sequenzen und collaborations 2015 art brut passé?
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Herausgegeben von: Helmut Pum Atelier Diakoniewerk OÖ und Ferdinand Reisenbichler Kunstwerkstatt Lebenshilfe Gmunden OÖTRANSCRIPT
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Sequenzen und Collaborations 2015Art Brut pass?
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Foto: Anette Friedel
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Herausgegeben von:
Helmut PumAtelier Diakoniewerk O
und
Ferdinand Reisenbichler Kunstwerkstatt Lebenshilfe Gmunden O
Sequenzen und Collaborations 2015Art Brut pass?
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4 Foto: Anette Friedel
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Inhaltsverzeichnis
Helmut Pum Art brut pass? 6Ferdinand Reisenbichler Neue Updates sind verfgbar 9
Sequenzen und Collaborations 2015 10
25 KnstlerInnen : 400 m2 Raum
Teilnehmende KnstlerInnenGunter Zehetner, Heidi Zednik, Arno Wilthan, Sylvia Vorwagner, Jutta Steinbei, Florian Sedmak, Ferdinand Reisenbichler, Sigrid Reingruber, Christian Rebhan,Julia Rakuschan, Donna E. Price, Helmut Pum, Christian Mitterlehner, Hans Langner - Birdman, Eli Kumpfhuber, Franz Krumholz, Andreas Krtzl, Andrea Hinterberger, Gertraud Gruber, Anette Friedel, Bernhard Engljhringer, Sophia Beisskammer, Margarethe Bamberger, Anita Baier, Peter Assmann
Beitrge zum Projekt Sequenzen 2015 Heidi Zednik raum-bild-raum 24Donna E. Price raum 25Theresia Klaffenbck Der Workshop von auen gesehen 25Sylvia Vorwagner Sequenzen 2015 26Birdman Hans Langner 26
Fach- und GastbeitrgeMagorzata Bogaczyk-Vormayr Sequenzen-Begegnungen: Sigrid Reingruber 28Peter Assmann Die lange Spur der Art brut 31 Angelica Bumer Wenn man Kunst ernst nimmt 33Johann Feilacher Art brut noch aktuell? 34Robert Ritter-Kalisch Art Brut aus der Perspektive des Sozialmanagements 35
Knstlerische BeitrgeMarco Prenninger Portrtfotos 36Bernhard Engljhringer Sachenfinder 38Franz Petto Eating ART with a spoon 41
Biografien 42
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Helmut Pum Art brut pass?
Ansto fr diese Hinterfragung, fr die wir uns heuer anstelle des Mottos Zeitgenssische Kunst trifft Art brut entschieden haben, war eine Rckmeldung aus der obersterreichischen Museums-landschaft, dass Art brut in einer weiteren perspektivischen Muse-umsplanung und Strategie keine wesentliche Rolle mehr spielt. War dies im ersten Moment irritierend, da bis dahin noch der Aufbau einer Art brut-Sammlung initiiert war, so stellte sich bei nherer Be-trachtung eine Loslsung und Befreiung einer Befangenheit heraus, die eigentlich zum Vorteil und zur Neuorientierung aller Beteiligten fhren knnte. Die Befangenheit ist die bis dahin zu einfache For-mel Art brut = Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung und die Orientierung, wie diese in der offiziellen Kunstlandschaft integriert werden knnte. Bezogen auf die knstlerischen Inhalte war nicht so sehr die Frage Was ist es? sondern mehr die Frage Was knnte es ntzen? im Vordergrund. Dies waren nicht die rich-tigen und zutreffenden Voraussetzungen, um in einem freien Spiel der Wertigkeiten einen Konsens zwischen Sozialeinrichtungen, die Kunst und Knstler frdern, und der Kunstffentlichkeit zu erreichen und natrlich noch weniger, einzelne Knstler zu positionieren.Unter anderem ist die hier aufliegende Broschrenreihe Sequen-zen, die in einjhrigem Rhythmus nun im Jahre 2015 zum zweiten Mal erscheint, als dasjenige Medium gedacht, sich immer auf der Basis eines durchgefhrten knstlerischen Projektes mit den ver-schiedensten Themen, Fragen und Problemstellungen, die aus die-sem Kontext heraus entstehen, kritisch zu beschftigen.
Grundprinzipien von Art brutVon Arnulf Rainer, einem Knstler, der wahrscheinlich nicht nur die essentiellste Art brut-Sammlung besitzt sondern sich auch in sei-ner eigenen knstlerischen Arbeit mit dem Phnomen Art brut be-schftigt, gibt es dazu, fast wie ein Krzestresmee seiner eigenen Kunstauffassung, folgende bemerkenswerte Aussage (aus AN-DERSWO, Seite 71, von Herbert Brdl): Und dieses Bild spricht zu mir, sagt aber nicht irgend etwas ber das Wetter oder ber die Zukunft, sondern welche Farbe es verlangt und wo und wie. Das ist alles. .
Das Wo und das Wie sind hier, zusammenfassend betrachtet, die entscheidenden Gestaltungskriterien, auf die alles rckgefhrt wird. Mit dem Vokabular des Mediums Zeichnung gesprochen, heit das, dass die Position (Mitte, links unten, am Rand, etc.), die auf einem Blatt Papier eingenommen wird, und die Art der Bewegung (schraffierend, schnell, ruckartig, spiralfrmig, etc.), die durchge-fhrt wird, die einzigen Kriterien sind, die hier angewendet werden. Position und Bewegung sind in einem ununterbrochenen und aus-schlielichen Wechselspiel. Es kommt nichts zum Wo und Wie dazu. Es ist nichts vorher und es ist auch nichts nachher. Der Urheber wei selbst nicht, wo eine Linie, die er zu ziehen beginnt, hinfhren wird. Er hat die Freiheit seiner Entscheidungen, aber die berraschung seiner Entscheidungen von einem Moment zum anderen ist auch fr ihn permanent. Er nimmt alles nur und immer wieder im Jetzt wahr. Das ist allesEs gibt keine Vor-Bilder und keine Traditionen, an denen man sich orientieren knnte, wie es auch Johann Feilacher in seinem Artikel Art brut noch aktuell? als Kennzeichen fr Art brut thematisiert.Im Bild von Sigrid Reingruber scheinen all diese Eigenschaften erfllt und es ist auch kein Ende im Bild in Sicht. Warum es also genau hier beendet wurde, ist aus gestalterischen Grnden nicht erklrbar. Ein uerer Grund (Kaffeepause?) ist wahrscheinlicher, als ein reflektiver Stopp mit dem Betrachtungskriterium von Kunst-mastben. Es stimmt also auch nicht, dass ein Knstler nur dann als vollwertig gilt bzw. ein Bild nur dann Kunstanteil besitzt, wenn der Urheber einen eigenen Mastab fr die Beendigung seines Bil-des hat und auch selbst ein Ende setzt, wie es vielmals von Kunst-kritikern erwartet wird. Benennbare eindeutige Qualittskriterien in dieser Phase sind nicht eruierbar, knnen nur annherungsweise mit Authentizitt, Originalitt, Ausdauer, Konsequenz und hnlichem beschrieben werden. Die Intensitt der Vorgehensweise kann dazu fhren, dass der Urheber nach dem (Zwischen)stopp und vor einem neuerlichen Einstieg in den Prozess erkennt, dass er sich in einem Neuland befindet bzw. befunden hat. Im Sinne von Sigrid Reingruber und ihrer autistischen Veranlagung muss man es eventuell umge-kehrt definieren: Wenn sie ein Bild beendet, befindet sie sich in ei-nem fremden Land und sucht und sehnt sich wieder in ihren Prozess, in ihr Ursprungs- und Heimatland zurck.
Eine andere Mglichkeit, aber mit den gleichen Kriterien des Wo und Wie, die aber nicht primr in der Gestaltung, sondern indirekt auf bestehende Denk- und Vorstellungsebenen angewandt werden und diese mit neuen kombinieren bzw. neue entstehen lassen, zeigt DIE 3MINUTEN ZEICHNUNG von Marco Prenninger.Hier sind Bild und Text im Spiel. Und konzeptuelle oder vielmehr prak-tische und auch spielerische berlegungen. Aber nicht im Gestal-tungsprozess direkt werden diese eingesetzt, sondern als Rahmen-bedingung. Marco Prenninger zeichnet oft mit einer deadline. Das heit, er steht auf, schaltet die Kaffeemaschine ein und fngt an zu zeichnen. Er wei, dass er aufhren wird, will und muss, sobald der Kaffee fertig ist. dann ist schluss. dann wird cafe getrunken. Er setzt sich Zeitlimits, um gar nicht den denkprozess starten zu kn-nen. Das erscheint auf originelle Weise widersprchlich, da ja ge-nau damit Wrter, Begriffe und Bildtitel entstanden sind.Eine klassische Konzeptumsetzung kann man mglicherweise daran erkennen, dass am Gestaltungsende die konzeptuelle Anfangsidee sichtbar bleibt und die bestmgliche adquate Umsetzung ange-strebt worden ist. Bei der Zeichnung von Marco Prenninger erscheint es, wenn man jetzt seine Herangehensweise mit einbezieht, nun einerseits irgend-wie logisch und folgerichtig, dass er whrend dem gleichzeitigen Zeichnen und Warten auf das weich gekochte 3 Minuten Ei zu
Sigrid Reingruber
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dem Ergebnis der 3MINUTEN ZEICHNUNG hat kommen mssen und andererseits ist es aber auch berraschend und nicht vorhersagbar, dass es genau dazu gekommen ist.
Bild und TextBild und Text waren auch bei Sequenzen 2015 eine Vorgabe, mit der freien Mglichkeit, diese aufzugreifen, angeregt auch durch ein parallel laufendes Ausstellungs- und Buchprojekt Schreiben, an-ders? von Peter Assmann im Stifterhaus in Linz. Kombinierte Bild- und Textgestaltungen kommen sowohl in der freien Kunstszene als auch bei KnstlerInnen in Ateliers der Sozialeinrichtungen vor. So liest man zum Beispiel bei Heinz Frieder Adensamer einem Knst-ler des Ateliers des Diakoniewerkes Obersterreich Bildtitel wie Heinz Frieder kauft sich ein armes Wrstchen. Es ist viel weniger die Reflexion, die diese Titel ermglicht, als vielmehr die Unbekm-mertheit des Wechselspieles einer Realebene mit einer (ebenfalls realen!) Gestaltungsebene, die diese Titel passieren lsst. Damit kann man auch der Reflexion den ausschlielichen Nimbus nehmen, vermeintlich fr Wort- und Begriffschpfungen hauptverantwortlich zu sein. Und auch den Vorbehalt, Kreativitt und Kunst reflektiv er-klren zu mssen.Umgekehrt gibt es aber auch in den Ateliers der Sozialeinrichtun-gen Knstler, die vorrangig mit Reflexion in Richtung Konzeptkunst arbeiten. So hat der leider schon verstorbene Knstler, Schau-spieler und Politiker Thomas Phringer viele Jahre lang ausschlie-lich Sessel gezeichnet und davon Drucke angefertigt. Drucke zum Beispiel mit der Anzahl der Sitze im obersterreichischen Landtag. Fr Thomas Phringer waren Sessel das Symbol fr einen politi-schen Sitz. Als Mensch mit Down-Syndrom war ihm eine offizielle
Marco Prenninger, DIE 3MINUTEN ZEICHNUNG
politische Funktion verwehrt. Er plante und setzte seine Ausstellun-gen deshalb nicht in Galerien, sondern vorrangig in politischen Hu-sern, wie etwa dem Landhaus in Linz um. Dabei ntzte er sein emo-tionales Gespr und organisatorisches Talent genauso aus wie die zufllige Namensgleichheit mit dem Landeshauptmann von Ober-sterreich, Dr. Josef Phringer, und erstellte ein knstlerisches/politisches Konzept, den Phringerismus, als sein Vermchtnis. Bei der Vernissage im Bro des Landeshauptmannes nahm er dann auch den langersehnten und konsequent angestrebten Landes-hauptmannsitz ein.Zusammenfassend soll hier gesagt sein, dass es in Folge keinen Sinn mehr ergeben wird, einer bestimmten und mit Behinderungen zugeordneten Personengruppe, einen Kunststil, sei es Art brut oder Konzept, mehr als anderen zu- oder abzusprechen.
