sloterdijk, kopernikanische mobilmachung und ptolemäische abrüstung
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Kopernikanische Mobilmachung Und Ptolemäische AbrüstungTRANSCRIPT
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Peter SloterdijkKopernikanische
Mobilmachung undptolemische Abrstung
edition suhrkampSV
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es 375
edition suhrkampNeue Folge Band 375
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Mit seinem neuen Buch interveniert Peter Sloterdijk auf dem Feld, auf dem sich der Zeitgeist gegenwrtig die heftigsten Auseinandersetzun- gen liefert: dem der Kontroverse um Modernismus und Postmodernis- mus. Postmodernismus, so die These Sloterdijks, ist Postkopernikanis- mus. Was ist mit dieser These gemeint? Durch Kopernikus wurde das sogenannte ptolemische Weltbild auer Kraft gesetzt. Der koperni- kanische Schock breitet sich auf allen Gebieten der Kultur aus. Krieg den Selbstverstndlichkeiten! lautet die Parole der antiptolemischen modernen Knste. Diese Exklusion der Selbstverstndlichkeiten hat so- wohl die wirkliche Welt als auch die Welt in den Kpfen durcheinander- gewirbelt. Fr diese Verwirbelung schlgt Peter Sloterdijk die Bezeich- nung kopernikanische Mobilmachung vor. Als Reaktion auf diese Mobilmachung zeigt sich gegenwrtig, so Sloterdijk, ein Rckbezug auf die zuverlssig-trgerischen ptolemischen Wahrheiten. Sloterdijk nennt diesen Rckgang ptolemische Abrstung. Fr ihn sind im groen Dezentrierungswirbel des radikalen Modernismus gewisse Re- zentnerungsmanver ptolemischen Typs notwendig, wenn nicht aus der totalen Mobilmachung die totale Desintegration folgen soll.
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Peter Sloterdijk
Kopernikanische Mobilmachung und ptolemische Abrstung
sthetischer Versuch
Suhrkamp
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edition suhrkamp 375 Neue Folge Band 575
Erste Auage 987 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 987
ErstausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung,
des entlichen Vortrags sowie der bertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.Satz: Hummer, Waldbttelbrunn
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-BadenUmschlagentwurf: Willy Fleckhaus
Printed in Germany
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Ob man sich ein Herz auf die Stirn ttowieren sollte? Alle Welt wrde dann sehen: das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen. Und da es ein tinten- blaues, ein sterbeblaues, ein agonisches Herz wre, knnte man auch sagen: der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen. Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit
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Es gibt im Deutschen die Redensart, da die Spatzen
schon von den Dchern pfeifen, was einem, der vom
Land kommt, noch als Geheimnis oder Neuigkeit er-
scheint. Es spricht nichts dagegen, die Vorstellung vom
Konzert der Spatzen auf dem Dach als Metapher fr ein
Phnomen zu nehmen, das man, wiederum im Deut-
schen, den Zeitgeist nennt. Man darf sich darunter vor-
stellen, was zur Physiognomie einer Epoche oder eines
Jahrzehnts gehrt die Mode der Zelt und ihre philoso-
phischen Leitwrter, ihre technologischen Trends und
ihre sthetischen Gesten. Wenn es legitim ist, die chaoti-
sche Musik ber den Dchern mit dem Lrm des Zeitgei-
stes in Verbindung zu bringen, dann mte der Spatz auf
dem Dach und nicht die Eule der Minerva als das Wap-
pentier der Philosophie gelten zumindest derjenigen,
die sich nicht, wie die Hegelsche, damit zufriedengibt,
vollkommene Erinnerung zu sein und in prinzipieller
Nachtrglichkeit aus der Abenddmmerung aufzustei-
gen. Zwar war es Hegel selbst, der von der Philosophie
gesagt hat, sie sei ihre Zeit, in Gedanken gefat. Doch
Hegel hatte auf diese These kein Anrecht, weil fr ihn die
Zeit aufhrte, gelebte Zeit zu sein, sobald sie auf ihren
Begri gebracht war. Gelebte Zeit hat einen opaken
Kern; im dunklen Glitzern des Augenblicks rhren sich
Spannungen und Tendenzen, die sich nie in begriiche
Selbstdurchsichtigkeit ausen. Bisher haben die Zoolo-
gen nicht erklrt, zu welcher Schule die Spatzen gehren,
die von den Dchern die Geheimnisse des Zeitgeistes aus-
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plaudern. Fest steht, da Spatzen schlechte Hegelianer
sind nicht blo wegen der Krze ihres Gedchtnisses.
Die Spatzenphilosophie ist ein Denken der Gleichzeitig-
keit ein wenig zu laut und zu schnell, wie es dem inken
Emblem entspricht, doch frei von der trgen Omnipo-
tenz der nachtrglichen Klugheit und von der Melancho-
lie der absoluten Erinnerung. Wo Hegels Eule ein Ganzes
sieht, weil das Ganze selbst dem Ende nahe ist und als ver-
sinkende Gestalt des Geistes vor uns erscheint, pfeift der
Spatz seine gegenwrtige Perspektive vom Dach ch-
tige Ansichten, momentane Stimmungen, wandernde
Prole, bewegliche Horizonte. Diese Vgel sind vermut-
lich Situationisten, Perspektivisten, Taoisten. Sie halten
es nicht mit letzten Einsichten und totalistischen Abge-
sngen. Ihre Dachkonzerte sind nomadisch und volatil,
sie begren den Morgen und kennen den Sonnenstand,
die Verdsterungen des Himmels.
Nicht zufllig war die Eule das Symbol des metaphysi-
schen Denkens im alten Europa. Sie symbolisiert das
Vergreisen der Welt, die aus den frhen Kulturen um das
Mittelmeer erwachsen war; sie steht fr eine Betrach-
tungsart, bei der es im Guten wie im Bsen immer
schon zu spt ist. Im eulenhaften, abschlieenden Wissen
kommt der Geist der Untergnge und Verluste zu sich
selbst. Wenn er es in etwas bis zur Gewiheit gebracht
und sein letztes Wort gesprochen hat, bleibt fr ihn nur
der Abschied des Begris vom Leben und das vermit-
telnde Andenken daran. Im letzten Wissen sind die
Schluworte der Dinge versiegelt und die Nachrufe auf
sie niedergelegt. Wer sich aber als guter Alteuroper wirk-
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lich an das Hegelsche Gesetz der Erkenntnis als vollkom-
mener Erinnerung halten wollte, mte auf der Stelle zur
Sule erstarren. So unertrglich ist unsere Lektion: da
Erfahrung und Verzweiung konvergieren. Hingegen
sind die Spatzen ruchlos frhlich bei der Sache des Au-
genblicks, sie trillern in den Tonarten des Zeitgeists
durcheinander und pfeifen skandals auf die Eulentne,
die sich auhren, als sei mit ihnen die Geschichte von
Musik und Weisheit berhaupt am Ende.
Ich berrasche niemanden, wenn ich sage, da eine phi-
losophische Intervention bei einer Veranstaltung, die sich
mit dem Problem der Tonalitt in der heutigen Musik be-
fat, nur indirekt vorgehen kann. Was ich zu bieten versu-
che, ist nicht als Beitrag zu bezeichnen, am ehesten als Ex-
kurs. Ich mu zu Ihnen in einer Sprache sprechen, die zu
den kompositorischen Fragen von auen hinzustt ei-
nerseits mit der Gelassenheit, die aus der Unzustndig-
keit kommt, andererseits mit einer Spannung, als elen
die Entscheidungen ber die Mglichkeit von Philoso-
phie und Musik aus denselben Motiven. Ich werde mit
der Unterstellung arbeiten, da es im musikalischen Zeit-
geist falls Sie mir das teutonische Wort weiter erlauben
kein signikantes Phnomen gibt, das nicht, wenn auch
mittelbar, sein quivalent in den aktuellen philosophi-
schen und literarischen Reexionen fnde. Was die Spat-
zen heute von den Dchern der Metropolen pfeifen, be-
trifft Musik und Philosophie, wenn nicht auf gleiche
Weise, so doch mit hnlicher Dringlichkeit. Ich erlaube
mir kein Vorurteil darber, ob dieses Spatzenkonzert de-
nitiv von postmoderner oder neotonaler Faktur ist
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auch nicht darber, ob die Vokabeln postmodern und re-
aktionr tatschlich nur die hichen und unhichen
Titulierungen derselben Phnomene bedeuten, wie man
es aus dem Mund alarmierter Altmodernisten hrt.
Aus dem Lrm ber den Dchern habe ich drei, vier
Grundmotive herausgehrt, die ich dem Vortrag zugrun-
de lege.
