Reisetagebuch sind auch immer dabei. Eine Freundin von mir reist seit vier Jahren mit einem Rucksack herum. Sie sortiert alle sechs Monate aus. Frei nach dem Prinzip In den letzten sechs Monaten benutzt? Nein weg damit. Die Mocca, eine kleine Espressomaschine ist noch immer im Gepck. Ohne die kann eine waschechte Italienerin eben nicht. Ein anderer Freund braucht seinen Laptop, ein iPad, eine Festplatte und sehr viele Kabel. Egal wo. Ohne seine Auswahl an Filmen kann er nicht schlafen. Dafr hat er nur zwei T-Shirts.

    Doch was ist nun eigentlich so erstrebenswert daran, alles zurckzulassen und fr bestimmte oder unbestimmte Zeit immer nur dieselben Dinge in der Hand zu haben, mit einem einzigen Rucksack auszukommen und den auch noch immer mit sich rumschleppen zu mssen?

    Das Konzept ist ganz einfach: Entrmple dein Leben indem du deine Umgebung entrmpelst. Ohne es zu merken, schleppt Otto Normalverbraucher eine Unmenge an teilweise unn-tigem Ballast mit sich herum, ob nun im Urlaub oder daheim. Reizberflutung und zu viele Dinge fhren zu Unordnung, diese zu Chaos und Chaos zu Stress (Oh nein, wo ist denn nur?!). Ein Teufelskreis, denn es ist inzwischen wissen-schaftlich belegt, dass wir besser entspannen knnen, wenn unsere Umgebung gemtlich und chaosfrei ist. Die Ratge-berregale bieten haufenweise Tipps, wie man seine Wohnung einrichten soll, um mglichst dauerhaft Ordnung zu schaffen.

    Backpacker mssen eine gewisse Ordnung erlernen. Sptes-tens nach der ersten fieberhaften Passkontrolle, bei der der Pass irgendwo in die Sockentte gerutscht ist, lernt jeder Rei-

    sende nach und nach, eine bestimmte Ordnung zu halten. Wo ist was praktisch? Und wie kriege ich das alles da rein? Da sind wir beim nchsten Schritt: Es muss gar nicht alles rein. Weg damit. Da hngen Erinnerungen dran? Gut. Behalten Sie die guten, entledigen Sie sich zumindest einiger schlechter. Die Erinnerungen bleiben brigens auch ohne Gegenstnde. Und Sie werden sich wundern, wie man aufatmet. Sicher fllt es schwer, sich von Dingen zu trennen, ich kenne das nur allzu gut. Ich z. B. tue das immer, wenn ich von einer Reise zurck-komme. Denn genau dann, wenn ich mit meinem Rucksack unterwegs bin, merke ich, dass ich das meiste Zeugs eben doch nicht brauche.

    Noch mehr Vorteile? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Ent-scheidung, was ich morgens anziehe, kostet mich jeden Mor-gen Zeit. Zeit, die ich fr Besseres nutzen knnte. Die Su-che nach dem jeweiligen Teil und den passenden Strmpfen dauert noch lnger. Auf Reisen gibt es das nicht. Ich habe nur meine vier Lieblingsshirts mit. Die ziehe ich alle gern an, und alle meine Hosen passen dazu. Aufgewacht, angezogen, rausgegangen, Welt erlebt. So soll das sein. Natrlich soll und kann nicht jeder gleich alles zum Fenster rausschmeien. Aber berlegen Sie sich doch mal, beim nchsten Urlaub nicht sieben Hosen mitzunehmen, sondern nur zwei. Man zieht am Ende eh immer nur die eine an. Man wei vorher aber nicht welche? Ganz einfach: Die, die im Koffer liegt. Und wenn Sie wiederkommen berlegen Sie doch mal, was Sie unter-wegs gern dabei gehabt htten. Und was sie im Grunde nie gebraucht haben. Das hilft, glauben Sie mir!

    Schlafender Rucksack-Tourist (Foto: Wikipedia/Daniel Maleck Lewy)

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 SCHNER WOHNEN?! | 15

    Wohngemeinschaft in Amsterdam (Quelle: Wikipedia CC BY-SA 3.0 Jorge Royan)

    Ein schrecklich-schnes Lebenber meine ersten WG-ErfahrungenB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r

    Ich bin mit 23 Jahren aus meinem Elternhaus ausgezogen. Mit meiner Familie stand ich zu dieser Zeit fast auf Kriegsfu. Ich verstand mich mit nahezu niemanden wirklich gut. Ich war damals psychisch vllig down, reichlich hilfebedrftig und keineswegs in der Lage, al-leine zu leben. Meinen Auszug aus der elterli-chen Wohnung habe ich inszeniert, auch um mei-nen Eltern wehzutun. Doch was tun, wenn man pltzlich kein Dach ber dem Kopf mehr hat? Ich hatte damals Glck: In der Wohngemein-schaft des Union Hilfswerk e. V. habe ich meinen Platz gesucht und gefunden. Alles Ntige habe ich heimlich veranlasst und organisiert. Ich habe niemandem Bescheid gesagt. Meine wichtigsten Sachen packte ich erst am Umzugstag ein. Und erst da bekamen meine Eltern mit, was ansteht. Mit einem kurzen Tschss und auf nimmer Wie-dersehen! lief ich Richtung Tr. Als ich ging, sah ich meine Geschwister und meine Eltern wei-nen. Sie waren geschockt ber meinen Auszug und meine Vorgehensweise.