400 Quadratmeter RaumHauptthema und Medium bei Sequenzen 2015 war ein etwa 400 Quadratmeter groer Raum im Papiermachermuseum Steyrermhl in Obersterreich. Die Idee zum Raum und die kreative Vorbereitung dazu, die sich bereits auf viele verschiedene Kunstprojekte sttz-te, die sich im Besonderen immer in der Weise unterschieden, ja nicht mit dem vorherigen ident zu sein, kam vom Kunsthausherrn, Leiter und Antipolitiker der Kunstwerkstatt Lebenshilfe Gmunden O, Ferdinand Reisenbichler (Frage an ihn zur Landtagswahl: Wen whlst du? Antwort: Ich whle den Freitod erscheint mir zu-kunftsorientiert und ist kostengnstig!).Der leere und ungestaltete Raum am Anfang, genauso faszinierend wie der gestaltete und chaotische zum Schluss, war nun Medium fr 25 TeilnehmerInnen fr den Zeitraum von 5 Tagen. Da es kei-ne geplanten und unter allen TeilnehmerInnen abgesprochenen Vorgaben gab einige meinten jedoch, es wre abgemacht, jeder knnte tun, wie er/sie will, was sich ja aber von den Nichtvorga-ben nicht wirklich wesentlich unterschied war nun jeder gefordert, im Raum Position zu beziehen. Oder diesen wieder zu verlassen. Einige begannen sofort im Raum zu gestalten, andere erst am zweiten oder dritten Tag, und wiederum andere die ganze Woche nicht, beziehungsweise ntzten vorrangig einen Nebenraum. Erst-interventionen und dies waren Bild und Text in gleichwertigem Ausma waren genau so spannend, schwierig oder locker, wie Anknpfungen an Bestehendes, ob dies nun von einem selbst oder von einem anderen kreiert worden ist. Die immer mehr werdende Flle erregte genau so Platzangst wie Lust am Transformieren. Der vermeintlich rote Faden im Verlauf des Projektes, der von vielen in-dividuell und instinktiv gesucht wurde, wurde gesponnen: partiell etwa durch einen gemalten Stacheldraht, der alles einzuschrnken und einzusperren gedachte oder als langgezogener Satz ein gro-er Raum macht weite Wege, der sich gerade noch zwischen der immer grer werdenden Flle an Gestaltungen durchschlngelte Jede Entwicklungsphase des Raumes ein neuer Ansatz, eine neuer Weg Chaos pur, aber alles mglich.
Art brut, Kunst und Image in den Sozialeinrichtungen Interne Betrachtungen!Kunstwerksttten in den Sozialeinrichtungen unterliegen den ge-gebenen immanenten Strukturen. Was es naturgem fr eine Werkstatt, die Kunst schafft, braucht, wird in den verschiedenen Sozialeinrichtungen unterschiedlichst gelst. Je nachdem, welche Bedeutung Kunst gegeben wird und in welcher Ebene der persn-lichen Verantwortungsstrukturen die Entscheidungen fallen, prgt sowohl das interne Kunstschaffen, als auch die externe ffentlich-keitsarbeit inklusive der Imagearbeit der Sozialeinrichtung. In die-sem breiten Strang der Zusammenarbeit tauchen mehrere kritische
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Pum, Pum
Schnittstellen bzw. Themen auf, die hier kurz aufgegriffen werden sollen.Die KnstlerInnen der Ateliers, also die Menschen mit mehr oder weniger Behinderung, die in den Sozialeinrichtungen ihre Arbeits- und oft auch Lebensgrundlage haben, sind in der Regel besachwal-tet. Dies heit in der Praxis, dass existentielle Entscheidungen von einem Sachwalter mit beeinflusst, aber auch mitgetragen werden mssen. Das Urheberrecht an einem Kunstwerk unterliegt hier aber einer groen, und auch berechtigten, Ausnahme. Geistiger Urhe-ber an einem Kunstwerk ist ausschlielich, und unabhngig von einer wie auch immer genannten Behinderung oder persnlichem Zustand, derjenige, der das Werk geschaffen hat, was im Wesent-lichen zwei Dinge gewhrleistet: das Recht der urheberrechtlichen Namensnennung in Bezug auf das geschaffene Werk, und das Recht zu entscheiden, was mit diesem Werk passiert, ob es etwa nach Auen gehen soll. Dies gilt in gleicher Weise fr eine Schenkung, Verkauf oder auch Nutzung durch ein anderes Medium, zum Bei-spiel als Sujet auf einem Werbeplakat oder fr die Imagewerbung einer Firma oder der Sozialeinrichtung selbst, in der der Urheber lebt.Einige Sozialeinrichtungen haben auch eigene Vertrge erarbeitet, die dem Urheber diese zwei vorhin erwhnten grundlegenden Rech-te zustzlich sichern, denn genaugenommen sind diese schon fr alle Menschen im Urheberrechtsgesetz, in diesem Fall dem sterrei-chischen, inkludiert.Die nchste kritische Schnittstelle sind die direkten Betreuungs-personen und Angestellten in einer Sozialeinrichtung, im Beson-deren innerhalb eines Ateliers. Die wenigsten Sozialeinrichtungen besetzen diese Posten offiziell mit Knstlern und schaffen Bedin-gungen, die einem knstlerischen Output (hier ausschlielich ge-meint in Bezug auf die Menschen mit mehr oder weniger Behinde-rung die einen knstlerischen Arbeitsplatz im Atelier besetzen und nicht die Angestellten mit einer knstlerischen Qualifizierung) in al-len Belangen entgegenkommen. Dies betrifft die knstlerische Be-gleitung genauso wie die kuratorische Ttigkeit bei einer Ausstel-lungsgestaltung und die umfangreiche Kunstvermittlungsttigkeit. In der Regel ist die Bedingung fr ein Angestelltenverhltnis in ei-nem Atelier eine pdagogische Ausbildung, da dieser Arbeitsplatz nur dann gewhrleistet werden kann, wenn er durch Taggelder vom Land finanziert wird. Dass in vielen Ateliers nun Angestellte arbeiten, die in beiden Bereichen, Pdagogik und Kunst, mehr oder weniger
eine Ausbildung und eine Berufsbefhigung haben, ist als offizielles Aufnahmeverfahren nicht nachweisbar und klar deklariert, sondern knpft an eine sich irgendwie ergebende Idealerwartung an. Das Er-wartete und die inhaltlichen Grundlagen sind dann halbwegs ab-gedeckt, eine definitive formale Basis eines Kunstarbeitsplatzes ist aber im Graubereich.Hier entsteht aber auch eine weitere kritische Schnittstelle. Erfllt das Atelier einen Kunstauftrag, zum Beispiel Kunst am Bau, ent-stehen unter Umstnden Doppelurheberschaften, das heit ein An-gestellter einer Sozialeinrichtung erlangt Urheberschaftsrechte und in Folge auch Nutzungsrechte, und dies alles eventuell innerhalb der Angestelltenarbeitszeit. Ohne jetzt aber diese Thematik weiter bemhen zu wollen, gibt es hier, vom Gesetz empfohlen, eine einfa-che Mglichkeit, nmlich sowohl Auftrag als auch Nutzung im Vor-hinein abzusprechen und zu vereinbaren und nur bei gegenseitigem Einverstndnis umzusetzen.Eine weitere und sehr komplexe Schnittstelle entsteht letzten Endes auch, wenn eine Sozialeinrichtung Kunstwerke der KnsterInnen aus dem eigenen Atelier fr die Imagewerbung des Unterneh-mens verwenden will. Zum Einen wird hier sehr oft bersehen, dass es wichtiger wre, die Kunst vorrangig spezieller einzelner Knst-lerInnen des Ateliers, die mit ausreichender Qualitt und eigener knstlerischen Sprache behaftet sind, mit kritischer Auseinander-setzung vorerst im Kunstbereich zu positionieren. Und nicht das Bild schon vorweggenommen zu bentzen, fr Zwecke, fr die es zwar unter Umstnden thematisch passen knnte, ursprnglich aber nicht dafr gemacht wurde.Image, vom knstlerischen Standpunkt aus als Wirklichkeitsebene betrachtet, hat keinen eigenen Selbstbezug, sondern mchte eine andere Wirklichkeit, Kunst oder bestimmte Themen bearbeiten, in welche Richtung und mit welchem gutgemeinten Wollen auch immer. Imagearbeit in Bezug auf Kunst ist an und fr sich ein Widerspruch.Servicearbeit wre besser. Das heit nicht, dass Imagearbeit zu vie-len Themen, die eine Sozialeinrichtung und auch einen Urheber von Kunst betreffen, nicht sinnvoll und notwendig und Zusammenarbeit in der passenden Konstellation mglich und erwnscht wren. Sie treffen sich im Begriff der Freiheit. Leitprinzipien wie Wrde, Selbst-bestimmung, Inklusion und Gerechtigkeit weisen darauf hin. Image hat keinen Selbstzweck, aber es kann Rahmenbedingungen bearbei-ten, damit Kunst lebbar wird.
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Ferdinand Reisenbichler
25 KnstlerInnen aus der zeitgenssischen Kunst und der Art Brut 400 m2 Gestaltungsflche 1 Woche im Groraumatelier eine immer wieder neue und wirkungsoffene Erfahrung in al-len Bereichen des Zusammenlebens, Zusammenarbeitens, im Bereich Abgrenzung und ffnung bezugnehmend auf die ei-gene knstlerische Arbeit, im Bereich Arbeitsrhythmus und Ar-beitstempo, Organisation der eigenen Bedrfnisse, der Rume und Freirume und des knstlerischen Selbstverstndnisses.
Jedes Sequenzen-Projekt unterscheidet sich vom vorhergehenden in wesentlichen Punkten. Die Grundstruktur des aktuellen Projekts wird aus gelebten Erfahrungen gespeist. Sequenzen ist ein Reality Space, um die Grenzen, aber auch die Mglichkeiten des Knstler-seins und des Kunstprojekts auszuloten, den Art-Brut-Begriff zu hinterfragen, reale Erfahrungen zum Thema gleichberechtigte Teil-habe, knstlerische Augenhhe, Mitsprache, eigenverantwortliches Handeln und Selbstorganisation in der Praxis zu erleben und fr die vielen Fragen, die sich in unserer tglichen Arbeit im Atelier inner-halb einer Sozialeinrichtung stellen, Antworten oder neue Fragen zu finden.
DAS SELBSTVERSTNDNIS, KNSTLER.IN ZU SEIN . . .Im Atelier der Lebenshilfe arbeitet jede/r KnstlerIn auf ihrem/seinem individuell gestalteten Platz an ihrem/seinem selbstge-whlten Projekt. Die Logistik ist klar, die knstlerische Sprache selbstgewhlt und die zeitliche Struktur sowie die Atelierregeln ver-innerlicht. Der Atelierleiter hlt sich aus der knstlerischen Arbeit soweit als mglich heraus, ist aber jederzeit als Ansprechpartner verfgbar. Wenn thematische Ausstellungen oder Auftragsarbeiten anstehen, werden gezielt Gesprche mit ausgewhlten Ateliermit-gliedern von Knstler zu Knstler gefhrt und ausgelotet, ob und wie ein Beitrag dazu inhaltlich und technisch gelst werden kann. Im Atelier arbeiten ausschlielich KnstlerInnen und machen indivi-duelle Kunst. Fr alle Beteiligten ist klar: Ich bin ein(e) KnstlerIn!
. . . IST PRAKTISCHE ENTWICKLUNGSARBEITIm Projekt Sequenzen werden die Sicherheiten und Automatis-men des Atelierbetriebs in Frage gestellt. Die Konditionierung des Ateliers wird erschttert und durch einen riesigen Freiraum er-setzt. Hier ist Selbstorganisation angesagt: Wo platziere ich mei-nen Schlafplatz? Welche Materialien verwende ich? Arbeite ich al-leine oder suche ich die Zusammenarbeit mit anderen KollegInnen? Wie bringe ich mich im groen Raum ein und womit bringe ich mich ein? Wie reagiere ich auf bereits vorhandene Gestaltungen? Wann stehe ich am Morgen auf? Wann mache ich Pause? Wie lange arbeite
ich heute? Was tue ich in meiner Freizeit vorort und was ist eigent-lich Freizeit? Auf welche Gesprche lasse ich mich ein? Frhstcke ich um 8 Uhr morgens mit der Gruppe oder schlafe ich bis 10 Uhr und organisiere mir dann das Frhstck selbst? Wie weit kann und will ich mich auf die Gruppendynamik einlassen? Was heit es, sich Zeit fr sich zu nehmen und wie stelle ich das an? Wie reagiere ich auf berarbeitungen und Weiterbearbeitungen meiner Gestaltung im groen Raum? Wie fhle ich mich als KnstlerIn, wenn meine Ge-staltungsbeitrge in der Gesamtgestaltung untergehen? Viele, viele offene Rume, offene Fragen. Mglichkeit und Notwendigkeit, sich als Mensch und KnstlerIn neu zu definieren.
Der Atelierleiter fllt in dieser Zeit aus er arbeitet als Logistiker, Knstler, Fotograf und Filmer, Facebooker, Essenseinkufer, Abw-scher, Koordinator, Kontaktperson zum Museum! Damit fehlt die primre Bezugsperson und ein groer Teil der Routine-Sicherheit geht verloren. Die anderen KnstlerInnen aus dem zeitgenssi-schen Kontext wissen, was sie wollen und wenn der eine oder die andere in einer Schaffenspause in eine Betreuerrolle fllt, wird dies umgehend unterbunden.
