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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ (WS 2011/12)
Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp
(16.11.2011)
Schwerpunkt 4:
Erziehung und Bildung – ein geschichtlicher Abriss
• Begrüßung - Organisatorisches
• Vortrag: Erziehung und Bildung – Skizze der
Geschichte
• Filmausschnitt: Treibhäuser der Zukunft – Im
Focus 5 Lernende Gesellschaft
• Arbeitsphase – Aussprache – Diskussion
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Johann Amos Comenius (1592 – 1670): die Entdeckung der Schule als ein
eigener pädagogischer Kosmos. Comenius war einer der ersten Theoretiker
der Schule, die schulische Erziehung als ein sinnvolles und notwendiges
Unterfangen am Beginn der Neuzeit verstanden.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Grundgedanken
• vierstufiges Gemeinschaftsschulwesen
• Omnes - omnia – Omnino
• Mit einer anderen Lernmethode im Unterricht
• Comenius legt die Komplexität der Sinnenwelt so in einer zeitlichen
Reihenfolge auseinander, dass der Intellekt in seiner Entwicklung die
Vielfalt der Sinnenwelt immer klarer sehen kann, ohne davon verwirrt zu
werden.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Im Titelkupfer der von Comenius verfassten Großen Didaktik (Deutsch zuerst
1657) kommt die Ambition neuzeitlicher Pädagogik zum Ausdruck „GROSSE DIDAKTIK
DIE VOLLSTÄNDIGE KUNST, ALLE MENSCHEN ALLES ZU LEHREN
oder
Sichere und vorzügliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christ-
lichen Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede
Ausnahme
RASCH, ANGENEHM UND GRÜNDLICH
in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in
den Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann;
Worin von allem, wozu wir raten
die GRUNDLAGE in der Natur der Sache selbst gezeigt,
die WAHRHEIT durch Vergleichsbeispiele aus den mechanischen Künsten dargetan,
die REIHENFOLGE nach Jahren, Monaten, Tagen und Stunden festgelegt und schließlich
der WEG gewiesen wird, auf dem sich alles leicht und mit Sicherheit erreichen läßt.
ERSTES UND LETZTES ZIEL UNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN,
die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brau-
chen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß, und unnütze Mühe
herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger
Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (Comenius 1954, S.9)
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
• Pädagogischer Optimismus: durch methodischen Königsweg der richtigen
Darstellungsweise der Lerninhalte soll der Lernerfolg von selbst kommen
„Wie ein sachverständiger Schreiber auf eine leere Tafel schreiben oder ein
Maler darauf malen kann, was er will, so kann der, welcher die Kunst des
Lehrens beherrscht, mit Leichtigkeit dem menschlichen Geist alles einprägen.
Gelingt das nicht, so ist es nur zu gewiß, daß nicht die Tafel schuld ist, die
allenfalls etwas rauh sein mag, sondern allein die Unfähigkeit des Schreibers
oder Malers.“ (Comenius 1954, S.39)
• Damit werden die Grenzen jeglicher Pädagogik überschritten, denn es ist
durch die Methode keineswegs verbürgt, dass der Lernende die geistigen
Schritte des Lehrers nachvollzieht
• Die „leere Tafel“ hat ein Eigenleben, das jeden Lernprozess auch
methodisch zu etwas Unerzwingbaren macht.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nur in Rücksicht auf das Ganze kann Allen Alles gründlich gelehrt werden.
Mit dem Wegfall des Omnino – der göttlich verbürgten ganzen Weltordnung –
wird die Didaktik des Comenius grundlos.
Ohne den zugrunde liegenden Versöhnungsgedanken wird es zu einer
erbarmungslosen pädagogischen Maschine, in der alle Räder ineinander
greifen müssen, um den reibungslosen Fortgang des Unterrichts zu sichern.
Das einzelne Individuum braucht gegen die Intention des Comenius dabei nicht
zu Selbstbewusstsein zu kommen.
Als Begründer der Didaktik, erster Verfechter des Gleichheitsgedankens in der
Schule und Verfasser von Lehrbüchern wie dem Orbis Sensualium Pictus
(1658) bleibt er aber im Gedächtnis.
Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) entwirft mit seinem Buch Emile oder
über die Erziehung das Paradigma moderner europäischer Pädagogik.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Das Problem, für das Rousseau mit seinem Emile eine Lösung finden will, ist:
wie ist eine Erziehung, die zum Besseren führen soll, überhaupt denkbar?
„Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre
les mains de l’homme. Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der
Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.“
(Rousseau 1958, S. 11)
Erziehung als Instrument der Durchsetzung des Willens der Erwachsenenge-
neration hat ihre Legitimität verloren. Die neue Erziehung ist in der Tatsache
der kindlichen Entwicklung und der ihr eigenen Würde verankert.
Kindsein ist eine Daseinsform des Menschen, die gegenüber dem Erwach-
sensein nicht defizitär ist, sondern ihre Erfüllung und Reife in sich selbst findet.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Rousseaus Gedankenexperiment im Émile: wenn alles unter den Händen des
Menschen verdirbt, hat der Mensch auch die Möglichkeit, das Leben zum
Besseren zu wenden, wenn er die richtigen pädagogischen Prinzipien
beherzigt.
Die Natur will nach Rousseau, dass die Kinder Kinder sind, ehe sie sich zu
vernünftigen Wesen entwickeln.
Konventionelle Erziehung ist nur an der Zukunft interessiert. Daher
standardisiert sie die Entwicklung des individuellen Kindes. Sie opfert das
Glück der Gegenwart einer ungewissen Zukunftsperspektive.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Oberste Aufgabe der Erzieher ist es, die Kinder zu beobachten und zu
studieren, um zu lernen, wie zu erziehen sei.
Folgerungen für Rousseau sind: Plastizität der kindlichen Natur, Schutzbe-
dürftigkeit des Kindes, Kindheit ist eigene Phase, das Kind ist selbsttätig,
Empfindungen und Sinneseindrücke sind vorherrschend, das Kind ist
wißbegierig.
Phasen der Kindheit und des Jugendalters: 1. die Kindheit, 2. das
Knabenalter, 3. die Vorpubertät und 4. das Jünglingsalter. Alle Phasen
enthalten die körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung des
Kindes.
Drei Arten der Erziehung: durch die Natur, durch die Dinge, durch die
Menschen.
Natur- und entwicklungsgemäße Erziehung und negative Erziehung unter
Ausschluss aller soziokulturellen Einflüsse in der Pädagogischen Provinz.
Erziehungsprinzipien im Emile
• Erziehung bedeutet Respekt und Anerkennung des kindlichen Eigen-
lebens.
• Erziehung muss alters- und entwicklungsgemäß sein.
• Erziehung muss dafür Sorge tragen, dass das Kind eine Balance zwischen
seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten herstellt.
• Erziehung muss das Kind mit Gegenständen und Dingen konfrontieren, an
denen es Erfahrung sammeln kann.
• Erziehung muss zeitlich offen angelegt sein, um dem Kind Zeit zur
Entwicklung zu geben.
• Erziehung soll das Kind psychisch und physisch widerstandsfähig machen
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Inszenierung negativer Erziehung
Emile, Jean-Jacques und der Gärtner Robert
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die „natürliche“ Erziehung Émiles bleibt durch und durch pädagogisch ins-
zeniert und kunstvoll arrangiert, so dass er trotz aller Beteuerungen von
Autonomie und Selbstständigkeit eher wie eine Marionette im pädagogischen
Kontroll-Theater seines Erziehers Jean-Jacques wirkt.
„Er (der Zögling) möge stets glauben, er sei der Herr, aber ihr müßt es
trotzdem sein. Keine Unterwerfung ist so vollkommen, als die scheinbar
freiwillige, denn man nimmt den Willen selbst gefangen. Ist denn das arme
Kind, das nichts weiß, nichts kann und nichts kennt, nicht völlig in euren
Händen? Verfügt ihr denn nicht über alles, was es umgibt? Könnt ihr es nicht
beeinflussen, wie ihr wollt? Sind nicht seine Arbeiten, seine Spiele, sein
Vergnügen und sein Ungemach in euren Händen, ohne daß es davon weiß?