Als erstes kommentiere ich die ostinate Klage ber die
Erschpfung der sthetischen Moderne und die Krise des
historischen Bewutseins. Man braucht kein geschultes
Ohr, um dieses Motiv zu vernehmen die allgegenwr-
tige Panikmeldung, da die Moderne ausrinnt. Eher
mchte man sich manchmal die Ohren zuhalten, um
nicht zu hren, wie eine hhnische Drehorgel das Lied
von der ewigen Wiederkehr des Gleichen spielt. (I)
Dem sekundiert ein Nebenthema, das, mit boshaften
Trillern, davon handelt, wie sich im modernen Kunstbe-
trieb die Interpretation des Kunstwerks in das Kunst-
werk der Interpretation verkehrt hat bis die Funktion
der Werke allein darin zu bestehen scheint, ihrer siegrei-
chen Auslegung durch den Kritiker nicht allzusehr im
Weg zu stehen. Von den kulturellen Voraussetzungen sol-
cher Erscheinungen spreche ich unter dem Stichwort:
Die philosophische berlastung der sthetik und der
hermeneutische Moralismus. (II)
Das dritte Motiv kann keine berraschung bieten: not-
gedrungen mu von Postmodernismus die Rede sein, da
das Gercht von ihm lauter als alles von den Dchern
schallt. Es ist, als htte eine Majoritt von Vgeln mit
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einem Schlag begrien, da das, was bisher im Namen
des Modernismus von den Dchern gesungen wurde,
auch nur Spatzenmusik gewesen ist, die so raniert war,
sich fr das Ma der Dinge halten zu lassen, wenn nicht
fr die Stimme des Weltgeistes selbst das ist die deutsche
Luxusausgabe des Zeitgeistes. Seither sehen sehr viele
Spatzen nicht mehr ein, warum sie den Schnabel halten
sollten, um der Musik zuzuhren, die von den Moderni-
sten ber die Dcher gepen wurde. Mglicherweise ist
die Postmoderne nichts anderes als das, was von den D-
chern tnt, wenn Spatzen, die bisher den Schnabel gehal-
ten haben, pltzlich nicht mehr einsehen, warum sie ihn
lnger halten sollten, und nun dieses Nicht-Einsehen als
neuesten Trend von den Dchern pfeifen. Wenn Zeitgeist
und Spatzenmusik seit je identisch waren, dann braucht
man nur diese erschtternde Einsicht von den Dchern
zu pfeifen, und ein neuer Zeitgeist ist geboren, der seine
Substanz in der Erkenntnis hat, da alle Spatzen dem
Himmel gleich nahe sind vorausgesetzt, sie htten ein
Dach, um herabzupfeifen. Die Postmoderne ist ein auto-
poietisches System, das sich zu stabilisieren beginnt, so-
bald eine kritische Masse von Spatzen anfngt, von den
Dchern zu singen, da sie nicht einsehen, warum sie
nicht auch so von den Dchern singen sollten, wie man
ihnen beigebracht hat, da sie nicht singen sollten. Damit
markiert Postmoderne, optimistisch gesehen, ein voran-
geschrittenes Stadium sthetischer Demokratie: die cle-
veren Vgel des Westens trillern ber den Kpfen des Pu-
blikums, da knftig als avancierte Kunst gelten wird,
was auch immer von den Dchern gepen wird. In pes-
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simistischer Sicht signalisiert sie allerdings die Abdan-
kung der Qualittsgefhle einen vandalischen Ausver-
kauf, in dem der sthetische Merkantilismus die letzen
normativen Hemmungen beseitigt, die seinem Sturmlauf
im Weg lagen; nach fast food nun auch fast aesthetics. Die dritte berlegung handelt also von der postmodernen
Logik selbstpfeifender Systeme oder, wenn Sie wollen,
von der Logik autogener Gerchte. Sie deutet an, wie die
Neue Musik, in atonalen und tonalen Varianten, an sol-
chen Logiken teilhat kraft der Selbstbezglichkeit von
exklusiven Mechanismen. Es werden in diesem Zusam-
menhang einige historisch-anthropologische Anmerkun-
gen fllig, die ich unter dem Titel: Kopernikanische Mo-
bilmachung und ptolemische Abrstung vortrage. (III)
Der Tenor der abschlieenden Betrachtung erinnert
wieder mehr an den Theorietypus der Eule als ans leicht-
sinnige Zeitgeistgezwitscher. Ausgehend von erneuerten
musikontologischen harmonikalen Spekulationen fr
die Joachim Ernst Berendts vielbeachtetes Buch Nada Brahma. Die Welt ist Klang als Muster dient , taste ich mich in einen Bereich von hoher Brisanz vor: den, wo die
Option fr Tonalitt zur naturphilosophischen Konfes-
sion wird. Hier wird das Kampeld erkennbar, auf dem
die ideologische Schlacht um neotonale Phnomene im
Komponieren der Gegenwart ausgefochten wird. Die so-
genannte Rckkehr der Tonalitt, soweit sie nicht de-
zisionistisch und opportun ist, sondern argumentative
Prole zeigt, gehrt, wie ich zeigen mchte, in einen
philosophisch bedeutsamen Zusammenhang mit dem,
was ich die neo-synthetischen Denkformen nenne. Diese
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bilden gleichsam den logischen Generalba avancierter
Aufklrungszustnde, indem sie Antworten auf die kri-
tischste Frage gerade erfolgreicher Modernisierungen
entwerfen: Wie sind lebensorientierende Weltansichten,
im Jargon: Neue Synthesen, angesichts einer Kultur der
entfesselten Analysis noch mglich? In welcher Gestalt
kommen Subjekte unter Bedingungen der Modernitt zu
einer positiven Philosophie? In welcher Weise knnte
philosophisches Denken die Zumutungen des Weltan-
schauungsbedrfnisses annehmen? Welchen Platz be-
hauptet die strenge Philosophie im Getmmel der
neuen Mythen und Prophetien? Lt sich die analytische
Konfession des modernen Philosophierens mit einem Be-
gri des Denkens vereinbaren, der eine Analogie zwi-
schen Denken und Komponieren anerkennt? Oder sind
Philosophie und Privatmythologien ein fr allemal ge-
schiedene Funktionen und kann nur die Analyse seris
sein, whrend Synthese fr immer in den sthetischen,
mythomanischen, neurotischen Untergrund verbannt
bleiben wird? (IV)
Oensichtlich nehmen diese berlegungen eine Frage
auf, die Jrgen Habermas krzlich unter dem Titel Die Neue Unbersichtlichkeit zur Diskussion gestellt hat ein guter Titel nebenbei, da er sich zu dem Phnomen,
trotz aller Sorge, vorsichtig positivierend verhlt. Er cha-
rakterisiert einen Eekt, der an dem Tumult der neuen
Weltanschauungsfabrikationen haftet. Wenn zahllose
Einzelne perspektivisch und freihndig ihre Neuen Syn-
thesen entwerfen, um bersicht im Chaos der Neuzeit
zu gewinnen, dann wchst insgesamt die Konfusion ex-
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ponentiell an. Damit haben wir es jetzt zu tun. Eine wei-
tere bersicht ber die Neuen bersichten, die alte Un-
bersichtlichkeiten wegarbeiten sollten, erkennt mit
Notwendigkeit Neue Unbersichtlichkeit. Wie wir mit
dieser umgehen werden oder wie wir ertragen, was sie
mit uns macht , ist eine wesentliche ideenpolitische Pro-
blematik des Augenblicks. Es ist vermutlich fr die Kom-
ponisten Neuer Musik leichter, sich zu vergegenwrti-
gen, was das heit, als fr Rationalisten alter Schule, die
mit allem, was Konstruktion heit, nur defensiv und
ideologiekritisch umzugehen verstehen bestenfalls im
Stil eines diskursiven Neo-Bauhauses, unter aus-
schlielicher Verwendung von Glas, Stahl und logischen
Verbindungen. Wer sich am Problemdruck der Neo-Syn-
thetiker orientiert, erkennt, wenn nicht in ihren Antwor-
ten (die meist primitivistisch bleiben), so doch in ihren
Fragen eine kompositionspolitische Herausforderung.
Die Kunst ist berall, weil das Kunstwerk im Herzen
der Wirklichkeit steht. (Jean Baudrillard) *
* LEchange symbolique et la mort,Paris, 976, 8. 6.
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I. Von der Erschpfung des sthetischen Modernismus und der Krise des historischen
Bewutseins
Das ist die Macht der modernen sthetik: man kann nicht Knstler sein und an die Geschichte glauben.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit
Wer vom Ausrinnen der Moderne spricht, kann eine Un-
zahl heterogener Beobachtungen vor Augen haben, die
nur in einer sehr allgemeinen Feststellung zusammenlau-
fen: da die reale Moderne und ihr Bild, das jahrzehnte-
lang die Kpfe beherrschte, verschiedene Dinge sind,
deren Verwechslung knftig nicht mehr unbemerkt
bleibt. Die Moderne und ihr Gercht waren zweierlei.
Diese These ist so trivial wie berraschend. Es steht je-
doch fest: die verbreiteten Programme der Modernitt
haben die scheinbar einfache Unterscheidung des Phno-
mens von seinem Mythos bisher nicht oder nur unzu-
lnglich gemacht nicht machen knnen, weil sie selbst
Agenten des Mythos waren. Erst im Zwielicht der soge-
nannten Postmoderne wird die Trennung der Wrter und
der Dinge zwingend, auch wenn sich zeigen wird, da in
einer Kultur mit hoher Zeichenemission die Dinge selbst
bereits Wrter sind. Wir erkennen aufgrund unserer ver-
nderten Stellung in der Zeit ohne da dies das persnli-
che Verdienst von irgendwem wre , da die Moderne
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zugleich sehr viel mehr und sehr viel weniger war als das,
wofr sie sich hielt und halten lie.
Das gilt zunchst fr den augenflligsten Proze, der
seit kaum dreihundert Jahren, von europischen Lndern
ausgehend, das Gesicht der Erde revolutioniert das Auf-
kommen der groen Technologie. Heute wei im Westen
jedes Schulkind, was vor hundert Jahren nur den als reak-
tionr verschrieenen Zivilisationskritikern Sorgen berei-
tete: die Entfesselung der technologischen Potentiale war
nicht nur die Befreiung von dienstbaren Geistern, die
Milliarden Jahre in der Erde schliefen und dem Augen-
blick entgegentrumten, in dem sie unter dem Namen
von Produktivkrften zugunsten menschlicher Projekte
erwachen sollten; diese Freisetzung war zugleich eine ka-
tastrophenartige Einleitung von Prozessen mit hchstem
Fatalittsrisiko. Damit kommt mehr zum Zug als das
Einerseits-Andrerseits der dialektischen Besinnungsauf-
stze wonach neben den segensreichen modernen Tech-
niken leider auch Kriegsarsenale entstanden sind, als be-
dauerlicher Schatten des grotechnischen Lichts. Es
mehren sich Indizien, die es nahelegen, die Produktiv-
kraftentfesselung als vereinten Eekt von polemischen
und eschatologischen Motiven zu begreifen als einen
Heiligen Krieg des Superraubtieres Homo sapiens sicut deus gegen die Biosphre mit dem Ziel, ein Endreich der anthropozentrischen Perfektion aufzurichten. Der
Ausdruck Produktivkrfte verschleiert mit seinem ar-
beitseuphorischen Akzent den Feldzugscharakter des
Geschehens und lenkt von der Tatsache ab, da die Unter-
scheidung zwischen Werkzeugen und Waen unter ko-
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logischen, politischen und philosophischen Aspekten
sich im Zusammenbruch bendet.
Die neuzeitlichen Naturwissenschaften der Alliierte
des technologischen Durchbruchs sind ihrerseits lngst
auf einem Weg ins Unheimliche. Sie sind in Bereiche vor-
gedrungen, wo die herkmmlichen Ideen von Natur und
Naturbeherrschung schwanken. Jenseits der triumpha-
len Einzelerkenntnisse net sich ein Bezirk, in dem nur
Schwindelgefhle dem, was sich zeigt, noch angemessen
sind. Hamlet war privilegiert, als er klagte, the time is out of joint. Neuerdings ist mehr aus den Fugen als die Zeit- auch Raum, Materie, Energie, Gro, Klein, Oben, Unten
und alles weitere. So liegt es auf der Hand, da Moder-
nisierung zugleich mehr war und weniger, als ihre ersten
Legitimatoren dachten; sie war sehr viel weniger als eine
direkte Linie zur Weltbefriedung und zur Aufhebung ma-
terieller bel auf dem Planeten; aber sehr viel mehr als
ein konsekutives Weiterbauen auf den Grundlagen des
6. und 7. Jahrhunderts. Leicht liee sich diese Betrach-
tung auf alle Prozeaspekte ausdehnen; jedesmal wrde
sie eine analoge Dialektik zutage frdern wobei der Be-
gri Dialektik zweifellos zu bequem ist fr die Gegensin-
nigkeit der Phnomene.
Auch der sthetische Bereich ist von Paradoxien nicht
verschont. Der oberchlichste Blick auf die Kunstge-
schichte des 20. Jahrhunderts erkennt, da in ihr ein pro-
vozierendes Miverhltnis zwischen den Aufbrchen
und den Entwicklungen herrscht. Die Prozesse haben
ihre Programme zugleich dementiert und bergelt. Zu
Recht bildet die Deutung dieses Miverhltnisses einen
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Drehpunkt neuerer kunsttheoretischer Reexionen. Hat
sich gegen Ende dieses Jahrhunderts die Diagnose der
Frankfurter Schule besttigt, da im Zeichen der Kultur-
industrie Aufklrung in Massenbetrug umschlgt? Hat
sich erwiesen, da die formalen und technischen Errun-
genschaften des Modernismus in Hilfsmittel des Ungei-
stes ausarten? Ist Regression der Moderne die General-
formel fr das, was sich nach den heroischen Eruptionen
um das Jahr 90 zugetragen hat?
Tatschlich hat diese Rckschlagstheorie ihre Anhnger,
aber da ich sie fr irrefhrend halte, will ich mich mit ihr
nicht befassen. Das Problem freilich, das mit der Formel
vom Veralten der Moderne umschrieben wird, besteht,
wie jeder zugibt, legitimerweise. Will man die Kunst der
nach-avantgardistischen Generationen nicht als Restau-
ration oder Regression abqualizieren, dann mu man
zeigen, wie die sachlichen Grnde und Prozeregeln be-
schaen sind, die bewirken, da die sthetischen Ent-
wicklungen des letzten halben Jahrhunderts auf ihre
Weise ebenfalls zugleich mehr und weniger bedeuten
als die Erfllung modernistischer Programme. Solche
Grnde darf man nicht in erster Linie bei der Psycholo-
gie suchen. Natrlich wei man, da Neoklassizismus
zu den typischen Altersrisiken von Dadaisten gehrt,
wie auch Frmmigkeit bei Atheisten, Bordellwirtinnen
und Physikern in fortgeschrittenen Jahren sprichwrt-
lich ist. Aber man kann epochale Bewegungen wie Stil-
entwicklungen in den Knsten nicht mit biographischen
Begrien einfangen. Die groen Trends gleichen weder
persnlichen Reifungsprozessen, noch sind sie wie
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quasi-biologische Konstanten der Moderne als solcher
immanent, als wre diese ein lebender Organismus oder
eine metaphysische Entitt. Wir wollen in der Kultur-
theorie alles nur keine Spenglersche Pseudobiologie.