Um in einer Gruppe mit einem klar deklarierten Auftrag einen Platz zu finden, muss das Selbstbewusstsein gestrkt und die eigene Rolle definierbar sein. Ein gertteltes Ma an sozialen Fhigkeiten ist unabdingbar, um gut durch diese Woche zu kommen und dann das Gefhl zu haben: ICH BIN EIN TEIL EINER GEMEINSCHAFT ICH LEISTE EINEN WERTVOLLEN BEITRAG WAS ICH TUE, MACHT SINN ICH BIN KNSTLER.IN, WIR SIND KNSTLER.INNEN Die wichtigste Erfahrung ist das WIR-Erleben, die Erkenntnis, dass ich (als Mensch und KnstlerIn mit Behinderung) in der Gesellschaft als KnstlerIn, ber die Grenzen der Institution hinaus, verortet und anerkannt bin.
Die Sequenzen sind ein soziales und knstlerisches Experimentier-feld. Alle TeilnehmerInnen haben in dieser Woche Grenzerfahrun-gen gemacht es gab Diskussionen ber Grenzberschreitungen im knstlerischen Bereich, Auffassungsunterschiede im Bereich der gleichberechtigten Zusammenarbeit von zeitgenssischen Knst-lerInnen und Art-BrutlerInnen, Versorgungswunschdifferenzen, logistische Hrden, inhaltliche Unstimmigkeiten Alle Probleme wurden angesprochen, ausdiskutiert, einer Lsung zugefhrt oder zumindest soweit begradigt, dass das bergeordnete Ziel: die ge-meinsame Gestaltung von 400 m2 Kunst inklusive Vernissage nicht darunter litt. Es gab berwiegend viele Momente des Einklangs und der absoluten Gleichberechtigung und viele Erfahrungen, die das KNSTLER.INNEN-SEIN bestrkten und auf eine neue und erweiter-te Basis gestellt haben. Bei der Vernissage war es fr keine/n Teil-nehmerIn notwendig, auf die eigene Arbeit hinzuweisen, da jede/r seinen/ihren Teil zur Gestaltung beigetragen hat. Das knstleri-sche Selbstverstndnis hatte sich von ICH-KNSTLER.IN zum WIR-KNSTLER.IN gewandelt und damit auch die Einschrnkung durch den Art Brut Begriff unwirksam gemacht.
Mit diesen Erfahrungen und mit einem vernderten Selbstbewusst-sein als KnstlerIn werden wir in die Art Brut-Planung der Se-quenzen 2016 gehen, um gemeinsam weiter zu forschen.
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parameterwenn der raum die collaboration istund der raum ist ein einziges groes bildund der boden ist teil vom bildund 25 knstlerInnen sind teil der collaborationund 25 knstlerInnen sind art brut knstlerinnen und die arbeit spannt sich ber 5 tage und 400 m2
die farben laut und grafischdie texte witzig, grob und philosophisch
aber nicht lnger als 7 tage dann ist die summeexperimental- kontemporr-rohart aber nicht brut.
wenn der arbeitsrahmen fr alle knstlerInnen so ist, wie oben beschrieben, wo beginnt man? wo hrt ein/e knstlerIn auf, der/die andere fngt an? lsst man die arbeit von einem/einer anderen knstlerIn unberhrt oder bermalt man sie, ergnzt sie, lscht sie, ndert sie macht sie zu seiner eigenen? wenn es keine richtlini-en gibt, nach welchen richtlinien malt, zeichnet man? erfindet man die richtlinien mit der zeit, je nach herausforderungen, kompromiss und verstndnis? redet man miteinander whrend der arbeit oder lsst man sich in ein loch fallen, wie Alice im Wunderland, um in eine fantastische welt zu kommen? ist diese andere welt ein ort von un-editierter kreativitt? gibt es eine rolle fr einen editor oder negiert das die evolution von collaboration? welche grenzen werden ber-schritten, wenn ein/e professionelle knstlerIn die arbeit von ei-ner art brut knstlerIn editiert art brut knstlerInnen, die vollzeit- berufsknstlerInnen sind. gibt es berhaupt einen knstlerischen unterschied oder ist der unterschied nur eine analytische perspek-tive? ich merke nicht, ob die knstlerIn, die neben mir arbeitet, art brut knstlerIn ist oder nicht; die frage ist irrelevant. ich merke: die art brut knstlerInnen sind vorsichtiger, in die collaboration ein und auszuspringen, oft warten sie auf eine einladung. ist es die gre vom raum-bild oder sind sie einfach in ihrer eigenen visuellen welt fokussiert und brauchen eine erinnerung an eine andere welt?
7 tagefragen bestimmen den ersten tag (zu viel zgern).
ich bin eine individuelle knstlerin in einem weiem raum mit leisen texten. ich dokumentiere. mitten in der collaboration, mitten im raum arbeite ich an meinen eigenen stcken. ich fo-kussiere, ich bermale den text eines anderen knstlers.
analyse und abgrenzungen bestimmen den zweiten tag (zuviel denken).
ich will nicht so viel denken, ich will malen. ich argumentiere zurck. ich hr auf, an meinen eigenen werke zu arbeiten; ich arbeite nur am collaborativen bild. ich arbeite unzensiert. alle malen, zeichnen, schreiben unzensiert. ich berlege, ob wir nicht alle art brut-knstlerInnen geworden sind. es gibt keinen unterschied zwischen text und bild, keine abgrenzung zwischen raum und bild. ich hr auf, zu dokumentieren.
das raum-bild bernimmt den dritten tag (jetzt geht es ums wellenreiten).
das bild ist unter-ber-um mich und spricht ununterbrochen. ich hr zu und zeichne, hr zu und male, hr zu und schreibe. berauscht von farbe und linie. eine trance, von der ich selten aufschaue.
Heidi Zednik raum-bild-raum sequenzen 2015
sttigung und chaos fhren zur collaborativen erschpfung am vier-ten tag (zurck ziehen, berlegen zu editieren).
meine rolle ndert sich, ich fang an zu editieren. ich denke nicht darber nach, von wem ich die arbeit editiere, lsche, berma-le. es gibt keine unterschiede unter den arbeiten der knstle-rInnen. der raum wird mein bild und ich arbeite nach meinen mastben. ich vermute es, es ist gleich fr die anderen knst-lerInnen.
editieren schrft den fnften tag (das bild ist ein einzige werk).der raum wird scharf eingestellt. ein konstantes ausbalancie-ren, umjonglieren. das bild ist massiv, wie der Mississippi-fluss, langsam, selbstbewusst fliet er ber wnde, boden. immer weniger knstlerInnen arbeiten im raum. es wird ein gesprch zwischen dreien, dann zweien, dann einem.
erffnung am sechsten.wie beschreibt man einen raum, der eine collaboration ist, der das bild ist? leichtsinnigkeit und aufregung kommen auf, als be-sucher tausende bilder und wrter im raum-bild finden.
(ab)schluss am siebten. verwunderung, dass so ein monumentales werk temporr sein kann. ahh, das ist es aber nicht.
Heidi Zednik
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Der Raum war milchwei, ein leeres Gef. Pltzlich begannen Sachen an den Wnden und am Boden aufzutauchen. Linien wuch-sen, Formen erschienen, Vgel flogen und Wrter wurden geschrieben. Der Raum forderte viel von den TeilnehmerIn-nen. Hemmungen fielen weg und alle malten, zeichneten und komponierten Gedanken, ohne zu zgern. Wie eine Blume, die im Zeit-raffer erblht, fllte sich der Raum schnell mit Farbe, Bildern und einem Bewusstseins-Strom von Gedanken.
TeilnehmerInnen kamen und gingen, flossen in und aus dem Raum, als ob sie einen Gar-ten pflegten. Der Raum brauchte stndig Auf-merksamkeit und wir alle wechselten uns ab mit kreativen Beitrgen.
Am Ende der Woche hat sich eine Geschichte gebildet keine lineare Geschichte, aber ein kollektives Bewusstsein von Ideen, Impul-sen und Bildern. Der Raum war lebendig und summte mit kreativen Ausdrcken.
Donna E. Price
Sequenzen als Ganzes waren bei der Vernissage zu sehen.Genauer hinsehen, dann waren die unterschiedlichen Sequenzen von Knstlerpersnlichkeiten zu erkennen. Und das Ganze? Steht das Ganze vor dem Einzelnen, vor der kleinen Einheit, einer Szene, die jemand sehr individuell geschaffen hat, oder der ganze beeindruckende Raum?Es ist wohl die Schaffensatmosphre, die verbindet und die sich dem Besucher des Ganzen nicht gleich zeigt. Somit ist das eine Aufforderung zum Hinschauen, zum genauer Hinschauen, um die Spuren der verschiedenen Knstler zu finden.Mit und in dieser Suche entdecken sich Schriften und Farben gleich.Die Grenzen der unterschiedlichen Persnlichkeiten sind fast nicht auszumachen. Das Geschriebene, das Gezeichnete hlt das leicht aus, wie ist es mit den Personen, die dahinterstehen? Da es Teil des Konzeptes zum Workshop war, ist das wohl kein Pro-blem. In dem bereinander, Nebeneinander, Quereinander gilt es, das individuelle knstlerische Schaffen neu zu sehen. Die ureigene Darstellung einer individuellen Knstlerpersnlichkeit lsst sich ein auf das, was eine unbekannte Persnlichkeit dazu, dagegen, dar-ber, darunter setzt.Gibt das neuen Anreiz? Entsteht Kommunikation? Lernt jemand von dem daneben, von dem darunter?Was auch immer: Alles scheint die Befugnis zu haben, da zu sein.Da zu sein mit jedem besonderen Strich, den der Knstler setzt. So sind es Handschriften, die zu sehen waren, manche Handschrift zeigt Wrter, Wellen, Dinge oder Farbe.Diese Schriften zu lesen, scheint mir eine genauso individuelle Aufgabe, wie das Schreiben. Ob darber gesprochen werden soll/muss, bleibt jedem, Knstler oder Betrachter, selbst berlassen.
Theresia Klaffenbck Sequenzen der Workshop von auen gesehen
Heidi Zednik
Donna E. Price
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Man stelle sich eine riesige leere Halle vor, ausgelegt mit weien Planen.Ein Gefhl der Leere und der Einsamkeit.
Die Knstler beginnen ihre Botschaften und Zeichen zu hinterlas-sen.
Es beginnt zu flieen, Gedanken werden mit Bildern verbunden.
Am Ende der Woche ist man derartig in einen Prozess eingebunden, dass esschwerfllt, auch nur eine kleine Stelle der Halle unbedeckt zu lassen.
Es entsteht eine Gesamtkomposition aus Gefhlen, Gedanken und Verbindungenalleranwesenden Knstler.Die Halle ist kathedralenhaft, kraftvoll und warm.
Sylvia Vorwagner Sequenzen 2015
Sequenzen ist fr mich seit Jahren eine groe Bereicherung mei-nes knstlerlerischen Schaffens. Sobald die jhrliche Aktion ab-geschlossen ist, freue ich mich schon wieder auf das nchste Jahr. Dieses Mal war es wieder besonders intensiv...
Da ich ein groer Freund von Gemeinschaftsarbeiten bin, war ich vom ersten Moment an von der Gre des zu gestaltenden Raumes begeistert. Das Potenzial eines gigantischen Grokunstwerkes be-geisterte mich. Eine fast unendlich gro erscheinende weie, zu ge-staltende, raumumspannende Folie stand zur Verfgung, fr jeden Knstler ein wahres Paradies. Sofort waren bei mir alle kreativen Kanle geffnet, besonders mit der Information, dass wir machen drfen, was wir wollen. Mit groem Pinsel habe ich mich sofort ans Werk gemacht um die ersten Vgel im Raum ankommen zu lassen. Ein erster Vogelschwarm entstand aus schwarzen groen Vgeln.Kurz vor der Woche in Steyrermhl war ich Artist in Residence in Lagos/Portugal im LAC www.lac.org.pt.
Das LAC hat seine Rumlichkeiten in einem stillgelegten Gefngnis. Das war auch der Grund, mich in Lagos zu bewerben, da ich mich seit Jahren mit dem Thema Gefangenschaft knstlerisch auseinan-dersetze. Ich habe mich vor Ort fr 48 Stunden in einer Einzelhaft-zelle einsperren lassen. Diese 48 Stunden habe ich intensiv genutzt, Gefangenschaft zu reflektieren. Der Bericht ist auf Facebook unter uncagement zu lesen.
Ich war whrend der Zeit in Steyrermhl noch intensiv mit der Ge-fangenschaft beschftigt, jede meiner Zellen war noch vom Schmerz des Mitgefhls fr Gefangene erfllt. Eines Nachts waren bis auf Helmut und Bernhard schon alle zu Bett gegangen. Die Ruhe der Nacht lie uns ohne Ablenkung kreativ sein.