    Beim Union Hilfswerk e. V., einen der vielen Be-treuungsvereine in Berlin, bekam ich einen Platz in der Wohngemeinschaft. Dort machte ich erste Erfahrungen mit dieser ganz besonderen Form des Wohnens. Es war fr mich ein Schritt in ein neues und besseres Leben. Es gelang mir, mich wieder selbst zu finden. Eine sehr lange Zeit bis zu meinem Alkoholabsturz war mein Leben wieder schn und lebenswert. Die Gemeinschaft half mir sehr. Dafr bin ich noch heute dankbar. Besonders Rainer, Conny und die ltere Dame, die alle nur Mama nannten, und ihr Sohn Mike prgten in dieser Zeit meine Entwicklung und brachten mich in meiner Entwicklung wirklich weiter. Es gab eine Menge sehr schner, aber auch ein paar schreckliche und nervige Ereig-nisse. Insgesamt aber ist die Zeit in dieser WG bei mir in der Erinnerung als positiv vermerkt.

    Sehr gerne erinnere ich mich zum Beispiel an die Fahrradtouren mit Rainer: Wir fuhren stunden-lang quer durch die Stadt und waren shoppen. Es war immer eine, bis auf wenige Ausnahmen, sehr lustige und inspirierende Stimmung, die gute Laune schuf. Stundenlang wurde gewitzelt und man war freundlich zueinander. Das richtete mich auf und half mir, aus meinem psychischen Sumpf herauszukommen, in dem ich mich vllig verloren hatte. Am Nachmittag saen wir oft mit ein paar Bierchen am Kanal, erzhlten uns Ge-schichten aus unserem Leben und sangen frh-liche Lieder. Es war wirklich schn, und wenn es nach mir gegangen wre, wre die Zeit in der

    Mariannenstrae niemals zu Ende gegangen. Ich war unbeschwert und locker. So ein Gemein-schaftsgefhl wie dort habe ich vorher und nach-her nie wieder erlebt. Ich fhlte mich richtig frei von Frust und Kummer. Nein, diese Zeit will ich nicht missen. Es war eigentlich die schnste Zeit in meinem Leben. Natrlich gab es die blichen WG-Streits ber falsch ausgepresste Zahnpas-tatuben, eine zu viel gegessene Scheibe Wurst oder ber zu laute oder schlechte Musik. Aber das minderte den insgesamt positiven Eindruck in keiner Weise. Auch meine damaligen Betreuer brachten mich wirklich weiter und machten mir in Gesprchen vieles klar auch an meiner Per-son was mir in dieser Form vorher nicht be-wusst war. Dadurch bekam meine Persnlichkeit Profil. Davon profitiere ich noch heute.

    Ich fand damals auch einen sehr guten Freund, meinen Namensvetter Detlef, der unter Psycho-sen litt. Zuerst konnten wir uns berhaupt nicht leiden. Wir belauerten uns und schimpften stn-dig bereinander. Es war schwierig, sich gemein-sam ein Zimmer zu teilen. Es ging eigentlich gar nicht, weil wir viel zu unterschiedlich waren. ber Gesprche kamen wir uns schlielich nher und wurden gute Freunde. Leider verlie Detlef ir-gendwann die WG und wurde obdachlos. Irgend-wann landete er wieder in der Klinik. Ich wei nicht, was aus ihm geworden ist, weil wir uns vl-lig aus den Augen verloren. Ich wei nur eines:

    Gut, dass mein damaliger Zimmergenosse Fritz, auch ein sehr netter Kerl, aber ein Schnarcher war. Oft konnte ich seinetwegen nicht einschlafen. Ich habe ihn deshalb laufend geweckt, indem ich ihm die Nase zugehalten habe. Fritz wurde dann ge-gen Detlef ausgetauscht. Zum Glck. Allerdings hatte ich mit Detlef auch mal ein sehr negatives Erlebnis. Ich kam gerade von Einkaufen, als ich aus meinem Zimmer ein frchterliches Geschrei hrte. Ich ging hinein und sah Detlef fluchend auf seinem Stuhl sitzen. Er deutete auf eine Stelle vor dem Balkon und behauptete, Eberhard Diepgen wrde dort stehen und politische Reden schwin-gen. Ich solle ihm eine in die Fresse hauen und ihn bitte gleich rausschmeien, weil er das nicht mehr ertragen knne. Ich erschrak frchterlich. Spter, als ich ihn besser kannte, wusste ich mit seiner psychischen Erkrankung umzugehen, konnte diese Dinge besser einordnen.

