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Anton Fuchs Still. Leben Kurzprosa. 224 ., geb., € 20 (Bibliothek der Provinz, Weitra) Stiller Autor, großer Stilist Aus dem Nachlass: dichte Kurzprosa von Anton Fuchs. Von Martin Amanshauser W enige erinnern sich an An- ton Fuchs – leider. Der Kla- genfurter Autor (1920–1995) gehört zu den großen Stilis- ten der Nachkriegsgeneration, doch im Unterschied zu prominenten Autoren seiner Epoche wurde er nur punktuell wahrgenommen. Dazu waren seine Tex- te zu konzentriert und handfest, muteten „altmodisch“ an, in einer Zeit, da eine selbst ernannte Avantgarde die kulturelle Führung übernommen hatte. Zudem war er gerne mit dem falschen Text zur falschen Zeit „am Markt“. Sein Haupt- werk, „Der Deserteur“, klarsichtige Auf- arbeitung seiner Jugend in der Nazizeit, erschien 1958, als niemand solche Ge- schichten wollte und kaum einer sie schrieb. Das durchgehende Erzählen, heute in Mode, war immer ein Anliegen von Anton Fuchs. Davon zeugt auch die- ser Kurzprosaband aus seinem Nachlass. Hinter dem unglücklich gewählten Titel „Still. Leben“, der sich gerade an jene Ästhetik anlehnt, die Fuchs nicht nahe lag, verbirgt sich ein lesbares Bre- vier schicksalhafter Geschichten aus der Vorzeit des Mobiltelefons. Ein Mann, der „jeden Abend gegen elf“ in den unheimli- chen Stadtwald spaziert, aus dem er, wie man bald ahnt, nicht wiederkehren wird; ein Besuch in einem „verlorenen Hafen“, in den unliebsame Leute zur Vernichtung geladen werden; oder eine „Treibjagd“, die auf den Aufstieg rechtsextremer Poli- tik anspielt und nebenbei den Jägerberuf auf souveräne Weise diskreditiert – das Unheimliche steht neben den Fuchs- schen Existenzen wie ein Spiegel. Die hohe Kunst der Widmung Wenn der Autor eine Geschichte mit „Am Vorabend jenes Tages, an dem Josef Hell- mon die Herrschaft über seinen Wagen verlieren und in die Kriwanja-Schlucht stürzen wollte“ beginnt, steht quasi fest, dass eben dies nicht eintreten wird. Kon- sequent steuert die Geschichte auf eine ärgere Katastrophe zu. Humor und Selbsterkenntnis kommen dennoch nicht zu kurz. Im ausufernden „Vorschlag für eine eingehendere Widmung“ macht sich Fuchs über die Autorenlust an kompli- zierten Widmungen lustig. Je weitma- schiger der Protagonist dahinwidmet, desto hoffnungsloser tritt zutage, dass seine Widmung unkomplett bleiben wird. Diese Prosa verknüpft die leichtfü- ßige Beobachtungsgabe Italo Calvinos mit dem Eigensinn von Halld´ or Laxness. Dahinter lauert, geschult an Kafka, reiz- voll das holzschwere Erbe von Doderer. Beim Durchblättern sticht die Breite des Wortschatzes ins Auge, Katakomben, Klafter und Kiefernwälder, oder Maul- beeren, Mulden, Meilensteine, das Rin- gen um die exakte Formulierung führt zu einer Hypersprachlichkeit, die der Erzeu- gung suggestiver Traumbilder dient. So wird die fremde Welt aus Fundamenten, Forststraßen, Schotterwegen, Gehöften, wie durch ein Wunder unsere eigene. Im dichten, traurigen „Lebenslauf“, in dem Fuchs seinen eigenen Weg vom Fötus über den feigen Soldaten und den Beamten zum Autor schonungslos nach- vollzieht, lässt er die Leser teilhaben an der Motivation seines Schreibens: die Welt so zu zeigen, wie sie wahrhaftig sei, „ohne Erbarmen, hemmungslos, dumm und vergesslich (?); in jedem Augenblick durchaus vergänglich und dennoch jung und grün und unzerstörbar.