staatsbuergerschaft und kommunismus

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  • 7/25/2019 Staatsbuergerschaft und Kommunismus

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    Etienne Balibar

    Kommunismus und Staatsbrgerschaft1berlegungen zur emanzipatorischen Politik am Ende des 20. Jahrhunderts

    bersetzt von no spoon

    Fr Ariane P.

    1.Ich mchte mit dem beginnen, was ich, ohne berflssiges Pathos, unsereMeinungsverschiedenheit nennen mchte, die im Grunde in den meisten unsererDiskussionen in den 60er und 70er Jahren vorhanden war.Man knnte sie als eine Variante des Gegensatzes zwischen einem kritischenEurokommunismus und einem mehr oder weniger orthodoxen Neo-Leninismus einordnen. Aber diese Etiketten sagen mehr ber unseregegenseitige Wahrnehmung aus, als ber unsere wirklichen Positionen, und sie

    haben den Nachteil, zwei Tatsachen zu verdecken, die mir im Rckblickgrundlegend zu sein scheinen .Die eine ist unser beider Anteil an derstrukturalen Rekonstruktion des Marxismus (...). Die andere Tatsache beziehtsich darauf, dass wir in der angespannten Lage whrend der politischen Krise1978 in Frankreich, nach dem Bruch der Einheit der Linken, in Bezug auf diePraxis im Grunde die selbe Position hatten. (...)Ich ziehe es also vor, diese Meinungsverschiedenheit in Form einer Debatte berdie zentrale Frage des Staates darzustellen, die mich dann unmittelbar zu Fragender Politik bzw. der Politik heute bringt.

    Eine Spur dieses Streits findet sich in zwei kritischen Thesen, die Nicos in seinemletzten Buch formuliert.2Die eine besagt, dass die Frage nach der fehlendenTheorie des Politischen im Marxismus schlecht gestellt ist, wenn man sie als diesimple Forderung nach einer allgemeinen Theorie vom Staat versteht, dennwas wirklich fehlt, ist eine spezifische Theorie des kapitalistischen Staates. Dieandere widmet sich den eschatologischen und prophetischen Dogmatismen,die zuletzt in dem im Rckblick lcherlichen Versuch von einigen von unssichtbar wurden, die Diktatur des Proletariats in dem Augenblick zuverteidigen oder noch einmal zu berdenken, als sie von denkommunistischen Parteien bereits offiziell fallengelassen worden war.Damit wir uns richtig verstehen, auch wenn ich in der Staatstheorienamentlichzitiert werde, handelt es sich nicht um eine Abrechnung ad hominem. Jedochfhrten diese Fragen, unter uns gesagt, damals zu tiefen Spaltungen. Diese

    betrafen zum einen die Kritik des marxistisch-leninistischen Staatskonzepts unddie Analyse der Institutionen oder politischen Formen, in denen sich ein neuesKrfteverhltnis abzeichnete, und zwar in dem Moment, in dem der hegemonialeStaat der kapitalistischen Bourgeoisie, durch die Internationalisierung desKapitals (wir sagten damals noch nicht Globalisierung) ins Wanken gebrachtwurde. Er reagierte auf den Niedergang seiner konomischen Effizienz mit einemmehr oder weniger akzentuierten bzw. liberal geschminkten autoritrenKurswechsel.

    1Vortrag auf dem internationalen Kolloquium in Erinnerung an Nicos Poulantzas Politik

    heute in Athen, 29. 9 - 2.10.19992Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer berbau, Ideologie, sozialistischeDemokratie. Hamburg:VSA,1978. Im folgenden wird nur unter Nennung der Seitenzahlzitiert.

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    Poulantzas Vorschlag, den kapitalistischen Staat als eine materielle Verdichtungvon Krfteverhltnissen zwischen den Klassen aufzufassen, lie dieseMeinungsverschiedenheiten so Gestalt annehmen, weil dieser Vorschlag einigenvon uns nicht nur als ein Indiz der historischen Materialitt der Staatsapparateerschien (wogegen sich Poulantzas verwehrte), sondern vielmehr dem Staat

    durch seine relative Unabhngigkeit von den Interessen der herrschenden Klasseund dem dahinter stehenden Kapital die Bedeutung seiner Autonomie erstverlieh. Daraus resultieren zwei sehr unterschiedliche Arten, die Wirkung des inden popularen Massenbewegungen enthaltenen Elements der radikalenDemokratie auf den Staat bei einem mglichen sozialistischen bergang zudenken: Entweder als Zerschlagen der Apparate, Entstehung des Nicht-Staats,oder als radikaldemokratische Transformation seiner Funktionsweise, durch dieHerausbildung eines neuen Machtverhltnisses und einer neuen Hegemonie berdie intermediren Klassenfraktionen. (...)In Bezug auf die Verdichtung der Krfteverhltnisse oder das relationaleVerstndnis des Staates habe ich Poulantazs bereits vor langer Zeit Rechtgegeben. Zunchst wegen eines Grundes, den er selbst erwhnt, und der einUnterscheidungskriterium zu Althusser enthlt: D.h. nur ein solches Verstndniserlaubt es, dem Mythos der uerlichkeit der revolutionren Krfte (Parteienoder Bewegungen) in Bezug auf die Funktionsweise des Staates imfortgeschrittenen Kapitalismus ein Ende zu setzen. Am Schluss komme ich zurThematik der uerlichkeit und Innerlichkeit zurck, die mir im vorliegendenFall grundlegend zu sein scheint. Der zweite Grund bringt mich dazu, weiter zugehen, als er es damals tat, und zwar in Richtung einer dem Staat inhrentenDialektik der bertragung und Transformation der Klassenkonflikte (was michmehr als ihn zu seiner Zeit, dem Vorwurf des Reformismus aussetzt): D.h., indie Analyse des kapitalistischen Staates muss man nicht nur die strategischenEffekte der Klassenverhltnisse, die dem Block an der Macht inhrent sind,

    auch nicht blo die Errungenschaften der Kmpfe zwischen den herrschendenund den beherrschten Klassen (Kapital und Arbeiter) einbeziehen, sondern auchdie institutionellen Modi der Regulierung dieser Kmpfe und im Gegenzug ihreWirkung auf die Bestimmung der Klasse selbst, angefangen bei derArbeiterklasse (obwohl, so scheint mir, Poulantzas eben gerade wegen derKlassenposition an der Idee einer konstitutiven Funktion des Staates bei derFormierung des Block an der Macht festgehalten hat, sprach er nicht ber einedeterminierende Funktion der staatlichen Institutionen in der Geschichte derFormierung der Arbeiterklasse, um einen Moment lang die Sprache von E.P.Thompson zu gebrauchen).Was mich dazu bringt, die genau begrenzte Verwendung der Kategorie des

    national-sozialen Staates (Etat national social) vorzuschlagen, um bestimmteFragestellungen hinsichtlich der Transformation des politischen Feldesweiterzufhren, dem Poulantzas im wesentlichen seine Arbeit widmete.Auf der anderen Seite wrde ich sagen, dass ich heute versucht bin, dieStaatstheorie und die epistemologischen Probleme, die sie betrifft, die Idee derrelationalen Theorie oder wenn man so will, der strukturalen eine Stufevoranzutreiben. Es gibt nicht nur keine Substanz oder gegebene Objektivittder Staatsmacht auerhalb der Geschichte seiner Konstitution undReproduktion (22), sondern man kann den Staat auch nicht von denKonfigurationen der sozialen Verhltnisse trennen. Auch wenn der Staat nichtaufhrt, sich als Motor darzustellen (um als Befehlsmachtwahrgenommen zu

    werden und sich selbst als Befehlsmachtwahrzunehmen: Man wei, dass imGriechischen beide Bedeutungen im Begriff arche verschmolzen sind), ist erimmer nur die Ordnung und Aneinanderreihung der Effekte, selbst wenn einigeunter ihnen sehr dauerhaft sind und sich alle in eine institutionelle Materialitt