    Dann gab es in der WG noch Conny. Sie war eine tolle Frau, in die ich mich richtig verliebt habe. Auch Rainer und Mike waren hinter ihr her. Wir verstanden uns wirklich gut. Aber keiner von uns bekam die gewnschte Beziehung, wahrschein-lich, weil keiner ihr Typ war und sie uns einfach nur nett fand. Sie wurde spter glcklich, zog mit einem anderen Mann zusammen, den sie auch hei-ratete und von dem sie zwei Kinder bekam. Das Leben in dieser WG hat mich geprgt und mir sehr geholfen. Das ist es, was ich hier erzhlen wollte.

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201516 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    Groer Bahnhof fr Dieter Roth Die Ausstellung Dieter Roth. Und weg mit den Minuten im Hamburger Bahnhof widmet sich einem bisher wenig bekannten Aspekt seines Schaffens: der Beschftigung mit Musik. Zu sehen sind Assemblagen, Objekte und raumfllende Installationen, in die der Knstler Musikinstrumente und Audiogerte integ-rierte sowie Filme von seinen Musikperformances. R E Z E N S I O N & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Der am 21. April 1930 in einer deutsch-schwei-zerischen Familie in Hannover geborene und am 5. Juni 1998 in Basel verstorbene Dieter Roth war ein Multitalent: Grafiker, Designer, Maler, Filmer, Musiker, Installations- und Ak-

    tionsknstler, mehrsprachiger Wortakrobat, Herausgeber und Verleger seiner eigenen Kunstbcher und Gedichte. Seit Anfang der 1960er Jahre ist sein vielseitiges Werk eine Art Tagebuch, in dem er sein Leben und dessen Vergng-lichkeit akribisch dokumentierte. Dieter Roth war ein un-angepasster und streitbarer Zeitgenosse, der sich um keine Konventionen scherte und gegen die etablierte Kultur und ihre Geistesgren aufbegehrte. Er verarbeitete Bcher von Gnter Grass (Die Blechtrommel), Martin Wal-ser (Die Halbzeit), Alfred Andersch (Die Rote) und Hegels 20-bndige Gesamtausgabe sowie Zeitungen und Magazine (Daily Mirror, Neue Revue, Quick, Bunte, Der Spiegel und Stern) zu Literaturwrsten, presste Sala-mischeiben zwischen Glas und nannte die Bilder Sonnen-untergnge, er schuf Objekte aus Gewrzen, Knoblauch, Kse, Schokolade, Stroh und Karnickelkttel, sammelte Zeitungsausschnitte und Papierschnipsel, die er als Fla-chen Abfall archivierte, nahm ein Jahr lang (von Mrz 1997 bis April 1998) Solo Szenen aus seinem Alltag auf

    und lie sie auf 128 Bildschirmen laufen. Er ar-beitete 30 Jahre lang an seiner 40 Meter langen Gartenskulptur, die seit 2008 als Schenkung der Flick Collection im Hamburger Bahnhof steht. Diese scheinbar wilde und ausufernde Mischung aus Pflanzen, Elektronikgerten, Le-bensmitteln, Kleidungsstcken und anderem mehr oder weniger seltsamen Material ist die Verkrperung der Rothschen Auffassung vom Kunstwerk als einem sich fortwhrend vern-dernden, vergnglichen organischen Gebilde.

    E s s c h a l l t u n d k n a l l t i n d e n H a l l e n

    Genauso wie seine wuchernden Kunstwerke kannte auch ihr Schpfer, der stndig in Be-wegung war und zwischen seinen Wohnungen und Ateliers in Reykjavik und Basel, Hanno-ver, Hamburg, New York, Dsseldorf, Berlin und Stuttgart pendelte, keinen Stillstand. Der Antiknstler, dessen Kunst eine einzigartige Synthese aus Wort, Bild und Ton bildet, und der sich gegen Musealisierung, Konservierung und Restaurierung seiner leicht verderblichen

    I N FO

    Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik Noch bis zum 16. August 2015

    Hamburger Bahnhof, Museum fr Gegenwart, Invalidenstrae 50-51, 10557 Berlin

    ffnungszeiten: Dienstag, Mitt-woch, Freitag von 10 18 Uhr, Don-nerstag von 10 20 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 18 Uhr

    Eintritt: 14/7 Euro

    www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hambur-ger-bahnhof/home.html