“ Q Nicht nur Schreibtischtäter: Reinhard Heydrich (links), Organisator des Holocaust, Wangerooge, Juni 1941. [ Foto: Heinrich Hoffmann/bpk ] SS im zweiten Anlauf Reinhard Heydrich sympathisier- te nicht von Anfang an mit dem Nationalsozialismus. Doch als er in der SS seine Karriere startet, sind jegliche Zweifel dahin. Eine Biografie von Robert Gerwarth. Von Antonia Barboric Robert Gerwarth Reinhard Heydrich Biografie. Aus dem Englischen von Udo Rennert. 480 S., geb., € 30,90 (Siedler Verlag, Mün- chen) S eine Biografie über Reinhard Heyd- rich beginnt der deutsche Histori- ker Robert Gerwarth mit dem Ende, nämlich mit dem Tod Heydrichs nach dem (gescheiterten) Attentat am 27. Mai 1942 in Prag, wo er stellvertreten- der Reichsprotektor war. Es war dieses Ereig- nis, das Heydrich weltweit bekannt machte und seine Rolle beim Beschluss und der Durchführung der Endlösung offenbarte. Erst die darauf folgenden Kapitel erläutern Heydrichs Elternhaus und Kindheit. Reinhard Tristan Eugen Heydrich wird am 7. März 1904 in Halle an der Saale gebo- ren. Bereits seine Vornamen deuten auf sei- nen familiären Hintergrund: Der Vater, Bru- no, ist ein bekannter Komponist, Opernsän- ger und Leiter eines Konservatoriums, die Mutter, Elisabeth, ist Klavierlehrerin. Die Familie Heydrich ist von hoher sozialer Stel- lung und verfügt über enorme finanzielle Mittel, bis es zu wirtschaftlichen Notlagen kommt und die Eltern das Konservatorium schließen müssen. Neben Reinhard gibt es noch eine Schwester, Maria, sowie einen Bruder, Heinz Siegfried. Letzterer arbeitete an der Ostfront für die Propagandazeit- schrift „Panzerfaust“ und verübte im De- zember 1944 Selbstmord – und er soll min- destens zweimal die Deportation von ihm persönlich bekannten Juden verhindert ha- ben. Dass so etwas der Bruder des Urhebers der Endlösung getan hat, erscheint paradox und insofern bemerkenswert. Schade, dass er nur als Randbemerkung vorkommt. Nach der Matura tritt Heydrich in die Reichsmarine ein. Er wird als Einzelgänger, ja, Sonderling und als sehr schüchtern wahr- genommen. Die Ausbildung zum Marineof- fizier macht ihn aber zu einem selbstbe- wussten, Untergebenen gegenüber hochmü- tigen Mann. Heydrichs Karriere wird nur durch eine Affäre kurzfristig unterbrochen. Da er bereits mit Lina von Osten verlobt ist, weigert er sich, die andere Frau zu heiraten. Hinzu kommt sein arroganter und unein- sichtiger Auftritt vor dem Marine-Ehrenrat, dem seine Entlassung folgt; er weint „tage- lang vor Wut und Selbstmitleid“. Die Hochzeit mit Lina droht dadurch zu platzen, findet aber schließlich am 26. De- zember 1931 doch statt. Durch glückliche fa- miliäre Verbindungen erhält Heydrich näm- lich einen Termin für ein Vorstellungsge- spräch beim Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Dieser sucht eine geeignete Per- son, um einen SS-Nachrichtendienst aufzu- bauen. Das Gespräch verläuft gut. Beson- ders Heydrichs Erscheinung macht auf Himmler Eindruck: blond, blauäugig, 1,85 Meter groß, militärisch-aufrechte Haltung. Heydrich bekommt den Posten und wird Chef des neu zu etablierenden SD (Sicher- heitsdienstes). Bis zu Heydrichs Tod elf Jahr später verbindet die beiden Männer eine enge Freundschaft. Die SS ist von Anbeginn ihres Bestehens als Elite konzipiert, in der Disziplin an oberster Stelle steht. Das gefällt Heydrich, und er vergisst auch in Zeiten größter Ar- beitsbelastung nie auf körperliche Ertüchti- gung. Er nimmt sogar an Fechtturnieren als Teil der SS-Kampfmannschaft teil. Deutlich bemerkbar machen sich dazu Heydrichs Ordnungs- und Strukturliebe sowie sein Ehrgeiz. Sein