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    einschreiben. Dem muss man folgendes hinzufgen: Die sozialen Verhltnisse,von denen wir hier sprechen, knnen nicht auf Klassenverhltnisse oderausbeuterische Produktions- und Reproduktionsverhltnisse reduziert werden(was aber nicht bedeutet, man knne diese Verhltnisse vernachlssigen odervergessen): Es handelt sich auerdem um ideologische Verhltnisse, die

    unabhngig oder wenn man so will berdeterminiert sind. Ich wrde eher vonsymbolischen Verhltnissen oder Beziehungen sprechen, die im Element deskollektiven Imaginren erzeugt werden, da der Begriff der Ideologie erheblichdurch einen reduktionistischen Gebrauch geprgt ist. Aber der kombinierte Effektder Klassenverhltnisse und der symbolischen Beziehungen in den determinierteninstitutionellen Handlungen entsprechen keinem invarianten Schema, weder inder longue dure, noch in der Konjunktur. Dies ist selbstverstndlich einwesentlicher Punkt, z.B. bei den Formen und aktuellen Auswirkungen desNationalismus als aggressive und defensive Praxis des Staates (darin isteingeschlossen, was ich supranationalen, z.B. europischen Nationalismus,nenne). Man knnte sagen, dass der Staat in einer starken Bedeutung nichtexistiert,d.h. er existiert nicht als eigenstndige Instanz. Das, was existiert,sind die Krfte und die Krfteverhltnisse (darin eingeschlossen, diesymbolischen und immateriellen Krfte), die in der Form des Staates materiellverbunden sind.

    2.Von diesen Prmissen aus, werde ich folgendermaen vorgehen. Zunchstmchte ich an einigepolitische Vorschlge von Poulantzas erinnern, die die Krisedes Staates und der staatlichen Praktiken betreffen, und die ich mir zunutzemachen mchte, um einige Anmerkungen ber die Allgegenwrtigkeit dieserKrisen-Thematik in unserem Diskurs zu formulieren, eine Thematik, von derbesonders die Schriften Poulantzas Zeugnis ablegen. Danach werde ich mich ein

    wenig mehr mit der Analyse des kapitalistischen Staates in Begriffen einesnational-sozialen Staates und seiner Krise als einer des national-sozialenStaats beschftigen. Schlielich werde ich eine Antwort auf die Frage skizzieren,die ich im Titel meines Vortrags gestellt habe: Die nach einer emanzipatorischenPolitik, die sich immer auf das Doppelverhltnis von Kommunismus undStaatsbrgerschaft beziehen muss. (...)Gehen wir von einigen in der Staatstheorie formulierten Thesen aus. Ich teile siein zwei Gruppen, entsprechend dem weiter oben dargestellten kritischenGegenstand (...) Es geht also zunchst um die Frage des Verhltnisses zwischendem Staat und den Volkskmpfen, also um die Anwesenheit der beherrschtenKlassen im Zentrum des Staates selbst, und die Konsequenzen, die diese

    Anwesenheit fr die Geschichte der Demokratie hat. Ferner um die Frage nachder nationalen Form des Staates, also des Verhltnisses zwischen Staat undKapital, das vor dem Horizont des Verhltnisses zwischen revolutionrem Kampfund Nationform betrachtet wird.Beginnen wir mit dem Staat und den beherrschten Klassen. Es ist bekannt, dassPoulantzas darauf besteht, dass die eigenstndige Materialitt des Staatesanerkannt werden muss (gegen instrumentelle Reprsentationen oder,umgekehrt, gegen die Staatsmacht): Aber er existiert nur als Aktivitt, alsModalitt einer historisch entwicklungsfhigen Wirkung der Klassenkmpfe, inder die Gesamtheit der sozialen Bewegungen artikuliert werden mu. Hinsichtlichdieser Dynamik knnte man sagen, dass die Staatsform in einem unendlichen

    Prozess immer gleichzeitig konstituierend und konstituiert ist.Es ist also theoretisch zu erklren schreibt Poulantzas in der Staatstheorie(116) wie der Klassenkampf, speziell der politische Kampf um die politischeHerrschaft, im institutionellen Gerst des Staates eingeschrieben sind (...) und

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    zwar so, dass die unterschiedliche Formen und historischen Transformationendieses Staates erklrt werden knnen. Um ihn wirklich zu verstehen, muss mandie Rolle erklren, die der Staates gleichzeitig in Beziehung zu den herrschendenKlassen und den beherrschten Klassen spielt. Und weiter unten heit es: DerStaat konzentriert in sich nicht nur das Krfteverhltnis zwischen Fraktionen des

    Blocks an der Macht, sondern auch das Krfteverhltnis zwischen diesem Blockund den beherrschten Klassen(...) Tatschlich jedoch verlaufen die Volkskmpfequer durch den Staat, und zwar nicht in der Weise, da sie von auen in ein insich geschlossenes Ganzes eindringen. Die politischen Kmpfe, die auf den Staatzielen, durchziehen seine Apparate, weil sie bereits in das Raster des Staateseingeschrieben sind, dessen strategische Konfiguration sie vorzeichnen. (130-131)Ein wenig weiter unten schrnkt Poulantzas die Reichweite der allgemeinen Theseein, wobei er das Modell der Doppelherrschaft nicht nur als Schema desrevolutionren bergangs, sondern auch als Beschreibung der Spannungen undWidersprche des demokratisch-kapitalistischen Staates zu Recht ablehnt:Dagegen existieren die beherrschten Klassen nicht mit Hilfe von Apparaten, dieihnen eine eigene Macht geben, sondern im wesentlichen in Form vonOppositionszentren gegenber den herrschenden Klassen. (...) Sie ist auchaufgrund des materiellen Aufbaus des Staates unmglich. Dieser Aufbau bestehtaus internen Reproduktionsmechanismen des Verhltnisses von Herrschaft undUnterordnung. Die beherrschten Klassen sind in seinem Aufbau prsent abereben nur als beherrschte Klassen. (...) Die Volksklassen sind schon immer imStaat prsent gewesen, ohne dass das jemals etwas an dem harten Kern diesesStaates verndert htte. (132-133) Man sieht, dass Poulantzas hier nicht nurdie Illusionen einer Neutralitt eines Staates der ber den Klassen stnde,zurckweist, sondern auch und viel subtiler ein gewisses machiavellistischesSchema, wonach sich die Konstitution des Staates auf die beherrschten Klassen

    selbst sttzt, oder besser, auf die dynamische Konfiguration ihrer Kmpfe undForderungen und der Kraft, die diese entwickeln. Dennoch kommt Poulantzas imletzten Abschnitt seines Buches und in seinen Schlussfolgerungen immer ausder Perspektive einer Kritik eines marxistischen Instrumentalismus ausfhrlichauf die Volkskmpfe und die Art, wie sie den Staat durchziehen, zurck und legtvor allem dar, wie sich diese Effekte ins Herz der konomischenStaatsfunktionen einschreiben (dies fhrt gezwungenermaen dazu, dieVorstellung des Wohlfahrtsstaates, als einem Gebilde mit ausschlielich sozialenFunktionen, die den organischen Staat von auen kommend ergnzen, der dannwiederum im Prozess der Kapitalakkumulation Mngel produziert, zuberwinden.) Einerseits existieren keine Staatsfunktionen zugunsten der