    Nam June Paik, Fluxussus Symphonie No 7 Hommage an Joe Jones, 1980

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    Werke wandte, ist posthum zu einem Muse-umsknstler geworden. Weil er ein riesiges uvre hinterlassen hat und auf so vielen Ge-bieten ttig war, entdeckt die Kunstwelt immer neue Aspekte seines Schaffens. Nachdem sich zuletzt das Kunstmuseum Stuttgart in der Aus-stellung Balle, Balle, Knalle (13.12.2014-12.04.2015) mit der Rolle der Sprache und Literatur in seinem Werk befasste, knallt und hallt und schallt es nun in den Rieck-Hallen des Hamburger Bahnhofs. Auf 3 000 Qua-dratmetern ist dort jetzt ein groer Bahnhof fr Dieter Roth. Seine Beschftigung mit Mu-sik wird anhand von 200 Arbeiten, darunter Zeichnungen, Bilder, Tonaufnahmen, Ob-jekte und raumfllende Installationen, Fotos und Filme, prsentiert. In Musik bin ich nie Avantgarde gewesen, ich war immer so der der erstmal der Liebhaber der klassischen Musik und dann der Mchtegernzerstrer ist ein Satz von Dieter Roth, der an der Wand im ersten Ausstellungsraum steht und fr die Hal-tung des Knstlers typisch ist: Er hatte Sinn fr Humor, war selbstironisch und kannte

    Dieter Roth und Bjrn Roth, Bar 2, 1983-1997

    Dieter Roth und Bjrn Roth, Keller-Duo. 1980-1989

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201518 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    seine Defizite, was ihn nicht daran hin-derte, das zu tun, was ihm Lust bereitete, denn, wie er sagte: Kunst ist, was man macht.

    S c h r g u n d s c h r i l l

    Als Kind nahm Dieter Roth Klavierunterricht, er kannte also klassische und Neue Musik nicht nur vom Hrensagen. Nachdem er Anfang der 1970er Jahre Kontakt mit der Wiener Gruppe und den Wiener Aktionisten aufgenommen hatte, regte er sie zum gemeinsamen Musizieren an. Weil er damals im Gegensatz zu den ande-ren von seiner Kunst leben konnte, kaufte er die Musikinstrumente selbst. Seit 1973 nahm er zusammen mit Gnter Brus, Hermann Nitsch, Gerhard Rhm, Oswald Wiener, Christian At-tersee, Arnulf Rainer und Dominik Steiger eine siebenteilige Konzertreihe unter dem Titel Sel-ten gehrte Musik auf, deren Untertitel wie etwa Streichquartett, Berliner Konzert oder Novembersonate den Eindruck erweckten, dass es sich dabei um Auffhrungen klassischer Musikstcke handelt. Doch dem ist nicht so, denn es sind dilettantische Improvisationen, in deren Mittelpunkt die Performance steht: eine Art Katzenmusik, schrg und schrill, spielerisch, dadaistisch und anarchistisch, die sich ber die Musikwelt und ihre Rituale lustig macht.

    K e l l e r - D u o u n d S t r i c h q u a r t e t t

    Dieses programmatische Nichtknnen und das Streben danach, mit tradierten Kunstformen zu brechen und etwas Neues zu etablieren, kenn-zeichnen auch Dieter Roths multimediale Ob-jekte und Installationen, die er vor allem in den 1970er und 1980er Jahren fertigte: Assemblagen aus Musikinstrumenten, Transistorradios, Klavi-aturen, Spiegeln, Lampen, Steckdosen, kaputten Haushaltsgerten, Kabeln und Schluchen, die so aussehen, als versuchte ein Heimwerker Ord-nung in seinen Keller zu bringen, indem er die herumliegenden Dinge in ein Regal stopfte. Dass dieser Eindruck nicht so ganz verkehrt ist, zeigt der Titel eines der Werke: Keller-Duo. Die iro-nische Distanz des Knstler zu seinen Soundin-stallationen kommt auch in anderen Titeln zum Ausdruck: Fernquartett, Strichquartett, Nahquartett, Lorelei die Langstreckenso-nate. Der Hhepunkt der Ausstellung Und weg mit den Minuten ist der Raum, in dem Dieter Roths Bar 2 gezeigt wird: samt zwei Alkoholregalen und dem von ihm bearbeiteten Bsendorfer Flgel aus dem Jahr 1906.

    H e r z z e r re i e n d e H u n d e m u s i k

    Whrend im Erdgescho der Rieck-Hallen eine heitere Atmosphre herrscht, kann man im Keller einen anderen Dieter Roth erleben. Die Wnde des groen Saals sind mit einem Fries aus hunderten Hundefotos beklebt, in den Vit-rinen liegen hunderte Hundezeichnungen, und das Bellen, Heulen und Jaulen von hunderten Hunden ist in einer Endlosschleife zu hren. Im Oktober 1977 besuchte Dieter Roth eine Galerie in Barcelona, in die Hundegebell aus dem Tierheim am nahegelegenen Monte Tibi-dabo eindrang. Neugierig geworden fuhr er hin und war vom Leid der auf engsten Raum

    gepferchten und dahinsiechenden ausgesetz-ten Hunde so erschttert, dass er es wenigs-tens in einem Kunstwerk festhalten wollte. An einem Tag machte er ber tausend Fotos und kurz darauf mehr als 1 600 Zeichnungen, die er Schnellselbsthundeportraits nannte. Zu-sammen mit der herzzerreienden Hundemu-sik, die von einem Mitarbeiter des Tierheims fr Dieter Roth aufgenommen wurde, bilden sie die Installation Tibidabo 24 Stunden Hundegebell, in der das elende und qualvolle Hundeleben auch als eine Metapher der letzt-endlich tragischen Existenz der Menschen, die ihnen dieses Schicksal bereiteten, gedeutet werden kann.