Wille, sich zu beweisen und nicht nur planerisch eine Rolle im Kampf gegen die NS-Feinde zu spielen, gipfelt da- rin, an der Front Jagdflugzeuge zu steuern. Heydrich versteht es als seine Aufgabe, jegliche Feinde (politische, kirchliche, Frei- maurer, Juden) des NS-Regimes aufzuspü- ren und zu vernichten, nicht nur im Dritten Reich, sondern auch in den überfallenen und besetzten Ländern. Ursprünglich ist von ihm nicht die maschinelle Ausrottung der Juden vorgesehen, sondern eine Umsied- lung in die neu eroberten Gebiete. Allein, eine solche erweist sich als unmöglich – was schließlich den Beginn des Massenvernich- tungsplans bedeutet. Übergriffe heißt Heyd- rich nicht gut, wenn diese nicht systema- tisch vonstatten gehen: „Abzulehnen sind die Mittel des Radau-Antisemitismus.“ Heydrich sympathisiert anfangs nicht mit dem Nationalsozialismus, vielmehr scheint er diese neue politische Bewegung zu belächeln. Seine Frau Lina und deren Fa- milie sind dagegen schon sehr früh fanati- sche Nationalsozialisten, und Lina ermutigt ihren Mann, in der SS eine Karriere zu be- ginnen. Heydrich behagt schließlich ein „strukturiertes Leben in Uniform“. Die wirt- schaftlichen, politischen und beruflich-pri- vaten Umstände sind für Gerwarth der Grund, weshalb sich Heydrich vom apoliti- schen Musikersohn zu einem der gefürch- tetsten Männer im Dritten Reich wandelt. Antisemitische Tendenzen gibt es noch frü- her in seiner Familie, als eine jüdische Ab- stammung seiner Vorfahren kolportiert wird. Auch manche seiner Gegner bei der SS versuchen ihm auf diese Art zuzusetzen. Beim SD beginnt er aktiv die „Judenfra- ge“ zu behandeln und antisemitische Pro- paganda zu verbreiten. Interessanterweise nimmt er einmal sogar etwas vorweg, was später Realität wird: „Gegen Ratten kämpft man nicht mit dem Revolver, sondern mit ,Gift und Gas‘.“ Allerdings stellt Gerwarth klar, dass diese Redewendung in dem SD- Memorandum nur als solche zu verstehen sei, da im Mai 1934 eine physische Vernich- tung noch nicht angedacht war. Am 20. Jän- ner 1942 beruft Heydrich am Wannsee eine Konferenz ein, bei der er seine Ideen zur „Vorbereitung der Endlösung der europäi- schen Judenfrage“ vorbringt. Allerdings war die Wannsee-Konferenz nicht der Zeit- punkt, an dem die Endlösung beschlossen wurde – dies war lange davor geschehen. Im September 1941 wird Reinhard Heydrich zum stellvertretenden Reichspro- tektor Böhmens und Mährens ernannt und erlangt dadurch den Grad eines SS-Ober- gruppenführers. Seine großen Pläne für die Befriedung und Germanisierung der Tsche- chen und Nutzung des tschechischen wirt- schaftlichen Potenzials kann er allerdings nicht mehr lange fortführen – am 4. Juni 1942 stirbt er an den Folgen des Attentats. Robert Gerwarth entfaltet seine anfangs aufgestellte Hypothese, nach der Heydrich „einer jener ,ganz normalen‘ Deutschen“, war, „die unter den Einflüssen der NS-Ideo- logie und der Gewalt des Zweiten Weltkriegs ihre Aufgabe darin sahen, die ,Judenfrage‘ durch Massenmord zu lösen“. Gerwarth sieht seine Aufgabe als Historiker darin, „Handlungsmotivationen, Strukturen und Kontexte zu erklären“, wobei „Heydrichs Handlungen, Ausdrucksweise und Verhal- ten“ ohnedies für sich sprechen und ein Bild des Architekten des Holocaust zeigen. Den- noch erscheint das Buch teilweise wie eine Erörterung der politischen Ereignisse, in denen Heydrich nur wie zufällig eine Rolle spielt. Q SPECTRUM VII SAMSTAG, 28. JÄNNER 2012 DIEPRESSE.COM Die Presse LITERATUR