    Volksmassen, die auch von den Volksmassen eingesetzt sind und andererseitskeine konomischen Funktionen zugunsten des Kapitals.3Er erwhnt dabei dieBeschrnktheit der Beziehung zwischen der politischen und der konomisch-sozialen Demokratie. Dies alles luft auf eine Hauptthese zu, die ein wenigabstrakt bleibt, obwohl sie offensichtlich in seinem Pldoyer fr einendemokratischen Sozialismus wesentlich ist, sie ist auf die reprsentativeDemokratie bezogen, die immer als geschichtliche Verbindung derunterschiedlich starken popularen Klassenkmpfe und dem jeweiligenEntwicklungsstand der politischen Demokratie existierte.Machen wir eine kurze Pause, um das Fehlen eines Schlsselbegriffs derpolitischen Tradition in Poulantzas Terminologie hervorzuheben, dessen

    Gebrauch heute wieder fast allgegenwrtig geworden ist und den ich selbst fr3Balibar zitiert eine in der deutschen bersetzung nicht vorhandene Stelle aus derStaatstheorie. LEtat, le pouvoir, le socialisme 1978: 238

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    einen Augenblick benutzen mchte, um zumindest einem Teil der Verwirrungenzu entgehen, die diese Inflation hervorbringen: Es ist der Begriff derStaatsbrgerschaft (citoyennet). Obwohl man dies nicht erwarten wrde, wirddieser Begriff zumindest bei der Diskussion der Alternative zwischen Demokratieund Autoritarismus von ihm tunlichst gemieden.

    Dafr gibt es mehrere Grnde, die ich ungeordnet auffhre: Einer ist vermutlichseine Weigerung, das Konzept der Staatsbrgerschaft (politeia), dieses Modelloder diesen Mythos, dass fr ihn aus sprachwissenschaftlichen Erwgungen miteiner vllig anderen historischen Realitt, der griechischen Polis, auf das engsteverbunden war, zu bertragen (andere verzichteten darauf nicht: sieheCastoriadis); nher ist uns die zentrale Funktion der Idee des Brgertums(i.O.deutsch) in dem Teil der marxistischen Tradition (von Jaurs und Bernstein), aufden sich Poulantzas niemals berufen htte; und die Strke einer, derhegelmarxistischen Tradition entstammenden Kritik des Rechtsformalismus inPoulantzas Werk (die umso bemerkenswerter ist, da er hier im Unterschied zuvielen anderen Hegel von innen betrachtet) und der aus ihr folgendenThematisierung der Verfassung, zugunsten der Analysen von Krfteverhltnissenund sozialen Konfigurationen; und last but not least, seine bewusste Ablehnungder Vorstellung von einem politischen Gleichgewicht zwischen Macht undGegenmacht im Regierungssystem, die organisch zu einer bestimmtenDefinition von Staatsbrgerschaft gehrt (insbesondere im amerikanischenRepublikanismus), und diese Form hat sie selbst dann noch, wenn sie dieEntwicklung von gewerkschaftlichen Klassenorganisationen im nationalenRahmen bercksichtigt.

    Aber dies fhrt unmittelbar zu einer zweiten Gruppe von Thesen. Es ist bekannt,dass die Reflektion ber die Nationform und den nationalen Charakter deskapitalistischen Staates, sowie die daraus folgenden politischen Konsequenzen,

    eine der Besonderheiten von Poulantzas letzten Buch ausmachen. Dies nicht nurim Vergleich zu seinem bisherigen Werk, sondern auch im Vergleich zur Mehrheitder zeitgenssischen marxistischen wie nicht-marxistischen Politologie (mitbemerkenswerten Ausnahmen, wie man hinzufgen muss).Ich mu hier gestehen, dass ich einige Jahre gebraucht habe, auch unter demEindruck einer neuen, durch das Wiederaufleben der Nationalismen in Europaund besonders in Frankreich, markierten Konjunktur, um genau das, als denblinden Fleck der marxistischen Theorie und einen der entscheidenden Aspekteder Theoretisierung des Politischen zu bestimmen. Ich mchte dazu einfach zweiFormulierungen von Nicos verwenden.Zunchst mchte ich die deutliche Kritik an allen Versuchen einer Ableitung

    (i.O. deutsch) der nationalen Staatsform aus den Marktbeziehungen und denBedingungen der Kapitalzirkulation im bekannten Kapitel zur Nation (85f) in Erinnerung rufen. Im Prozess ohne Subjekt des Klassenkampfs (108) odersogar noch in derpolitischen Gestalt der Mchte und Transformationsfaktoren,die die Geschichtlichkeit des Kapitalismus ausmachen, so eine FormulierungPoulantzas, die sich an den besten Gedanken Althussers orientiert, ist nach demGeheimnis jener Artikulation von Kapitalismus, Staat und Nation zu suchen,welches dazu fhrt, dass diese nicht aufeinander reduzierbaren Begriffe in derPraxis stets zusammen auftreten. Derart, dass die moderne Nation tendenziellmit dem Staat zusammenfllt, in dem Sinne, da der Staat sich die Nationeinverleibt und die Nation in den Staatsapparaten Gestalt annimmt, denn sie

    wird zur Verankerung seiner Macht in der Gesellschaft und umreit ihre Grenzen.Der Staat funktioniert auf der Grundlage der Nation. (91)

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    Ich mchte weiterhin darauf aufmerksam machen, dass Poulantzas in denStudien zur nationalen Frage auf dem besteht, was ich den Gesichtspunkt derBeherrschten oder der beherrschten Klasse nennen mchte: Das wirklicheProblem ist aber natrlich das Verhltnis der Arbeiterklasse zur modernenNation.Diese tiefgreifende Verhltnis wurde vom Marxismus weitgehend

    unterschtzt (110) Es ist klar, dass diese Frage nicht nur wichtig fr die Analyseder Vergangenheit ist, sondern auch fr die Lsung brennender strategischerFragen. Dies fhrt uns zu den gleichzeitig gewagtesten und, man muss esbetonen, missverstndlichsten Formulierungen von Poulantzas (eineMissverstndlichkeit, die nichts mit einem Unvermgen des Autors zu tun hat,sondern in der Sache liegt) und zwar dort wo diese zu zwei auf den ersten Blickwidersprchlichen Thesen verknpft werden: Einerseits soll die Wichtigkeit dernationalen politischen Formation als Rahmen der Prozesse sozialen bergangsbekrftigt werden; andererseits mu man im Internationalismus derArbeiterklasse eine fundamentale Eigenschaft der demokratischen Kmpfe undder Volkskmpfe sehen, die Poulantzas im Laufe seiner weiteren Argumentationzu einem Ziel der revolutionren Praxis erklrt. Dabei erwhnt er die Phnomeneder Transnationalisierung des Kapitals ebenso, wie die Partizipation derMigranten an den Massenkmpfen neuen Typs, wie auch an im Entstehenbegriffenen Formen direkter Demokratie.Die Schwierigkeit, einen Begriff zu finden, denke ich, wird im wesentlichen durchdas schwere Erbe der Formen verursacht, die die Komintern-Organisationenhinterlassen haben, d.h. jene in Gestalt eines Gegen-Imperialismus auftretendenAbirrungen und Perversionen des Internationalismus, der nicht zgerte, diegrundlegenden Eigenschaften seines Kontrahenten zu reproduzieren, wovon sichder historische Kommunismus noch nicht erholt hat.In Wirklichkeit bestand die dialektische Lsung des Problems einesspezifischen Verhltnisseszwischen der Arbeiterklasse und ihrer Politik in der