Einige Bemalungen und Texte der anderen Kuenstler haben im Raum bereits waehrend der letzten Tage ihren Platz gefunden. Ich habe mir vorgenommen, Interventionen zu den Arbeiten in dieser Nacht zu machen. Unter anderem inspirieren mich zwei auf den Bo-den gemalte Tiere. Mit schwarzer Farbe umrande ich sie mehrmals. Das Umranden entwickelt sich beim Malprozess zu einem Einzaeu-nen. Ploetzlich breitet sich das Gefuehl der Gefangenschaft wieder sehr intensiv in mir aus. Grenzen, Unueberwindbarkeit, Ausgelie-fertsein, Enge, Unfreiheit. All dies fuehrt dazu, dass ich den Einfall habe, einen Stacheldraht als naechste Umrandungslinie zu malen. Ich habe noch nie Stacheldraht gemalt und es lag mir bislang fern, das je zu tun. Im Internet recherchiere ich, wie man Stacheldraht malt, es sieht ganz einfach aus. Ich beginne die beiden Tiere am
Birdman Hans Langner
Sylvia Vorwagner
Birdman Hans Langner
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Boden einzustacheln. Es entwickelt sich in rasantem Tempo das Ge-fuehl, alles einstacheln zu muessen, da ich bei meinem Gefangen-schaftsprojekt in Lagos festgestellt habe, dass es auf dieser Erde wahrscheinlich mehr Gefangene als freie Lebewesen gibt. Ich stelle mir die Frage, ob Kunst eigentlich frei ist oder ob auch sie Zwaen-gen und Grenzen unterliegt. Waehrend ich Stacheldraht male, tritt eine heftige Besessenheit ein, getrieben umstachle ich alles bereits Geschaffene. Ich umstachle Zentimeter um Zentimeter. Mein Ziel ist es, alles gefangen zu nehmen und es vollkommen einzustacheln. Die eine Haelfte der Halle ist bereits umstachelt, als Helmut mich stoppt. Er moechte, dass ich damit aufhoere. Ich bin schwer zu stoppen, da meine Stacheldrahtmanie mich zu diesem Zeitpunkt schon fest im Griff hat. Wir duerfen machen, was wir wollen ist meine Antwort auf das gewuenschte Innehalten. Ich male Begren-zung und werde dabei begrenzt. Das moechte ich in dem Moment nicht akzeptieren, da ich, wenn ich nicht gerade Stacheldraht male, eigentlich sehr freiheitsliebend bin. Dennoch kann Helmut mich in meinem Malrausch bremsen. Wir diskutieren lange. Anfangs bin ich so weit, dass ich das Projekt abbrechen und am naechsten Mor-
gen abreisen moechte, da ich mit dieser Einschraenkung schwer umgehen kann. Bernhard stoet zu unserer Diskussion hinzu und ist gleichfalls ueber meinen auswuchernden Stacheldraht irritiert. Nach ca. 2 Stunden sind wir zu dritt so weit, dass wir die Vereinba-rung treffen, dass ich zu diesem Zeitpunkt meine Malerei nicht mehr aufnehme, und dass wir die anderen Kuenstler am Vormittag fragen was sie davon halten und wie wir fortfahren sollen.
Gemeinsam wird am naechsten Morgen eine schnelle konstruktive Einigung getroffen. Der Stacheldraht ist vielen zu intensiv und zu dominant. Wir entscheiden uns, den Stacheldraht durch Interven-tion zu entschaerfen. Damit bin ich selbstverstaendlich einverstan-den. Kurze Zeit spaeter befinde ich mich dabei, neben anderen Ku-enstlern, den Stacheldraht moeglichst kreativ zu uebermalen. Aus meiner Sicht war das Beste an meinem Stacheldrahtwahn, dass er durch sein Einzaeunen die anderen Werke verbunden hat, und durch die Intervention eine starke Verschmelzung in Bezug auf un-ser Gesamtkunstwerk stattgefunden hat.
Birdman Hans Langner
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Im Rahmen der Sequenzen 2015 hatte ich die Mglichkeit, die Knstlerin Sigrid Reingruber kennenzulernen und mich ihrem Ar-beitsprozess ein wenig anzunhern. Drei Vormittage verbrachte ich mit Sigrid und schrieb tglich meine Gedanken ber diese Erfahrung nieder. Nach ein paar Wochen las ich diese Notizen und empfand sie als einen ruhigen Gedankenfluss eine Vielfalt von Eindrcken, die jedoch in einer gewissen Ordnung in deren eigener Ordnung ste-hen. Ich habe mich entschieden, diese niedergeschriebenen Noti-zen nicht zu bearbeiten, nicht zu einem Aufsatz auszudehnen, nicht kunsttheoretisch oder philosophisch zu untermauern, sie demnach nicht zu verflschen. Ich entschied mich allerdings im einleitenden Vorwort auf etwas hinzuweisen, worauf ich noch nicht whrend der Sequenzen-Tage kam, sondern erst bei der spteren Lektre meiner Aufzeich-nungen aufmerksam wurde und was ich hier als Anmerkung am Rande meiner Begegnung mit Sigrid Reingruber erwhnen mchte. Es handelt sich um die Vielstimmigkeit, welche Jean Dubuffet postu-lierte das Sprechen des Menschen, die Sprache der menschlichen Hand, das Sprechen seines Materials und seines Werkzeugs und was ich noch hinzufgen wrde, was aber sicherlich selbstver-stndlich ist die Sprache(n) eines Kunstwerkes. In seiner brillan-ten, kritischen Schrift Anmerkungen fr die Schngeister schreibt Dubuffet:
Die Kunst soll aus dem Material und aus dem Werkzeug entstehen und die Spuren des Werkzeugs und seines Kampfes mit dem Material tragen. Der Mensch soll spre-chen, aber das Werkzeug auch und das Material auch.1
Und Dubuffet formuliert eine so plausible wie auch ver-nachlssigte These, dass die Art, wie eine Farbe aufgetragen wird, wichtiger ist als die Wahl der Farbe selbst2:
Schwarz ist eine Abstraktion; es gibt kein Schwarz; es gibt schwarze Materialien, aber verschieden in ihrer Art []. Es ist ziemlich unwichtig, ob man Schwarz, Blau oder Rot nimmt, um ein Gesicht oder einen Baum zu malen; viel wichtiger ist hingegen, von der gewhlten Farbe einen be-stimmten Gebrauch zu machen. [] Der menschliche Ge-danke bertrgt sich, verkrpert sich. Er wird Sand oder l. Er wird Spachtel oder Kratzeisen. [] man darf nicht vergessen, dass verarbeitete Farben keineswegs abs-trakte Zeichen sind, sondern ganz konkrete Massen oder
Magorzata Bogaczyk-Vormayr Sequenzen-Begegnungen: Sigrid Reingruber
Lsungen, bestehend aus mehr oder weniger fein zerrie-benen Mineralien und nicht konkreten Bindemitteln, als da sind Leinl, Terpentin das ist destilliertes Kieferharz , sowie all die anderen Gummis, Kleber oder Lacke, die man zum Binden des Farbpuders verwendet.3
Was ist Schwarz? Was ist Blau? Gibt es so etwas wie Schwarz? Eben diese Fragen stellte ich mir, als ich Sigrid Rein-gruber bei ihrer Arbeit betrachtete. Und weiters: Was ist ihrem Wesen nach die von mir betrachtete Bewegung: eine Bewegung in die Tiefe des Papiers, der Farbe, des Gemalten, des noch Unsicht-baren? Geschieht sie zufllig, diese Bewegung, ist es eine erlernte Wiederholung, oder aber eine eigenartige und eigene, also nicht er-setzbare Sprache einer Knstlerin? Viele meiner Vermutungen und berlegungen wurden schon von Dubuffet beantwortet in seiner berzeugung, dass die Hand spricht,4 fordert er uns auf:
Die Impulse der menschlichen Hand, ihre ureigenste Spontaneitt achten, wenn sie ihre Zeichen entwirft. Zum Beispiel die leichte Abweichung von der Vertikalen in der Schrift und in jedem anderen Zeichen, das vom Menschen mit Hingabe mit der Zunge im Mundwinkel hingesetzt wird. Dazu zahlreiche andere gleichartige Reflexe. Dies al-les in die Kunst retten. Dagegen anzugehen wre so, als wenn ein Tnzer ganz steif und affektiert daherkme und in seinen Bewegungen nichts mehr vom natrlichen Ge-hen und von den natrlichen Gebrden enthalten wre. Je deutlicher die Hand des Knstlers sich in einem Werk be-merkbar macht, desto ansprechender, menschlicher und mitteilsamer ist es.5
Eben diese Hand der Knstlerin interessierte mich, als ich zum ersten Mal eine Zeichnung von Sigrid Reingruber sah. Ich fragte mich nach der Bewegung, die in ihrer Souvernitt gegenber irgendeinem Ziel, in ihrer starken Aussage, in ihrer Fremdsprache dem Betrachtenden dennoch einen Sinn vermittelt. In den Bildern von Sigrid Reingruber macht sich ihre Hand insofern bemerkbar, als die Neugier und sogar das Bedrfnis, diese Knstlerin bei der Arbeit zu erleben, zu einem groen Teil der gesamten Erfahrung wird. Aus dieser Erfahrung ist die folgende Notiz entstanden:
Sie malt einen Kreis die erste Farbe ist rot, diese bekam sie von ih-rem knstlerischen Betreuer Ferdinand Reisenbichler. Sie malt einen Kreis es ist eine ausholende Armbewegung, mit der sie den fr sie grtmglichen Kreis malt. Ihr Kreis wird sich in meinen Augen zu einem Tunnel entwickeln, genauer: zu einem Eingang in einen Tun-nel, der den Betrachter auf schmerzlose Weise in seinen Bann zieht, ihn frmlich ins Dunkel des Tunnels saugt - vielleicht ein Durchgang? Die Mitte des Kreises wird nicht unberhrt wei bleiben, weil die Be-wegung der Knstlerin einmal mehr nach innen, einmal mehr nach auen verluft. Der Kreis wird aber nicht einfach bemalt, auf die ein-fachste Art so wie ich es wahrscheinlich anstellen wrde mit Farbe ausgefllt. Hier entsteht eine Farbflche, aber keine war beabsichtigt jede Bewegung ist linear, jede Bewegung ist in sich geschlossen und enthlt gleichzeitig die Schwungkraft fr einen weiteren Kreis. Die un-glaubliche Anzahl von beinahe konzentrischen Kreisen hinterlsst im Betrachter den Eindruck einer Farbflche. Die rhythmische, beinahe mantrische Kreisbewegung der Arme verringert konsequent ihren Radius, bis sie schlielich den Kreismittelpunkt erreicht. Man sprt jedoch keine Absicht, dass Sigrid ihre Beschftigung beschleunigen will. Die Fertigstellung des Kreises ist fr sie kein vorrangiges Ziel.