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Anton FuchsStill. LebenKurzprosa. 224 ., geb.,€ 20 (Bibliothek derProvinz, Weitra)

und grün und unzerstörbar.“ Q

Stiller Autor,großer StilistAus dem Nachlass: dichteKurzprosa von Anton Fuchs.

Von Martin Amanshauser

W enige erinnern sich an An-ton Fuchs – leider. Der Kla-genfurter Autor (1920–1995)gehört zu den großen Stilis-

ten der Nachkriegsgeneration, doch imUnterschied zu prominenten Autorenseiner Epoche wurde er nur punktuellwahrgenommen. Dazu waren seine Tex-te zu konzentriert und handfest, muteten„altmodisch“ an, in einer Zeit, da eineselbst ernannte Avantgarde die kulturelleFührung übernommen hatte. Zudemwar er gerne mit dem falschen Text zurfalschen Zeit „am Markt“. Sein Haupt-werk, „Der Deserteur“, klarsichtige Auf-arbeitung seiner Jugend in der Nazizeit,erschien 1958, als niemand solche Ge-schichten wollte und kaum einer sieschrieb. Das durchgehende Erzählen,heute in Mode, war immer ein Anliegenvon Anton Fuchs. Davon zeugt auch die-ser Kurzprosaband aus seinem Nachlass.

Hinter dem unglücklich gewähltenTitel „Still. Leben“, der sich gerade anjene Ästhetik anlehnt, die Fuchs nichtnahe lag, verbirgt sich ein lesbares Bre-vier schicksalhafter Geschichten aus derVorzeit des Mobiltelefons. Ein Mann, der„jeden Abend gegen elf“ in den unheimli-chen Stadtwald spaziert, aus dem er, wieman bald ahnt, nicht wiederkehren wird;ein Besuch in einem „verlorenen Hafen“,in den unliebsame Leute zur Vernichtunggeladen werden; oder eine „Treibjagd“,die auf den Aufstieg rechtsextremer Poli-tik anspielt und nebenbei den Jägerberufauf souveräne Weise diskreditiert – dasUnheimliche steht neben den Fuchs-schen Existenzen wie ein Spiegel.

Die hohe Kunst der WidmungWenn der Autor eine Geschichte mit „AmVorabend jenes Tages, an dem Josef Hell-mon die Herrschaft über seinen Wagenverlieren und in die Kriwanja-Schluchtstürzen wollte“ beginnt, steht quasi fest,dass eben dies nicht eintreten wird. Kon-sequent steuert die Geschichte auf eineärgere Katastrophe zu. Humor undSelbsterkenntnis kommen dennoch nichtzu kurz. Im ausufernden „Vorschlag füreine eingehendere Widmung“ macht sichFuchs über die Autorenlust an kompli-zierten Widmungen lustig. Je weitma-schiger der Protagonist dahinwidmet,desto hoffnungsloser tritt zutage, dassseine Widmung unkomplett bleiben wird.

Diese Prosa verknüpft die leichtfü-ßige Beobachtungsgabe Italo Calvinosmit dem Eigensinn von Halldor Laxness.Dahinter lauert, geschult an Kafka, reiz-voll das holzschwere Erbe von Doderer.Beim Durchblättern sticht die Breite desWortschatzes ins Auge, Katakomben,Klafter und Kiefernwälder, oder Maul-beeren, Mulden, Meilensteine, das Rin-gen um die exakte Formulierung führt zueiner Hypersprachlichkeit, die der Erzeu-gung suggestiver Traumbilder dient. Sowird die fremde Welt aus Fundamenten,Forststraßen, Schotterwegen, Gehöften,wie durch ein Wunder unsere eigene.

Im dichten, traurigen „Lebenslauf“,in dem Fuchs seinen eigenen Weg vomFötus über den feigen Soldaten und denBeamten zum Autor schonungslos nach-vollzieht, lässt er die Leser teilhaben ander Motivation seines Schreibens: dieWelt so zu zeigen, wie sie wahrhaftig sei,„ohne Erbarmen, hemmungslos, dummund vergesslich (?); in jedem Augenblickdurchaus vergänglich und dennoch jung

Nicht nur Schreibtischtäter: Reinhard Heydrich (links), Organisator des Holocaust, Wangerooge, Juni 1941. [Foto: Heinrich Hoffmann/bpk ]

SS imzweitenAnlauf

Reinhard Heydrich sympathisier-te nicht von Anfang an mit demNationalsozialismus. Doch als erin der SS seine Karriere startet,sind jegliche Zweifel dahin. EineBiografie von Robert Gerwarth.

