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Schottische Märchen Herausgegeben von Erich Ackermann Anaconda

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SchottischeMärchen

Herausgegeben von Erich Ackermann

Anaconda

Ackermann Schottische Märchen_Märchenkassette 06.05.2019 16:56 Seite 3

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Dieser Band ist Teil der Sonderausgabe Märchen von den Britischen Inseln (drei Bände in Kassette)

Schottische MärchenIrische Märchen

Englische Märchen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Ivan Bilibine (1876–1942), »The Bogatyr Volga Transformshimself into a Pike«, illustration for the Russian Fairy Story »The Volga«,

edition published in Saint Petersburg (1903), Bibliothèque des ArtsDécoratifs, Paris / Archives Charmet / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: Andreas Paqué, www.paque.de

Printed in Czech Republic 2019ISBN [email protected]

Ackermann Schottische Märchen_Märchenkassette 06.05.2019 16:56 Seite 4

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Wie MacIain Direach den blauen Falken bekam . . . . . 21Binsenröckchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Der arme und der reiche Bruder . . . . . . . . . . . . . . . . 38Der Brunnen am Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 41Der rote Ettin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Die drei weisen Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Die Hexe von Fife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Die Hand mit dem Messer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Donald mit der Hucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Assipattle und Meister Stoorworm . . . . . . . . . . . . . . . 68Der Fuchs und die Wildgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Der Herr und sein Dienstknecht . . . . . . . . . . . . . . . . 82Die drei Witwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Habitrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Die Kiste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Binnorie oder die zwei Schwestern . . . . . . . . . . . . . . 105Der König, der seine Tochter heiraten wollte . . . . . . . 109Der schwarze Stier von Norwegen . . . . . . . . . . . . . . 113Die Erbschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Der braune Bär vom grünen Glen . . . . . . . . . . . . . . . 122Kate Nussknackerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130Lod der Bauernsohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136MacCrimmon – der berühmteste aller Dudelsackpfeifer 146Molly Whuppie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150Tam o’Shanter und Cutty Sark, die Hexe

mit dem kurzen Hemdchen . . . . . . . . . . . . . . . . 155Vom kleinen Bannockbrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Die Frau des Lairds von Balmachie . . . . . . . . . . . . . . 164Ein Blick in die Anderswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166Der Elfenritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170Der Feenhund Brodum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179Der Schmied und die Feen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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Der Page und der Silberkelch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Die Feenflagge von Dunvegan Castle . . . . . . . . . . . . . 190Die Feen von Merlins Klippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Tam Lin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201Thomas der Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Tödliche Feenpfeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218Kleinere Geschichten von Begegnungen

sterblicher Menschen mit Feen . . . . . . . . . . . . . . 221Der grüne Reiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221Die Gabe der Fee – Saatgut ohne Ende . . . . 223Der geraubte Ochse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Die geraubte englische Lady . . . . . . . . . . . . 226Die beiden Fiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227Die geborgten Haferflocken . . . . . . . . . . . . . 229

Das wilde Kalb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231Der Brownie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232Der Fiedler und der Bogle von Bogandoran . . . . . . . . 236Big Alastair und der Urisk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239Der Reiter und der Kelpie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242Der Nuckelavee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245Dämonisches Julfest mit Trollen . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Das Seehundweibchen (Kópakonan) . . . . . . . . . . . . . . 253Der Robbenfänger und der Wassermann . . . . . . . . . . 258Die Seejungfrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265Nighean Righ Fo Thuinn –

Die Tochter des Königs Untersee . . . . . . . . . . . . . 280Fionns Verzauberung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Osean, der letzte der Fenier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298MacPhies schwarzer Hund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Der Schwanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

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Vorwortchottische Märchen und Sagen sind geprägt und durch-drungen von der Landschaft und der wechselhaften Ge-

schichte dieses Volkes im hohen Norden Großbritanniens,und die fantastischen Geschichten, die sich in dieser grandio-sen Szenerie abspielen, widerspiegeln dieses enge Geflecht.Dieses Lokalkolorit gewährt uns nicht nur räumlichen Ein-blick in die Landschaft zu allen Jahreszeiten sondern ist auchein zeitlicher Rückblick in die Vergangenheit, wobei uralteLebensgewohnheiten, Sitten und Bräuche zum Vorscheinkommen. Aber auch die oft noch archaische Denkart undLebenseinstellung der Vorfahren in einer noch nicht vomchristlichen Weltbild geprägten Kultur mit all ihren Götternund Dämonen schimmern immer wieder durch.