Ohne Zweifel soll es nur das tun, was es selber will, aber es soll nichts wollen,
was ihr nicht von ihm wollt. Es darf nicht einen Schritt tun, den ihr nicht hättet
vorausgesehen, es darf nicht den Mund öffnen, ohne daß ihr wißt, was es
sagen wird.“ (Rousseau 1958, S. 115)
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Bildungsreform zwischen Revolution und Restauration:
Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835)
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Sozialpolitischer Rahmen
Tiefe Krise des überkommenen feudalen, ständisch geordneten Gesell-
schaftssystems.
Folgerung: umfassende Verwaltungs- und Rechtsreform im Sinn einer
sozialen, ökonomischen und politischen Liberalisierung.
Betonung individueller Leistung und Initiative.
Den sozialpolitischen Reformen korrespondiert eine Reform des
Bildungswesens.
Die modernisierte Schule soll den Bürgern die Grundausstattung für die
zukünftige Gesellschaft bieten.
Die individuelle Leistung sollte in Gesellschaft wie Schule wichtiger als die
soziale Herkunft werden.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Der Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung
seiner Kräfte zu einem Ganzen. Dazu bedarf es Freiheit und Mannig-
faltigkeit der Situationen
Humboldt will daher eine Leistungsschule, die für alle offen ist, und keine
Standesschule
Es gibt für ihn nur drei Stadien des Unterrichts: Elementarunterricht,
Schulunterricht, Universitätsunterricht.
Seine Forderungen:
• die größtmögliche Einheitlichkeit des Schulwesens und des Unterrichts
• ein gestuftes Schulsystem mit einheitlichen Anforderungen auf jeder Stufe
• ein horizontal gegliedertes Schulmodell, in dem der Übergang von der
niederen zur höheren Stufe prinzipiell allen Schülern möglich ist
• „allgemeine Menschenbildung“ soll kein soziales Privileg sein, sondern
allen zu Gute kommen
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
• Die Grenze des schulischen Unterrichts ist nicht die Herkunft oder der
zukünftige Beruf der Schüler, sondern die Grenze ist dort, wo subjektive
Lernprozesse enden.
• Dazu soll Lernen soll eine neue Bedeutung erhalten
• Keine Übung mechanischer Lernroutinen, sondern das Kind soll das volle
Bewusstsein haben von dem haben, was es in jedem Augenblick hört, sagt
und tut, und warum so und nicht anders gehandelt wird
• Dazu bedarf es diagnostischer Kompetenz der Lehrkräfte und sozialen
Lernens miteinander
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Kritik
• Die Bildungsreform nur auf der administrativen Ebene erfolgreich
• Vor allem die Elementarschulen bleiben unterfinanziert
• Der Widerstand des gutsherrlichen preußischen Junkertums bremste
finanziell die Schulreformpläne aus. Es sollte die finanziellen Mittel im Zuge
einer Steuerreform aufbringen, ohne davon zu profitieren. Weder wollte es
seine eigenen Kinder in die dürftig ausgestatteten Elementarschulen
schicken, noch war es an einem höheren Bildungsniveau seiner Bauern
und Landarbeiter interessiert.
• Sobald Humboldt schon 1810 die ersten Anzeichen obrigkeitlicher Be-
schränkung seiner Bildungspolitik verspürte, zog er sich konsequenterweise
aus dem Amt zurück.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Mit den Reformversuchen um 1800 wurde das schulische Lernen eine
öffentliche, allen zugängliche und zugleich verpflichtende Aufgabe
Dafür gibt es mehrere Ursachen:
auf der politischen Ebene verlangt der moderne Nationalstaat die Loyalität
der Bürger
auf der ökonomischen Ebene erfordert der beginnende Kapitalismus eine
über das bisherige Maß weit hinausgehende Qualifizierung und
auf der kulturellen Ebene wird den Menschen eine säkularisierte Lebenshal-
tung abverlangt, die einen radikalen und schmerzhaften Bruch mit den
eingelebten Traditionen voraussetzt.
Schule soll die Menschen durch allgemeine Bildung auf das Leben in Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit vorbereiten
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Horizontale und vertikale Schulstrukturen
Humboldts
„philosophisches“
Schulsystem
Soziales Klassenschulsystem
im 19. Jahrhundert
Universitätsunterricht
Niederes
Schulwesen
Höheres
Schulwesen
Schulunterricht
Elementarunterricht
Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich ein höheres Schulwesen etabliert, das
durch zwei Aspekte charakterisiert ist:
• das Berechtigungssystem
• Konzept der Allgemeinbildung
Folgen:
• Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde
erzeugt und gesichert.