Von Antonia Barboric

Robert GerwarthReinhard HeydrichBiografie. Aus dem Englischenvon Udo Rennert. 480 S., geb.,€ 30,90 (Siedler Verlag, Mün-chen)

Himmler Eindruck: blond, blauäugig, 1,85

Seine Biografie über Reinhard Heyd-rich beginnt der deutsche Histori-ker Robert Gerwarth mit dem Ende,nämlich mit dem Tod Heydrichsnach dem (gescheiterten) Attentat

am 27. Mai 1942 in Prag, wo er stellvertreten-der Reichsprotektor war. Es war dieses Ereig-nis, das Heydrich weltweit bekannt machteund seine Rolle beim Beschluss und derDurchführung der Endlösung offenbarte.Erst die darauf folgenden Kapitel erläuternHeydrichs Elternhaus und Kindheit.

Reinhard Tristan Eugen Heydrich wirdam 7. März 1904 in Halle an der Saale gebo-ren. Bereits seine Vornamen deuten auf sei-nen familiären Hintergrund: Der Vater, Bru-no, ist ein bekannter Komponist, Opernsän-ger und Leiter eines Konservatoriums, dieMutter, Elisabeth, ist Klavierlehrerin. DieFamilie Heydrich ist von hoher sozialer Stel-lung und verfügt über enorme finanzielleMittel, bis es zu wirtschaftlichen Notlagenkommt und die Eltern das Konservatoriumschließen müssen. Neben Reinhard gibt esnoch eine Schwester, Maria, sowie einenBruder, Heinz Siegfried. Letzterer arbeitetean der Ostfront für die Propagandazeit-schrift „Panzerfaust“ und verübte im De-zember 1944 Selbstmord – und er soll min-destens zweimal die Deportation von ihmpersönlich bekannten Juden verhindert ha-ben. Dass so etwas der Bruder des Urhebersder Endlösung getan hat, erscheint paradoxund insofern bemerkenswert. Schade, dasser nur als Randbemerkung vorkommt.

Nach der Matura tritt Heydrich in dieReichsmarine ein. Er wird als Einzelgänger,ja, Sonderling und als sehr schüchtern wahr-genommen. Die Ausbildung zum Marineof-fizier macht ihn aber zu einem selbstbe-wussten, Untergebenen gegenüber hochmü-tigen Mann. Heydrichs Karriere wird nurdurch eine Affäre kurzfristig unterbrochen.Da er bereits mit Lina von Osten verlobt ist,weigert er sich, die andere Frau zu heiraten.Hinzu kommt sein arroganter und unein-sichtiger Auftritt vor dem Marine-Ehrenrat,dem seine Entlassung folgt; er weint „tage-lang vor Wut und Selbstmitleid“.

Die Hochzeit mit Lina droht dadurch zuplatzen, findet aber schließlich am 26. De-zember 1931 doch statt. Durch glückliche fa-miliäre Verbindungen erhält Heydrich näm-lich einen Termin für ein Vorstellungsge-spräch beim Reichsführer-SS HeinrichHimmler. Dieser sucht eine geeignete Per-son, um einen SS-Nachrichtendienst aufzu-bauen. Das Gespräch verläuft gut. Beson-ders Heydrichs Erscheinung macht auf

Meter groß, militärisch-aufrechte Haltung.Heydrich bekommt den Posten und wirdChef des neu zu etablierenden SD (Sicher-heitsdienstes). Bis zu Heydrichs Tod elf Jahrspäter verbindet die beiden Männer eineenge Freundschaft.

Die SS ist von Anbeginn ihres Bestehensals Elite konzipiert, in der Disziplin anoberster Stelle steht. Das gefällt Heydrich,und er vergisst auch in Zeiten größter Ar-beitsbelastung nie auf körperliche Ertüchti-gung. Er nimmt sogar an Fechtturnieren alsTeil der SS-Kampfmannschaft teil. Deutlichbemerkbar machen sich dazu HeydrichsOrdnungs- und Strukturliebe sowie seinEhrgeiz. Sein Wille, sich zu beweisen undnicht nur planerisch eine Rolle im Kampfgegen die NS-Feinde zu spielen, gipfelt da-rin, an der Front Jagdflugzeuge zu steuern.