    Nationform schlielich darin, sich in kleine Worte wie gewisse, richtig,authentisch zu flchten: Der Nationalstaat als Einsatz und Ziel derArbeiterkmpfe stellt auch die Wiederaneignung ihrer Geschichte durch dieArbeiterklasse dar. Das kann natrlich nicht ohne Transformation des Staatesgeschehen, damit ist aber auch die Frage eines gewissen Weiterbestehens diesesStaates unter seinem nationalen Aspekt beim bergang zum Sozialismus gestellt.(...) die nationale Ideologie der Arbeiterklasse als zugleich richtiger Ausdruck desInternationalismus und als Auswirkung des brgerlichen Nationalismus auf dieArbeiterklasse; dieser brgerliche Nationalismus htte dennoch nicht diemassiven und frchterlichen Auswirkungen auf die Arbeiterklasse haben knnen,die er gehabt hat er fhrte sie in die Blutbder der national-imperialistischen

    Kriege , wenn er nicht auf der Materialitt der Konstituierung und des Kampfesder Arbeiterklasse beruhte und mit dem authentischen Arbeiteraspekt dernationalen Ideologie verknpft wre. (111f) Was bleibt, ist, dass das Problemgestellt wurde und auch wir selbst weit entfernt davon sind, es gelst zu haben.Ich mchte, um diesen ersten Punkt abzuschlieen, die folgende Bemerkungmachen. Zwischen diesen zwei Argumentationsstrngen, die einen fragen nachden Orten und Effekten der Volkskmpfe im Staat, die anderen nach dernationalen Form des kapitalistischen Staates, bleibt eine Verschiebung und alsFolge davon eine ungelste Spannung bestehen, obwohl sie selbstverstndlichauf ein und dasselbe Ziel zulaufen, das darin besteht, in konkreten Begriffen dieNotwendigkeit einer sozialistischen Demokratie und eines demokratischen

    Sozialismus zu begrnden.Im Grunde genommen scheint Poulantzas, obwohl er sich bewusst auf einerelationale Konzeption der Macht und des Staates zubewegt hat (er hat zuderen Begrndung selbst beigetragen), gezgert zu haben, die strategische

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    Bestimmung zu denken, wonach die Reproduktion und der Widerstand derVolksklassen sogar auch fr die Regulierung der Konstitution des Blocks an derMacht entscheidend sind, (whrend er nicht aufhrt zu behaupten, dass derKampf der Klassen die Institutionen bersteigt), und andererseits scheint erauch dazu geneigt zu haben, die grundlegende Bedeutung der Nationform fr

    denkapitalistischen Staat auf die Arbeiter- oder Volkskomponente desNationalismus zu reduzieren (whrend sie doch stndig der Hegemonisierungdurch den brgerlichen Nationalismus ausgesetzt ist). Mit anderen Worten,einerseits rumt er den Arbeiterkmpfen in der Geschichte der Transformationendes kapitalistischen Staates nicht genug Geltung ein, andererseits gesteht ermglicherweise dem Nationalismus der Arbeiterklasse zuviel Autonomiegegenber dem brgerlichen oder herrschenden Nationalismus zu, genau zu demZeitpunkt, als er diesen Nationalismus die Aufgabe aufbrdet, den Weg fr seineeigene berschreitung zu ebnen.

    Ich vermute, dass dies mit den schwierigen und interessanten Formulierungen inZusammenhang steht, die in den letzten Texten von Poulantzas die Gestalt einerDiskussion eines Konzepts der Krise annehmen: Dort gelingt es ihm, sich vongewissen von der Romantik (einschlielich der Marxschen Romantik) geerbtenapokalyptischen Formulierungen zu lsen, d.h. von einem Schema, nach demselbst die Verschrfung der Krise zum Grund und Zeichen einer unmittelbarbevorstehenden Lsung wird (dies trifft besonders auf seine feinenUnterscheidungen zwischen Faschisierung des Staates, diktatorischen Lsungeninterner Machtkonflikte, autoritrem Etatismus, etc, zu). Und man sieht anjedem dieser letzten Texte, dass Poulantzas der Idee anhing, dass eine, whrendder Hegemonie- oder Legitimationskrise des Staates mgliche autoritreEntwicklung, (durch sich) selbst eine anhaltende Verpflichtung zumsozialistischen bergang darstellt, wie man es insbesondere am Widerstand der

    Arbeiterbewegung gegen ihre vollstndig Sozial-Demokratisierung sehen knne.

    3.Ich werde also jetzt zum zweiten Punkt bergehen und versuche zunchst zuerklren, weswegen es mir ntzlich erscheint, einen Teil der Fragen, diePoulantzas gestellt hat in Begriffen einer Krise des national-sozialen Staats neuzu formulieren. Ich hoffe, es wird deutlich, dass es sich dabei nicht um denVersuch einer posthumen Einverleibung, sondern um eine gemeinsameberlegung handelt, die ber einen langen Zeitraum hinweg zwischen mehrerenForschern zirkuliert. Ich will versuchen, das, was ich gemeinsam mit einigenanderen den national-sozialen Staat nenne, durch zwei wechselseitig

    historische Thesen zu charakterisieren.

    Ich werde also jetzt zum zweiten Punkt bergehen und versuche zunchst zuerklren, weswegen es mir ntzlich erscheint, einen Teil der Fragen, diePoulantzas gestellt hat in Begriffen einer Krise des national-sozialen Staats neuzu formulieren. Ich hoffe, es wird deutlich, dass es sich dabei nicht um denVersuch einer posthumen Einverleibung, sondern um eine gemeinsameberlegung handelt, die ber einen langen Zeitraum hinweg zwischen mehrerenForschern zirkuliert. Ich will versuchen, das, was ich gemeinsam mit einigenanderen den national-sozialen Staat nenne, durch zwei wechselseitighistorische Thesen zu charakterisieren.