    D i e t e r R o t i s t t o p

    In der Ausstellung Und weg mit den Minu-ten sind Werke anderer Knstlerinnen und Knstler zu sehen und zu hren, fr die Musik

    ebenfalls eine wichtige Rolle spielt(e): Dorothy Iannone, Nam June Paik, George Brecht, Bruce Nauman, Rodney Graham, Annika Kahrs, Mar-kus Sixay, Ragnar Kjartansson & Alterazioni Video sowie die aus dem Archiv Broken Musik stammenden Schallplatten und Kassetten der Berliner Knstlergruppe Die Tdliche Doris (1980-1987). Einer ihrer Mitbegrnder, Wolf-gang Mller, trat am 19. April im Hamburger Bahnhof in der berauschenden Performance Dieter Roth goes Pop auf. In der dafr wie geschaffenen Bar 2 sang er unter anderem Roths Gedicht, entstanden in der zweiten Hlfte der 1960er Jahre, das sich mit einem auch heute weitverbreiteten sprachlichen und knstlerischen Phnomen beschftigt, den man Blablaismus nennen kann: Ichbla willbla wasbla ichbla willbla! / Blawer blawill blada blawas? und sobla weiter. Ob Dada, Blada, Balle, Knalle oder Pop: Dieter Rot ist immer auf der Hhe der Zeit und top.

    Dieter Roth, Olivetti-Yamaha-Grundig Combo (Installationsfragment), 1965-1982

    Blick in die Ausstellung Dieter Roth. Und weg mit den Minuten

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 B re n n p u n k t

    Die Skepsis bleibtBusiness Improvement District in Berlin?B E R I C H T : J a n M a r k o w s k y | F O T O : J u t t a H e r m s

    Am 7. Mai fand im Saal der Bezirksverordneten-versammlung des Rathauses Charlottenburg-Wilmersdorf eine Podiumsdiskussion ber Plne der AG City zur Bildung eines Business Im-provement Districts (BID) vom Tauentzien

    bis zur Uhlandstrae statt. Eingeladen hatten die Grnen. Ich habe davon per E-Mail erfahren. Solche Plne erzeugen ngste. Improvement kann mit Aufwertung bersetzt wer-den. Wie ich auf dieser Veranstaltung erfahren habe, ist das nicht falsch. An dieser Stelle sei ein Ergebnis der Diskussion vorweggenommen: ffentlicher Raum bleibt ffentlicher Raum mit den entsprechenden Befugnissen. Roland Prejawe, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion BNDNIS 90/DIE GRNEN, stellte sich als Moderator vor. Er war aber eher Werber fr die Arbeit der Grnen in dieser Sache als Moderator. Danach sprachen Tine Fuchs vom Deutschen In-dustrie- und Handelstag, Jochen Bricken von der Industrie- und Handelskammer, der Wirtschaftsfrderer des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf, Klaus Albat, und Dirk Ger-mandi, Vorstand der AG City.

    D a s I n s t r u m e n t B I D

    Der erste BID wurde 1969 in Toronto gegrndet. Nach 2000 kam das Instrument nach Deutschland, 2005 in Ham-burg-Bergedorf. Bei den Zusammenschlssen von Gewerbe-treibenden sind einige ganz aktiv, der groe Rest lsst gewh-ren. Bei BID werden dagegen alle Gewerbetreibenden ber die Grundstckseigentmer im Gebiet beteiligt. Wenigstens finanziell. Es beginnt mit informellem Zusammenschluss von Gewerbetreibenden als Aufgabentrger. Dann folgen Zu-standsbeschreibung und Zielbeschreibung fr die Einigung auf Manahmen und den Manahme- und Finanzplan. Dem mssen mindestens 15 Prozent der Grundstckseigentmer zustimmen und die zustimmenden Eigentmer mssen min-destens 15 Prozent der Grundstcksflche besitzen. Dann fol-gen Infoveranstaltungen und ffentliche Auslegung. Wird in der Auslegungsfrist das Vorhaben von mehr als einem Drittel der Grundstcks- und Immobilienbesitzer oder besitzen die das Vorhaben ablehnenden Besitzer mehr als ein Drittel der Flche, ist das BID gescheitert. Solche Instrumente wer-den fr den Einzelhandel immer wichtiger, weil die vielen Einkaufscenter mit ihren Ketten Kaufkraft abschpfen. Und dann wchst der Handel im Internet besorgniserregend fr die kleinen Hndler.

    Der Berliner Senat hat mit Datum vom 24. Oktober 2014 das Berliner Gesetz zur Einfhrung von Immobilien- und Standortgemeinschaften in Kraft gesetzt. Das Gesetz be-achtet die zweistufige Verwaltung in Berlin. Verantwortlich ist der Bezirk, beschlieen ist Sache des Senats. Im Entwurf der Grnen waren noch kologische Kriterien festgeschrie-ben. Die fehlen im Gesetz. Tine Fuchs hat das mit einem Satz abgetan: Das Gesetz hindert sie nicht, solche Kriterien zu erfllen. Nach ihrer Aussage ist jedes BID anders. Es geht um die Verhltnisse vor Ort.