Sigrid Reingruber
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Sigrid bekommt also von Ferdinand Reisenbichler die rote Farbe und malt auf der Wand des Kunstraumes einen Kreis. Si-grid ist eine Autistin in der kunsttherapeutischen Werkstatt der Lebenshilfe Gmunden, wo die 34-Jhrige seit fast 20 Jahren ttig ist, ist niemandem die genaue Diagnose bekannt, welche Form der Erkrankung aus dem sog. Autismus-Spektrum bei Sigrid diagnosti-ziert wurde. Fr ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Werkstatt, aber auch fr die dort ttigen Betreuungspersonen ist es kein wich-tiges Thema, welche genaue Diagnose fr Sigrid gestellt wurde. Ich frage mich, inwieweit dieses Thema nicht tabuisiert wird. Ich werde spter ihre Eltern kennenlernen sie sprechen ber die Erkrankung ihrer Tochter so beilufig und ungezwungen, wie sie ber den ver-gangenen Urlaub mit Sigrid oder ihre Essgewohnheiten sprechen. Man hat mir in der Werkstatt gesagt, Sigrid wird mit mir nicht kommunizieren. Sie hat sicherlich unterschiedliche Tage und in ihrer zutiefst subjektiven, von ihr vermutlich nicht reflektierten und bearbeiteten Wahrnehmung, wirken die anderen Menschen (ich bin doch eine Fremde) ganz unterschiedlich auf sie, ohne dass jemand sie beeinflussen knnte. Es ist ihre Wahrnehmung etwas kann auf einmal bedrohlich oder auch nur anstrengend sein. Ich kann aber heute sagen, ich habe bis jetzt nie in meinem Leben eine sich so sprbar vertiefende und verndernde, dermaen intensive Kommunikation mit einer anderen Person erlebt. Ich komme zu Si-grid mit dem Fotoapparat. Ferdinand meinte, ich darf sie beim Ma-len fotografieren, ich darf es ohne Sigrid zu fragen, weil eine solche Frage man stellt sie hier vor eine Entscheidung sie berfordern wrde. Als ich zu ihr komme, lerne ich ihr nicht sehr lautes, mit schriller Stimme erfolgendes Schreien kennen: Foto, Foto, fotogra-fieren! Es wird also doch von ihr verboten?, frage ich mich. Es dauerte etwa halbe Stunde, bis ich den Mut fand, doch ein Foto zu machen. Sie schreit leise und ich lerne schnell das wahrhaft ngst-liche und ihre spielerische Abneigung zu unterscheiden. Erst am
Ende dieses ersten Tages wird Sigrid selbst mich dazu auffordern, den Kreis und sie selbst als Knstlerin zu fotografieren. In diesem Arbeitsprozess, der fast drei Stunden in An-spruch nahm, hat sich einiges in unserer Kommunikation verndert, und das Interessanteste dabei war, dass ich die kleinen Schritte, die jede von uns beiden auf die andere hin unternahm, so klar wahr-nehmen konnte. Ich setze mich neben sie und die Kommunikation beginnt: Der Kreis, sagt sie, roooot, sagt sie, gro, ein roter Kreis, schn! Intuitiv gebe ich ihr echoartige Antworten, gewis-sermaen als Besttigung: Ich wiederhole Ja, ein roter Kreis, der ist gro, schn. Es gibt aber einen Zwiespalt oder besser gesagt eine Zwiesprache in Sigrids Rede: Eine Stimme ist hoch, manchmal krhend (wie beim Foto!), mit dieser Stimme spricht sie mich mit kurzen Kommunikaten an (Kreis, Knstlerin, Farbe); die zweite Stimme ist tief, man knnte sagen, es ist die Stimme einer Erwachsenen vernnftigen? vielleicht strafenden Person. Diese Stimme kommt von Sigrid und richtet sich an sie selbst. Mit dieser Stimme spricht Sigrid monoton den einen Satz: Spinnst du?. Ich beginne beim dritten Mal, dieser Stimme zu widersprechen: Nein, Sigrid spinnt nicht. Du spinnst nicht, du malst einen Kreis, du bist eine Knstlerin. Es zeigt Wirkung, die Stimme verschwindet, Sigrid nimmt meine Aussagen auf und wiederholt jetzt immer wieder: Ich bin eine Knstlerin, Sigrid spinnt nicht, ein schner Kreis. Das Zusammensein beim Malen, in der Sprache erfhrt jedoch ein jhes Ende, wenn zwischen Sigrid und mich noch eine andere Stimme von auen kommt. Wie ihre eigene, strafende Stim-me anfangs ihre Unsicherheit mir gegenber zum Ausdruck brachte (Du spinnst steht hier sicherlich u.a. fr Du bist komisch), so wird von ihr in dieser tiefen, jetzt frechen Stimme ein Satz wieder-holt, mit dem wir gestrt werden. Eine andere Art brut-Knstlerin geht vorbei und fragt nach einem Kabel fr ihre Lampe: Habt ihr Kabel? Da ich darauf antworte, rgert sich Sigrid ihr rger
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ist erstaunlich intensiv: Bldes Kabel, bldes Kabel!, schreit sie jetzt, wie ein verletztes Kind. Ich assistiere also: Ich hole Farben, flle kleine Plastikbe-cher mit lfarbe, sage beispielweise: Wei, ein weier Kreis. Bis die Farbe aufgebraucht ist. Auf diese Art beeinflusst man Sigrids Werk: Man bringt ihr Farben, man benennt sie sagen wir: blau Sigrid wiederholt: blau, und schon ist sie ganz bei der Sache (d.h. bei der Farbe) und der Kreis ist ein blauer Kreis. Wenn ich aus meiner Echo-Rolle aussteige und ein rot-schwarz-grner Kreis sage, weil dies tatschlich den Farben des auf die Wand gemalten Kreises entspricht, wiederholt Sigrid es nicht. Fr sie ist nur diese Farbe prsent, die sie gerade in der Hand hat. Ich vermute, dass es nicht an der sprachlichen Komplexitt liegt, sie wiederholt doch zustimmend und genau meine Aussage: Ein warmer grner Kreis schn. Nicht also der sprachliche Mangel bewirkt es, sondern im Gegenteil eine Reduktion auf das Wesentliche. Das ist fr mich das Wunderbare und Erstaunliche in unserem Gesprch: Das Thema ist der Kreis, der Wortschatz bleibt bei maximal zwanzig Wrtern, das Gesprch ist voll von Ereignissen sprachlicher, knstlerischer, menschlicher Natur. Sprachlicher, weil die Sprache zu einem be-wussten Instrument wird, hier wird eine Person (was fr mich mehr bedeutet als Persnlichkeit) entfaltet. Ferdinand Reisenbichler sagte zu mir, ich solle jene Farben bringen, die ich fr das Gemlde gut fnde erst spter verstand ich seine Absicht, warum er damit Recht hatte: Erstens will ich doch diese Intervention mglichst ein-schrnken, sodass ich ein paar Becher mit Farbe flle und Sigrid vor die Wahl stelle sie whlt immer eine Farbe von zwei angebotenen. Es ist dies fr sie eine kognitive Leistung, sie rgert sich darber, wird unsicher, aber letztendlich findet sie sich mit dieser Art der Ent-scheidungsfindung ab. Sie bemht sich und wiederholt vermut-lich als Begrndung: Ich bin Knstlerin. Am nchsten Tag allerdings wage ich mich einen Schritt weiter, ein Schritt, der Sigrid berfordert und, wie ich denke, sogar verletzt. Da verstehe ich, warum Ferdinand mir die Entscheidung berlassen hat. Sigrid malt am zweiten Vormittag zwei Arbeiten ei-nen Kreis auf der Wand des Interventions-Raumes, mit Wachskreide, und eine Zeichnung auf Papier. Sie hat also nicht viel weniger ge-malt als am Vortag, dennoch aber muss ich mir eingestehen, dass der zweite Tag fr uns beide kein gelungener ist. Selbstverstndlich gibt es bei Sigrid Tage, an denen fr sie jede Beschftigung, auch das Malen, eine berforderung bedeutet. Jetzt stellen wir uns vor, wir htten identische Empfindungen, in ihrer Intensitt allerdings um ein Vielfaches gesteigert, und dort, wo bei uns Unzufriedenheit und Ner-vositt aufgrund irgendeiner Situation aufkommen, entstehen bei Sigrid Angst und ein Gefhl der Bedrohung. Ich merke am zweiten Tag sofort, dass Sigrid eigentlich nicht arbeiten will das zeigt sich mir in ihrer Krperhaltung (sie sitzt ganz angespannt vor der Wand, mit ihren persnlichen Sachen auf den Knien, bereit, jederzeit wegzu-gehen, wenn ich es nur vorgeschlagen htte), weiters sagt mir das ihr Blick, den sie in den Raum und auf die vorbeigehenden Menschen, aber nicht auf ihr Bild richtet. Letztlich aber wird dieses mein Gefhl durch die Tatsache bestrkt, dass Sigrid nach jeder Bewegung (nach jedem einzelnen Kreis) die Kreide/die Farbe wechseln will sie taucht nicht wirklich ein in ihren Rhythmus, in die sich wiederholende Bewe-gung. Ich sage schlielich, mit mglichst beruhigender Stimme: Si-grid, es ist alles gut. Sie antwortet erstaunlicherweise nicht mit einer Wiederholung, sondern mit einer Verneinung, jedoch in einer ganz spezifischen, hohen (nicht strafenden) Stimme: Nein, Sigi ist nicht brav. Meine Antwort, ohne irgendeine kritische Absicht, lautete: Ja, du bist heute unruhig. Sigi ist unruhig, Sigi ist unruhig!, beginnt sie mit einem herzzerreienden Schrei. An diesem Vormittag mache ich einen weiteren Fehler, ein
peinliches Verhaltensexperiment: Ich bringe Sigrid nicht zwei Far-ben zur Auswahl, sondern lege auf meine offene Hand drei Kreiden. Ich vermute, dass dies fr sie eine berforderung darstellen knnte, will aber ihre Reaktion registrieren. Und diese entartet zu einer wah-ren Verletzung: Sigi zuckt zurck und schreit: Nein, ich will nicht, nein, ich will nicht! Ich gebe ihr sofort eine Kreide, sie bleibt aber sehr unruhig. Sigi kann sich den ganzen Vormittag lang nicht vllig von diesem vermeintlichen Vorwurf der Unruhe befreien: Unruhig sein scheint fr sie gleichbedeutend zu sein mit auffllig, merkwr-dig sein, scheint in ihrer eigenen Interpretation zu bedeuten, nicht brav, nicht gut, sondern bse zu sein. Und diese durch mich ausgelste Selbstbestrafung entspricht dem fr Sigrid schlimmsten Satz: Sigi spinnt. Sie ist also eine Andere, sie ist ein Problem. Nach kaum einer Stunde Arbeit gebe ich auf und schlage Sigi vor, dass wir eine Kaffeepause machen und Kataloge durch-blttern, was sie sehr zu mgen scheint, aber hchstwahrscheinlich wirkt auch bei dieser Bettigung noch mein Fehler nach, weil Sigi beim Durchblttern immer wieder sich selbst diszipliniert (obwohl sie wahrscheinlich einen Satz wiederholt, den sie von den anderen schon gehrt hat): Langsam durchblttern, langsam durchblt-tern, ruhig durchblttern. Am dritten Tag arbeitet Sigrid nicht im offenen Knstler-raum, sondern im Atelier. Sie sitzt mit zwei anderen Knstlern am Tisch. Im Atelier herrscht Ruhe, es werden kaum Worte gewechselt, es gibt dort wenig Bewegung. Ich sitze nur kurz bei Sigi, weil es den Freiraum der anderen Knstler beeinflusst. Ich sitze anschlie-end lange in einer anderen Ecke des Ateliers und betrachte Sigi. Sie schaut von Zeit zu Zeit zu mir aufmerksam, lnger, vielleicht sogar mit einer gewissen Zufriedenheit es strt sie nicht, beob-achtet zu werden, sie versichert sich immer wieder, ob ich noch da bin, und dieses Wissen scheint sie berhaupt nicht zu beunruhigen. Jetzt sind wir also auf dieser Ebene unserer Kommunikation, denke ich, dass Anwesenheit und der besttigende, ruhige Blick fr uns beide ausreichend sind. An diesem Tag wird mir klar, dass noch etwas rein Per-snliches mich zu Sigrid zieht. Ich bin kein Mensch, der Smalltalk besonders schtzt. Das gesprochene Wort ist fr mich oftmals eine berforderung, und immer in Situationen, in denen es um Wesentli-ches geht. Wenn ich etwas zum Ausdruck bringen soll, das fr mich sehr bedeutsam ist, verlasse ich das Sprechen, um in die Schrift zu fliehen. Und wenn es mir manchmal wirklich gelingt, eine Sache adquat darzustellen, dann eben nur schriftlich, nie mndlich. Die Sequenzen bieten einen Raum fr eine Intervention dies bein-haltet mehr als nur einen Austausch unter Knstlern oder als Zu-sammenarbeit. Bei einer Intervention beschrnkt man sich was erstaunlich klingen mag auf die wichtigsten und wesentlichsten Kommunikationsarten: das Schweigen, das Beobachten, die Anwe-senheit die wahre Prsenz. Das ganze Instrumentarium, welches uns unseren Alltag einfacher, runder, gemtlicher gestaltet wie eben ein Smalltalk beispielsweise hat hier wenig oder berhaupt keinen Platz. Jede Reaktion ist authentisch, sie ist roh, und es ist ein gutes, sogar befreiendes Gefhl. Vielleicht vereinfacht das, was uns den Alltag einfacher oder ertrglicher macht, diesen zu sehr, verflscht ihn gar? Die Bilder von Sigrid entstehen aus einer reinen Bewe-gung, nicht aus einem Konzept. Wo hat dieser Kreis seinen Ur-sprung? Sie zeichnet 20 Jahre lang, immer einen Kreis. Es gibt im Sinne eines Endprodukts auch andere Bilder von Sigi. Ihre anderen Abstraktionen: die vielfarbigen Flecken, die sich in meinen Augen zu einer postimpressionistischen Landschaft entwickeln. Wer aber neben Sigi sitzt whrend sie arbeitet, der sieht, dass sie am Anfang einen Kreis oder viele kleine Kreise zu Papier bringt, erst spter
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bermalte sie diese. Der Kreis ist wirklich ihr erstes Wort. Woher kommt dieses? Warum genau diese, man knnte sagen, archaische Form? Diese, wie die altgriechischen Philosophen meinten, voll-kommene Figur, die in Opposition zum Menschlichen steht? Das Menschliche ist linear, es ist ein Weg, der von seinem Anbeginn an auf ein nur einmal erreichbares Ziel gerichtet ist. Die von Sigrid vollendeten Kreise bergen fr mich die gleiche Erfahrung von Bewegung und Ruhe, welche ich auch ange-sichts der Gemlde von Mark Rothko mache. Ich will mich hier nicht bemhen, Vergleiche zwischen einer Art brut-Knstlerin und einem anerkannten Klassiker anzustellen. Ich spreche nur davon, dass ich die Werke dieser zwei Knstler hnlich erlebe. Flchig aufgetragene Farben werden hier zu einem Raum, in den man sich hinein bewegt, in den man sich hineingezogen fhlt. Wenn ich einen Knstler frage, wie er arbeite, was sein Motiv, seine Sprache sei, und ich bekomme als Antwort: Alles, manchmal abstrakt, manchmal Landschaften, manchmal politische Themen, da habe ich keine Ahnung, was es bedeutet und verspre nicht unbedingt die Lust, ihn zu bitten, mir seine Arbeiten zu zeigen. Wenn aber als Antwort kommt: Minima-listisch, oder auch beispielsweise: Es geht mir um den Klang, so wei ich mehr hier ffnet sich ein Raum fr eine Erfahrung, nicht nur fr eine optische Wahrnehmung. Sigrids Sprache ist eine archa-ische die Hauptform, ein Kreis, mit groer Intensitt gezeichnet, ein Kreis, den sie berhrt und in den sie einsteigt wir wissen nicht, was sie dort umgibt. Es geschieht nicht schmerzlos bei die-ser Intensitt muss das Leid mitwirken, aber es wirkt hier vor allem durch die Zrtlichkeit. Bevor ich Sigrid kennengelernt hatte, dachte ich mir als Betrachterin ihrer Werke stets das Gleiche: Intensiv, aber zart, einladend. Von dieser Zrtlichkeit fhlt man sich eingekreist.