    Die eine besteht in der Beobachtung, dass die Regulierung (und nicht, wie manmanchmal zu Unrecht denkt, die Integration) der Klassenkmpfe durch dieSozialpolitik und die Institutionen zur kollektiven Sicherung zumindest einesTeiles der Lohnarbeiter, die als Wohlfahrtsstaat, Welfare State oder Sozialstaat

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    (i.O. deutsch) bezeichnet wird, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts absolutunentbehrlich fr die Erhaltung der nationalen Form des Staates und damitseiner Hegemonie waren, die gleichzeitig durch interne (soziale, religise,ethnische Konflikte) und externe (Kriege, Kolonisierung) Krisen undWidersprche teilweise in ihrer Existenz bedroht war. Es gibt keine natrliche

    Bestndigkeit oder Trgheit der Nation. Diese muss vielmehr durch einebestimmte Politik reproduziert werden, die zu einem wesentlichen TeilSozialpolitik war, teils durch Kmpfe innerhalb derselben durchgesetzt, teilsmachiavellistisch von oben geschaffen. Aber die reziproke These lautet, dassdie letzten Endes zu Gunsten der herrschenden Klasse vorgenommeneRegulierung der Klassenkmpfe, allgemeiner, der sozialen Konflikte, niemalsmglich gewesen wre ohne den Prozess der Einsetzung der Nationform, dieserForm der privilegierten Gemeinschaft, die sakralisiert und skularisiert zugleichist. (denken wir hier an den nationalen-popularen Willen von Gramsci oder andie Erfindung der Nation von Benedict Anderson). Dies ist der Tugendkreis(cercle vertueux)4, der es der politischen Geschichte der Moderne erlaubt hat,zweifellos zum Preis von Gewalt, Zwngen und Illusionen, sich zumindest fr einegewisse Zeit an bestimmten Orten und in bestimmten Grenzen einzurichten.Dieses institutionelle Resultat lsst sich m.E. am besten national-sozialer Staatnennen, ohne den provokatorischen Charakter des Ausdrucks zu frchten, d.h.ihn nicht als eine getarnte Variante des Nationalsozialismus zu verstehen,sondern im Gegenteil als eine Alternative zur Lsung die dieser im Rahmeneines bestimmten Konjunktur darstellte. Man bemerkt, dass es sich um eineeigenstndige Phase in der Geschichte des Staates handelt, die organisch istfr eine ganze Periode der Geschichte des Kapitalismus (selbst wenn sie sich sehrungleich entwickelt (...) ) und in ihr wurden unumkehrbare Effekte produziert,einschlielich der Konstitution der Klassen und der historischen Perspektive, indie man sie einordnen kann.

    Diese These bedarf in meinen Augen zweier grundlegender Ergnzungen. Dieeine betrifft die Transformation der Frage der Staatsbrgerschaft, die andere dasVerhltnis dieser zum Gegensatz von Zentrum und Peripherie.Was die Staatsbrgerschaft betrifft, mu man zuerst sagen, dass die Konstitutiondes national-sozialen Staates darin mndete, eine quivalenz zwischenStaatsbrgerschaft und Nationalittzu zementieren, die tendenziell seit ihrerGrndung in die Nationalstaaten selbst eingeschrieben war, im besonderen beiden aus den popularen (sogenannten brgerlichen) Revolutionen des klassischenZeitalters hervorgegangen Staaten, die aber nie ohne Rest oder widerspruchsfreigeblieben sind. Die groe, typisch moderne Gleichung (...), die auf

    bewunderungswrdige Weise die Vieldeutigkeit eines Begriffs wie citizenshipimamerikanischen Sprachgebrauch zum Ausdruck bringt, hat von nun an nicht nureine formale Volkssouvernitt zum Inhalt, sondern ein Ensemble sozialerRechte, die dazu tendieren, der Staatsbrgerschaft selbst einverleibt zu werden(selbst wenn diese Einverleibung stets umstritten ist) und die, weit davonentfernt, mit den politischen Rechten in Widerspruch zu stehen (wie es die ganzeTradition des reinen Liberalismus gerne htte) in gewissem Sinne derpolitischste Teil der Staatsbrgerschaft sind. Diese Rechte transformieren dieStaatsbrgerschaft in eine soziale, die selbstverstndlich in dem MaeWirkmchtigkeit gewinnt, indem ihre Garantie und ihre Entwicklung auf derWichtigkeit der staatlich anerkannten und organisierten sozialen Kmpfe basiert.

    Die nationale Zugehrigkeit konstituiert im Gegenzug die Grundlage des Zugangszu den sozialen Rechten, angefangen bei der Bildungs-, Wohnungs- und

    4Wortspiel mit cercle vicieux, Teufelskreis. (Anm. d. .)

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    Gesundheitspolitik, (all das, was Foucault Bio-Politik nennt) bis hin zurArbeitslosen- und Altersversicherung, und selbst wenn die auslndischeimmigrierte Arbeiterschaft mehr oder weniger vollstndig im nationalen Raumin das Feld der sozialen Rechte integriert ist, nicht aber in den der politischenRechte, entsteht hier ein mchtiger Spannungsherd und gegebenenfalls Gewalt.

    Es muss aber vor allem gesagt werden, dass die Verwirklichung einer neuenhistorischen Form von Staatsbrgerschaft, der sozialen Staatsbrgerschaft,innerhalb der nationalen Form, genauer im Rahmen des hegemonialen national-sozialen Staates eine neue gesellschaftliche Dialektik zwischen dem Politischenund dem Klassenkampf einleitet. Man muss hier vor allem die herrschendePerspektive umstrzen und die politische Form von unten, anders gesagt ausder Perspektive von denen da unten betrachten, so wie es auch wichtig ist, umdie Komplexitt der Beziehungen zwischen Kapital und Staat in den Blick zubekommen, von der Idee einer Ableitung oder des Mechanismusloszukommen. Diese beiden Dinge gehren im brigen zusammen. Mehrmalsbetont Poulantzas, dass der zeitgenssische Staat einen Prozess derIndividualisierung der Subjekte bewirkt. Hierbei handelt es sich um diegrundstzliche Dimension der Staatsbrgerschaft, die bereits bei Hegel, imZentrum seiner Theorie der Verhltnisse zwischen der zivilen Gesellschaft unddem Staat formuliert wurde. Aber die Entwicklung einer sozialenStaatsbrgerschaft zeigt, dass es keinen Gegensatz, sondern im Gegenteil einestrikte Komplementaritt zwischen dem Individualisierungsprozess und derEntstehung von Kollektiven gibt, die ein Bewusstsein ber ihre eigene Kulturentwickeln, wobei sie in den meisten Fllen, zumindest was die Arbeiterklasseanbelangt, historisch an Widerstand und Kampf gebunden sind. Umgekehrt siehtman auch, dass in dem Moment der Krise der sozialen Staatsbrgerschaft, diedurch eine neue Phase der berausbeutung der Arbeitskraft hervorgebrachtwird, die die nationalen Grenzen sprengt, auch eine Auflsung der kollektiven

    Vorstellungen und eine Rckentwicklung der individuellen Rechte entsteht, dieschlielich die Persnlichkeit selbst in Gefahr bringen, in Gestalt jenerAusschlussformen, die R. Castel zurecht Entkopplung (dsaffiliation) nannte.5Schlielich sollte man hervorheben, dass die Umsetzung des national-sozialenStaats den Widerspruch zwischen mehreren Aspekten der Universalitt, die frdie politische Moderne charakteristisch sind, verschrft und verlagert. Dieseverschiedenen Aspekte erscheinen immer gleichzeitig auf der symbolischen wieauch auf der realen (wenn man so will konomischen) Ebene, wobei die einennicht weniger determinierend sind als die anderen. Es handelt sich hierbei, wennman so will, um eine bersetzung dieser Interiorisierung [intriorisation] derglobalen Widersprche. (...) Auf der einen Seite stellt die Entstehung einer

    sozialen Staatsbrgerschaft (oder das Ensemble der sozialen Rechte, welches indie Staatsbrgerschaft eingeschrieben ist, die aus jedem Individuum einenQuasi-Besitzer eines Teils des kollektiven Besitzes, wenn auch sehr beschrnkt,macht) die ursprngliche und entscheidende Entwicklung dessen dar, was wirintensiveUniversalitt nennen knnen, d.h. einer Gleichheit, die nicht nur formellist, sondern einen genau konturierten materiellen Gehalt hat. Es ist durchauswesentlich fr diese Ansicht, dass die kollektiven Regime der sozialen Sicherheit(...) nicht als Frsorgeregime angesehen wurden, die sich mit Methoden derumgekehrten Diskriminierung besonders an die Armen und Arbeiter gerichtethtte, sondern sie haben sich als universelle dargestellt, von denen alleStaatsbrgerder betroffenen Lnder profitieren sollten, in jedem Falle aber alle