Sinnvoller scheint es, nach den sthetischen Prinzipien
und Produktionsgesetzen selbst zu fragen.
Den Schlssel zum Verstndnis moderner Kunstpro-
duktion liefert deren eigenes Geschehen: unbersehbar
ist der enge Zusammenhang zwischen der Entfesselung
der sthetischen Mittel und dem Schockprinzip als Trger
des Rapports zum Publikum der neuen Kunst. Was in den
zeitgenssischen Techniken erobert wurde: das Montage-
verfahren, die Emanzipation der Dissonanz, das Verfrem-
dungsprinzip, die Abstraktion von Gegenstndlichkeit,
die Sprengung des Dogmas realistischer Mimesis, die
Aufhebung berlieferter formaler und harmonikaler
Zwangsregeln, die neuen Technomorphien, die stheti-
sche Ausnutzung von Kalkl und Zufall das alles, um
die Aufzhlung abzubrechen, ist unlsbar verwoben mit
einer sthetischen Strategie des Schockierens, Befrem-
dens, Wachrtteins, Verweigerns und Verstummens. Um
die frhe Moderne liegt dieser sprde Zauber das Wag-
nis einer neuen Hermetik. Sie gibt den Werken dieser Zeit
ihre unwiederholbare Authentizitt.
Wenn die Moderne in der zweiten, dritten, vierten Gene-
ration von diesen Denkmlern teils respektvoll, teils blas-
phemisch abrckt, so kommt in dieser Distanzierung
eine Art von sthetischem Sachzwang zur Auswirkung.
Der Schock kann nicht auf Dauer die Nerven wie zum er-
sten Mal berfallen. Stricto sensu ist die Schocksthetik
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ihr eigener Erlediger, der einer spteren Kunst die Tr -
net. So geht das Veralten der Moderne zu groen Teilen
auf deren eigene Rechnung, ohne da man blind sein
mte fr die Verbindungen zwischen den sthetischen
Entwicklungen und dem sozialen Wandel (auch eine
Vokabel aus der Liturgie der Modernisierungsreligion).
Was zum Altern der Moderne beitrgt, ist das sthetische
Bildungssystem, das ber die modernen Knste nicht
nur einen historischen Schleier, sondern einen Teppich
von Historismen ausgebreitet hat. Heute ist die Kunst-
geschichtsschreibung mit den Kunstereignissen gleich
schnell geworden; mit immer engeren Regelkreisen von
Innovation, berinterpretation, Propaganda, Vermark-
tung und kunsthistorischer Einordung verfngt sich die
Kunst in unentwirrbaren Auto- und Heterogenesen bis
sie dort ankommt, wo wir begonnen haben: beim auto-
poietischen Spatzenkonzert, durch das sich die Postmo-
derne als freitragendes Gercht ihrer selbst stabilisiert.
Da scheint die Synthese zwischen Selbsthypnose und
Selbstreklame gelungen: Kunst ist genau das, was sie aus
sich selbst zu machen versteht und weiter nichts. Man
fhlt sich an eine Fortfhrung des Deutschen Idealismus
mit anderen Mitteln erinnert; Kunst wre die Produktion
von Welten aus freien Tathandlungen Fichteschen Stils,
mit dem Unterschied, da das Subjekt dieser Tathandlun-
gen sich nicht ermitteln lt, weil man nicht mehr fest-
stellen kann, wer es war, der mit dem Trubel angefangen
hat. Und selbst wenn man sagte, da eben die Klassiker
der Moderne es waren, so hilft uns diese Identizierung
nicht weiter, weil wir darber rtseln, warum die Mo-
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derne nicht fortgeschritten ist, wie ihre mythischen Vter sie entworfen hatten. Gerade weil der Fortgang seine An-
fnge dementieren mute, sind sie ja mythische Vter
Gestalten einer Geschichte, die so unwiderruich Ver-
gangenheitscharakter hat wie das 9. Jahrhundert oder
das Cinquecento.
Wenn der Schock Schulfach wird, wenn Kunststudenten
im Proseminar Dada ben und die Akademie als Diplom-
surrealisten verlassen, so hat sich ein tragendes Prinzip
des Modernismus endogen erschpft. Die postmoderne
Indierenz gegen gewisse Axiome der modernistischen
Sprdigkeit ist darum prozelogisch korrekt und keines-
wegs nur die Preisgabe einer lteren Radikalitt zugun-
sten einer Neuen Geflligkeit. Es entspricht evolutio-
nrer Konsequenz, wenn heutige Kunstuerungen oft
weniger Schockintentionen zeigen und sich gegen die
Materialglubigkeit lterer Tage reserviert verhalten. So-
fern sich die neuen sthetischen Codes an vernderten Pa-
rametern der Intensivierung messen, sei es in Richtung
auf neue Einfachheiten oder auf hermetische Formen, so
spricht dies von kunstgeschichtlich notwendigen und
sinnvollen Sedimentierungen, Filterungen und Abkl-
rungen der expressiven Verfahren. Nicht zufllig haben
die Werke der Gegenwart hug relativierende Attribute
um sich, sie werden leiser, fungibler, weniger epatant,
biographischer, subkultureller, ironischer gegen Genia-
lismus, skeptischer gegen Wirkung sowie Wirkungsver-
weigerung und sind doch nicht weniger beharrlich und
erfahren in ihren Bemhungen um die Rtsel des Ge-
bildes.
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Im postradikalen Klima verliert die ehrwrdige Idee der
Avantgarde ihren kunstgeschichtlich etablierten Sinn.
Das heit nicht, da es nicht weiterhin gewaltige Ent-
wicklungsabstnde und Rangunterschiede der artisti-
schen Kraft gbe, aber diese Dierenzen knnen nicht
mehr als Kriterien oder Positionslampen der kulturellen
Evolution im ganzen gedeutet werden. Gerade dies lag in
der Programmatik der klassischen Avantgardismen. Sie
waren geistesverwandt mit geschichtsphilosophischen
Denkformen, unter denen vor allem der liberale Progres-
sismus, der marxistische Produktionsmessianismus und
der sthetisch-sozietre Anarchismus folgenreich wur-
den. Nur im Rahmen solcher skular-eschatologischer
Projektionen von Ende und Ziel der Menschheitsge-
schichte waren Ideen von oensiven Vorhuten sinnvoll,
Ideen, die in der Folge teils direkt, teils indirekt auf die
Sturmspitzen sthetischer Innovationsbewegungen ber-
tragen wurden. Dadurch hatten die sthetischen Avant-
garden Anteil am Geist brgerlicher Geschichtsphilo-
sophien und ihrer kleinbrgerlichen und proletarischen
Varianten. Auch der sthetische Avantgardismus war mit-
telbar einer skularen Idee von Heilsgeschichte verpich-
tet. Er partizipiert an Programmen humaner Selbster-
lsung im Geist der brgerlichen Arbeitsanthropologie
und in der Honung auf die expressive Entfesselung des
Einzelnen. Hierin ist der Modernismus in den Knsten
untrennbar vom utopischen Geschichtsdenken des euro-
asiatisch-amerikanischen Arbeitsbrgertums. Er atmet
denselben Geist des Angris auf die Zukunft und
dort noch, wo er aggressiv antibrgerlich und geschichts-
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verachtend auftritt, verbleibt er in einer Erfahrungsge-
meinschaft mit den Schwundformen und Selbstdementis
einer prometheischen Fortschrittsideologie. Aus man-
chen Kunstethiken und Programmschriften der oensi-
ven Frhmoderne lassen sich Trume eines sthetischen
Willens zur Macht ablesen. Wie man sich erinnert, hat
kein Geringerer als Arnold Schnberg die Erndung
der Zwlftonkomposition mit fast kunstimperialisti-
scher Euphorie als eine Neuerung proklamiert, durch
welche das ist ein Zitat die Vorherrschaft der deut-
schen Musik fr die nchsten hundert Jahre gesichert
ist. Natrlich stellen solche Formulierungen weder
Schnbergs Integritt noch die Substantialitt seines
Werks in Frage; jedoch ist sein Traum von einer zweiten
Wiener Hegemonie in der Weltmusik von geschichtsphi-
losophischen Annahmen geprgt, die als verfehlt emp-
funden werden mssen. Wien konnte ebensowenig zur
Mitte eines zweiten atonalen Kaiserreichs werden wie
Bayreuth zum Tempel einer musikalischen Weltreligion
christlich-germanischen Geprges. Die Gre beider Er-
scheinungen ist untrennbar von ihrer Unvollendbarkeit,
und im ganzen sind beide noch eindrucksvoll, weil sie
singulre Kulminationen blieben, die herausragen, ohne
zu herrschen.
Zum Erbe der Wiener Schule kann man sich seither ver-
halten, wie man mag, ob als Erbe, als Rebell oder als In-
dierentist in keinem Fall kann man die Erfahrung der
postavantgardistischen Kondition umgehen. Was Vorhut
war, ist nicht nur durch zeitlich Spteres abgelst, son-
dern in seiner Avantgardequalitt selbst problematisch
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geworden. Das meint nicht, da ihre Werke berboten
worden wren auch nicht, da sie, zu Klassikern ent-
schrft, zu den Akten gelegt wren und in der Ge-
schichte ihren Platz gefunden htten. Ist die Geschichte
berhaupt noch etwas, worin etwas seinen Platz nden
kann? Wurde Geschichte als solche nicht zu einer Sache,
die Mhe hat, ihren Rang im Wirklichen zu behaupten?
Es ist nicht ausgemacht, ob wir das historisch Zurck-
liegende noch ohne weiteres als eigene Geschichte an-
sehen knnen, die uns Vermchtnisse, Bindungen und
Zukunftschancen ausgehndigt htte. Lngst verhlt sich
die Mehrheit der Zeitgenossen zu ihrer belanglos ge-
wordenen Vergangenheit enterbt, entbunden und so, als
wren schon gestern die Gelegenheiten von morgen ver-
spielt worden. Die moderne Ratlosigkeit vor der iehen-
den Zeit ist durch welthistorisches Erzhlen nicht mehr
zu trsten. Die groe GESCHICHTE von einst ent-
puppt sich als eine evolutionre List, die sich nicht verra-
ten durfte, wenn sie wirksam bleiben wollte: als ein ak-
tiver autohypnotischer Mythos. Dieses Geheimnis ist
heute ausgeplaudert und um seine Wirkung gebracht.
Vielleicht war GESCHICHTE nur ein Mrchen von ge-
waltiger Realittsmchtigkeit, die sich so lange bewhrte,
wie die Adressaten des Mrchens dazu gebracht werden
konnten, selber zu Subjekten der Mrchenhandlung zu
werden und ihre persnlichen Geschichten in die GE-
SCHICHTE einzuweben.