    D i e D i s k u s s i o n

    Die Beitrge der Parteimitglieder signalisierten durchweg Zustimmung. Die Gewerbetreibenden wollten Antworten im Detail. Einmal fiel das Wort Steuer. Der Beitrag wird vom

    Finanzamt erhoben. Klaus Albat wies darauf hin, dass hier treuhnderisch eine

    zweckgebundene Abgabe erhoben wird, die von dem Aufga-bentrger nur fr die vorgesehenen Ausgaben verwendet wer-den kann. Eine Mieterin mit Wohnung am Kurfrstendamm uerte ihre ngste. Die wurden unmittelbar zuvor von Tine Fuchs in dem Hinweis auf Eigeninteresse der Grundstcks-besitzer und Return to Invest als Antwort auf den Beitrag eines Gewerbetreibenden eher geschrt denn beseitigt. Hin-weise auf Anhrung konnten die ngste nicht beseitigen. Erst als Dirk Germandi sie zur Mitarbeit in der AG City einlud, war sie halbwegs beruhigt. Vorerst. Von einem Streetworker wurde die Vertreibung von Schnorrern und Straenzeitungs-verkufern angesprochen. Das Podium sprach sich fr Erhalt der Mischung aus. Bettler und Verkufer der sozialen Stra-enzeitungen wie dem strassenfeger gehren dazu.

    D i e S ke p s i s b l e i b t

    Die beruhigenden Statements sind nicht grundstzlich falsch. Doch Erfahrungen der letzten Jahre schren die Skepsis. So-lange es nicht ernst ist, gibt es die Versprechungen, und wenn es an die Umsetzung geht, setzen sich die Verwertungsinteres-sen durch. Der Zeitablauf sorgt dafr, dass die Versprechun-gen in Vergessenheit geraten. Was Bettler, Straenzeitungs-verkufer und Obdachlose heute wert sind, demonstriert ein unscheinbarer Vorfall. Vor der Mittagszeit wurden am Schleusenkrug Zelte von Obdachlosen gerumt. Alternativen hatte das Bezirksamt nicht zu bieten. Den Namenlosen bleibt nur, an die ffentlichkeit zu gehen.

    Unter freiem Himmel: privater Bereich eines Obdachlosen (Foto: Jutta Herms)

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201520 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

    Keine KenntnisVergangene Woche wurde das Obdachlosen-Zeltdorf am Bahnhof Zoo gerumt. Mitarbeiter vom Grnflchenamt, vom Ordnungsamt und von der Polizei fhrten die Rumung durch ein Ansprechpartner fr die Obdachlosen war bei der Aktion nicht dabei. Ist die Grnflche wichtiger als die Menschen darauf?B E R I C H T : J u t t a H e r m s

    Bezirksstadtrat Carsten Spallek verweist auf das Berliner Grnanlagengesetz. Nach 6 Absatz 1 des Gesetzes sei Zel-ten in allen ffentlichen Grnanlagen des Landes Berlin untersagt. Es widerspricht dem Widmungszweck einer Grnanlage, die der Erholung der Bevlkerung dient, dort zu campie-ren, so der CDU-Politiker.

    Gezeltet wurde am Rande des Tiergartens, in unmittelbarer Nhe zum Bahnhof Zoo, schon lange. Diejenigen, die hier ihre Zelte aufgeschla-gen hatten, waren nicht jugendliche Abenteurer oder Naturliebhaber, sondern Obdachlose. Ende Mrz hatten die Berliner Winternotquartiere ihre Pforten geschlossen, Hunderte Menschen mussten irgendwohin und einige kamen hierher. Ein kleines Zeltdorf entstand, auf diesem schma-len Grnstreifen zwischen S-Bahn-Gleisen und Fuweg. Bunt gemischt die Bewohner, Mnner, Frauen, viele von ihnen aus Mittel- und Osteu-ropa. Auf dem Weg in den Tiergarten schauten ihnen Touristen, Radfahrer, Jogger tglich zu, wie sie sich ankleideten, rasierten, vor ihren Zelten saen.

    Am 7. Mai morgens um halb zehn rcken etwa 15 Mnner und Frauen in blauen Uniformen an, mit den Schriftzgen Ordnungsamt bzw. Polizei auf ihren Rcken. Begleitet von Mitar-beitern des Grnflchenamtes in ziviler Kleidung.

    Viele der Menschen, die hier seit Anfang Ap-ril auf der Grnflche gelebt haben, sind an die-sem Morgen bereits verschwunden. Das Gercht von der bevorstehenden Rumung hat am Tag zuvor die Runde gemacht. Diejenigen, die noch da sind, etwa 20 Personen, sitzen auf ihren ge-packten Sachen - kein Zelt steht mehr an diesem Morgen. Der Boden ist geharkt, alles ist ordent-lich und sauber, besenrein knnte man sagen.