    5Robert Castel: Le mtamorphoses de la question sociale. Fayard, 1995. Dt. Ausgabe:Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Univ.-Verl.Konstanz, 2000

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    Staatsbrger, die am Arbeitsleben teilhatten, das dadurch auch als eineGrundlage der Zugehrigkeit zum Staat (Cit) fungierte (genau das wird durchdie Massenarbeitslosigkeit und die stattfindende Expansion der neoliberalenIdeologie gerade mehr oder weniger grundstzlich in Frage gestellt). (...)Aber andererseits beinhaltet die Tatsache, dass die soziale Staatsbrgerschaft

    blo in der beschrnkten Form nationaler Sozialpakte im Rahmen einesnational-sozialen Staates existiert hat, (...) offensichtlich eine Beschrnkungihrer Universalitt, oder wenn man so will, einer extensiven Universalitt. Nunist der Augenblick gekommen, das Augenmerk auf eine beschrnkende materielleBedingung zu richten, die auf die Teilung der Weltwirtschaft in Zentrum undPeripherie verweist. Selbst und vor allem wenn der national-soziale Staat in denletzten hundert Jahren ein ideales Modell geworden ist (auch ein idealisiertesModell, an das sich insbesondere die Enwicklungspolitiken geklammert haben,hervorgerufen durch die Entkolonisierung und an bestimmten Punkten auchdurch die reformistischen Bewegungen in den Ostblockstaaten), wobei klar ist,dass er sich auer in den Lndern des imperialistischen Zentrums nicht wirklichvollstndig verwirklicht hat (...) Aber diese Beschrnkung der Universalitt desnational-sozialen Staates und die ihr zugrundeliegende ungleiche Entwicklung,zieht in der neuen Phase der Globalisierung dramatische Konsequenzen nachsich, nmlich dass bestimmte kapitalistische Politiken bewusst auf dieVerschrfung der Ausbeutung zielen, im Sinne einer massiven Reproletarisierung,die aber (...) die Grundlagen und die Institutionalisierung des Politischen inGefahr bringen. Es handelt sich nicht mehr nur um die Kluft zwischen denLebensbedingungen von Zentrum und Peripherie, also zwischen entwickeltenund unterentwickelten Lndern, zwischen einer in der berausbeutunggehaltenen und einer dem Prozess der Proletarisierung tendenziell entrissenenArbeiterklasse, die internationale Spannungen auf globaler Ebene schafft, die sichan bestimmten Grenzen zu kristallisieren vermag (wie diejenigen, welche die

    vormaligen Kolonisatoren und die Kolonisierten gleichzeitig trennen und vereinen,man sieht das sehr gut am Beispiel der franzsisch-algerischen Grenze oder derGrenze zwischen den USA und Mexiko) und die sich in bestimmten sozialen unddemographischen Prozessen wie der Migration zeigt. Es handelt sich umWohlstandsgeflle (i.O.dt.) (um einen Ausdruck des deutschen konomen GeorgVobruba zu benutzen), die sich von nun an im Rahmen eines jeden politischenEnsembles vertiefen und die Reproduktion des dynamischen Gleichgewichts jedespolitischen Ensembles in Frage stellen, in dem Mae, in dem die Unterscheidungzwischen Zentrum und Peripherie nicht mehr eine zwischen nationalenFormationen ist, sondern in entscheidender Weise auch innerhalb dieserFormationen stattfindet. Nicht nur schaffen die traditionellen Nationalstaaten

    unter der Wirkung des Imports immigrierter billiger Arbeitskraft, die mehr oderweniger von zivilen und sozialen Rechten ausgeschlossen ist und unter derWirkung der Deregulierungspolitiken, des Abbaus der sozialen Sicherungen, inihrem Gefge widersprchliche Lebensverhltnisse sowie Ausschlussformen, diedie Idee der sozialen Staatsbrgerschaft negieren (...) (und die offensichtlicheine konstante Schwchung und systematische Delegitimierung der organisiertenKlasse, insbesondere der Gewerkschaften bedeuten). Man kann sogar soweitgehen und die folgende These vorschlagen: Die supra-nationalen politisch-konomischen Ensembles, die durch ihre Herausbildung den nationalen Rahmenrelativieren, und gleichzeitig die staatlichen Integrationsmechanismen dersozialen Konflikte auf einer erweiterten Ebene reproduzieren, wofr die EU ein

    typischer Fall ist, sind systematisch auf der Kluft der Wohlstandsgeflle (i.O.deutsch), den Mechanismen der Ungleichheit und der internen Exklusion,aufgebaut (...).

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    In dieser Situation werden von neuem die gefhrlichen Klassen im Herzen despolitischen Raums eingeschrieben. Oder allgemeiner gesagt, sie schreiben impolitischen Feld das komplette Spektrum der organisierten Gewalten ein, von denrassistischen Diskriminierungen und den Methoden der sicherheitspolitischensozialen Ausgrenzung bis hin zu den ethnischen Gegenwirkungen und den

    kleinkriminellen Phnomenen, die wiederum die Militarisierung der sozialenOrdnung verschrfen. Man kann Poulantzas 20 Jahre alte berlegungen zumautoritren Etatismus noch einen Schritt weitertreiben. Die Krise des national-sozialen Staats, die mit der Globalisierung und mit dem Prozess derReproletarisierung zusammenfllt, ist ein Resultat und liegt zugleich in den Zielender herrschenden Klasse begrndet (Finanzkapitalismus) und leitet wiederumeine Reihe von nationalen und internationalen politischen Initiativen ein, die zumVorschein bringen, was man eher als eineprventive Konterrevolution,denn alseinen Neoimperialismus bezeichnen knnte. Denn das Ziel ist nicht die Eroberungterritorialer Einflusszonen, was in einer Zeit der endgltigen Delokalisierung desProzesses der Produktion und der Aneignung des Mehrwerts sinnlos gewordenist; sondern im Rahmen der gegebenen Mglichkeiten einen Krieg aller gegen alleins Leben zu rufen, eine Situation endemischer Gewalt, in der die Entstehungeiner transnationalen sozialen, multiethnischen, multikulturellen Bewegung sichals unmglich erweist.Die Frage ist, ob eine solche Politik, (...), in der sich finanzielle, militrische,humanitre Aspekte miteinander verbinden und die man, so glaube ich alsprventive Konterrevolution charakterisieren kann, ihrerseits als Antwort eineRevolution hervorrufen wird oder wenn man so will eine Gegen-Konterrevolution (...) Diese Politik, kann man auf die Verfolgung der Interessender herrschenden Klasse oder einer ihrer Fraktion zurckfhren, was imBesonderen bedeutet, dass die Effekte der Reproletarisierung der globalenArbeiterklasse keineswegs konomisches Schicksal sind (man knnte sogar

    sagen, dass sie konomisch eher kontra-produktiv sind). Aber diese Politik kanndurch die sozialen Krfte, die Arbeiter, die unterdrckten Vlker, dierevolutionren Intellektuellen, die anderen emanzipatorischen undWiderstandsbewegungen die alle zusammen jene fortschrittliche Tradition bilden,die man die Linke oder das Volk nennt, nicht einfach umgedreht werden. Diedramatische historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts kann uns zumindesteines lehren, dass es keine Symmetrie geben kann zwischen den Strategien derherrschenden und beherrschten Klassen, gerade weil die Wirklichkeit der Politikstrategisch ist. Dies war auch die Lehre Machiavellis.