Geschichten bleiben nur in der Geschichte des Ge-
schichtenerzhlens sinnvoll. Und wie es beim Erzhlen
vorkommt, da eine Geschichte endet, weil eine andere
24
-
angeknpft wird, so kann auch die Erzhlung von der
GESCHICHTE der modernen Kunst abgebrochen und
in neue Richtungen weitererzhlt werden, sobald andere
Erzhlungen von anderen Kompositionen und andere
Kompositionen der Geschichte sich ins endlose Erzhl-
gewebe einechten. Den Theoretikern des Modernis-
mus ist die Labilitt ihres Projekts freilich nicht entgan-
gen. Es war besonders Adorno, der frhzeitig auf die
Risiken des Geschichtsverlusts vorausgeblickt hat. Er
erkannte, da der Mythos der Moderne sich selbst ge-
fhrdet, indem er das Moment der Diskontinuitt und
den Habitus des Bruchs mit den Traditionen unter-
streicht; unweigerlich wrden die Prinzipien des Mo-
dernismus eines Tages gegen diesen selbst zur Wirkung
kommen. Darum konnte auch Adorno den Mythos der
Moderne nur mit Mitteln verteidigen, die eher elitrem
Exorzismus als liberaler Permissivitt anstanden. Was
sich nicht seiner Moderne-Erzhlung einverleiben lie,
verwarf er als kunstgewerbliche Reaktion oder als Beitrag
zur Zerstrung des geschichtlichen Bewutseins. Sein
Urteil ist bis heute virulent. Die Strategie dieses Urteils
jedoch ist durchsichtig: es gehrt zu den vorgeschobenen
Verteidigungslinien der modernistischen Mythologie, die
ihre Unhaltbarkeit vorausfhlt.
Vieles von dem, was in den nach-avantgardistischen
Knsten des letzten halben Jahrhunderts zutage kam, de-
mentiert den oensiven Mythos der Moderne, ohne aus
dem Ensemble legitimer moderner Ausdrucksformen
ausgeschlossen werden zu drfen. Was sthetisch die
Uhren geschlagen haben, sagen nicht mehr die avantgar-
25
-
distischen Geschichtsdoktrinen. Vermutlich besagt der
Schlag der Uhren seit langem nichts anderes mehr als das
Ende avantgardistischer Exklusivitt das Ende der Ein-
schchterung durch normativen Modernismus.
26
-
II. Die philosophische berlastung der sthetik und der
hermeneutische Moralismus
Es konnte den Anschein haben, als sei die Philosophie an die Knstler bergegangen; als gingen von ihnen die neuen Impulse aus. Als seien sie die Propheten der Wieder- geburt. Wenn wir Kandinsky oder Picasso sagten, mein- ten wir nicht Maler, sondern Priester; nicht Handwerker, sondern Schpfer neuer Welten, neuer Paradiese.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit
Die Wendung vom Ende der Einschchterung durch Mo-
dernitt bedarf der Erluterung. Zwar verstehen Angeh-
rige der metropolitanen Subkulturen sofort, was die For-
mel sagt es herrscht in solchen Dingen ein Konsensus
der Nerven. Aber man darf weniger dessen sicher sein, ob
man versteht, warum man versteht. Es ist keineswegs
selbstverstndlich, da ein kulturelles System, von dem
im ganzen emanzipatorische Wirkungen ausgingen, bei
Sptergeborenen seinerseits antiautoritre Regungen her-
vorruft. Wie ist es zu erklren, da sthetische Entfesse-
lungen als neue Hemmungen wahrgenommen werden
knnen? Welche Vorgnge sind dafr verantwortlich, da
jngere Knstler, unter ihnen die Begabtesten ihrer Ge-
neration, gegen manche Vermchtnisse des Altmodernis-
mus empndlich reagieren? Mit welchem Recht kann der
Komponist Reinhard Febel das Wort Befreiung gebrau-
27
-
chen, wenn er von der Einsicht spricht, da die von der
Wiener Schule ausgerufene Verbindlichkeit der Atonalitt
fr authentisches Komponieren in der Gegenwart als
ohnmchtige Legende durchschaubar geworden sei? *
Man mu, um in die Tiefenstruktur des Problems einzu-
dringen, einige Schichten von polemischem und interes-
siertem Denken abtragen. Dazu gehrt alles, was Gene-
rationskonikte und entsprechende Schulstreitigkeiten
anbelangt. Seit einiger Zeit lt sich mit guten Grnden
behaupten, da der Konikt zwischen Jungen und Alten
in der westlichen Hemisphre seine kulturgeschichtliche
Sprengkraft verloren hat whrend er in Osteuropa und
in einigen Lndern der Dritten Welt noch eine Rolle als
psychischer Motor beginnender Modernisierungs- und
Liberalisierungsprozesse spielen kann. Eher zeichnet
sich hier eine Umkehrung der Fronten ab; hug sind es
die lteren, die ber das Zurckbleiben der sogenannten
Jugend sich entsetzt zeigen. Adornos grimmige Bemer-
kung ber die jungen Fossilien, die von neuem mit der
Tonalitt daherkommen, steht fr das Phnomen ins-
gesamt. Doch auch die Gegenpolemik gehrt noch a-
cheren Schichten des Problems an. Es dient nicht der
Klrung zu behaupten, der Modernismus, einmal redak-
tionell und betrieblich an der Macht, habe sich zu einem
sthetischen Kartell verschworen, das seine Tabus und
Mastbe dem Kunstleben der Spteren aufgezwungen
htte. Wer eine solche Optik whlt, verkleinert das Ereig-
nis Moderne und reduziert es auf willkrliche Verabre-
* Vgl. Reinhard Febel, Tonalitt nach ihrer Katastrophe, in: Musik-Texte, Heft 4, April 986.
28
-
dungen oder Setzungen. Zwar ist es richtig, das Organi-
sierte an der Bewegung der Moderne ebenso klar im Auge
zu behalten wie das Spontane; aber es wre nur verbohrte
Entlarvungsschlauheit, zu meinen, man knne in diesen
Dingen das Spontane gegen das Organisierte so ausspie-
len, als sei nur das Spontane authentisch und notwendig
und das Organisierte berssig und hinzugemacht. In
komplexen Prozessen, die kulturelle Symbolismen um-
formen, sind beide als unentbehrliche Komponenten des
Gesamtereignisses ineinander verschlungen. Darum ist
der Modernismus seinem historisch-kulturellen Eigen-
sinn nach etwas radikal anderes als die Diktatur einer
sthetischen Einheitspartei, die immer recht htte. Zwar
besitzen Machtdiktate und Qualittssprnge einen Be-
rhrungspunkt in ihrer Durchsetzungsenergie und zei-
gen eine uerlich analoge Unwiderstehlichkeit, bleiben
im wesentlichen aber unvergleichbar. Wien war nicht
Moskau, Berlin nicht Havanna.
Wie erklrt sich jedoch das eigentmliche, zugleich ex-
zessive und strenge Flair des frhen radikalen Moder-
nismus dieses ethisch-esoterische Klima, in dem aus
Errungenschaften Erpressungen werden und aus Befrei-
ungen zweite autoritre Komplexe? Diese Frage ist hier
nicht zu beantworten. Eine berzeugende Behandlung
wrde eine fundamentale Rekonstruktion der neuzeitli-
chen Kunst- und Kulturgeschichte voraussetzen. Sie
mte sich in Fragen versenken, von denen wir im Au-
genblick nicht einmal korrekt angeben knnten, wie sie
gestellt werden mssen, um fruchtbare Forschung in
Gang zu bringen. Es ginge dabei um nichts Geringeres als
29
-
eine philosophische kologie der Knste im geistigen
Haushalt der westlichen Gesellschaften seit dem Sptmit-
telalter. Nur in anspruchslos skizzenhafter Weise kann
ich hier andeuten, worum es sich handelte, wenn der
sthetische Modernismus in seiner Durchbruchsperiode
sich mit einem Pathos prsentierte, das man nur aus
den Religionskriegen kannte. Warum wurde im Europa
des frhen 20. Jahrhunderts an den Wendepunkten der
Kunstgeschichte um sthetische Fragen gerungen, als
wre Kunst sichtbare und hrbare Eschatologie? Wieso
wurden sthetische Alternativen mit einer Leidenschaft
umkmpft, die sonst dem Streit um Letzte Dinge vorbe-
halten ist? Warum war Ornament Verbrechen? Warum
war einer, dem ein trivialer Dreiklang unterlief, ein ber-
lufer zu den Lemuren? Kraft welcher Sensibilisierungen
hrte die radikale Sprachkritik aus einem Satzzeichenfeh-
ler den Aufstand der Unterwelt heraus?
Eine Antwort hierauf von weit her anzudeuten, fllt
schwer; man mu auf einen Vorgang hinweisen, den wir
bis zur Stunde nur umrihaft erkennen, da er in seiner
Unabsehbarkeit und Grorumigkeit jede methodisch si-
cher zu handhabende Optik bersteigt. Man knnte ihn
nennen: das Auseinanderbrechen des alteuropischen
Wahrheitsbegris. Wieder sehr grob gesprochen, meint
dies, da die drei Dimensionen des klassischen Wahr-
heitsraumes in unvershnbare Richtungen auseinander-
treiben. Das Wahre verliert tendenziell seine Beziehung
zum Schnen und Guten, das Schne emanzipiert sich
mit grandiosem und bedrohlichem Eigensinn von Gut-
heit und Wahrheit, und das Gute wird vollends zu etwas,
30
-
das zu schn wre, um wahr zu sein. Man darf dieses Aus-
einanderstreben der klassischen Wahrheitskomponenten
wohl nicht ausschlielich aufs Konto der Neuzeit schrei-
ben. Wahrscheinlich war seit jeher in der Dreieinigkeit
der alteuropischen Wahrheitsidee ein zentrifugales Mo-
ment wirksam, das durch die Integrationsleidenschaft
der groen Denker mhevoll in Schranken gehalten
wurde. Sicher ist jedoch, da mit dem Beginn der Neu-
zeit die Eigengesetzlichkeit der Dimensionen sich entfes-
selt hat. Diese Freisetzung fhrt zu einem fundamentalen
Wandel dessen, was man bisher wahr, gut oder schn ge-
nannt hatte; die modernen Wirklichkeiten entgleiten zu-
nehmend ihren alten Begrien. Jedes von den dreien wird
sehr viel mehr als in seiner bisherigen Seinsweise und zu-
gleich sehr viel weniger; mehr, indem die losgelsten Be- reiche des verwissenschaftlichen Wissens, des technisch-
politischen Knnens und des sthetischen Ausdrucks
berwltigend an Umfang und Dierenziertheit gewin-
nen; weniger, indem diese ins Unermeliche gesteigerten Welten ihren Zusammenhang untereinander bis zur Be-
ziehungslosigkeit verdnnen, so da heute die glnzend-
ste Einzelleistung des Wissens, des Knnens oder des
sthetischen Ausdrucks einen unaufholbaren Rckstand
hinter den schlichtesten integralen Wahrheiten der
alten Griechen, Inder oder Chinesen aufweist: denn das
moderne Wahre ist tendenziell nur noch richtig oder kon-
sequent; das moderne Gute nur noch ntzlich oder er-
folgreich; das moderne Schne nur noch eindrucksvoll
oder sinnfllig.
Die aktuelle Weltsituation hngt in einem Ausma, das
3
-
selten bedacht wird, mit dieser Explosion des klassischen
Wahrheitsbegris zusammen einer Explosion, die zu-
nchst das moderne Europa von seiner eigenen medi-
terran-germanisch-slawischen Vergangenheit absprengte
und in der Folge den gesamten Planeten in einen Vernde-
rungstaumel strzte, dessen Ende keiner absieht es sei
denn, er wre ein Prophet der technologischen Apoka-
lypse. Wahrheitsbegrie sind nicht, wie harmlose oder
geistfeindliche Gemter annehmen, die Angelegenheiten
weitabgewandter Philosophen. Sie sind die ontologi-
schen Zentralnervensysteme der Zivilisationen; sie ent-
scheiden ber die Art und Weise, wie und ob Kulturen
sich in auermenschliche Umwelten einfgen; sie bestim-
men darber, wie sich die Kulturen selbst symbolisch
ordnen oder desorganisieren. Die Auslegung der Welt
und die Strukturierung menschlichen Lebens sind von-
einander untrennbar und ber das vermittelt, was in einer
Kultur als Wahrheitsfunktion in Kraft ist.