    Wo s o l l e n w i r d e n n h i n ?

    Die Mitarbeiter vom Ordnungsamt ziehen sich Handschuhe an und teilen sich auf. Die Men-schen, die bis dato Bewohner dieses Platzes waren, mssen ihre Personalausweise vorzei-gen, den die Ordnungsamtsmitarbeiter abfoto-grafieren. Anschlieend werden die ehemaligen Zeltbewohner aufgefordert, ihr Hab und Gut zu

    nehmen und den Ort zu verlassen. Als ein Mann aus Polen sich weigert zu gehen, rufen die Ord-nungsamtsmitarbeiter einen Polizisten, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hat. Schlie-lich geht der Pole.

    Ein anderer Mann aus Polen, etwa 50 Jahre alt, hat hier mit seiner Frau in einem Zelt gelebt. Er berichtet, er habe mehrere Jahre in Bran-denburg gearbeitet, habe mit seiner Frau eine Wohnung gehabt. Doch dann hat sein Chef den Lohn nicht mehr bezahlt und das Paar wurde ob-dachlos. Den Uniformierten ruft er zu: Ihr sollt dafr sorgen, dass ich von meinem Chef mein Geld wiederbekomme. Stattdessen schickt Ihr uns hier weg! Wo sollen wir denn hin?

    In Berlin leben viele Hundert Menschen aus Osteuropa in der Obdachlosigkeit. Sie sind Teil einer groen Schar von Verlierern der EU-Ost-erweiterung, die gescheitert sind mit dem Ver-such, im Westen Arbeit und ein besseres Leben

    zu finden. Sie sind zu Obdachlosen geworden, in London, Paris, Berlin. Hier, in Berlin, macht ihr Anteil in vielen Hilfseinrichtungen fr Obdach-lose seit Jahren deutlich ber 50 Prozent aus.

    Petra Schwaiger ist Leiterin des Projekts Frostschutzengel, das in Berlin obdachlose Menschen aus den stlichen EU-Mitgliedsstaa-ten bert. Sie stellt die Frage, warum bei der Ru-mung kein Sozialarbeiter der Sozialen Wohnhilfe dabei war, einer bezirklichen Stelle, die fr Men-schen in Wohnungsnot zustndig ist. Schwaiger sagt, es gebe in Berlin zudem Anlaufstellen fr europische Wanderarbeiter, auch dort htte man darum bitten knnen, dass jemand bei der Rumungsaktion dabei ist.

    Schwaiger verweist noch auf einen anderen Punkt, sie sagt: Die Stadt Berlin ist verpflichtet, unfreiwillig obdachlos gewordene Menschen un-terzubringen, gleich welcher Herkunft. Fr die Unterbringung seien insbesondere Ordnungs-

    Zelte am Zoo: Viele der Bewohner waren Menschen aus Osteuropa (Foto: Jutta Herms)

  • strassenfeger | Nr. 10 | Mai 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 B re n n p u n k t

    amt und Polizei zustndig, die Stellen also, deren Mitarbeiter die Rumung durchfhrten. Es zeige sich, dass bestimmte Gesetze fr EU-Auslnder keine Gltigkeit htten.

    H a b u n d G u t k n n e n i m O rd n u n g s a m t a b g e h o l t w e rd e n

    Etwa 20 Personen werden an diesem Vormit-tag mit ihrem Hab und Gut vertrieben. Als sie fort sind, liegen noch viele persnliche Dinge, Kleidung, Decken, gefllte Taschen und Tten auf der Grnflche. Offensichtlich wussten ihre Besitzer nichts von der Rumung und sind morgens fortgegangen. Die Mitarbeiter des Ord-nungsamtes packen die Sachen zusammen und nehmen sie mit. Eine Mitarbeiterin in der me-dizinischen Obdachlosenambulanz am Bahnhof Zoo bringt spter in Erfahrung, dass, wer bei der Rumung nicht anwesend war und seine Sachen vermisst, kann diese im Ordnungsamt Mitte in der Karl-Marx-Allee abholen.

    Petra Schwaiger vom Projekt Frostschutz-engel hat Kontakt zu einer Bulgarin, Mitte 30, die von der Rumung betroffen ist. Sie msse 1 000 Euro zahlen, wenn sie ihr Zelt nochmal am selben Ort aufstelle, hat ein Polizist ihr am Rumungstag gesagt. Petra Schwaiger berichtet, dass die Frau schwerkrank ist und ohne ange-messene medizinische Behandlung wohl nicht mehr lange zu leben hat. Doch ein Anspruch auf die notwendige Behandlung in Deutschland be-stehe bei der Frau nicht. Diese wolle zurck nach

    Bulgarien, doch es fehle das Geld fr einen neuen Personalausweis und die Rckreise.

