stadtleben heilung der seele · ßerdem die natur – diese ehren und respektieren schamanen al -...

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20 Stadtleben Heilung der Seele Alternative Heilmethoden fristen in Europa längst kein Außenseiterdasein mehr. Laut einer Umfrage des Meinungs- forschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2017 hat die Häl- fe der Deutschen schon min- destens einmal eine alternative Behandlungsmethode abseits der Schulmedizin ausprobiert – rund 13 Prozent davon sogar regelmäßig. Auch im Schamanis- mus nimmt Leonie Gaul einen Anstieg der Nachfrage und einen Abbau von Vorurteilen wahr. „Zu mir kommen Menschen aus al- len Alters- und Berufsgruppen“, bestätigt sie. „Von der Hausfrau und dem Handwerker über erapeutinnen und Ärzte bis hin zu Managern in Führungs- positionen.“ Ehekrisen, unerfüll- ter Kinderwunsch, Zyklusstö- rungen, Schlafprobleme, Burn- out, Mobbing, Depressionen, Süchte – Leonie Gauls Patien- ten suchen bei ihr Heilung von den verschiedensten psychi- schen und körperlichen Pro- blemen. Wer mit letzteren zu ihr kommt, wird von ihr nach ärztlichen Untersuchungen und W er Leonie Gauls Praxis in Nienstedten betritt, fühlt sich sofort wohl: Auf einem dunklen Holztisch dampſt eine Kanne Tee, dane- ben flackert eine Kerze. Eine große Schale voller Kristalle und Edelsteine thront auf einem kleinen Hocker zwischen Sessel und Sofa, an dessen Seite eine kreisrunde Trommel lehnt. Hier, in ihrer Praxis, bietet die seit 28 Jahren anerkannte Heil- praktikerin auch schamanisches Heilen an, das sie in ihre natur- heilkundliche Behandlung ein- fließen lässt. „Schamanin“ will sich Leonie Gaul aber nicht nennen – denn das sei eine Be- zeichnung für indigene Heiler, die meist schon mit der Ge- burt dazu berufen werden und einen Eid leisten, zu jeder Ta- ges- und Nachtzeit zu helfen. „In unserem Kulturkreis herrschen andere Arbeits- und Lebensbe- dingungen“, erklärt Leonie Gaul. „Wie andere Werktätige arbei- ten Heilpraktiker von montags bis freitags.“ Erworben hat sie ihr schamanisches Wissen un- ter anderem bei Schamanen aus Ihr Lehrer aus Nepal hat in Leonie Gauls Praxis einen besonderen Platz Schamanismus In Krisen suchen Menschen oft Antworten in alternativen Heilmethoden – der Schamanismus ist eine davon Text & Fotos: Sophia Herzog Asien – für ihre Ausbildung war sie seit 2005 mehrfach in Nepal, der Mongolei und in Russland unterwegs. In Italien lebte sie drei Jahre inmitten der Natur, „um die Wildnis und Kräſte der Natur zu erforschen“. In fast allen Ländern der Erde, darunter auch in Europa, hat der Schamanismus eine jahr- tausendalte Tradition, die bis in die Steinzeit zurückreicht. Der Begriff selbst leitet sich aus dem Tungusischen, einer Sprachfa- milie aus dem ostasiatischen Raum ab: „Saman“ bezeichnet jemanden, der sieht und weiß. Je nach ethnischer Herkunſt wird Schamanismus durchaus unterschiedlich praktiziert, abhängig von kulturellen und geografischen Bedingungen. Allen schamanischen Kultu- ren gemeinsam sei ein ähnliches Verständnis von Kosmos, Na- tur, Heilung und Tod – scha- manisch zu arbeiten bedeute, so Leonie Gaul, einen Zugang zu verschiedenen Wahrneh- mungsebenen zu haben. „Wir nehmen mithilfe der geistigen Welt, die uns unterstützt, mehr wahr.“ Ein weiterer wichtiger Teil des Schamanismus ist au- ßerdem die Natur – diese ehren und respektieren Schamanen al- ler Kulturkreise. „Alles ist mit- einander verbunden, und alles Lebendige hat eine Seele“, er- klärt die Heilpraktikerin. „Wir verbinden uns mit dieser See- le und schauen dann, was sie braucht.“ Denn: „Die Seele ist die Essenz des Menschen, das, was uns ausmacht.“ Für Leonie Gaul entstehen Krankheiten oſt genau hier: Wenn die Seele aus dem Gleichgewicht kommt, durch beispielsweise Traumata, Krankheit, den Tod einer gelieb- ten Person oder Trennung, dann stellen Schamanen in Ritualen die innere Balance und Harmo- nie von Menschen, Familien und sogar ganzen Systemen oder Or- ten wieder her. „Im Gespräch finde ich mit meinen Patienten oſt ein Schlüsselerlebnis in ihrer Vergangenheit, dass die Ursache für körperliche und psychische Symptome sein kann.“ Ihr Vater habe sie deshalb einmal scherz- haſt als „Ärztin für die Seelen“ bezeichnet.