Dies mag erklren, warum ein Phnomen wie das Zer-
brechen eines alten Wahrheitsbegris als zivilisatorisches
Warnzeichen aufgefat werden kann. Die voranschrei-
tende Desintegration der Wahrheitsdimensionen taucht
alle Erfolge der Modernitt ins Zwielicht des Unheim-
lichen; sie signalisiert, da da etwas aus den Fugen
gert, da etwas nicht mehr stimmt, da alte Passungen
nicht mehr gelten, da etwas zerfllt, was in der einen
oder anderen Weise gleichwohl zusammengehalten wer-
den mte.
Whrend sich die einen es in einer Kultur der groarti-
gen Einseitigkeiten bequem zu machen versuchen, fh-
32
-
len sich andere in eine Art von metaphysischem Alarm
versetzt und zu neuartigen Bemhungen um Wiederver-
mittlung des Auseinandertreibenden provoziert. Solche
vermittelnden Anstrengungen sind es, die whrend der
vergangenen zweihundert Jahre die Geschichte euro-
pischen Denkens bis in ihre Verstelungen bestimmt
haben.
Wir nhern uns auf dieser Vogelugbetrachtung dem
Punkt, an dem die kulturkologische Funktion des
sthetischen in der Moderne umrihaft am Horizont er-
scheint. Es gibt prinzipiell drei Mglichkeiten, die zer-
borstene Dreidimensionalitt des Wahren neu zu synthe-
tisieren drei Ausgangsorte fr Ganzheitsreparaturen
von jeweils einer der zerfallenen Sphren aus. Ein Den-
ken, das sich von der Intuition fhren lt, da auch in
einer gesprengten Totalitt Gesamtansichten lebensprak-
tisch unentbehrlich seien, kann das unmgliche Ganze
aus der Sicht des Theoretischen, des Praktischen oder des
sthetischen in den Blick zu fassen versuchen. Cum grano salis liefert diese dreifache Reparatur den Schlssel zur Typologie moderner Weltanschauungen; diese haben
entweder ein szientistisches, ein politisch-moralisches
oder ein sthetisch-artistisches Geprge. Fr alle Gebilde
dieser Art ist es charakteristisch, da der Teil das Ganze
spielen mu und da die bevorzugte Dimension den ge-
samten dreidimensionalen Raum des Wahren zu repr-
sentieren hat nicht selten zum Unglck der Zusammen-
hnge. Seit dem frhen 9. Jahrhundert hrt darum die
Philosophie mehr und mehr auf, ihre sperb weltfrem-
den Monologe ber das Weltganze zu spinnen. Sie wird
33
-
ersetzt und berutet von neo-synthetischen Versuchen,
die zerstrte Ganzheit des Wahren von einer ihrer Di-
mensionen her zu restaurieren; die Gebilde, die dabei zu-
tage kommen, besetzen eine Zone zwischen Ideologie
und klassischer Philosophie; sie sind weder nur falsches
Bewutsein noch kurzerhand Erste Theorie, sondern
Zwitter aus unvorhergesehenen Denkanreizen und mo-
dernen Nten. Vermutlich beginnt unter ihrem Vorzei-
chen fr das Denken eine ra des entdeckenden Kompo-
merens, der rationalen Mythopoiesis.
Der positivistische Szientismus, von Comte bis Carnap,
verabsolutiert die wissenschaftlich zugerichtete Erkennt-
nisfunktion und verspricht Heilung der Weltmalaisen
durch die sanitre Leistung logischer Strenge und empiri-
scher Unvoreingenommenheit bei der Erfassung des
Wirklichen; den ethisch-metaphysischen und den stheti-
schen Bereich wirft man, wie einen vernachlssigbaren
Rest, einigermaen sorglos auf den Mllhaufen des Un-
genauen. Hingegen setzen liberale und marxistische
Ideologen die Dimension des praktisch Richtigen abso-
lut; sie machen sich daran, die bel der Welt durch polit-
konomische, philanthropische und therapeutische Stra-
tegien zu eliminieren, wobei eine Dosis Zynismus in
Wahrheitsfragen und eine resolute, man sagt auch reali-
stische, Zurckstellung sthetischer Momente in Kauf
genommen werden. Der neuzeitliche sthetizismus wie-
derum Nietzsches berchtigte Formel von der stheti-
schen Rechtfertigung des Lebens ist sein philosophisches
Kennwort verteidigt den Absolutismus des Wahren aus
der sthetischen Dimension. Der moderne Knstler, der
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-
sich auf seine Weise der Produktion von Wahrheit ver-
schrieben hat, wird bereit sein, sich von den praktischen
Herrschaften seine asoziale Verliebtheit in Formalismen
und weltblindes Literatentum besttigen zu lassen, so-
fern er sich nur seines besonderen Wahrheitszugangs
gewi ist: da auch der neue Wissenschaftsglaube eine
Barbarei und noch die moderne Praxeologie die Fortfh-
rung alter Brutalitt mit neuen Mitteln seien, solange der
Einzelne in sthetischer Dumpfheit verbleibt; in dem
Ma, wie das allgemeiner Befund ist, verwaltet die Kunst
den beschdigten Sinn fr Wahrheit und Unwahrheit des
Ganzen. Somit wird in sthetischen Grundlagendiskus-
sionen um mehr als sthetische Einstze gespielt. Wer
ber die Knste nicht in der Haltung des naiven Schp-
fers, sondern in philosophischer Einstellung spricht
und die bedeutenden Kpfe des Modernismus haben dies
getan , dem geht es um Wahrheitsfragen und nicht um
Formalitten. Die Formalitten sind dann Wahrheitsfra- gen im hchsten Wortsinn.
Das Gesagte knnte eine Vorstellung davon geben, aus
welcher Notwendigkeit und mit welchem Recht die Pro-
grammatiker der sthetischen Moderne eine pathetische
Tonart angeschlagen haben. Sie sprachen, wie wir sehen,
ber letzte Fragen, weil die Erforschung des sthetisch
Richtigen und Zulssigen die des Guten und Wahren mit-
telbar in sich einschlo. Nicht umsonst trgt Arnold
Schnbergs Aufsatz von 925, in dem er die Atonalitt
zur Norm der Gegenwartsmusik erhebt, den Titel: Ge- sinnung oder Erkenntnis. Weil es um Erkenntnis geht, sind Gesichtspunkte der Gesinnung von untergeordneter
35
-
Bedeutung, um von denen der Opportunitt und sozia-
len Zumutbarkeit zu schweigen. Das groe Pathos legiti-
miert sich aus dem kryptophilosophischen Einsatz der
Debatte.
Freilich lt sich das Wahre mit Pathos allein nicht er-
zwingen, und es gibt Grnde, zu vermuten, die Vter der
Moderne seien ihren eigenen Fragen und Ansprchen
weniger gerecht geworden, als sie selbst hofften. So wird
zweite Reexion fllig eine, die der Selbstreexion der
Moderne nicht in den Rcken fllt, jedoch Klarheit sucht
ber deren blinde Flecke, Hypotheken und Pathologien.
Im folgenden werden einige Belastungen und Deforma-
tionen, die dem Proze modernistischer sthetik mitge-
geben sind, exemplarisch erwhnt der Zuspitzung
wegen nenne ich aufzhlend: erstens die Innovationsdog-
matik, zweitens die Interpretenherrschaft, drittens den
hermeneutischen Moralismus und viertens die sthetizi-
stische Ausbeutung der Psychose.
In fast allen Punkten kann ich mich kurz fassen, die Ph-
nomene sind jedem vertraut. Am wenigsten Worte mu
man ber den erstgenannten verlieren. Es ist Erblast und
Dogma der Moderne zugleich, der permanenten Innova-
tion das Wort zu reden; sie frnt dem wilden Wachstum,
dem Originalittsstre und der Picht zur Dierenz,
mag diese Individualitt und Sinn bezeugen oder nicht.
Mit hohem Anspruch tritt das Phnomen auf, wenn der
Innovationszwang sich auf avantgardistische Geschichts-
philosophien beruft; in acheren Prolen, wenn der For-
menkreisel einer modehaften und sportiven Logik folgt,
angetrieben von berbietungs- und Abwechslungszwn-
36
-
gen des Kulturbetriebs. So wie die Bekleidungsmode
nicht Kleider verkauft, sondern Unterschiede zwischen
Kleidern, so liefern die Galerien von heute nicht so sehr
Kunstwerke als angebliche Unterschiede zwischen
Kunstwerken; dabei fllt auf, da die Kategorie des
Scheins sich nicht mehr auf die Dierenz zwischen Werk
und Wirklichkeit bezieht, sondern auf die zwischen
einem Werk und all den anderen. Im Sog der sthetischen
Entropie wird alle Kunst zu einem Einerlei aus sich selbst
herauskehrenden Dierenzen, die in lrmender Koexi-
stenz verschwimmen.
Von der zweiten Malaise, der Interpretenherrschaft,
mu ebenfalls nicht viel gesagt werden. Sie grndet zum
einen im hermetischen Charakter moderner Kunstprinzi-
pien, zum anderen im pseudohermetischen Anteil zahl-
reicher Werke; deren Geheimnis ist oft kein anderes als
das, das sie mit obskurem Mutwillen um sich verbreiten.
Solche Kunst speist sich nicht aus einer authentischen
Hermetik, die fr sich selbst sprche und schwiege, son-
dern vom Seitenblick auf die Interpretation, die garan-
tiert, da das Unverstndliche zum Allerverstndlichsten
aufrckt. So kommt es zu dem halb amsanten, halb per-
versen Bndnis zwischen der Hermetik und der Herme-
neutik, zwischen der Sprdigkeit der einen und der Wil-
ligkeit der anderen. Man ist an die Machenschaften einer
trgerischen Theologie erinnert, von der Kant in einer
Vorbemerkung zur Kritik der reinen Vernunft sagt, da die einen den Bock melken und die anderen das Sieb dar-
unter halten. Die einen verweigern die Aussage, die ande-
ren erklren, was es bedeutet. Freilich ist die Arbeitstei-
37
-
lung zwischen Werk und Auslegung tieferen Ursprungs,
sie spiegelt nicht nur die billige und willige Kompli-
zenschaft zwischen Produktion und Verteilung. Weil
die Werke selbst aus einer Weltlage hervorgehen, die
durch das Auseinanderbrechen des integralen Wahrheits-
begris gekennzeichnet ist, entspringt ihre Interpreta-
tionsbedrftigkeit der verworrenen kologie der Teil-
wahrheiten. Sie wird nicht erst durch Interpreteneitelkeit
heraufbeschworen. Das ndert nichts daran, da die In-
terpretation sich allzuoft zum Nutznieer dieser gro-
artigen Zwangslage aufschwingt. In ihrer kaum noch
heimlichen Prioritt ber die Werke feiert die falsche
Mittelbarkeit des Modernismus ihre lcherlichsten Siege.
Es liegt im Interesse der Kunst, sich von der Vormund-
schaft der Deutung zu emanzipieren, nicht durch Flucht
in falsche Unmittelbarkeiten, sondern indem sie Fhig-
keiten der Selbstvermittlung aktiviert. Anders bliebe sie
intellektuell unmndig und mte auf immer Stellver-
treter fr sich sprechen lassen. Knnen Knstler nicht
aufhren, Epileptikern zu gleichen, die nur mit Hilfe
ihres hermeneutischen Blindenhundes ber die Strae
kommen?