• Die Qualifikation der ‚führenden’ Schichten wurde in staatlichen
Institutionen geleistet und durch den Staat kontrolliert.
• Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte den Söhnen des
Bürgertums, in Konkurrenz zu dem bis dahin privilegierten Adel zu treten
und sich dadurch aus den bis dahin engen Standesgrenzen zu befreien.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
• Die Etablierung des ‚niederen Schulwesens’ ist eng verbunden mit dem Prozess der
Durchsetzung der Schulpflicht.
• Da die breite Volksbildung ökonomisch zunächst weniger wichtig war als die qualifi-
zierte Beamtenbildung, entwickelte sich das ‚niedere’ zeitlich erst nach dem ‚höheren’
Schulwesen und zwar in klar getrennten Institutionen nach streng verschiedenen
Kriterien
• Die preußische „Volksschule“ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom
Prinzip der gewollten Bildungsbegrenzung bestimmt
• Mit den drei Stiehl'schen Regulativen von 1854 wurde der Volksschulunterricht auf
die elementaren Kulturtechniken und Religion beschränkt, zudem wurde die Volks-
schullehrerbildung so begrenzt, dass Lehrer kaum mehr als ihre späteren Schüler
und Schülerinnen lernen durften.
• Damit war Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen wie generell im deutschsprachigen
Raum ein ‚niederes’ Schulwesen entstanden, das mit seinem Konzept volkstümlicher
Bildung einen Gegenentwurf zum Konzept humanistischer Bildung im Gymnasium
darstellte.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
• Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde diese Diskrepanz hinderlich.
Ein ‚Modernitätsrückstand’ des Schulwesens löste Modernisierungs-
schübe aus.
• Es entstehen weitere ‚Vollanstalten’ mit dem Recht der Vergabe der vollen
Studienberechtigung wie das neusprachliche Realgymnasium und die
mathematisch-naturwissenschaftliche Oberrealschule
• Die Gymnasien waren reine Jungenschulen, für die Mädchen gab es
höhere „Töchterschulen“ ohne Studienberechtigung. Die Funktion dieser
Schulen bestand in der Bildung bürgerlicher Hausfrauen.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
• Der Prozess der Anpassung der Schulen und Lehrpläne an die gesell-
schaftliche Entwicklung betraf auch das niedere Schulwesen: Die Politik der
rigiden Bildungsbegrenzung der Stiehlschen Regulative wurde 1872 deut-
lich gelockert
• Entstehung des dualen Berufsausbildungssystems mit Ausbildungsbe-
trieb und Schule und der Dauer von drei Jahren.
• Damit waren diese Jugendlichen vom 14. Lebensjahr an der staatlichen
Beeinflussung entzogen. Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner
schlug daher vor, für die jungen Männer eine Pflichtberufsschule einzu-
führen, um sie durch die gemeinsame Erziehungsleistung von Arbeitsstätte
und Schule für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Sklerotisierung der Wilhelminischen Gesellschaft und die Kritik an der
Schule als Untertanenfabrik erzeugen viele lebens- und schulreformerische
Gegenbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts. Neben vielen anderen
Bewegungsformen wird insbesondere die internationale Bewegung der
Reformpädagogik prominent.
Philosophischer Gewährsmann ist vor allem
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Reformpädagogik wendet sich gegen
den Methodenformalismus,
die Verengung auf den kognitiven Bereich,
die Vernachlässigung der Ästhetik und
gegen den autoritären Unterrichtsstil der „alten“ Schule.
Sie will damit die Kluft zwischen Schule und Leben durch eine Pädagogik vom
Kind aus verringern.
Selbsttätigkeit, Selbstständigkeit, Spontanëität stehen im Mittelpunkt und sollen
durch Projektmethode, Werkstätten, künstlerisches Gestalten gefördert
werden.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Durch die Kombination von Leben und Lernen, Arbeitsschule, Projektmethode,
Einbezug ästhetischer Elemente, Selbsttätigkeit und Selbstüberwindung,
Schulgemeinschaft, altersübergreifende Lerngruppen, Tische und Stühle statt
Bänke, Gruppenunterricht, Kursystem statt Fachsystematik, aber auch Fremd-
und Selbstdisziplinierung wurden Konzepte zur Überwindung der Drill- und
Disziplinarschule des 19. Jahrhunderts entwickelt, die bis in die Gegenwart
fortwirken.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Reformpädagogik war aber keine Alternative zur staatlichen Regelschule,
da traditioneller, selektiver, disziplinierender und kontrollierender Schulunter-
richt sowohl in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der
Nachkriegszeit lange noch die Regel blieb.