    Durch den Verlust ihres Zeltplatzes sei die Situation fr die Bulgarin schwierig geworden. Bislang habe die Frau wegen der kurzen Entfer-nung die Essensangebote der nahe gelegenen Bahnhofsmission, zudem die medizinische Am-bulanz der Caritas am Zoo, die auch ber Du-schen verfgt, in Anspruch genommen. Nun sei die Frau tiefer in den Tiergarten hineingegangen, habe keinen festen Platz mehr fr ihre Sachen, msse lngere Wege zurcklegen. Auch fr sie, Petra Schwaiger, sei es nun schwieriger gewor-den, mit der Frau in Kontakt zu bleiben.

    Gerne htte man den die Rumung der Zelte und ihrer Bewohner verantwortenden Stadtrat des Bezirks Mitte, Carsten Spallek, CDU, ge-fragt, ob er bei der Rumung auch an Menschen wie die kranke Bulgarin gedacht hat. Ob er selbst vor Ort gewesen ist und mit den Zeltbewohnern gesprochen hat. Welche Vorschlge er fr den Umgang mit obdachlosen Osteuropern in Berlin hat. Doch Stadtrat Spallek mchte lieber nicht telefonieren. Zunchst wird als Bedingung fr ein Telefonat ber die Rumung die vorherige Zusendung der beabsichtigten Fragen gestellt. Als die Fragen dort sind, heit es aus dem Bro des Stadtrats, diese beantworte Herr Spallek nun schriftlich, es werde kein Telefonat geben. Die schriftliche Frage, ob es nicht angezeigt wre, den vertriebenen Obdachlosen einen alternativen Zeltplatz anzubieten, beantwortet Carsten Spal-lek so: Wo an anderer Stelle geeignete Flchen vorhanden sind, entzieht sich meiner Kenntnis.

    Campieren widerspricht dem Widmungszweck einer Grnanlage (Foto: Thomas Grabka)

    Zusammenpacken und den Ort verlassen (Fotos: Thomas Grabka)

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    strassenfeger | Nr. 10 | Mai 201522 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    04 THEATER

    Die Asyl-DialogeEs ist, als ob das Schauspiel-Ensem-ble das Publikum direkt anspricht, ihm die Hand reicht und es reinzieht in eine Welt, die es von nun an nicht mehr kalt lassen wird: verwickelt, verschlungen, verbun-den und vernetzt mit den Heldin-nen und Helden der Asyl-Dia-loge. In der zweiten Produktion der Bhne fr Menschenrechte erzhlen die Macher von Begegnun-gen, die Menschen verndern, von gemeinsamen Kmpfen in unerwar-teten Momenten eine dieser Geschichten spielt in Osnabrck, wo seit Mrz 2014 ein breites Bndnis solidarischer Menschen bereits 30 Abschiebungen verhin-dern konnte und somit fr viele bundesweit zum Vorbild wurde...

    Am 22. Mai um 19.30 Uhr Heimathafen NeukllnKarl-Marx-Strae 14112043 Berlin

    Info: www.heimathafen-neukoelln.de

    03 KULINARISCH

    LOST IN WEDDINGAn diesem Dienstag stehen Tortenboden-schmuggler Klaus (Sex Gnge fr ein Hallelu-jah) und Marky Quark (Die Glorreichen Sieden) hinter den Tpfen, und kreieren ein raffiniertes veganes 3-Gnge Men. Auf die Teller kommen dabei saisonale und internatio-nale Zutaten, viel Liebe und keine Riesenperl-hhner. Vorspeise: Rande, Boskop Apfel-Car-paccio, gelber Rettich-Sate, Knoblauchbrot mit kandierten Oliven, weie Bohnencreme, Basilikum Hauptspeise: Lauwarme Karotten-Muffins, Kartoffel-Kalamansi- Pree, Paprika-Felderbsen( Kichererbsen )-Ragout, frischer Koriander, Chili Dessert: Eine Art Espresso-Flan, Wildkirschen mit Vanille, Gewrztes Orangengelee, Amarettini Crumble

    Am 26. Mai um 19 UhrReservierung ber E-Mail [email protected]

    STATTBAD BerlinGerichtstr. 6513347 Berlin

    Info: http://stattbad.net

    01 KUNST

    Radikal Modern.Gleich mit vier Ausstellungen wird die Berlinische Galerie Landesmuseum fr Moderne Kunst, Fotografie und Architektur nach den Sanierungsar-beiten wiedererffnen: Eine davon ist Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre. Es ist die erste umfassende Betrachtung der in Ost- und West-Berlin entwickelten und geplan-ten Bauten der Sechziger Jahre, die bis heute das Stadtbild prgen. In dieser Dekade fielen wesentli-che stadtplanerische Entscheidungen, und es entstanden zahlreiche bemerkenswerte, heute gefhrdete Architekturen.

    Vom 29. Mai bis 26. OktoberBerlinische GalerieAlte Jakobstrae 12410969 Berlin

    Info: www.berlinischegalerie.de

    02 STADTFHRUNG

    Dauerkolonie Berlin In Dauerkolonie Be