Diese Verhltnisse sind nicht nur internen Schicksalen
der Knste entsprungen. Fr die Promotion der Ausle-
gungskunst auf Kosten der Werke ist neben deren herme-
tischer Konstitution ein Mechanismus verantwortlich,
der auf den sthetischen Proze wie von auen zu-
kommt. Wenn die Interpretation blht und die Werke aus
dem Schatten ihrer hermeneutischen Reklame kaum
noch herausnden, so geht dies weitgehend aufs Konto
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-
der modernen Philosophie jener Philosophie eben, der
die Wahrheit abhanden gekommen ist, weil es kein Gan-
zes gibt, von dem gesagt werden drfte, es sei die ge-
glckte Einheit von Wahrem, Gutem und Schnem. Phi-
losophie heute braucht die sthetik, um auf dem Umweg
ber sthetische Theorie sagen zu drfen, was sie sagen
mte, wenn es noch richtige Philosophie gbe. sthe-
tik ist die Krcke, auf der sich eine unmgliche Phi-
losophie durchs 20. Jahrhundert schleppt. Die philo-
sophische sthetik ist zur Kryptoethik der Gegenwart
geworden. Sie dient der Philosophie als Refugium, in
dem ein archaischer Wahrheitsbegri als Vision des
wahren Lebens berwintert, ein Begri, den kein mo-
derner Philosoph mehr in direkter Intention zu lehren
wagen wrde. So fungiert von Schillers Briefen ber die sthetische Erziehung des Menschengeschlechts bis zu Adornos kunsttheoretischen Schriften die sthetik als
Moral einer morallosen Welt und als letztes Wahrheitsor-
gan fr einen epochalen Zustand, der von Wahrheit nur
wei, da sie ein Vorurteil der Nervenschwachen ist.
Philosophische Auadungen sind es, die der stheti-
schen Theorie, besonders beim spten Heidegger, mehr
noch bei seinem Kontrahenten Adorno einen verzweifel-
ten Zug verleihen. Gerade in Adornos Lehre zeigt sich
etwas, das man nur als Stellvertreterradikalismus begrei-
fen kann. Weil die Philosophie aus eigenen Stcken nicht
mehr radikal genug zu sein vermag, um ihren Begri zu
erfllen, mu sie der Kunst ihre gescheiterte Mission auf-
brden. Seit von der Philosophie keine Wiederherstel-
lung eines integralen oder substantiellen Wahrheitsbe-
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-
gris mehr zu erwarten ist, fllt der Kunst die Aufgabe
zu, auf einem Nebenschauplatz der Wahrheit das uer-
ste zu wagen und zu retten, was nur symbolisch noch zu
retten ist. Daher die monotone Beharrung Adornos dar-
auf, da Kunst allein in dem Mae wahr oder gro oder
bedeutend sei, wie sie unnachgiebig, radikal und unver-
shnlich den Versuchungen der falschen Welt widersteht.
Denn oenkundig ist: wenn auch die Kunst, das letzte
Exil der WAHRHEIT, sich von der desintegrierten Welt
herumkriegen lt, und wenn das Werk, sei es noch so z-
gernd, mit der heillosen Totalitt gemeinsame Sache
macht, dann ist die Philosophie am Ende, die am patheti-
schen Begri der WAHRHEIT festhlt. Nur radikale
Kunst sttzt eine sthetische Theorie, die als Substitut fr
unmgliche radikale Philosophie auftritt. Kraft dieser
Bndnisverhltnisse wird der sthetische Radikalismus
zum Garanten einer untergehenden Philosophieersatz-
philosophie. Der anhaltlos gewordene philosophische
Moralismus mu von der Kunst das uerste fordern;
nur unvershnliche und unbeirrte, von keinem Realis-
mus gedemtigte Kunst kann die Restmoral einer Philo-
sophie sein, die sehenden Auges an der Ethik verzweifelt.
Erst hier zeigt sich, wie die Interpretenherrschaft ber
den sthetischen Proze bis in dessen Innerstes vor-
dringt; sie verordnet akommunikative Radikalitt als
Moralittsversprechen, Unvershnlichkeit als Authenti-
zittskriterium und unnachgiebige Dissonanz als Wahr-
heitsgarantie.
Viele jngere Knstler, besonders solche, die aus dem
Bannkreis des deutschen Modernismus hervorgehen, ver-
40
-
spren lngst etwas vom ersatzmoralischen Zwangsre-
giment dieser philosophischen sthetik und reagieren
empndlich gegen gewisse Dogmen der Altmoderne. Ob
in begriicher Ausfhrung oder nervser Irritation: sie
verstehen, da ihre Arbeit nicht am Gngelband philoso-
phischer Kryptomoralen laufen mu. Nicht jeder, der
gegen Konsonanztabus und Ungeflligkeitsverabredun-
gen verstt, ist darum schon ein Mitlufer der falschen
Totalitt. Vom Verhngnis der Welt kann man heute wie
frher auf sehr verschiedene Weise wissen. Keineswegs ist
solches Wissen sthetisch a priori der Dissonanzpicht unterworfen. Der modernistische Primat der Dissonanz
hngt mit einer Weltauslegung zusammen, die einen
sthetischen Ausdruck nur dann als wahren gelten lassen
kann, wenn dieser, unnachgiebig verstrend, sich dem
zerrissenen Sein angleicht. Eine herausragende Passage
von Adornos Philosophie der neuen Musik verfgt, da authentische Kunst nur sein knne, was der Wahrheit
ber jene falsche Wirklichkeit im Ausdruck unverklr-
ten Leidens an ihr standhlt. Da dies ein nobles und tie-
fes Konzept ist, lt sich ebensowenig leugnen wie die
Tatsache, da es durch seine Einseitigkeit die Grnde sei-
nes Scheiterns in sich trgt.
Mit dem kunsthermeneutischen Moralismus ist die
sthetizistische Ausbeutung der Psychose eng verwandt.
Gewi kann niemandem entgangen sein, da groe
Kunst oft in der Nhe hchster psychischer Gefhrdung
entsteht. Seit Lombroso, Lange-Eichbaum und andere
dem kunstpsychiatrischen Spieertum die Argumente
geliefert haben, gehrt die Liaison von Genie und Wahn-
4
-
sinn zu den Vorzugsthemen einer Psychologie, die sich
um so mehr fr die Personen interessiert, je weniger sie
von ihrem Werk begreift. Das hier zur Diskussion ste-
hende Phnomen ist in seinem psychodynamischen Ge-
halt jedoch unheimlicher und in seinen philosophischen
Implikationen komplexer als der hhere Klatsch der
Knstlerpsychologie. Da Knstler hug Opfer bler
sozialer Verhltnisse sind, die in ihren Werken kompen-
siert oder widergespiegelt erscheinen, ist ein vergleichs-
weise banaler, wenn auch trister Tatbestand. Vertiginse
Aussichten ernen sich aber, wenn die Kunst selbst auf
Gefahr ausgeht und die Alienation den Sog von Wahn-
sinn und Entfremdung zu ihrem Element macht. Es ge-
lingt ihr dies nur in einem Klima, das die schwarze Ro-
mantik der Psychose nhrt; in dieser ndet das Leiden
seine Antwort nicht mehr in Heilungsversuchen sei es,
weil man nicht mehr kann, sei es, weil man nicht mehr
will oder nicht mehr daran glaubt. Vielmehr kuriert sich
das leidende Bewutsein durch einen Todessprung ins
Unheilvolle, indem es diesem, nach dem Ausdruck von
Marx, seine eigene Melodie vorzuspielen beginnt. Er-
scheinen die gegebenen Verhltnisse als irdische Hlle,
so werden die Melodien, die man ihr vorspielt, nicht nur
Widerspiegelungen sein, sondern infernalische Wettbe-
werbe mit dem uersten. In dieser fatalen Mimesis, die
sich als hchste Kritik in die Verhltnisse wirft, bewhrt
sich die Freiheit der Kunst darin, da sie nicht durchwegs
passives Opfer bleibt, sondern mit quasi-psychotischer
Ironie sich als Selbstopfer darbringt. Solche Kunst will
aufhren, an Kommunikation zu denken. In ihren Zu-
42
-
spitzungen wird nichts gesucht, was der Verstndigung
gleicht, sei es semantischer Konsens oder nervse Reso-
nanz; es geht in ihr um einen Wettlauf zwischen der Uner-
trglichkeit des Lebens und der Unertrglichkeit der
Werke, die solchem Leben antworten; nicht um einen
Austausch von Sinn, sondern um einen Abtausch von
Schlgen; nicht um letzte Mglichkeiten der Konsonanz,
sondern um ein letztes Gefecht der Dissonanzen. Sinn-
suchende Deutungsknste haben hier nichts verloren;
hier geht es um Hermeneutik der Hlle. Erst in die-
sem Zusammenhang bekommen die Vokabeln brchig,
unvershnlich, intransigent, unerbittlich, verweigernd,
unnachgiebig die in Adornos Kunsttheorie eine so
wesentliche Rolle spielen ihren Gehalt. Unerbittlich
ist fr ihn die Kunst, die es mit dem Schlimmsten auf-
nimmt. Daher der grauenhafte und unter seinen Prmis-
sen doch stimmige Satz aus der Philosophie der neuen Musik: Die Unmenschlichkeit der Kunst mu die der Welt
berbieten um des Menschlichen willen. (S. 26)
Zweifellos wird der bon sens eine solche These entweder fr bsartig oder fr verworren halten und er wre
damit nicht ganz im Unrecht, wenn es sich um instru-
menteile Zusammenhnge handelte und nicht um ver-
schlungene symbolisch-mimetische Relationen. Die
Luftverschmutzung in den Versammlungslokalen der
kologen mu die der allgemeinen Atmosphre ber-
treen um der Luftreinheit willen die bersetzung
von Adornos Satzschema in einen praktischen Zusam-
menhang wrde sofort nur noch Nonsens ergeben. Aber
43
-
es ist nicht auszuschlieen, da auch auf der symbo-
lischen Ebene etwas Widersinniges bestehen bleibt
denn wer knnte scharf unterscheiden zwischen dem,
was etwas bedeutet, und dem, was etwas bewirkt? Wird
da der Negativittssthetik nicht zuviel zugetraut? Hlt
das Prinzip des Schocks solche dialektischen Verklrun-
gen aus? Luft das hllisch-mimetische Arrangement
nicht darauf hinaus, da Kunst, indem sie die Entfrem-
dung ganz in sich aufnimmt und berbietet, das Schlim-
me mit dem Schlimmeren beantwortet? Gibt Kunst auf
den Wegen dieser verzweifelten Mimesis nicht ihre
Chance preis, das Andere des Wirklichen zu sein, und
resigniert dazu, unerbittlich das Gleiche zu werden?
Erhellen die sthetischen Schocks wirklich die dstere
Welt? Adorno gab vor, dies geglaubt zu haben, mag
es auch kaum denkbar scheinen, da ein Individuum
von seiner Denkkraft und Sensibilitt dieser trostlosen
Schocktherapie im Ernst Kredit gegeben habe. Plausibler
ist es, mit einer strategischen Funktion der Rede vom
Schock zu rechnen, als habe sich die Kunsttheorie mit
ihrer Hilfe eine Hermeneutik der Rache ersonnen.
Durch sie wird das Werk in seiner souvernen Sprdig-
keit und undurchdringlichen Inkonzilianz der Wirklich-
keit nicht nur kongenial oder koninfernalisch, sondern
zahlt es ihr auch nach den Regeln der Kunst heim. Um
das zu leisten, mu die Kunst, nach der Art zerstrter
Kinderseelen, sich in Verweigerung versteifen und ihr
Konsonanzverlangen so tief in sich vergraben, da sie nur
noch verdrehte Zeichen davon aussenden kann gewid-
met dem unwahrscheinlichen Verstndnis einer ebenso
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-
verlorenen Seele auf einem anderen exzentrischen Stern.