PostscriptumAm zweiten Tag unserer Begegnung hat Sigrid wenig gearbeitet. Der Kreis an der Wand ist unvollendet geblieben ich spreche von einem nicht fertigen Kreis, weil Sigi selbst diese Bezeichnung gewhlt hat. Als ich die Steigerung ihrer Unruhe und ihre berfor-derung gesehen habe, habe ich gesagt, dass der Kreis nicht fertig sein muss, was sie sofort wiederholt hat: Muss nicht fertig sein, naaaaaaaa, und sich sodann auf den Weg zum Kaffee gemacht hat. Ich habe diesen Kreis fertiggestellt. Ich habe qualitativ betrachtet die Arbeit der Knstlerin beschdigt. Tatschlich jedoch habe ich damit zwei folgende Ziele verfolgt: Zum einen das kunstphiloso-phische Ziel, das Fehlerhafte einer unbedingt produktorientierten Absicht zu verdeutlichen, und zum anderen ein persnliches Ziel, mit meiner unfhigen Hand einmal die wahre Nhe eines Kunstwer-kes bei der Entstehung zu erleben. Eine Hand interveniert in den Spuren einer anderen Hand, um deren Schrift zu entziffern so habe ich gedacht und bin heute davon berzeugt.
Anmerkungen1 J. Dubuffet, Die Malerei in der Falle. Antikulturelle Positionen (Schriften, Bd. I), hrsg.
v. A. Franzke, bers. von E. Kronjger, Verlag Gachnang &Springer, Bern Berlin 1991, S. 24.
2 a.a.O.
3 a.a.O., S. 25, 26, 33.
4 a.a.O., S. 39.
5 a.a.O., S. 39-40.
Eine Spur ist niemals fehlerhaft. Es kann sein, dass der Weg selbst vorgetuscht ist und jemanden in die Irre fhren will. Der Weg mag eine Flschung sein. Das Bewusstsein, das Gelnde oder der Traum, auf den die Spur verweist, kann eine reine Behauptung sein und niemals existiert haben. Die Spur selbst allerdings ist keine Fl-schung; sie verweist blo auf etwas anderes, als jener, der die Spur liest, vermutet hat.Eine Spur lsst sich verwischen aber nicht lschen. Man kann die Erfahrung, die sich abbildet nicht rckgngig machen. Das gilt auch fr die Vorstellung, ihre Inhalte knnen vergessen, aber nicht ge-lscht werden. 1
Kunst und ihre gesellschaftlichen Einordnungsversuche in Form einer kunsthistorischen und kunstsoziologischen Betrachtung stre-ben als Rezeptionsphnomen immer darauf hin, von einer gelegten Spur eines Knstlers ausgehend, Zusammenfassungen anzubieten, diese argumentativ zu diskutieren und strukturelle Perspektiven, die ber das Einzelphnomen hinausgehen, zu erarbeiten um damit selbst zu einer (Erfahrungs-)Spur zu werden. Der Begriff art brut ist ein solches kunstbezogenes Erarbeitungsangebot. Er ver-sucht jene Produkte von kreativen Prozessen zusammenfassend zu beschreiben, die von Menschen mit - gesellschaftlich gesehen - Be-hinderungsaspekten und ohne einer gesellschaftlich sanktionierten knstlerischen Ausbildung geschaffen werden. Diese Kreativpro-dukte erregen Aufmerksamkeit, immer wieder immer von neuem, und sie reiben sich auch immer wieder an den ihnen gegeben be-grifflichen bertitel: vor allem auch an art brut. Die Werke selbst brauchen fr ihr (besseres) Verstndnis diese bertitel nicht - eine im Beispielsfall der Art brut damit verbundene Theorie im Sinne einer rohen (kulturell unverflschten) Kunst, die sich aus tiefen berzeitlichen Quellen speist, hat sich als obsolet herausgestellt - auch diese Werke von Menschen mit Behinderungen sind eindeutig und auch kulturhistorisch zuordenbar geprgt durch ihre jeweilige kulturelle Lebensumgebung. Art brut ist ein Vermittlungsangebot, eine begriffliche Hilfe, um ein kreatives Phnomen gesellschaftlich einordenbar zu machen, das sich primr einer solchen detaillierteren Einordnung entzieht: Da-mit diese Kreativprodukte von Menschen mit Behinderungen Kunst sein knnen, braucht es eine mglichst breite Kompatibilitt mit bisherigen Kunsttraditionen. Da befinden sich durchaus bestimmte Aspekte in der Wahrnehmung von diesen Kreativprodukten in einer Wahrnehmungsnhe mit wichtigen Aspekten der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts - auf einer Ebene mit Kinderzeichnungen und volkskundlich oder vlkerkundlich zugeordneten Gestaltungsfor-men, wenn es etwa um die Betonung der spontanen, gestischen, expressiv kraftvollen Anwendung von Malerei und Zeichnung, teil-weise auch von Skulptur geht. Aber diese Kreativprodukte darauf zu reduzieren berzeugt nicht vollstndig, ihre konzeptuelle Dimen-sion etwa sei es nur im hchst differenzierten Verhltnis von Ge-stalter, Produkt und Betrachter ist in diesem Zusammenhang nicht bercksichtigt.Art brut ist eine (historische) Spur, eine Spur der kunsthistorischen Reflexion von Spuren des Geisteslebens von besonderen Men-schen, die sich in knstlerischen Formen zeigen. Eine Spur neben anderen Spuren.Das Projekt Sequenzen hat im heurigen Jahr eine besondere Verdichtung von unterschiedlichen Spuren provoziert. Nicht die bereits erprobte Zusammenarbeit von unterschiedlichen - sprich: unterschiedlich mehr oder weniger beeintrchtigten und ihrer
Peter Assmann Die lange Spur der Art brut Anmerkungen zum Projekt Sequenzen IV 2015
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(gesellschaftlich vermittelten Behinderung bewussten und diese aktiv reflektierenden), Knstlerpersnlichkeiten bei werkorien-tierten Kooperationen auf Augenhhe stand im Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit, sondern eine umfassende Spurengestaltung im Raum. Ein offener Raum als Angebot markierte den Beginn, eine mit dicht gesetzten, vielfltig persnlichen Gestaltungsspuren ge-fllte Raumsituation erschien nach fnf Tagen knstlerischer Arbeit an dessen Stelle. Dieser Raum war voll von Bewusstseinsspuren, von Erfahrungsverdichtungen, Bildkonzeptberlegungen, von Aus-druckselementen und Angesammeltem immer mehr auch von Reaktionen und Weiterfhrungen. Wertungsfrei neben einander ge-setzt, nichts verdeckt das andere, nichts berlagert oder dominiert (zu sehr).Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel.2
Individuell und doch gemeinsam, zusammen und doch voller einzel-ner Vielfalt - nichts wird vertrieben, alles nur ergnzt - ein gemein-sames Wachstum voller verstelter Entwicklungsdimensionen. Der Raum prsentiert sich nach einigen Tagen als erblhter Garten, wild und doch mit Strukturen durchzogen - als ein besonderer Garten: Im persischen Farsi bedeutet das Wort Paradies Garten. Europische Paradiesgartenvorstellungen sind immer von einem geschtzten Bereich voll des friedlichen Wachstums ausgegangen, nicht unend-lich im Raum, sondern eingezirkelt - wie es hier die Raumgrenzen markierten - und ohne Vertreibung, also mit umfassender Inklusion.Diese ein wenig romantisch anmutende Vorstellung war bei den Se-quenzen IV zudem ganz klar zeitlich begrenzt, der Raum in seiner Paradies-Prsentation zunchst auf eine Wachstumsdauer und dann auf eine Ausstellungsdauer ausgerichtet. Am Ende stand die physische Vernichtung des Raums als greifbare Erfahrung - aber die Spur ist damit nicht ausgelscht, die Erfahrung hinter der Spur (bzw. zeitlich vor der Spur) ist vorhanden, als eine reale Mglich-keit. Und sie provoziert weitere Spuren, verbindet sich mit ihnen.Kunst zieht sich stets die Mglichkeit zur Wahrscheinlichkeit. Sie gibt sich nicht zufrieden mit der ausschlielichen Andeutung, sie forciert die Deutung. Und doch wird sie stets von Andeutungen he-rausgefordert, mehr als anderes in der menschlichen Gesellschaft. Sie agiert stets wie in ihrer Wachsamkeit konsequent auf mgliche Spuren angesprochen, und auf das Weiterfhrende dieser Spuren.Kunst von Menschen mit Behinderungen ist in den letzten Jahren viel mehr geworden dass der Begriff art brut bisher vermitteln konnte. Sie nimmt ihre Anregungen von Menschen, die sich immer breiter in ihrem Selbstverstndnis wie auch in ihrem Kommunikati-onsverhalten als Knstler bezeichnen und in diesem Sinn agie-ren - durchaus an die Traditionen dieser Begrifflichkeit anknpfend, aber auch diese fr die eigene Situation adaptierend. Knstler zu sein bedeutet hier ein wachsamer Spurengestalter zu sein, auf-merksam und stets ausbalanciert zwischen innen und auen, zwi-schen einem (behinderten) Ich und einem (ebenso behindert wer-denden) Anderen.Vor allem ohne berheblichkeit agierend, ohne den Anspruch auf eine Vormachtstellung, eher situiert in der Etappe dahinter, bei jenen, die sich die verschiedenen Spuren genauer anschauen und daraus ihre eigenen Spurenentscheidungen treffen - als Knstler in der quasi selbstverstndlich aufgegriffenen und adaptierten Positi-onierung dieser gesellschaftlichen Zuordnung.Wenn Knstler zusammenkommen und gemeinsam entwicklungs-orientiert arbeiten, entsteht Kunst - ob sie nun auch so bezeichnet wird oder als Spur des gemeinsamen kreativ orientierten Austau-sches andere Zuordnungen erhlt - keine rohe Kunst oder fine art, keine expressive oder konzeptuelle Kunst, sondern eine Spur, die nach bisherigen Betrachtungserfahrungen der menschlichen
Kulturgeschichte am berzeugendsten noch als Kunst bezeichnet werden kann, als was sonst.Ernst Gombrich lsst seine berhmte Geschichte der Kunst mit dem Satz beginnen: Genau genommen gibt es die Kunst gar nicht. Es gibt nur Knstler.3 Aber diese Knstler hinterlassen Spuren ih-rer Ttigkeit, wie auch alle anderen Menschen. Nur diese Spuren wirken anders. Sie entziehen sich einer detaillierten definitorischen Ummantelung, sie wirken langfristig anregend, sie stellen Grenzen in Frage, sie berichten von weiterfhrenden Erfahrungen: Sie wach-sen, und verweisen immer auf ein weiteres, anderes Wachstum.Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist in die aktuelle Vorstellung von Kunst immer mehr auch das bisherige Spurenwachstum von Art brut hinein gewandert und wuchert dort frhlich weiter. Wie immer sind es unterschiedlichste Menschen, die sich in diesem Sinne be-gegnen, austauschen und an diesem groen Menschheitsprojekt Kunst in ihrem Sinne mitwirken - und sich dabei auch ein wenig in ihrer jeweiligen Eigenpositionierung als Knstler in der Gesellschaft bestrken, wie auch hinterfragen.Gombrich beendet seine Kunstgeschichte mit dem Satz:Aber ist nicht gerade diese stndige Notwendigkeit, Ansichten zu revidieren, einer der Reize bei der Erforschung der Vergangenheit?4
Jede Spur kann immer wieder neu betrachtet werden, muss es, um weiter wirksam bleiben zu knnen. Auch und gerade die Spuren ei-nes mglichen (inklusiven) Paradieses, einer Spurenansammlung ohne Vertreibung, eine Austauschsituation, ohne die Mitwirkenden ohne deren Zustimmung auszutauschen, eine als insgesamt gese-hene, gesammelte Welt der Spuren.Es ist ein Sehen des Ungesicherten. Und umgekehrt ist es das Se-hen selbst, das sich immer wieder als ungesichert erweist, ... 5
Art brut hat - durchaus teilweise erfolgreich - versucht, dem bis-herigen Sehen seltsamer Kunstformen von behinderten Menschen eine scheinbare Sicherheit zu geben. Diese scheinbare Sehsicher-heit kann aber durchaus aufgegeben werden im Vertrauen auf un-terschiedliche weiterwirkende Sehspuren, auf eine Weltsicht, die einfach immer wieder von neuem mehr mglich erscheinen und betrachtbar sein lsst und einfach neugierig im Sinne der kultu-rellen Kreativkraft von Kunst (und mglicher Paradiesvorstellungen) bleibt sowie Spuren achtsam zusammenfhrt.