    4.

    Selbst wenn die Einrichtung des national-sozialen Staats rumlich und zeitlichbegrenzt gewesen sein sollte (wenn auch im Zentrum des kapitalistischenSystems eingeschrieben), so ist sie doch irreversibel. Das Rad der Geschichtedreht sich nicht zurck, ungeachtet (...) aller Phnomene der zyklischenReproduktion der Ausbeutungs- und Unterdrckungsmechanismen. Vor allemsollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Vlker des Ostblocks die Diktaturber das Proletariat beendet haben, um ihrerseits in die Sphre der sozialenStaatsbrgerschaft einzutreten und nicht in die eines wilden Liberalismus.Solche Phnomene extremer Gewalt, die heute die globale Politikcharakterisieren hier verknoten sich die konomisch-sozialen Gewalten mitideologischen Gewalten ethnischen und religisen Typs auf unentwirrbare

    Weise miteinander und die tendenziell auf die physische Eliminierung von frdie Ausbeutung unntz gewordenen Bevlkerungsteilen hinauslaufen bringennachdrcklich die Unmglichkeit, einen national-sozialen Staat zu errichten zumAusdruck. In vielen Fllen ist dies gleichbedeutend mit der Unmglichkeit,

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    berhaupt einen Staat zu errichten und zwar in einem groen Teil der Welt,davon wird auch das Innere der sozialen Situation und damit die Mglichkeitender kollektiven Reprsentation und der Organisation von Politik, sogar derGedanke der Rechte des Individuums weltweit bestimmt. Deshalb ist es nununsere Aufgabe, die umfassend in Frage gestellte soziale Staatsbrgerschaft

    gleichzeitig zu verteidigen und auszudehnen (es ist im brigen unmglich sie zuverteidigen ohne sie auszudehnen), und eine neue Form und ein neues Konzeptder Staatsbrgerschaft zu erfinden, das es insbesondere erlaubt, diegrundlegenden Widersprche des sozialen Nationalstaats zu berwinden. Es istunmittelbar einleuchtend, dass uns diese Situation vor praktisch kaum zulsende oder berhaupt nur benennbare Dilemmata stellt.

    Dies beweist meines Erachtens auch die tendenzielle Aufspaltung dersozialistischen Tradition vor allem in Europa in zwei Arten von Diskursen,die sich spiegelverkehrt aufeinander beziehen:Auf der einen Seite wurde (etwa von Habermas oder den linkenHabermasianern) die Idee einer post-nationalen Politik entwickelt, deren Motordie grenzberschreitende Ausweitung der Menschenrechte und der rechtlichabgesicherten Kollektivverhandlungen ist, aber auf einer im wesentlichenmoralischen Basis und unabhngig von einer wirksamen sozialen Mobilisierung.Auf der anderen Seite formieren sich Bewegungen, die die Errungenschaftender sozialen Staatsbrgerschaft verteidigen; sie konzentrieren sich vor allem aufdie staatlichen Funktionen, die diese garantieren, werden dadurch aber selbst zuBewegungen, die den Staat und das Prinzip der geheiligten und idealisiertennationalen Souvernitt verteidigen (das kann dazu fhren, dass sie sichpraktisch und theoretisch den Forderungen nach nationaler Prferenz6anschlieen und diskriminierende Politiken gegen MigrantInnen rechtfertigen).Diese Alternative mu man verlassen, indem man die Verteidigung der sozialen

    Staatsbrgerschaft mit der Erfindung neuer Formen der Staatsbrgerschaftverbindet, es geht also um die Entwicklung einer fortschrittlichen Alternative zumsozialen Nationalstaat.

    Diese Alternative msste in einer natrlich vorlufigen und unabgeschlossenenFassung mindestens drei grundlegende Dimensionen umfassen.Erstens muss sie eine drastische Verringerung von Wohlstandsgefllenbeinhalten, die weltweit zwischen Regionen, manchmal auf dem selben Kontinentoder selbst in einem Land bestehen, und die die Form einer Kluft zwischen Zonender Verwstung menschlicher und natrlicher Ressourcen undLuxuswohngebieten in schner Umgebung annehmen. Es geht hier um einen

    konzertierten Kampf gegen Unterentwicklung und kologische Katastrophen.Aber es geht auch, in einem neuen Sinn, der die alten Antinomien zwischen Stadtund Land oder die jngsten zwischen industriellem Raum und Wohnraumbersteigt, um eine Politik der Urbanisierung, ohne die es keine Verringerung sowohl der staatlichen als auch der anti-staatlichen kollektiven Gewalt gibt.Zweitens muss sie eine Dimension transnationaler (mehr noch als post-nationaler) Staatsbrgerschaft beinhalten, die sich in meinen Augen eher vonunten entwickeln wird als von oben, d.h. durch die Demokratisierung derGrenzen, eine gemeinsame Verwaltung der Migrationsstrme, die sowohl dieInteressen der Migranten bercksichtigen als auch mit den Herkunftslndernausgehandelt werden mu; durch die Anerkennung der zivilen und politischen

    6Die prefrence nationale (Bevorzugung der Einheimischen bei der Vergabe vonArbeitspltzen,Wohnungen,etc.) gehrt zum Forderungskatalog der franzsischenRechten. (Anm. d. .)

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    Rechte der Immigranten (mehr noch, der auslndischen Einwohner) in jedemLand und durch die Anerkennung des kulturellen Pluralismus und seines Beitragszur Entwicklung jeder nationalen Kultur.Drittens mu sie eine Bewegung der berschreitung der Formen und Grenzenumfassen, in denen der national-soziale Staat den Schutz der Individuen

    organisiert. Denn die Einlsung des Verlangens nach Emanzipation, nimmt hufigdie Gestalt soziologischer Kategorisierungen und damit einer Transformationethischer und anthropologischer Differenzen (sexueller und gesundheitlicher Artoder in Bezug auf Bildung und Alter) in essentialistische und quantitativesoziologischeDifferenzen an, wie man es deutlich im Falle der Frauenrechteoder dem Schutz der Minderheiten beobachten kann. Vor allem gegen dieseKategorisierung (die Deleuze Codierung, Territorialisierung,Kontrollgesellschaft genannt hat) hat sich der sogenannte Individualismusoder Spontanismus der zeitgenssischen sozialen Bewegungen entwickelt. Esmssen also Wege gefunden werden, die soziale Staatsbrgerschaft von demihm eigenen Soziologismus und den brokratischen Tendenz zu befreien, die dieKategorien sozialer Teilhabe reifizieren ohne die Verteidigung und Erweiterungdes Prinzips der sozialen Sicherung aufzugeben.