Eine Probe dieser Logik hat Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik an einer Stelle gegeben, die wegen ihrer lyrischen Exzessivitt und ihres aberwitzigen Denkrisi-
kos unvergleichlich ist:
Die Schocks des Unverstndlichen schlagen um.
Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue
Musik. Alle Dunkelheit und Schuld hat sie auf sich ge-
nommen. All ihr Glck hat sie daran, das Unglck zu
erkennen; all ihre Schnheit, dem Schein des Schnen
sich zu versagen. Keiner will mit ihr etwas zu tun
haben Sie verhallt ungehrt, ohne Echo Auf diese
Erfahrung hin ist die neue Musik spontan angelegt,
auf das absolute Vergessensein. Sie ist die wahre Fla-
schenpost. (S. 26)
In diesen singulren Stzen gibt Adorno etwas vom Ge-
heimnis des dunklen Modernismus preis. Diesen bewegt
ein bermchtiger Zwang, der Welt mit unlsbaren Rt-
seln gegenberzutreten, um ihr ganz zu entsprechen;
ihm wohnt etwas vom Geist des Labyrinthebauens inne.
Das dissonante Rtsel fhrt einen mimetischen Krieg
zwischen Werk und Welt.
Solches Denken gleicht einer negativen Theologie, mehr
noch einem esoterischen Messianismus, fr den der Mes-
sias derjenige ist, der nicht kommt und unerkannt bliebe,
wenn er kme; am meisten aber der dunkelsten Spielart
von Gnosis, fr welche die kreatrliche Welt das Reich
des absolut Heillosen darstellt. Psychodynamisch ent-
spricht es den Autismen, mit denen manche der unglck-
lichsten Kinder ihrer Umwelt zeigen, da sie ihr nichts
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-
mehr zu zeigen haben. Im Kern der anspruchsvollsten
Kunsttheorie der Moderne nden wir eine religise Pas-
sion das artistische Sakrament eines musikalischen
Selbstopfers. Das groe Werk erlst unbemerkt die Welt,
indem es die unertrgliche Wahrheit ber sie ertrgt.
Gleich dem Leiermann aus dem Schlulied von Schu-
berts Winterreise wre das groe Kunstwerk der Mo- derne ein unerkennbarer Messias. Keiner sieht ihn an,
keiner will ihn hren, und die Passanten knurren bei
seinem Erscheinen bis jener kommt, der fremd ausge-
zogen war, um am Ende zur Leier des Alten eine letzte
Philosophie zu wagen. Der steile philosophierende Mo-
dernismus legt die neue Musik darauf fest, musique mau- dite zu sein. Jedes unerbittliche Werk wre nach ihm die paradoxe Einheit aus Veruchung und Erlsung; es
mte geradezu die Veruchung suchen, um sich in dem
Extrem zu halten, aus dem weniger als eine Erlsung
nicht mehr herausfhrt.
Adornos sthetik zeugt von der Anstrengung, Kunst
noch einmal als Medium der WAHRHEIT zu denken;
dieses Denken emigriert aus der frivolen Zeit, die ange-
sichts der Negativitt das Vergessen whlt und die den
fatal gesunden Weitermachern und indolenten Speziali-
sten den Vorzug gibt vor melancholischen Geistern, die
das Ganze in seiner Verwstung sehen. Die sthetische Theorie lebt von einer beranstrengung, die ihr Geheim- nis in Adornos einzigartiger philosophisch-artistischer
Spannung besa. Sobald die aufhrt, extrem individu-
iertes Denken zu sein, und Schulsprache wird, zerfllt die
beranstrengung zur Unglaubwrdigkeit. Dieser Tatbe-
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stand charakterisiert die Adorno-Epigonen in Deutsch-
land zu weiten Teilen. Zu einem Milieusignal degradiert,
versickerte Adornos Negativismus in amusische Beleidi-
gungsideologien, denen alles recht ist, womit man, gegen
was auch immer, recht behalten kann. Von beranstreng-
ter Dialektik, die auf der Hhe des Mitrauens balan-
cierte, blieb kaum mehr als dualistische Bequemlichkeit,
Habilitationsneurose, Kritizismus auf dem Niveau er-
worbener Reexe der kritische Kritiker als der Letzte
der Selbstgerechten. Was bei dem Meister die authenti-
sche Spur des verletzten Lebens im Denken war, verwan-
delte sich schnell in den Besitzstand einer kritischen
Klasse, die an Indolenz hinter anderen Besitzenden in
nichts zurcksteht und keine Hemmung kennt, sich
beim verzweifelten Geist Untrstlichkeit zur Dekoration
auszuborgen.
Dennoch braucht Adornos gnostische Flaschenpost
nicht verloren zu sein. Man hat von den heute Vierzigjh-
rigen sagen knnen, sie seien eine Generation, die die Fla-
schenpost der Kritischen Theorie aufgefunden und dra-
matisch entkorkt hat. Vielleicht ist die Post inzwischen
bei denen in besseren Hnden, die keinen Flaschenfeti-
schismus treiben; in keinem Fall kann man von einer Fla-
sche auf die Post schlieen.
Eine Zen-Anekdote:
Der Beamte Riko bat einmal den Meister Nansen, ihm
das Problem mit der Gans in der Flasche zu erklren.
Wenn man ein Gnsekken in eine Flasche steckt und es
fttert, bis es ausgewachsen ist, wie kann man dann die
Gans herausholen, ohne sie zu tten oder die Flasche zu
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zerbrechen? Nansen klatschte krftig in die Hnde und
rief: Riko! Ich bin hier, Meister, antwortete Riko er-
schreckt. Siehst du, sagte Nansen, die Gans ist drau-
en.
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III. Kopernikanische Mobilmachung und ptolemische Abrstung
Es knnte sich eine seltsame Analogie daraus ergeben, da das Okular auch des riesigsten Fernrohrs nicht grer sein darf als unser Auge.
Ludwig Wittgenstein
Vom Ende der Einschchterung durch Modernitt war
die Rede, von der Krise der Exklusivitt ist zu sprechen.
Postmodernismus bedeutet im Grunde nichts anderes als
Postexklusivismus nachdem der Modernismus seine ex-
klusivistische Bewegung vollendet hat. Die Moderne
hatte eine Dynamik entfesselt, die man als Abschaung
des Selbstverstndlichen bezeichnen knnte. Kraft ihrer
Erfolge versteht sich alles, was selbstverstndlich sein
will, nicht mehr von selbst. Der Modernismus war eine
Revolte gegen das Selbstverstndliche, er war Exklusivis-
mus in permanenter Bewegung und besa in seiner Aus-
schlieungskraft sein revolutionres Prinzip. Fr Selbst-
verstndlichkeit liee sich auch Natrlichkeit sagen
oder Tradition oder Trgheit oder irgendein anderes
Wort, das sich zur Kennzeichnung von Verhltnissen eig-
net, in denen die Dinge im Schutz von Routine und Frag-
losigkeit verbleiben und auf sich beruhen, ehe die Klinge
der Reexion sie trifft und aus ihrem ontologischen
Schlaf reit. Man darf sagen, da die Modernisierung der
Welt in ihren Metropolen nur wenige Verhltnisse unan-
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getastet gelassen hat. Es gibt kaum noch etwas, was sich
der Umwlzung der Selbstverstndlichkeiten entzogen
htte. In diesem Jahrhundert hat die Ausrottung der ree-
xionslosen Bestnde grndliche Arbeit geleistet und den
Bewutseinen moderne Reexionsverfassungen aufge-
prgt. Allerdings gibt es auch heute, ich wei nicht
woher, immer noch diese toten Seelen, die zur Zeit tun,
als wren sie Neokonservative, um zu verbergen, da sie
alte Konserven sind. Wo sich aber der Modernismus mit
seiner exklusivistischen Wirkung geltend gemacht hat,
hat er alte Selbstverstndlichkeiten aufklrerisch durch-
brochen und die Prmissen einer postexklusivistischen
Reexion geschaen; wo nicht, dort ist das Thema noch
nicht einfhrbar, es sei denn reaktionr wie es denn fr
reaktionres Denken typisch ist, die zweite Reexion zur
Verhinderung der ersten aufzubieten.
Im Klima des authentischen und folgerichtigen Moder-
nismus gibt es nichts Selbstverstndliches mehr, auer
dem, da die Ausschlieung des alten Selbstverstndli-
chen zur neuen Selbstverstndlichkeit wird. Jedem nor-
mativen Naturalismus wird eine Absage erteilt, Gewohn-
heitstitel treten auer Kraft, alte Rechte mssen sich
sagen lassen, da die Zeit ihrer unangefochtenen Geltung
vorber ist, alle Ursprungsvokabulare werden aus dem
Verkehr gezogen und die alten Evidenzen argwhnisch
daraufhin berprft, ob sie neue Usurpationen auf den
Thron des selbstverstndlich Herrschenden frdern
knnten. Die Modernitt gehrt dem antiontologischen
Aekt, Ursprung nein danke. Wenn nun behauptet
wird, Postmodernismus sei Postexklusivismus, dann
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wird nicht die Weltrevision durch die Moderne abgebla-
sen, sondern ein zweites Mal in Gang gesetzt, diesmal je-
doch so, da die exklusivistische Bewegung ihrerseits auf
den Prfstand zitiert wird. Die Modernitt mu es sich
gefallen lassen, da man ihre eigenen Fragen noch einmal
an sie richtet. Es handelt sich bei der zweiten Reexion
nicht um das denksportliche Weiterfragen, das hug
mit Philosophie verwechselt wird. Wenn die zweite Ree-
xion, postexklusivistisch, sich fr das Selbstverstndliche
nach dem Ende der Selbstverstndlichkeiten interessiert,
dann deswegen, weil die moderne Welt mit den Folgen
ihrer Aufbrche fertig werden will und sich in der Posi-
tion des Zauberlehrlings vorndet, der strkere Geister
beschworen hat, als sein eigener Geist erfat. Die Reexi-
vitt dieser Fragen wird von der Struktur des Wirklichen
vorgegeben auch wenn es ungebteren Gehirnen vor-
kommen knnte, als sei das alles nur intellektuelle Rke-
lei am Nachmittag eines sich selbst bespiegelnden Fauns,
Es drfte sich erweisen, da luxurierende Selbstreexion
eine gute Vorschule fr die Konfrontation mit den Pro-
blemstrukturen avancierter Zivilisationen ist. Konfronta-
tion ist allerdings das unglcklichste Wort, das einem in
diesem Zusammenhang einfallen kann, weil es eben nicht
mehr um Frontverhaltensweisen geht, sondern um Ver-
schraubungen oder Eskalationen, eher noch um Filiatio-
nen und Texturen, Verwicklungen und Verwebungen viel-
fdiger Prozesse. Man wird knftig nicht nur Computer
nach Generationen staeln, sondern auch Problematiken
und Grade der Kulturtheorie. Aufklrung gibt es heute
faktisch nur noch in Form von Arbeit an der zweiten,
5
-
dritten Problemgeneration von Aufklrung mag damit
auch viel vom psychischen Komfort frhaufklrerischer
Identizierungen verlorengehen. Die Devise heit,
schwierig ist schn Sie glauben das nicht? um so schlim-
mer , und Anitt zu den Problemen bese nur noch
ein Denken, das sich inmitten von kochender Komplexi-
tt am wohlsten fhlt.