Die Topografie des Landes ist gekennzeichnet durch dieeher flachen Lowlands im Süden mit ihren fruchtbaren Bödenund den kargen Highlands im Norden und Westen, zu denenauch die Inselgruppen der Hebriden, Orkneys und Shetlands ge-hören. Diese Hochlande sind bestimmt durch das wilde Meer,das unentwegt gegen die Küsten anbrandet und für den Fischereine beständige Gefahr bedeutet, und durch nebelverhangeneBerge mit mal sanften und mal schroffen runden Kuppen, diehier Bens genannt werden. Verfallene Ruinen von Klöstern unduralte Castels erheben sich neben geheimnisvollen, unergründ-lich tiefen Seen, den Lochs, die für Seeungeheuer wie Nessiewie angelegt zu sein scheinen. Einsame dunkle Täler, hier Glensgenannt, und düstere endlose Moore, in denen sich Gespenstergeradezu wohlfühlen müssen, finden sich in dieser Landschaftgenau wie verwitterte Steinkreise, in denen Druiden ihre ge-heimen Treffen abhalten. Das ist das ideale Land für Märchenund Sagen, wie geschaffen für Geister, übernatürliche Erschei-nungen, für schaurige Geschichten am Torffeuer und für histo-rische Helden, die für die Freiheit und Unabhängigkeit ge-kämpft haben. Zu ihnen zählen etwa William Wallace, den derFilm Braveheart (1995) unsterblich gemacht hat, der König Ro-

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bert the Bruce, der Kronprätendent Bonnie Prince Charlie, dessenlange Flucht durch die Highlands Legende wurde, oder RobRoy MacGregor, den der schottische Schriftsteller Walter Scott(1771–1832) als Räuber zu einem Robin Hood der Highlandsstilisiert hat. Diese historischen Gestalten werden von denSchotten als Volkshelden verehrt und rücken bald aus der realenGeschichte heraus, werden zu Legenden und den mythischenHelden um den uralten keltischen Fionn-Kreis beigesellt, ja so-gar gleichgestellt. Es waren besonders die Bücher des glühen-den und begeisterten Highland-Liebhabers Scott, die im 18.Jahrhundert ein völlig neues Bild dieser einsamen und abgele-genen Gegend haben entstehen lassen und die aus dem als hin-terwäldlerisch geltenden Hochland eine Art wild-romantischeSeelenlandschaft geschaffen haben, in der edle Clanhäuptlingeum alte Rechte und Traditionen kämpfen. Dabei spielen bisheute vorherrschende Klischeevorstellungen wie Kilt, Tartanund Dudelsack eine Rolle und werden so schon früh zu einemfolkloristischen Element des modernen Highland-Tourismus.

Die Highlands sind eine mythische und mystische Land-schaft, vor deren Hintergrund sich Feen und Elfen, Koboldeund allerhand andere Wesen und Unwesen zu Wasser und zuLande tummeln. Da die Highlands dem englischen Einflussweniger ausgesetzt waren als die Lowlands, haben sie den eige-nen kulturellen Charakter stärker bewahrt. Das Gebot und dieHerrschaft der Obrigkeit waren dort schwerer durchzusetzenals in dem tiefer gelegenen Landesteil. Das liegt auch an derStruktur der Clans, die hier trotz des Verbots der Engländernach ihrem endgültigen Sieg bei Culloden (1746) im Unter-grund weiter lebten und immer bestehen blieben. Die Clans,ein schottisch-gälisches Wort für »Kinder«, waren große Fami-liengruppen, die ihren Ursprung auf einen gemeinsamen, oftsagenhaften Urahnen zurückführten und auf einem abge-grenzten Gebiet lebten. Im Gegensatz zu einem Stamm, dersich durch das Zusammenleben auf einem gemeinsamen Ter-ritorium bestimmt, entscheiden bei einem Clan die Blutsban-de über die Zugehörigkeit. Fast alle Highland-Clans haben ih-

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Wie MacIain Direachden blauen Falken bekam

or langer Zeit lebten einmal ein König und eine Königin,die hatten einen einzigen Sohn. Aber die Königin starb,

und der König heiratete eine andere Frau. Der Sohn, den derKönig von seiner ersten Frau hatte, trug den Namen MacIanDireach. Er war ein hübscher Bursche und zudem ein großerJäger. Keinen Vogel gab es, der nicht tot auf die Erde fiel,wenn er seinen Pfeil auf ihn richtete. Hirsche und Rehe er-legte er aus weiterer Entfernung. Und es verging kein Tag, andem er mit Pfeil und Bogen aufs Waidwerk ging, da er nichtreich mit Wildbret versehen nach Hause zog.