Die auf ein vages Gemeinschaftsleben und romantisierende pädagogische
Grundkonzeptionen bezogene Reformpädagogik besitzt neben allen Vorzügen
durchaus auch antirationalistische und gegenaufklärerische Momente, die
sie nicht zuletzt auch für faschistische Vorstellungen empfänglich machte.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nach ersten Weltkrieg beginnt mit der Weimarer Reichsverfassung der erneute
Versuch, den Klassencharakter des Schulwesens abzuschaffen, um eine
demokratische Schule in einer Demokratie zu verwirklichen
Der Weimarer Schulkompromiss ist Ausdruck der politischen Machtver-
hältnisse, die nur einen Minimalkonsens gestatten, der aber als schulisches
Pendant zu den demokratischen Grundrechten verstanden werden kann.
Die bisher geltende Unterrichtspflicht wird zugunsten der Schulpflicht abge-
schafft.
Die Vorschulen der Gymnasien werden außer Kraft gesetzt
Eine längere gemeinsame Schulzeit war politisch nicht durchzusetzen. Auch
die Ausbildungsgänge der Lehrer an den Volksschulen, die jetzt allerdings zu
einer Abiturientenkarriere wurden, und an den höheren Schulen bleiben
weiterhin unterschiedlich.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Schulstruktur vor 1919 Schulstruktur nach 1919
Mit dem Weimarer Schulkompromiss hatten die Weimarer Parteien ihre gestalterische
Kraft in der Schulpolitik erschöpft.
Trotz aller sozialegalitären Symbolik des Nationalsozialismus hat er die auf dem Prinzip
rigider Auslese beruhende Trennung der Schulformen nicht nur übernommen, sondern
zum alternativlosen Modell der Schulung der Volksgemeinschaft gemacht.
Das nationalsozialistische Regime nutzte das im deutschen Schulsystem verankerte
Ausleseprinzip zur Durchsetzung der eigenen Ideologie, indem ihm eine zusätzliche
rassistische Dimension angefügt wurde.
Die nationalsozialistische Schul- und Hochschulpolitik wurde ab 1937 im Verlauf der
beginnenden Kriegsvorbereitung modifiziert: Die bildungsbegrenzenden Maßnahmen
wurden gelockert, die Betonung der Legitimations- gegenüber der Qualifikationsfunk-
tion der Schule wurde abgeschwächt.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nach 1945 verordneten die alliierten Siegermächte den vier Zonen eine
Demokratisierung auch des Bildungswesens.
Die Demokratisierung des Schulwesens sah ökonomisch vor, allen Kindern
den Zugang zu allen Schulen durch Schulgeld- und Lernmittelfreiheit sowie
Unterstützungszahlungen zu ermöglichen.
Organisatorisch sollte die Ganztagsschule eingeführt und die vertikale Drei-
gliederung des Schulwesens durch eine horizontale Gliederung in Form von
Gesamtschulen ersetzt werden.
Inhaltlich sollte die Neuordnung des Schulwesens mit einer Revision der
Curricula verbunden werden, um staatsbürgerliche Verantwortung und
demokratische Lebensauffassung zu ermöglichen.
Diese Neuordnungsvorstellungen versandeten relativ rasch in ökonomischer
und politischer Restauration.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Von 1965 bis 1989 war in der DDR das sozialistische Einheitsschulsystem
etabliert, nach 1989 wurde dann das Schulsystem der DDR in seinen wesent-
lichen Zügen strukturell und inhaltlich dem der Länder der BRD angepasst.
Abweichungen finden sich in einzelnen der neuen Bundesländer im Vergleich
zu den alten Bundesländern in der Schulstruktur.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Struktur des Schulwesens in Deutschland
Das Grundmodell des gegliederten, allgemeinbildenden Schulwesens blieb im
Westen trotz des Ausbaus durch Gesamtschulen, die als vierte Säule dazu ka-
men, stabil, jedoch ging innerhalb dieses Rahmens in den letz-ten 50 Jahren
eine erstaunliche Dynamik vonstatten.