    Sind diese Ziele demokratisch? Ganz offensichtlich, und sie verlngern sogar dieuralte Bewegung einer Erfindung der Demokratieoder neuer grundlegenderRechte, ohne die es keine Demokratie, sondern nur eine krperschaftlicheReprsentation der Gesellschaft innerhalb des Staates gibt. Sind siesozialistisch? Vielleicht, zumindest zum Teil. Ich mchte aber vielmehr auf dembestehen, was diese Ziele jenseits eines Jahrhunderts des offiziellen, orthodoxenoder hretischen Marxismus, der die kommunistische politische Idee in dieGrenzen des Programms eines sozialistischen bergangs oder bergangszum Sozialismus eingeschlossen hat (also einer bloen Alternative zum

    Kapitalismus, wenn nicht sogar blo einer Inversion des Kapitalismus), zurErneuerung und Permanenz dieser Idee hervorgebracht haben.Weil wir dieseFragen heute in Erinnerung an Poulantzas diskutieren, als Versuch, ausseinem unvollendeten Werk Nutzen zu ziehen, und weil andererseits die Idee derkommunistischen Politik philosophisch betrachtet eine ethische Idee ist, die nichtabstrakt vorstellbar ist, werde ich sie in Form einer dreifachen Abfragestellen,auf die es nur eine Antwort gibt: Worin besteht die Notwendigkeit einerkommunistischen Position bei der Rekonstitution der Staatsbrgerschaft jenseitsdes national-sozialen Staates? In welchem Sinne knnen wir sagen, dassPoulantzas letztendlich selbst ein Kommunist war? Wer sind heute dieKommunisten?

    Ich werde also ber den Kommunismus von Nicos Poulantzas sprechen und ichwerde im Singular darber sprechen. Die hier zu stellende Frage ist also nichtWas (Was ist der Kommunismus)(i.O.dt.), sondern Wer (Wer sind dieKommunisten?)(i.O.dt.). Mit dieser Formulierung sie kokettiert mit einerThematik, die durch Nietzsche und Heidegger berhmt geworden ist lade ichauch dazu ein, dem Erbe des Manifestes der kommunistischen Partei Gehr zuschenken, wo Marx sich natrlich innerhalb einer bestimmten Konjunktur fragte, was die Kommunisten waren und sein konnten (Sie kmpfen fr dieErreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen derArbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwrtigen Bewegung zugleich die

    Zukunft der Bewegung. (MEW 4: 492) Mit einem Wort, die Kommunistenuntersttzen berall jede revolutionre Bewegung gegen die bestehendengesellschaftlichen und politischen Zustnde. (...) Die Kommunisten arbeitenendlich berall an der Verbindung und Verstndigung der demokratischen

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    Parteien aller Lnder. (ebd.: 493) ). Sicher hat sich die Bedeutung dessen, wasMarx 1848 Partei nannte in Laufe der letzten 150 Jahren grundlegendverndert. Man muss also zu seiner Idee zurckkehren, indem man den Akzentverschiebt: In allen politischen Bewegungen, sozialen oder kulturellenKmpfen, vertreten d.h.praktizierendie Kommunisten die Vielfltigkeit der

    aufeinander nicht reduzierbaren emanzipatorischen Interessen selbst imAngesicht ihrer Radikalitt; sie fordernund verwirklichendie Freiheit nicht alsVereinzelung von Individuen und Gruppen, die Gleichheit nicht alsGleichfrmigkeit, sondern die Freiheit und Gleichheit als Gegenseitigkeit derIndividualitten, als jene Gemeinschaft, die individuelle und kollektiveSingularitten sich anbieten knnen, zu der sie sich gegenseitig ermchtigen.Dies steht selbstverstndlich (wie das auch bei Marx der Fall war) in einemwesentlichen Zusammenhang zur Staatsbrgerschaft, aber es richtet sich gegeneine staatliche Form der Verwaltung des Pluralismus durch formelle Regelnund administrative Zwnge. (...)Fr mich zeigt sich der Kommunismus von Nicos, jenseits seines fundamentalenDemokratismus(dmocratisme fondamental) (er kam aus dem Land derMilitrdiktatur) und seiner Bindung an die sozialistische Politik (dereneuropische Geschichte und Varianten er studiert hat), vor allem in der Art ihrerWiedervereinigung. Oder, wenn man so will, in der Verbindung der folgendenzwei Elemente:

    - In seinempraktischen Internationalismus (mehr noch als in seinemtheoretischen), seiner unablssige Suche nach grenzenloser Begegnungund Kommunikation zwischen Emanzipationsbewegungen, die sehr gutden Gegensatz zwischen den Ideen des Kommunismus und desKommunitarismus verdeutlichen.

    - In seinem, in der Marxschen Tradition des Kommunismus stehendem,Beharren auf der Notwendigkeit, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit

    zu berwinden, um die Wurzeln des Brokratismus in Staat und Parteizu beseitigen, und um eine offene Dialektik der institutionellenreprsentativen Demokratie und der popularen oder assoziativendirekten Demokratie zu ermglichen, ohne die es keine neueStaatsbrgerschaft geben wird.

    Es ist anzuerkennen, dass die Entwicklungen der Globalisierung, dieKonzentration kultureller und konomischer Macht und als Reaktion darauf, desreligisen und laizistischen Nationalismus, den beiden Forderungen vielfltigentgegenlaufen. Es sind die gleichen Hindernisse, die einen Ausweg aus der Krisedes national-sozialen Staats blockieren.

    Ich wrde bewusst mehrdeutig sagen: Nicos Poulantzas war ein typischerKommunist des Inneren7, nicht nur des Inneren seines Landes, sondern desInneren der sozialen, intellektuellen und politischen Praktiken, so wie wir esheute sein mssten, whrend die Idee eines Kommunismus von AuenjedenReferenten in der Wirklichkeit verloren hat (wenn auch nicht im Imaginren, wodie Phantome ein langes Leben haben). Diese ganz eigene Topologie deskommunistischen Kampfes als den Kmpfen immanent und zwischen ihnenzirkulierend wurde ironischerweise durch ihn theoretisiert (gegen die Ideeeiner fr den Kommunismus von AuensinnbildlichenDoppelherrschaft):Soweit diese Kmpfe und Bewegungen politisch sind, stehen sie niemalsauerhalb... (237) Es ist das uere des Staates, der Institutionen, aber mehr

    7Es handelt sich um eine Anspielung auf Poulantzas Mitgliedschaft in dereurokommunistisch orientierten Griechischen Kommunistischen Partei (Inland) odereben de lInterieur.

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    noch die Praktiken die diesen zugrunde liegen. Weiter unten heit es nmlichdialektisch: die Kmpfe fr eine radikale Transformation des Staates, oder wieich es nenne fr eine aktive Staatsbrgerschaft, welche genau aus diesem Grundnicht auerhalb des Staates sein knnen, stellen sich nichtsdestotrotz notwendigin die globale Perspektive eines Absterbens des Staates. Heute sind Poulantzas

    und andere nicht mehr da. Aber die kommunistischen Staatsbrger, diestaatsbrgerlichen Kommunisten oder die Kommunisten der Staatsbrgerschaftsind immer noch da. Unsichtbar, weil sie weder Armee, noch Lager, Parteioder Kirche haben. Es ist ihre Art zu existieren.