Eines Tages nun streifte er einmal über einen Hügel, unddas Jagdglück war ihm nicht hold. Nirgends war ein Tier zusehen, das er hätte erlegen können. Doch da erschien auf ein-mal ein blauer Falke und flog über ihn ‒ und schon surrte einPfeil des Königssohnes nach oben. Erlegt hatte er das schöneTier aber nicht, nur eine blaue Feder fiel sachte auf die Erdeherab. Da nahm er die Feder, tat sie in seine Jagdtasche undging heimwärts. Zu Hause zeigte er sie seiner Stiefmutter,welche darauf barsch zu ihm sagte: »Ich lege es dir als Kreuzund Zauber auf und als Elend übers ganze Jahr; du sollst Was-ser in den Schuhen haben, du sollst nass und schmutzig sein,und es soll dich frieren, wenn du mir nicht den Vogel herbei-bringst, von dem diese blaue Feder stammt!« Und rasch gaber sie ihr zurück. »Und ich lege dir auf als Kreuz und Zauberund als Elend über das ganze Jahr, dass du mit dem einen Fußauf dem Turm und mit dem anderen auf dem Schloss stehensollst und dass dein Gesicht dem Sturm zugewandt ist, wel-cher Wind auch blasen mag, bis ich zurückkehre!«

Dann machte sich MacIain Direach, so schnell er konnte, aufden Weg, um den Vogel zu suchen, aus dessen Gefieder dieblaue Feder gefallen war, und seine Stiefmutter stand indes mitdem einen Fuß auf dem Turm, mit dem anderen auf dem

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Schloss, bis er zurückkäme, und ihr Antlitz war dem Sturm aus-gesetzt, solange MacIain Direach auch immer ausbleiben sollte.

Der Königssohn war nun fort und wanderte durch Ein-öden, immer auf der Suche nach dem Falken. Aber der ge-heimnisvolle Vogel war nirgends zu erblicken und noch we-niger natürlich zu fangen. So ging denn der Jüngling so hindurch die Ödnis, und es wurde schon Nacht. Die kleinen Vö-gel flatterten von Zweig zu Zweig aus den Spitzen der Bäu-me herab und suchten Zuflucht zwischen den Wurzeln derDornensträucher. Er tat es jedoch nicht wie sie; er bliebwach, bis die Nacht kam, blind und finster, dann erst krochauch er unter einen Dornenstrauch.

Und da kam ihm kein anderer des Wegs als Gille Mairtean,der rotbraune Fuchs, und der sagte zu ihm: »Du lässt den Kopfhängen und kommst auch noch zu keiner guten Zeit bei mirvorbei. Ich habe selbst nur ein Hammelbein und ein StückSchaffleisch. Damit müssen wir halt beide auskommen.« Dannzündeten sie ein Feuer an, brieten das Fleisch und aßen dieHammelkeule und das Schaffleisch. Am Morgen darauf sagteGille Mairtean zum Königssohn: »Oh, Sohn des Iain Direach,der Falke, den du suchst, ist bei dem Großen Riesen mit denfünf Köpfen und den fünf Buckeln und den fünf Gurgeln, undich werde dir zeigen, wo seine Behausung ist. Mein Rat ist:Gehe hin zu ihm und biete dich ihm als sein Diener an. Seidann bei der Arbeit flink und willig und tu alles, was er von dirverlangt. Vor allem aber sei gut zu seinen Vögeln. Es ist auch gutmöglich, dass er dir seinen Falken anvertraut, den du fütterndarfst. Und wenn du den anvertraut bekommst, dann musst dusehr gut zu dem Falken sein, bis sich dir eine Gelegenheit bie-tet, den Falken mit dir zu nehmen und mit ihm zu fliehen,wenn der Riese mal nicht zu Hause ist. Aber gib acht, dassnichts von ihm, nicht einmal die kleinste Feder, irgendetwasberührt, was im Hause ist, sonst ergeht es dir übel.«

MacIain Direach sagte, er würde schon achtgeben, undmachte sich dann auf zu des Riesen Behausung. Als er dortankam, klopfte er an die Tür.