Anmerkungen
1 Lukas Brfuss: Blatt 488, in: Ohne Achtsamkeit beachte ich alles - Robert Walser und die bildende Kunst, Ausstellungskatalog, Aarau (Aargauer Kunsthaus) bzw. Sulgen (Benteli) 2014, S. 15
2 aus Robert Walser: Kleine Wanderung, zitiert in ebenda S.203 Gombrich, Ernst: Die Geschichte der Kunst, Berlin (Phaidon) 1996, S. 15 4 ebenda, S.6375 Konrad Tobler: Das Ungesicherte sehen. Robert Walser in der Gegenwartskunst, in:
ebenda S.18
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In einer Zeit, in der die intellektuelle Auseinandersetzung mit Kunst mehr verwirrt als klrt, ist es besonders schwierig allgemeinglti-ge Mastbe zu setzen. Mehr oder weniger kann jeder heute sei-ne eigene Meinung zur Kunst haben und es wird jeder ein wenig recht haben. Letztlich bestimmt ja (traurigerweise) der Kunstmarkt die Qualitt, die sich am Preis misst, und lngst nicht mehr der Kunstsachverstndige oder der geschulte Vermittler, ob Museums-mensch, Kunstkritiker oder Galerist. Und wenn eine Ausstellung wie jene im Papiermacher Museum Steyrermhl, Wnde und Boden mit Kunst fllt, wei man nicht recht: ist das jetzt ein Event, eine Mords-gaudi fr die malenden und zeichnenden und schreibenden Knst-lerinnen und Knstler, ist das ein Statement, ist das das Ergebnis von Ideen und knstlerischen Gedanken oder ist das eben wirklich nur ein Spa und eine Art Prsentation dessen, was jeder Einzelne so malt, zeichnet, tpfert und schreibt? Kann man das als Ergebnis von Auseinandersetzung mit Themen und Inhalten erkennen, oder ist das spontan hingesetzt und hat keine Aussage, auer, dass die Bilder vllig ungeordnet Boden und Wnde bedecken und den Be-trachter amsieren, entzcken oder aber ratlos zurcklassen? Man erkennt einige der Knstlerinnen, z.B. Maggi Bamberger oder Rose-marie Heidler und Knstler, wie Ernst Schmid, aber dazwischen sind auch Peter Assmann, Ferdinand Reisenbichler oder Helmut Pum, dienicht zu den Auenseitern, sondern zu den Berufsknstlern, bzw. zu den Leitern und Mitarbeitern der Ateliers gehren. Wenn man Kunst ernst nimmt, ist es jedes Mal und bei jeder Begeg-nung, ob im Museum oder in einer Ausstellung, ein Eintauchen in eine eigene Welt, der man sich stellen und in die man sich einfgen muss. Wenn gar ein Raum von oben bis unten von den Wnden bis zum Fuboden bemalt ist, mit den unterschiedlichsten Bildern, in den unterschiedlichsten Techniken nicht als Gestaltung oder Design sondern als knstlerisches Ereignis, fragt man sich: ist das nur ein Gewirr von Ideen und Phantasien, oder was sagt mir das? Aber man steht ja mitten drin. In der Kunst. Man wird mitge-rissen und hineingezogen, man kann sich nicht retten, es gibt keine Ausrede und keine Pause, indem man von einem Bild zum anderen geht. Nein, man wird Teil der Kunst, die rund um einen ist, die den Betrachter nicht auslsst, sondern einbezieht in das Ganze Zeit-genssische Kunst trifft Art Brut. Das ist Frage wie Statement zu-gleich.Vielleicht wird man zunchst verwirrt sein, es ist zuviel, es erschlgt einen. Aber dann entdeckt man Details, kleine Zeichen, die einen anrhren, die einen aber auch weiterfhren, von einem Zeichen zum nchsten. Und wieder stellt sich die Frage: ist das die Kunst, die Du-buffet meinte, wenn er von Art Brut sprach? Was ist in den Jahrzehn-ten nach seiner Aussage denn geschehen? Diese Kunstrichtung hat sich lngst verselbststndigt, ist zu einem Markenzeichen gewor-den, wie Impressionismus oder Neue Sachlichkeit, lngst sind es
Angelica Bumer Wenn man Kunst ernst nimmt
auch professionelle Knstler die in dieser Form der Unbekmmert-heit und Freiheit malen, wie Peter Pongratz beispielsweise. Also ist Art Brut da angekommen, wo sie zu Beginn schon vorgesehen war? Teil der modernen Kunst zu sein, wrde dann heien: die Ar-beiten in Ausstellungen zu prsentieren, wie eben jede Kunst? Ist das jetzt passiert, was Leo Navratil und Otto Mauer wollten: wenn das, was behinderte Menschen malen und zeichnen Kunst ist, muss es auch als Kunst behandelt werden und soll keine Sonderstellung erhalten. Also doch, entgegen meiner im letzten Jahr geuerten Kritik gegen gemeinsame Ausstellungen von professionellen und behinderten Knstlern? Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, ob das ein guter Weg ist, aber da es ja inzwischen geschieht, wird man darber besser diskutieren als es von vorneherein abzulehnen. Wobei sich dann aber, zwingend und notwendig, die Frage nach der Qualitt stellt, die ein wesentliches und nicht zu unterschtzendes Kriterium ist. Wer bestimmt aber nun die Qualitt? Der Philosoph? Der Kunstkritiker? Der Ausstellungsmacher? Der Juror? Oder wiede-rum der Kunstmarkt? Wo dann eben ein Johann Hauser teurer ist als ein Hannes Lehner? Andererseits soll jede Form der Isolierung vermieden werden, es sind ja tatschlich gengend Unterschiede zwischen Knstlern aus Ateliers von psycho-sozialen Institutionen und solchen Knstlern, die sich alles frei erarbeiten mssen, vom Arbeitsraum bis zur Sozialversicherung.Wobei es nun aber v.a. um die Frage der Qualitt geht. Nicht jeder Mensch, der sich zeichnend und malend ausdrckt, ist gleich ein Knstler und das gilt fr jeden. Ob behindert oder nicht. Also doch wieder eine neue Verwirrung, die jeden von uns erfasst, der sich berhaupt mit der zeitgenssischen Kunst beschftigt. Sind Geli-tin die besseren Knstler als Gerhard Richter? Das kreative Team oder der einsame Maler? Oder ist das wiederum doch nur eine Fra-ge des Preises? Natrlich geht es um Authentizitt, um Originalitt, um Kraft und Energie der knstlerischen Freiheit, auch um die Kraft des berlebens wie sagt Goethe: 20% Genie, 80% Schwei (er sagt natrlich Transpiration). Ich wei keine Antwort und stelle einfach nur Fragen.Zeitgenssische Kunst trifft Art Brut natrlich treffen sie sich, sie sind ja aus gleichem Holz geschnitzt. Behinderte Menschen, auch wenn sie in Heimen untergebracht sind, leben mitten unter uns, sie hren Nachrichten, sehen fern und reden mit- und ber-einander. Die professionellen wie die behinderten Knstlerinnen und Knstler wollen, ob mit mehr oder weniger Intellekt und/oder analytischem Bewusstsein, ihre Ideen, Phantasien, ihre seelischen und geistigen Fragen stellen, in Form und Farbe darstellen und im Bild offenlegen. Und je ehrlicher das geschieht, desto mehr werden wir Betrachter die Anliegen und Ansichten achten, respektieren und letztlich auch verstehen.
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Eine Diskussion um den Terminus Art brut, wie ihn Jean Dubuffet geprgt hat, ist wieder einmal im Gange. Wenn man die Beschrei-bungen des Erfinders liest und sein Handeln und Sammeln, das sich oft selbst widerspricht, verfolgt und ein Gefhl fr sein Agieren be-kommt, dann wrde ich sagen, dass er mit diesem Begriff gemeint hat: es handelt sich um Kunst, die nicht von Kunst im herkmm-lichen Sinn kme. Kunst wird als soziologischer Begriff jeweils in einer bestimmten Zeit, von einer definierten Gruppe von Menschen dieser Zeit und einem Kulturkreis verstanden. Diese Kunst hat Vor-bilder, Traditionen, Theorien und Wellenbewegungen. Aber sie leitet sich immer in irgendeiner Weise von Vorlufern ab. Genau das tut Art brut nicht. Da gibt es keine Vor-Bilder, keine Theorien und kei-ne traditionellen Regeln, die zu befolgen sind. Das Werk sollte nur Einmaligkeit besitzen, etwas Individuelles, etwas Ursprngliches, etwas, das es aus der Masse oder der Vielzahl von bildnerischen Gestaltungen emporhebt und dem Schpfer eine eigene Position verleiht. Man darf nie vergessen, dass Jean Dubuffet ein emotio-naler Knstler war, kein Wissenschaftler, kein Kunsthistoriker. Art brut ist ein Begriff des Rezipienten, des Sammlers, den diese Kunst fasziniert hat.Ich erachte das als etwas Wesentliches, da sich die Art brut damit gefhlsmig erfassen lsst. Man kann diese Einmaligkeit sehen und spren, wenn man ausreichend Erfahrung gesammelt und ein Sensorium entwickelt hat.Und damit beginnen auch schon die Widersprche und Probleme. Wer kann das? Wer hat genug gesehen oder ist sensibel genug?Der erst viele Jahre nach der Art brut, 1972 von Roger Cardinal (England) erfundene Begriff der Outsider Art ist nicht in der Lage, dasselbe auszudrcken. Er besagt nur, dass die damals ausgestell-ten Werke der Knstler nicht im Kunstmarkt dieser Zeit vertreten waren, also outside waren. Das trifft inzwischen schon lange nicht mehr zu. Als der Begriff, da er englisch und damit gut verstndlich war, sofort in die USA exportiert wurde, verstand man pltzlich alles darunter, was nicht im Kunstgeschft war. Er wurde fr mich zum Trashpot, einem Kbel, in den man Verschiedenstes hinein steck-te, wenn man auf den nun zu fahren beginnenden Zug dieser Kunst aufspringen wollte. Seine rasche Verbreitung verdankte er also der Sprache und dem Geschftssinn vieler Galeristen.Jetzt haben wir zwei Begriffe, die flschlicherweise immer wieder in einen Topf geworfen werden. Und (besonders) das deutschspra-chige Europa machte mit Art brut eine Verwandlung durch. Diese entwickelte sich aus gut gemeinten und sozial orientierten Ideen.
Johann Feilacher Art brut noch aktuell?
Da ein Groteil der Art brut-Knstler Auenseiter der Gesellschaft oder Menschen mit besonderen Bedrfnissen sind und waren, wur-den im Laufe der letzten drei Jahrzehnte viele Malgruppen und Ate-liers gegrndet. Der Autor hat dies auch an vielen Orten gefrdert. Ein Missverstndnis entstand aber dadurch, dass in Sachen Kunst unbedarfte Personen und ehrgeizige, lose angestellte Knstler pltzlich alles, was in solchen Gruppen entstand, Art brut nannten. Dabei handelt es sich um fr die Schpfer wertvolle Graphiken und Malereien, die auch therapeutische Bedeutung haben knnen. Aber nur im absoluten Ausnahmefall entstehen allgemeingltig einmali-ge Werke, und das wre fr die Bezeichnung Kunst meines Erach-tens unbedingt notwendig.Damit kein Irrtum entsteht: ich bin fr alle diese wichtigen non-verbalen Beschftigungs- und Therapieformen, da sie als Prozess wichtiges fr die Psyche der Klienten bedeuten knnen und Aus-drucksmglichkeiten bieten. Aber eine Mitschrift einer psychothe-rapeutischen Sitzung ist meist genauso wenig Literatur, wie die Ergebnisse solcher Erfahrungen bildende Kunst sind. Ehrgeizige Kuratoren und Autoren haben durch Verallgemeinerung und Ver-kunstung von Produkten von Studios den wahren Schpfern von Art brut in der ffentlichkeit massiven Schaden zugefgt. Darber hinaus schaden sie auch vielfach den redlichen Malern in Ateliers, da diese einem berhobenen Begriff nicht standhalten knnen, so-bald sie in eine ernsthaft professionelle Kunstszene kommen (was diese auch selbst oft nicht anstreben, sondern eher ihre Betreuer). Es wird also auch oft falsche Hoffnung auf Karriere oder Geld ge-weckt. Es bedarf der qualitativen Differenzierung der Werke, so schwer das vielen auch fllt. Kunst ist kein sozialer Begriff und hat weder mit Gleichberechtigung, sozialem Gefhl fr Behinderte oder Gender-politik zu tun. Die Modeerscheinung Art brut war zwischendurch ein Versuch aller, die wirtschaftlich dabei etwas gewinnen konnten, schnelles Geld zu machen, wie dies in der Kunstwelt immer wieder passiert. Wie viele solcher Wellen ist auch diese wieder zurckgegangen. Was dann langfristig brig bleibt, sind die Werke jener Knstler, die bei Sammlern zeitgenssischer Kunst als hochwertige Kunst erwor-ben wurden. Diese Kunstliebhaber haben schon lange gelernt, dass gute Art brut gleich viel wert ist, wie gute zeitgenssische andere Kunst. Und genau das soll Art brut auch sein: eine Kunstrichtung, die in ihrer Qualitt den anderen Kunststrmungen ebenbrtig ist, und, da Art brut nicht an eine Zeit gebunden ist, auch bleiben wird.