Postmodernismus ist also Postexklusivismus. Die These
erscheint zum dritten Mal, doch werden Behauptungen
durch Wiederholung bekanntlich nur geluger, nicht
gltiger; es sei denn, Gltigkeit und Gelugkeit htten
miteinander mehr gemein, als man nach rationaler ber-
einkunft zugibt. Zu den Prinzipien des Exklusivismus ge-
hrt es, da bloe Gelugkeit ausgeschlossen wird,
wenn es um Geltungsfragen geht. Wiederholung gilt
nicht; das wiederholt die exklusive neue Musik ebenso
wie die konventionsausschlieende Rationalitt, die auf
der Unterscheidung zwischen Wiederholungen und Be-
grndungen beharrt. Diesem vernnftigen Spruch ms-
sen wir uns fgen. Wir wollen also in Gottes Namen
nein, im Namen einer besser akkreditierten Instanz,
sagen wir, der Vernunft oder der Erfahrung begrnden,
was bisher nur wiederholt wurde, damit sich die nchste
Wiederholung auf eine Begrndung sttzen kann, die
wiederholungswrdiger ist als die drei bisherigen selbst-
herrlichen Wiederholungen. Wir suchen fr den Satz,
Postmodernismus sei Postexklusivismus, eine Begrn-
dung, die seine spteren Wiederholungen legitimieren
wird. Somit mu jetzt in die nur gelugen trgen Wie-
derholungen eine inkohative Episode ursprnglicher Ar-
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gumentation eingesprengt werden, einer Argumentation,
die mit sich selbst beginnt und die Kraft zu dem An-
spruch ndet, die gltige Rede (von) der begrienen
Sache selbst zu sein. Angenommen, Sie halten das nicht
fr rhetorische Tndelei; unterstellen wir, Sie wollten die
Denkbewegung dieser Stze ernsthaft verfolgen: dann as-
sistieren Sie einem Augenblick genuiner Ursprungsphi-
losophie. Einem Denken, das richtig anfangen will, geht
es um nichts anderes als um den Ausbruch aus den bloen
Wiederholungen zugunsten eines organisierten Diskur-
ses von Begrndungen, die von nun an wiederholbarer
und wahrheitsmchtiger sein sollen als die dubiosen wie-
derholten Geschichten, die bisher unser Bewutsein aus-
fllten. Was man den bergang vom Mythos zum Logos
nennt, ist eben dies, inmitten eines Geschichtenerzhlens
und Daherredens, das schon so lange im Gang ist, da
niemand mehr wei, wer damit angefangen hat und mit
welchem Recht man sagt, was man sagt, passiert mit
einem Mal etwas, das der Wiederholbarkeit der alten Ge-
schichten in die Quere kommt. Dieses Ereignis er-
zwingt einen Neubeginn des Redens, nun aber so, da
die neue Rede als Anti-Erzhlung, als Nicht-Mythos auf-
tritt, somit als Argumentation, die den doxischen Wieder-
holungen den Garaus macht. Indem es die trge Wieder-
holung eingespielter Reden verwirft, beansprucht das
neue Wort zugleich, das ursprngliche zu sein und an die
Anfnge selbst zu rhren. Die Ursprungsrationalitt
bricht in den Alltag des mythisch-repetitiven Geredes ein
wie ein ontologischer Kehraus: Ende der Redensarten,
Anfang des Wissens.
53
-
Wie man sieht, verhlt sich das Wissen zu den Geschich-
ten und Redensarten etwa wie ein blinder Passagier, der
auf hoher See an Deck kommt und beweist, da die Fahrt
von jetzt an vernnftigerweise unter keinem anderen
Kommando stehen kann als unter seinem. Das leuchtet
allen ein, die einleuchtenden Argumenten zugnglich
sind, und das Wissen wird Kapitn. Nach seiner Ernen-
nung stellt sich heraus, da das Wissen, wenn es solide ar-
gumentiert, selbst nicht wissen kann, wohin die Fahrt
gehen soll, weil es zur Struktur des redlichen Wissens ge-
hrt, sich von Aussagen ber Ziele zurckzuhalten. Ziele
gibt es bekanntlich nur in den Geschichten, von deren du-
bioser Qualitt uns das Wissen berzeugt hat. Aber was
tun auf hoher See? Was liegt nher, als da sich das Wissen
mit den alten Geschichten im Zug von anstrengenden Ver-
handlungen auf neue Geschichten mit rationalisierten
Zielaussagen einigt Aussagen natrlich, die von ein
wenig mythischem Flimmer umgeben bleiben, ber Ziele
Als-Ob und fragliche Kurse. Darum haben solche Ziel-
aussagen wenig Aussicht auf ungestrte Wiederholung,
weil, nach dem Muster der ersten rationalen Meuterei,
wiederum mitten auf strmischem Ozean, ganze Subkul-
turen von blinden Passagieren an Deck klettern werden,
die schwarze Fahne des logischen Anarchismus ber
ihren Kpfen, und beteuern, da ihnen die rationalisierte
Geschichte keinen Eindruck macht.
Diese zweite Meuterei des wilden Logos ist es, die die
aktuelle philosophische Situation Europas in eine fabel-
hafte Turbulenz versetzt. Es handelt sich dabei nicht, wie
oft vermutet wird, um den Einbruch von illogischen oder
54
-
irrationalen Bewegungen, vielmehr um ein zweites Auf-
brechen der Krfte, die einst den Ersten Logos gestiftet
hatten. Seit Nietzsche revoltiert der radikale Logos, der
Mythen abbricht, gegen den Logos, der selber zum ex-
klusiven Mythos geworden war. Darum erlebt die Gegen-
wart keineswegs eine Zeit geistiger Stagnation, wie die
Stagnierten behaupten, sondern die erregendste Epoche
des Denkens seit der Antike.
Doch nun zur Sache. Leider ist das nicht mglich, die
Sache war schon da, und wir kommen nicht zu ihr, ohne
noch einmal zu wiederholen, was verdchtig und unsach-
lich oft bereits gesagt wurde: der Postmodernismus ist
ein Postexklusivismus, e basta. Doch was heit das? Wer basta sagt, sollte angeben knnen, zu welcher Geschichte es das Schluwort ist. Welchen Anfang wird diese Ge-
schichte haben, und wie soll sie blicherweise erzhlt
werden? Von diesem Anfang mu jetzt die Rede sein, auf
die Gefahr hin, da uns ein blinder Passagier beweist, da
dieser Anfang ein Mrchen ist, weil es einen anderen An-
fang gibt, der uns entging, ihm jedoch nicht. Man wei
nicht mehr, was gefhrlicher ist, das bloe Wiederholen
von Redensarten oder das ernsthaft begrndende Den-
ken. Trotzdem umgeben von Gefahren wollen wir
jetzt begrnden, warum der Postmodernismus ein Post-
exklusivismus ist.
Es gehrt zu den Selbstverstndlichkeiten der Erzhlun-
gen von der Neuzeit, ein Kapitel dem Astronomen Niko-
laus Kopernikus zu widmen, der ein neues Weltbild, das
kopernikanische, geschaen und das alte ptolemische
auer Kraft gesetzt hat. Dieser Selbstverstndlichkeit
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bleibt auch unser Begrndungsversuch treu. Kopernikus
habe, so sagt man und so wiederholen wir es, mit seinem
Buch ber die Himmlischen Revolutionen, das im Todes-
jahr des Autors 543 erschien, die bedeutendste irdische
Revolution ausgelst, da er in diesem Werk, das sich auf
mathematische Berechnungen und empirische Beobach-
tungen sttzte, den Beweis lieferte, da die Erde nicht im
Zentrum des Weltalls steht, wie das christliche Zeitalter
glaubte, sondern da sie ein kleiner Wandelstern ist, der
nach geometrisch-physikalischen Gesetzen durch ein
leeres Weltall zieht. Bis heute ist der kopernikanische
Schock nicht abgeklungen, und die kosmologische De-
zentrierung der Erde setzt sich fort in einer Flut von kh-
nen Einsichten in die Struktur von Materie und Univer-
sum. Dennoch lt sich behaupten, da die Pointe der
kopernikanischen Wende nicht eigentlich auf physika-
lisch-kosmologischem Gebiet liegt. Gewi war es fr
einen gewissen Gattungsnarzimus krnkend, wenn man
der Heimat des Menschen ihre Position im Zentrum des
Weltalls absprach. Aber auch unter der Prmisse, da
diese Krnkung verwunden werden knnte, bleibt von
der kopernikanischen Aufklrung ein epistemologischer
Nachgeschmack, den erst sptere Jahrhunderte auszuko-
sten beginnen. Ich meine, da die aktuellen Debatten
ber Aufklrung und Nachaufklrung, Moderne und
Postmoderne Anzeichen dafr sind, da wir im Ernst
damit beginnen, die erkenntnistheoretische und kultu-
relle Rechnung des Kopernikanismus zu begleichen, und
ob die logischen und irdischen Vermgen dafr ausrei-
chen, ist uerst ungewi.
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Worum geht es? Durch den kopernikanischen Schock
wird uns demonstriert, da wir die Welt nicht sehen, wie
sie ist, sondern da wir ihre Wirklichkeit gegen den
Eindruck der Sinne denkend vorstellen mssen, um zu
begreifen, was mit ihr der Fall ist. Da liegt das Di-
lemma: wenn die Sonne aufgeht, geht nicht die Sonne
auf. Was die Augen sehen und was der astrophysisch in-
formierte Verstand vorstellt, kann nicht mehr miteinan-
der zur Deckung kommen. Die Erde wlzt sich im leeren
Raum um sich selbst nach vorn, wobei der irrefhrende
Eindruck entsteht, wir shen die Sonne aufgehen. So-
lange das Universum besteht, gab es noch keinen Sonnen-
aufgang, sondern nur sture Erdumdrehungen, und dieser
Befund wird nicht trstlicher dadurch, da wir aufgrund
radioastronomischer und anderer Messungen zu der Vor-
stellung gezwungen sind, da es vor einem Zeitpunkt tx
weder die Sonne noch die Erde noch Augen gegeben hat,
um deren Konstellationen zu sehen. Dann wren nicht
nur die Sonnenaufgnge, sondern auch die Voraussetzun-
gen des Scheins von Sonnenaufgngen in einem kosmi-
schen Noch-Nicht verschwunden. Der augenscheinliche
Sonnenaufgang verliert sich in einer mehrfachen Nichtig-
keit, sobald wir den ptolemischen Schein zugunsten
kopernikanisch organisierter Vorstellungen von Wirk-
lichkeit aufgeben. Radikaler als jedes metaphysische
Vorstellen von Wesenswelten dementiert das moderne
physikalische Vorstellen der Krperwelt den Schein der
Sinne.
In einer solchen mehrfachen Verchtigung ndet sich
das zeitgenssische Denken vor. Zuerst wird den Sinnes-
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eindrcken durch eine empirisch-analytische Rekon-
struktion des Vorstellens ihr Halt im Sosein der Dinge
entzogen; sodann wird dem wissenschaftlichen Vorstel-
len durch radikale Grundlagenforschung seinerseits die
Verankerung in naiven Paradigmen des Vorstellens ge-
raubt bis ein Zustand theoretischer Bodenlosigkeit er-
reicht ist, in dem der freie Fall des Denkens durch das vor-
gestellte Seiende konstant wird. Kopernikanismus meint
in erkenntnistheoretischer Hinsicht die progressive Ent-
substantialisierung aller naiven, ptolemischen Verhlt-
nisse. Postmodernismus kann philosophisch nichts ande-
res bedeuten als eine Untersuchung der Konstanten des
freien Falls unter den Prmissen moderner Unnaivitt.
Denken in postmoderner Position ist eines, dem aufgeht,
was es in letzter Konsequenz heit, nach Kopernikus
Welt vorzustellen. Postmodernismus ist Postkopernika-
nismus.
Mit dieser Aussage ist das Pensum aber nicht erfllt, da
ungeklrt blieb, was beide mit Postexklusivismus zu tun
haben.
Kopernikus war es, der mit der neuzeitlichen Exklusion
des kosmologisch Selbstverstndlichen begonnen hat.
Was durch Weltalter hindurch in ptolemischer Trgheit