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Douglas Hyde gewidmet

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Irische Märchen

Herausgegeben und übersetztvon Käte Müller-Lisowski

Anaconda

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Der vorliegende Text folgt der Ausgabe Irische Volksmärchen.Hrsg. von Käte Müller-Lisowski. Mit einem Vorwort von Julius Pokorny. Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena 1923. Vorwort und Anmerkungen wurden nicht übernommen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Ivan Bilibine (1876–1942), »The Red Rider,an episode from the Russian Fairy Story ›Vasilissa the Beautiful‹«(1900), Bibliothèque des Arts Decoratifs, Paris / Archives Charmet /Bridgeman ImagesUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: www.paque.dePrinted in Czech Republic 2019ISBN [email protected]

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1. König Eochaidh hat Pferdeohren

inst regierte ein berühmter König über dieUi Fáilghe1. Er hieß Eochaidh. Dieser Kö-nig hatte ein großes Schandmal, nämlichzwei Pferdeohren. Um diese zu verbergen,trug er eine goldene Krone auf demHaupt. Wenn er sich die Haare schneidenließ, suchte er die Wildnis und Einsamkeit

auf und ließ sich in aller Verborgenheit scheren. Aber derBarbier kehrte niemals zurück. Er wurde getötet. Dies warder Lohn für seine Arbeit.

Nun hatte der König in seinem Haushalt einen Bru-der sohn, der Aonghus hieß. So wurde der aber nicht ge-nannt, sondern Mac Dichaoimhe (d. i. der Sohn der Un-schönen). Seine Mutter hieß nämlich Dichaoimh undnach ihr der Sohn. Die Frau war gut, obwohl nicht schön.Er war ein prächtiger, kühner und kluger Jüngling. SeinAmt war, die Kriegerscharen zu rasieren und ihre Pferdezu striegeln. Er schmie dete und schärfte außerdem ihreSpeere und Dolche, ihre Klingen und scharfen, breitenLanzen. Er pflegte sie auch zu unterhalten mit Pfeifen undHarfenspiel, mit Liedern und Gesängen, mit Liebesge-dichten und Spottversen. Er war flink, gewandt und be-hende im Schwimmen und Jagen; er war berühmt für sei-ne Kunstfertigkeit im Waffenspiel. So kam es, daß er beiMännern und Frauen beliebt und verwöhnt wurde. Selbstdie Königin, Eochaidhs Weib, verschmähte nicht seine Er-zählungen und hätte auch willig bei ihm ge schlafen, wäredas ebensosehr ihres Gatten Wunsch gewesen wie ihr ei-gener. Nun ward der Name der Königin mit dem des ed-len Sohnes der Dichaoimh zusammengebracht, so daß ein

1 Danach Offaly in Kildare.

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jeder es hörte. Auch dem König kam es zu Ohren. Erwurde auf seinen Brudersohn eifersüchtig und wünschteihn zu töten.

Jedoch, er hielt es für eine Schande, ihn wegen Eifer-sucht zu töten. So schickte er Boten zu ihm und forderteihn auf, ihn in eine abgelegene wilde Gegend zu beglei-ten. Aus zwei Gründen schickte er hauptsächlich zu ihm.Er wollte sich die Haare schneiden lassen (denn es warwieder die Zeit dazu) und hinterher seinen Zorn und sei-ne Eifersucht an ihm aus lassen und sich rächen. DieKriegsscharen hielten das für einen großen Schaden. Dennsie waren sicher, Dichaoimhs schöner Sohn würde nichtwiederkehren, nachdem er den König geschoren hatte. Eswar ja keiner wiedergekommen.

Der Jüngling begleitete den König in die Wildnis. Dortfanden sie ein leeres Haus.

»Nun, da wir allein sind«, sprach der König, »wäre es dasbeste, mich zu rasieren.«

»Das kann ich wohl besorgen«, sagte der Jüngling. Dannschnitt er ihm die Haare.

»Ist nun mein Haupt wieder schön und stattlich, nach-dem es geschoren ist?« fragte der König.