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Kunst von Menschen mit Behinderung an dieser Stelle soll noch nicht einmal der Begriff Art Brut strapaziert werden findet zu ei-nem berwiegenden Teil in Organisationen und Strukturen der Behindertenhilfe statt. Einige der zahllosen Kunstwerksttten, die in den letzten Jahrzehnten ursprnglich als Beschftigungs- und Therapieangebote entstanden sind, haben sich inzwischen ffent-lichkeitswirksam als Ateliers mit eigener Identitt etabliert und bewegen sich damit mehr oder weniger erfolgreich am Parkett ei-nes Kunstmarktes. Sie agieren freilich mit dem Anspruch, in eben diesem als Kunst als Art Brut zu bestehen, und nicht als Output einer gefrderten Werksttte von Menschen mit besonderen Be-drfnissen, Behinderung oder wie auch immer man es politisch korrekt nennen mag.Aus diesem Eingebettet-Sein von Kunst in nach wirtschaftlichen Grundstzen arbeitende und funktionierende Unternehmen und genau das mssen Sozialorganisationen heute sein ergibt sich jedoch auch ein ganz besonderes Spannungsfeld, und zwar eines, das oftmals Fluch und Segen zugleich ist. Kunstwerksttten der Be-hindertenhilfe sind eine Dienstleistung, und diese wird aus Mitteln der Sozialabteilungen finanziert, die sich nicht am knstlerischen Output dieser Ateliers orientieren, sondern an pragmatischen Gr-en wie Bedarf, Pltzen, Auslastung und Qualitt (der Dienstleis-tung nicht der Kunst!). Dies sichert einerseits im weitesten Sinne die Existenzen der agierenden Knstler (nicht zuletzt auch der be-gleitenden Knstler), stellt aber andererseits hohe Anforderungen an die Anpassungsfhigkeit aller Protagonisten. Kunst wird hier zu einem inhaltlichen Thema des Sozialmanagements, so paradox dies auch klingen mag, und streift damit unweigerlich an unternehme-rische Bereiche wie Fhrung, Personalentwicklung, ffentlichkeits-arbeit, Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Qualittsmanagement, Change Management oder Controlling. Im Alltag eines Sozialunternehmens mit Kunst- und Kulturwerkstt-ten reduziert sich diese Diskrepanz oft auf die Diskussion, welche Frage zuerst gestellt werden muss: Was kann das Unternehmen fr die Kunst tun? Oder: Was kann die Kunst fr das Unternehmen tun?Knstlerische Arbeit hat in Einrichtungen der Behindertenhilfe stets einen Sonderstatus unabhngig davon, ob sie zur Chefsache erklrt wird oder sich in weitgehend autonomen Einheiten quasi selbst organisiert. Sie ist frei und eigenverantwortlich im Hinblick auf ihre Inhalte sowie Aufgaben und dabei oftmals wenig an struk-turelle Rahmenbedingungen gebunden zumindest weniger als andere Einrichtungen in solchen Unternehmen. Sie profitiert von Zusatz- und Sonderfinanzierungen fr Personal und Projekte. Sie tritt als eigenstndiger Akteur in einer selbst gewhlten Fachffent-
Robert Ritter-Kalisch Art Brut aus der Perspektive des Sozialmanagements
lichkeit auf darf sie das berhaupt? Sie provoziert, strt und hin-terfragt. Dabei werden die begleitenden Mitarbeiter auch selbst als Knstler ttig und sichtbar in ihrer bezahlten Arbeitszeit und mit den Betriebsmitteln der Organisation. Dieser Sonderstatus hat auch einen Preis. Nun ist Kunst in diesen Organisationen stets prsent und so gewissermaen Teil der Unter-nehmenskultur aber ist sie deshalb schon integrativer Bestandteil der Unternehmensphilosophie? Muss sie das berhaupt sein und woran wrde man das sehen knnen? Wer htte am Ende etwas da-von? Kann es sich eine von ffentlichen Kostentrgern finanzierte Sozialeinrichtung bei drastisch knapper werdenden Budgets denn (noch) leisten, abseits ihrer Kernaufgaben und ihrer strategischen Ziele Kunst um ihrer selbst willen zu frdern? Oder geht es vielmehr darum, dass als Input der Kunst immer ein verwertbarer Beitrag zum Image und zur ffentlichkeitsarbeit des Unternehmens erwar-tet wird? Damit einher geht auch die Frage oder vielmehr die Forde-rung nach der Verwertung von Nutzungsrechten sowohl der Kunst-schaffenden als auch der kunstagogisch Begleitenden fr den ffentlichen Auftritt oder das Corporate Design der Organisation. ber all diesen Fragen taucht schlielich jene nach der Wertscht-zung der Kunst und der in ihrem Namen handelnden Personen auf, die selbstverstndlich verlangt wird. Aber ist neben dem Sondersta-tus und der inhaltlichen und strukturellen Freiheit der Kunstwerk-sttten berhaupt zustzliche Wertschtzung zu erwarten?Bei weitem nicht alles, was die Ateliers der Behinderteneinrichtun-gen hervorbringen, ist als Kunst zu bewerten. Und was als Kunst am Markt auffallen und ressieren will, muss den Qualittskriterien des Marktes gengen. Ist es nicht logische Konsequenz, dass Aner-kennung, sogenannte Wertschtzung und Erfolg von knstlerischer Arbeit im Allgemeinen und Art Brut im Besonderen durch die Ver-wertbarkeit am Markt erwachsen (mssen) und nicht allein durch wohlmeinende Bekenntnisse zur Kunst in einem Sozialunterneh-men geschaffen werden?Dieses Bestehen am Markt kann in der Realitt einer Organisation durch Rahmenbedingungen der Arbeit, Finanzierungssicherheit und strukturelle Zugestndnisse und all das ist in Zeiten gravierender Krzungen im Sozialbereich keine Selbstverstndlichkeit mehr bestenfalls untersttzt werden. Alles Weitere muss unmittelbar aus den Persnlichkeiten in den Ateliers und aus ihrem knstlerischen Potenzial selbst entstehen. Und es wre geradezu vermessen, nicht davon auszugehen, dass der knstlerische Output dieser Werkstt-ten, sozusagen als Gegenleistung, wiederum fr den Auftritt des Unternehmens am Markt der sozialen Dienstleister dienen muss.
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Marco Prenninger Portrtfotos
Bernhard EngljhringerGnter BrusJonathan Meese
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Hermann Nitsch Wolfgang Beltracchi Margarethe Bamberger
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Eine besondere Art der Beteiligung bei Sequenzen 2015 erfolgte durch Bernhard Engljhringer. Dieser sammelt schon mehr als 30 Jahre sowohl gekaufte Kunstwerke als auch verschiedenste von Flohmrkten, Altwarenhndlern und Sperrmllpltzen erworbene Gegenstnde, die ihn emotional berhrt haben. Nachdem seine Wohnung in Linz-Urfahr komplett vollgerumt ist, mietet er sich in Wels weil dort finanziell leistbar einen etwa 200 Quadratmeter groen und sechs Meter hohen Lagerraum, um seine Sammlung adquat unterbringen zu knnen. Vor drei Jahren hat er begonnen, diesen Lagerraum zu inszenieren, da ihm eine reine Lagerung un-passend erscheint und es fr ihn einer laufenden gestalterischen Auseinandersetzung mit allen angeschafften Sachen bedarf. Beim Sequenzen-Workshop chauffiert Bernhard mit mehreren Au-toladungen einen Teil seiner Sammlungsgegenstnde nach Steyrer-mhl, um sie dort sozusagen anstelle des blichen knstlerischen Materials Farbe, Kreide, Stifte und Papier als Gestaltungsmaterial ins Szene zu setzen. In der Broschre erfolgt neben dem Aufzeigen seiner Teilnahme beim Workshop auch eine Doku seiner Sammlung mittels Fotos und Interview.
Das folgende Interview mit Bernhard Engljhringer fhrten Marco Prenninger, Petra Kppl, Helmut Pum
Was bedeutet deine Sammlung fr dich?Bernhard Engljhringer:Es ist eine Bilder- und Wunderwelt fr mich! Bilder-, Wunder- und Traumwelt. In diesem Kontext bin ich zum Teil involviert als auch mitten drinnen. Und so ergibt eines das Andere.
Wann hast du damit begonnen?Mit dem Sammeln vor ber dreiig Jahren. Mit dem Gestalten des Lagerraumes in Wels vor drei Jahren. Ich muss hinzufgen, ich habe diesen ursprnglich als reinen Lagerraum gemietet. Und mit dem war ich aber natrlich nicht zufrieden. Weil was gibt ein Lagerraum her? Dann habe ich mir gedacht, ich zahle jeden Monat doch eine betrchtliche Miete. Das kann es auch nicht sein, dass ich da immer nur Kraut und Rben ablagere und deponiere. Jetzt mchte ich ein-mal den Raum gestalten. Und diesen gestalterischen Weg gehe ich jetzt seit ca. zwei bis drei Jahren.
Hast du eine Vorstellung, wohin die Gestaltung des Lagerraumes fhrt?Ich vermute, dass ein gutes Drittel fertig ist, von dem Gefhl des Endergebnisses, das ich habe. Ein bisserl hat man auch ein ferti-ges Endbild. Aber ich mache das nur intuitiv. Und gestaltungsm-ig und formenmig muss es meinen Vorstellungen entsprechen. Aber ich habe keine konzeptionelle Herangehensweise, wie was entstehen soll. Sondern es muss sich in meine intuitive Bilderwelt irgendwie eins zu eins einfgen. Weil ein anderes Arbeitssystem, Arbeitsmodell entspricht nicht meinem Wesen und wrde mir auch keine Freude bereiten. Ich kann nur so arbeiten. Was in Zukunft ein-mal noch dazu kommen knnte, das wre die Arbeit mit Licht und Klang, ein Kinderchor, Darsteller, Performance, Gesang aber kein Sprechen.
Wie hast du dich beim Projekt Sequenzen beteiligt?Da hat mir Ferdinand Reisenbichler Raum- und Zeitvorgaben ge-macht. Ich musste definitiv bis zum Tag X, das war der Freitagmit-tag in der Projektwoche, fertig sein mit meiner Geschichte. Damit waren die Rahmenbedingungen vorgegeben. Und an das habe ich mich halten mssen.
Bernhard Engljhringer Sachenfinder
Waren diese Vorgaben schwierig fr dich?Das war sehr schwierig, weil ich mir damit auch selbst strenge in-dividuelle Vorgaben gegeben habe, die ich realisieren wollte. Und vom Zeitfaktor ist es fr mich ziemlich eng geworden. Erstens weil ich bei dem Projekt sehr wenig geschlafen habe. Und zweitens durch die Interaktion, durch den sozialen Austausch mit den Kollegen
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und mit den Knstlern viel Zeit auf der Strecke geblieben ist und fr die konkrete Arbeitsttigkeit fast keine Zeit mehr fr mich selbst war. Im Raum in Wels ist es anders, wo ich einfach ausschlielich auf mich bezogen bin. Beim Projekt war es eine Interaktion. Einer-seits mit der Kunst selber und auch mit den Mitmenschen. Die so-zialen Kontakte sollen gepflegt werden. Weil einer interessiert sich
fr den Anderen. Und da ist der befruchtende Austausch sinnvoll und notwendig. Das habe ich erkannt, weil sonst htte ich gar nicht mittun brauchen. Dann htte ich gesagt: Macht ihr eure Geschichte, ich mache meine. Aber ich wollte mich bewusst einlassen auf den Prozess. Und da gehrt das gemeinsame Kommunizieren einfach dazu und auch das ernsthafte Interesse fr den anderen Knstler.
Fotos: Marco Prenninger
Ich kann erst arbeiten, wenn es dunkel ist.
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Meine Wertschtzung und Liebe fr die anwesenden Art Brut-Knstler!Es war mir eine groe Ehre, dass ich mich in diesem Herzenskosmos mit diesen wunderbaren Menschen und Outsider-Knstlern aufhalten konnte und ich dabei in der schnsten Form mit diesen unerreichten Genies innehalten, staunen und mitspielen durfte.Bernhard Engljhringer
Beeinflusst dich der Austausch mit den anderen Knstlern in deiner eigenen Arbeit?In meiner eigenen Arbeit berhaupt nicht. Nicht einmal punktuell und auch nicht phasenweise. Die Begeisterung fr die Arbeit von anderen Knstlern ist und war zwar definitiv vorhanden, hat aber meine Arbeit nicht beeinflusst. We