Heydrich versteht es als seine Aufgabe,jegliche Feinde (politische, kirchliche, Frei-maurer, Juden) des NS-Regimes aufzuspü-ren und zu vernichten, nicht nur im DrittenReich, sondern auch in den überfallenenund besetzten Ländern. Ursprünglich ist vonihm nicht die maschinelle Ausrottung derJuden vorgesehen, sondern eine Umsied-lung in die neu eroberten Gebiete. Allein,

eine solche erweist sich als unmöglich – wasschließlich den Beginn des Massenvernich-tungsplans bedeutet. Übergriffe heißt Heyd-rich nicht gut, wenn diese nicht systema-tisch vonstatten gehen: „Abzulehnen sinddie Mittel des Radau-Antisemitismus.“

Heydrich sympathisiert anfangs nichtmit dem Nationalsozialismus, vielmehrscheint er diese neue politische Bewegungzu belächeln. Seine Frau Lina und deren Fa-milie sind dagegen schon sehr früh fanati-sche Nationalsozialisten, und Lina ermutigtihren Mann, in der SS eine Karriere zu be-ginnen. Heydrich behagt schließlich ein„strukturiertes Leben in Uniform“. Die wirt-schaftlichen, politischen und beruflich-pri-vaten Umstände sind für Gerwarth derGrund, weshalb sich Heydrich vom apoliti-schen Musikersohn zu einem der gefürch-tetsten Männer im Dritten Reich wandelt.Antisemitische Tendenzen gibt es noch frü-her in seiner Familie, als eine jüdische Ab-stammung seiner Vorfahren kolportiertwird. Auch manche seiner Gegner bei der SSversuchen ihm auf diese Art zuzusetzen.

Beim SD beginnt er aktiv die „Judenfra-ge“ zu behandeln und antisemitische Pro-paganda zu verbreiten. Interessanterweisenimmt er einmal sogar etwas vorweg, wasspäter Realität wird: „Gegen Ratten kämpftman nicht mit dem Revolver, sondern mit,Gift und Gas‘.“ Allerdings stellt Gerwarthklar, dass diese Redewendung in dem SD-Memorandum nur als solche zu verstehensei, da im Mai 1934 eine physische Vernich-tung noch nicht angedacht war. Am 20. Jän-ner 1942 beruft Heydrich am Wannsee eineKonferenz ein, bei der er seine Ideen zur„Vorbereitung der Endlösung der europäi-schen Judenfrage“ vorbringt. Allerdings wardie Wannsee-Konferenz nicht der Zeit-punkt, an dem die Endlösung beschlossenwurde – dies war lange davor geschehen.

Im September 1941 wird ReinhardHeydrich zum stellvertretenden Reichspro-tektor Böhmens und Mährens ernannt underlangt dadurch den Grad eines SS-Ober-gruppenführers. Seine großen Pläne für dieBefriedung und Germanisierung der Tsche-chen und Nutzung des tschechischen wirt-schaftlichen Potenzials kann er allerdingsnicht mehr lange fortführen – am 4. Juni1942 stirbt er an den Folgen des Attentats.

Robert Gerwarth entfaltet seine anfangsaufgestellte Hypothese, nach der Heydrich„einer jener ,ganz normalen‘ Deutschen“,war, „die unter den Einflüssen der NS-Ideo-logie und der Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre Aufgabe darin sahen, die ,Judenfrage‘durch Massenmord zu lösen“. Gerwarthsieht seine Aufgabe als Historiker darin,„Handlungsmotivationen, Strukturen undKontexte zu erklären“, wobei „HeydrichsHandlungen, Ausdrucksweise und Verhal-ten“ ohnedies für sich sprechen und ein Bilddes Architekten des Holocaust zeigen. Den-noch erscheint das Buch teilweise wie eineErörterung der politischen Ereignisse, indenen Heydrich nur wie zufällig eine Rollespielt. Q

SPECTRUM VIISAMSTAG, 28. JÄNNER 2012DIEPRESSE.COMDie Presse L I T E R AT U R