»Es ist wirklich gut so, und möge es immer besser wer-den!«

Der König streckte die Hand nach dem Schwert, umden Jüngling zu erschlagen.

»Ich will es nehmen«, rief der Jüngling, »und nach dei-nem Haupt einen Schlag austeilen, du Verwandtenmörder,da mit du nicht noch andere nach mir hinmorden kannst!Von heute an sollst du auf dein Weib und dein Erbe, aufdein Land und dein Königtum verzichten, du großohrigesPferd mit dem scheußlichen Kopf! Heerhaufen und Volks-mengen sollen dein Haupt sehen, sobald ich es dir abge-schlagen habe!«

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Damit zog der Jüngling das Schwert aus der Scheideund schwang es über seinem Kopf, um es auf den Könignieder sausen zu lassen und ihn zu töten.

»Mag Gottes rechte Hand dazwischenfahren!« rief Eo-chaidh. »Laß es nicht also zwischen uns sein, Jüngling! Dusollst mit mir gleichen Rang einnehmen, und solange dudas Geheim nis von dem, was du an mir sahst, bewahrenwirst, sollst du mich rasieren.«

»Ich will’s bewahren«, sagte der Jüngling, »und aus die-sem Geschehnis soll Freundschaft erwachsen!«

Damit gingen beide heim, und die Gefolgsscharen wa-ren voll Freude darüber.

Indessen war es eine bittere Not für den Jüngling, dasGeheimnis zu bewahren. Es warf ihn auf ein langes ver-zehrendes Krankenlager, in Fieber, Aussatz und Elend. Erhatte nicht mehr Kraft und Mark in sich.

Eines Tages ging er zu einem gewissen Seher und Arztnach Geashill, um dort Hilfe und Heilung zu suchen. Alser über das Moor kam, das Moin Caoimthechta1 heißt, fieler auf sein Antlitz, so daß ihm drei Ströme Blut aus Mundund Nase flossen. Dadurch ward er geheilt.

An einem andern Tag, am Ende des Jahres, kam die Krie-gerschar und Dichaoimhs Sohn an dieselbe Stelle, wo erhingestürzt war und sein Geheimnis ausgebrochen hatte. Erteilte der Schar mit: »Seht, hier ward ich geheilt und brachdrei Ströme Blut aus.« Und dann sang er die Strophen:

»Hier ward geheiltDichaoimhs Sohn,Weil er sein Geheimnis auswarf (in heftigem Strom),Das Geheimnis über den schrecklichen

grausamen Eochaidh.

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1 Moor des Zusammenlaufs.

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Das war, als ich Heilung suchen ging.Nachdem ich ein Jahr lang das Geheimnis bewahrte.Das mich in Siechtum geworfen hatte,In Elend und bösen Jammer.

Ströme von Blut (sie erleichterten mich)Flossen mir aus Mund und Nase.Gott gab, daß daraus Bäume erwuchsen.Wie hier jeder sehen kann.«

Da erblickte die Schar die drei geraden jungen Stämmchen.Er ließ die Leute vorbeiziehen und blieb zurück, um dieBäume mit einem kreisrunden Zaun einzuschließen. Als erdas getan hatte, folgte er der Kriegerschar wieder nach.

Nun reiste ein Künstler aus dem Land Munster zu Eo-chaidh. Er war ein berühmter Harfenspieler, mit satiri-schen Lie dern ausgerüstet. Zufällig kam er den Weg ent-lang, an dem die eingefriedigten jungen Bäumchen stan-den. Er und seine Begleiter besahen sie. Da redete einBäumchen zum andern:

»Eochaidh, der Mann mit dem Schild, hat Pferdeohren!«Das sagten sie dreimal untereinander.»Nun, das ist mir eine hübsche Weise für unsere Harfe!«

meinte der Harfner und sprach diese Verse:

»Das Gespräch der Bäumchen– Ein eifriges Tuscheln, das uns nicht ermüdete –Gäb’ eine Weise für meine Harfe,Eine stolze, berühmte Weise, das wär’s.

Eochaidh, der Mann mit dem Abwehrschilde,Dem haften zwei Pferdeohren an!Das war das Gespräch der üppigen Bäumchen,Das Ergebnis von ihrem Wispern und Flüstern.«

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So gingen sie nun zum Hof des Königs und wurden dortwohl aufgenommen und in die Halle geführt, in der sichEochaidh aufhielt.