So ist die Hauptschule nicht mehr die Schule des Volkes. Während 1950 noch
über 80 % eines Altersjahrgangs nach der gemeinsamen Grundschulzeit die
Volksschuloberstufe, die spätere Hauptschule, besuchten, sind es heute nur
etwas mehr als 20 % im Durchschnitt.
Weiterführende Schulen wie Gymnasien (32 %) und Realschulen (26 %)
werden dagegen von der Mehrheit der Schüler und Schülerinnen besucht. Auf
Schulen mit mehreren Bildungsgängen gehen knapp 10 % und auf Integrierte
Gesamtschulen etwas mehr als 10 %.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erst mit dem „Sputnik-Schock“ 1959 setzt eine weltweite Bildungsdebatte ein, da mit
der vermeintlich nachlassenden technologischen Innovation im Westen ein Qualifika-
tionsdefizit ausgemacht wurde.
Aus ökonomischen Gründen wurde ebenso ein höheres Qualifikationsniveau gefordert
wie aus demokratischen Ansprüchen – ‚Bildung ist Bürgerrecht’ (Ralf Dahrendorf).
Aufgeschreckt durch statistische Untersuchungen über den relativen Schulbesuch im
Verlauf der fünfziger Jahre sollten die brachliegenden „Begabungsreserven“ für höhere
Schulabschlüsse genutzt werden, um die drohende „Bildungskatastrophe“ (Georg
Picht) abzuwenden.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Empirische Schulforschung der 60er Jahre machte Diskriminierungen im
bestehenden Schulsystem deutlich. Benachteiligt waren Mädchen, Kinder aus
ländlichen Gegenden, katholische Kinder und Jugendliche und Arbeiterkinder.
Aus diesen Benachteiligungen setzte sich die Kunstfigur des Objekts schul-
politischer Reform zusammen:
das katholische Arbeitermädchen vom Land.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Seit den Zeiten der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre ist das
katholische Bildungsdefizit ebenso verschwunden wie der Bildungsrückstand
von Mädchen.
Die regionalen Unterschiede der Bildungsbeteiligung sind weiterhin abhängig
vom jeweiligen Schulangebot.
Die Bildungschancen von Kindern mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund
haben sich insofern verbessert, dass heute ein Arbeiterkind bei gleicher
Intelligenz zwar immer noch eine vierfach geringere Chance hat, ein
Gymnasium zu besuchen als ein Kind aus der Mittel- und Oberschicht, aber im
Vergleich zu den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland, in denen
allenfalls eines von Hundert Arbeiterkindern die Reifeprüfung ablegte, ist auch
hier ein, wenn auch geringerer Fortschritt zu verzeichnen.
Die soziale Herkunft bestimmt also zwar nach wie vor die schulischen
Chancen und damit den späteren Lebensweg, aber nicht mehr in dem Ausmaß
wie vor der Bildungsexpansion Mitte des letzten Jahrhunderts.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Von Chancengleichheit kann daher immer noch nicht gesprochen werden. Eine
neue Symbolfigur für die Bildungsreform könnte heute der Stadtjunge mit
Migrationshintergrund und prekärem sozialen Status sein.
Schülerinnen und Schüler aller sozialer Gruppen besuchen zwar immer länger
weiterführende Bildungsgänge, aber das Verhältnis der sozialen Milieus bleibt
sehr stabil, die Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft ist weiterhin stark
ausgeprägt und erhöhte Bildungschancen brechen sich an verminderten
Berufs- und dann auch Einkommenschancen. Die Bildungsreform seit
Comenius, Rousseau, Humboldt und den Reformpädagogen wird also
weitergehen. Das aber ist Thema der nächsten Sitzung.
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Sehen Sie sich bitte den Ausschnitt aus Reinhard Kahls
Film „Treibhäuser der Zukunft – Im Focus 5 Lernende
Gesellschaft“ an und machen Sie sich bitte vor dem
Hintergrund des eben Gehörten Gedanken darüber, was
aus der Geschichte der Pädagogik zu lernen sein kann für
die Zukunft des Bildungswesens.