»Schlagt auf eurer Harfe etwas Sinnreiches an!« befahlEochaidh.

»Das wollen wir!« sprachen sie und begannen ihm auf-zuspielen, und was sie spielten, war:

»Eochaidh, der Schildmann, hat zwei Pferdeohren!«»Bringt Lichter und Fackeln ins Haus!« schrie der Kö-

nig.Als die Lichter und Fackeln gebracht waren, sagte er:»Werft euch über die Harfner und fesselt sie!«Damit wurden sie gebunden und blieben bis zum Mor-

gen in Fesseln.Am Morgen kam der König mit der Kriegerschar.»Besser wär’s, uns nicht zu töten«, sagten die Harfner,

»bis du unsere Schuld weißt.«»Jeder gehe hinaus!« befahl der König.»Bekennt«, sagte er dann, »wer war’s, der euch jene Wei-

se gab?«Sie sprachen: »Die Bäumchen, die aus dem Auswurf

von Dichaoimhs Sohn wuchsen! Sie sangen uns dasLied.«

»Wahrhaftig«, sagte der König, »es ist schwer für Men-schen, Geheimnisse zu bewahren, wenn selbst Bäume sieausplau dern! Laßt die Harfner los!« befahl er.

Er nahm seinen Helm vom Haupt:»So bin ich, ihr Männer aus Ui Fáilghe«, sagte er und

sprach diese Weise:

»Ein Helm umkränzte mein Haupt – es war schwer,Mein Schandmal vor jedem Heerhauf ’ zu bergen.Von dieser Stunde an hinfortSoll er nicht mehr meine Ohren verstecken.

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Flora Annie Steel

Englische MärchenIns Deutsche übertragen

von Heike Holtsch

Mit 56 Illustrationen von Arthur Rackham

Anaconda

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Für den vorliegenden Band wurde die Originalausgabe um folgendeMärchen gekürzt: »Die drei Federn«, »Die drei Dummköpfe«,»Die beiden Schwestern«, »Titty Maus und Tatty Maus«,»Das flinke Fladenbrot«, »Rotkäppchen«, »Die Waisen im Wald«,»Ach, du lieber Himmel!«, »Der Esel, der Tisch und der Stock«

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Monro Scott Orr (1874–1955), »L was a Lady who had a white hand«, Private Collection / © Look and Learn / Bridgeman ImagesUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: www.paque.dePrinted in Czech Republic 2019ISBN [email protected]

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Inhalt

7 Sankt Georg, der Schutzpatron von England

24 Die drei Bären

31 Tom-Tit-Tot

44 Die goldene Schnupftabakdose

62 Das Lumpenmädchen

69 Jack, der Faulpelz

73 Jack, der Riesen-Schreck

99 Die goldene Kugel

105 Der Lindwurm von Bamborough Castle

113 Jack und die Stangenbohnen

131 Der Schwarze Stier von Norroway

141 Das Mädchen im Katzenfell

149 Die drei kleinen Schweinchen

156 Nichts und wieder nichts

171 Mr und Mrs Vinegar

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181 Die wahre Geschichte des Sir Thomas Thumb

192 Henny-Penny

197 Die drei Köpfe an der Quelle

208 Mister Fox

215 Dick Whittington und seine Katze

230 Die alte Frau und ihr Schweinchen

234 Jack auf der Suche nach dem Glück

239 Das Schreckgespenst

244 Childe Rowland

256 Die Schlauköpfe aus Gotham

265 Die Binsenmagd

277 Der Rote Riese

284 Der Fisch und der Ring

292 Meister aller Klassen

294 Molly Whuppie und der Riese mit den zwei Gesichtern

304 Die Quelle am Rand der Welt

309 Der Rosenstrauch

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Sankt Georg, derSchutzpatron von England

itten in einem finsteren Wald wohnte vor langerZeit eine böse Hexe namens Kalyb. Ihr grausa-

mer Ruf eilte ihr weit voraus, und nur wenige Men-schen wagten sich so tief in den Wald hinein und brach-ten den Mut auf, in das goldglänzende Horn zu stoßen,das über dem eisernen Tor hing, hinter dem Kalybs He-xenreich lag. Kalyb hatte schon fürchterliches Unheilangerichtet, doch am liebsten stahl sie neugeborene Ba-bys, um sie dann zu töten.

Ein solches Schicksal hatte sie auch dem Sohn desGrafen von Coventry zugedacht. Die Mutter des kleinenJungen war bei seiner Geburt gestorben, und da der Grafder engste Vertraute des Königs war und oft mit ihmdurchs ganze Land reiste, war es einer verschlagenen He-xe wie Kalyb ein Leichtes, die arglosen Kindermädchen

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durch ein paar Zaubersprüche mit einem Bann zu bele-gen und ihnen das unschuldige Baby zu rauben.

Dem kleinen Jungen aber war ein furchtloses Lebenvoller Wagemut bestimmt, denn seit seiner Geburt truger auf der Brust das Abbild eines Drachen, auf der rech-ten Hand ein blutrotes Kreuz und am linken Bein eingoldenes Band.

Von diesen Zeichen war Kalyb, die sonst so grausameHexe, derart beeindruckt, dass sie von ihrem Vorhabenabließ und das Kind, das von Tag zu Tag schöner undstärker wurde, fortan hütete wie ihren Augapfel. Alszweimal sieben Jahre vergangen waren, erwachte indem Jungen die Sehnsucht nach ruhmreichen Abenteu-ern. Aber die Hexe wollte ihn nicht gehen lassen.

Der junge Mann konnte der niederträchtigen Übel-täterin jedoch nichts abgewinnen. Also versuchte siemit allen Mitteln, ihn zu überzeugen. Eines Tages nahmsie ihn an die Hand und führte ihn zu einem goldglän-zenden Schloss, in dem sechs tapfere Ritter lebten wieGefangene.

»Sieh nur!«, sagte sie. »Das sind die sechs Verfechterder Christenheit. Wenn du bei mir bleibst, sollst du dersiebte sein. Du sollst dich von nun an Sankt Georg nen-nen und zum Schutzpatron von England werden.«

Aber der Junge wollte nicht bleiben.Daraufhin führte sie ihn zu einem prächtigen Stall, in

dem sieben stolze Rösser standen. »Sechs der Pferde ge-hören den sechs Rittern«, sagte die Hexe. »Das siebte istdas edelste, schnellste und stärkste, das die Welt je gese-hen hat. Es heißt Bayard, und wenn du bei mir bleibst,soll es dir gehören.«

Aber der Junge wollte nicht bleiben.Also ging sie mit ihm in die Waffenkammer. Dort

legte sie ihm einen stählernen Harnisch an und setzte

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ihm einen goldverzierten Helm auf. Dann gab sie ihmein scharfes, stählernes Schwert in die Hand und sagte:

»Diese Rüstung kann nichts durchdringen, und die-ses Schwert mit Namen Ascalon durchtrennt alles miteinem einzigen Hieb. Sie sollen dein sein, wenn du nurbei mir bleibst.«

Aber der Junge wollte nicht bleiben.Da wusste sich die Hexe keinen anderen Rat, als ihm

ihren Zauberstab und damit die Macht über ihr ganzesHexenreich zu geben.

»Jetzt wirst du doch wohl bei mir bleiben«, bat sieihn.

Als der Junge den Zauberstab in die Hand nahm,stieß er damit gegen einen riesigen Felsblock. Der Felssprang entzwei, und siehe da, in einer ebenso riesigenHöhle darunter lagen all die unschuldigen Neugebore-nen, die von der bösen Hexe getötet worden waren.

Nun aber besaß der Junge die Macht über alles inKalybs Reich, und so befahl er ihr, ihm den Weg zu die-sem Ort des Schreckens zu zeigen. Als sich die Hexezwischen die beiden Felshälften zwängte, um zu derHöhle hinunterzusteigen, berührte er den Fels abermalsmit dem Zauberstab. Und siehe da, die beiden Hälftenschlossen sich sogleich. Nun sitzt die Hexe für immerund ewig dort fest, und das taube Gestein lässt ihr Weh-geschrei ungehört verhallen.

So befreite sich Sankt Georg aus dem Hexenreich. Erschwang sich auf Bayard, und die sechs Ritter derChristenheit auf ihren sechs Rössern nahm er mit.

Gemeinsam ritten sie nach Coventry, wo sie sichneun Monate lang im Kampf mit allerlei Waffen übten.Als der nächste Frühling nahte, brachen sie auf, um alsfahrende Ritter, die kein Abenteuer scheuten, in ferneLänder zu ziehen.

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