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Page 1: Stadtleben Heilung der Seele · ßerdem die Natur – diese ehren und respektieren Schamanen al - ler Kulturkreise. „Alles ist mit- ... sachenforschung und Heilung von Krankheiten.“

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Stadtleben

Heilung der Seele

Alternative Heilmethoden fristen in Europa längst kein Außenseiterdasein mehr. Laut einer Umfrage des Meinungs-forschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2017 hat die Häl-fe der Deutschen schon min-destens einmal eine alternative Behandlungsmethode abseits der Schulmedizin ausprobiert – rund 13 Prozent davon sogar regelmäßig. Auch im Schamanis-mus nimmt Leonie Gaul einen Anstieg der Nachfrage und einen Abbau von Vorurteilen wahr. „Zu mir kommen Menschen aus al-len Alters- und Berufsgruppen“, bestätigt sie. „Von der Hausfrau und dem Handwerker über Therapeutinnen und Ärzte bis hin zu Managern in Führungs-positionen.“ Ehekrisen, unerfüll-ter Kinderwunsch, Zyklusstö-rungen, Schlafprobleme, Burn- out, Mobbing, Depressionen, Süchte – Leonie Gauls Patien-ten suchen bei ihr Heilung von den verschiedensten psychi-schen und körperlichen Pro-blemen. Wer mit letzteren zu ihr kommt, wird von ihr nach ärztlichen Untersuchungen und

W er Leonie Gauls Praxis in Nienstedten betritt, fühlt sich sofort wohl:

Auf einem dunklen Holztisch dampft eine Kanne Tee, dane-ben flackert eine Kerze. Eine große Schale voller Kristalle und Edelsteine thront auf einem kleinen Hocker zwischen Sessel und Sofa, an dessen Seite eine kreisrunde Trommel lehnt. Hier, in ihrer Praxis, bietet die seit 28 Jahren anerkannte Heil-praktikerin auch schamanisches Heilen an, das sie in ihre natur-heilkundliche Behandlung ein-fließen lässt. „Schamanin“ will sich Leonie Gaul aber nicht nennen – denn das sei eine Be-zeichnung für indigene Heiler, die meist schon mit der Ge-burt dazu berufen werden und einen Eid leisten, zu jeder Ta-ges- und Nachtzeit zu helfen. „In unserem Kulturkreis herrschen an dere Arbeits- und Lebensbe-dingungen“, erklärt Leonie Gaul. „Wie andere Werktätige arbei-ten Heilpraktiker von montags bis freitags.“ Erworben hat sie ihr schamanisches Wissen un-ter anderem bei Schamanen aus

Ihr Lehrer aus Nepal hat in

Leonie Gauls Praxis einen besonderen

Platz

Schamanismus In Krisen suchen Menschen oft Antworten in alternativen Heilmethoden – der Schamanismus ist eine davon

◗ Text & Fotos: Sophia Herzog

Asien – für ihre Ausbildung war sie seit 2005 mehrfach in Nepal, der Mongolei und in Russland unterwegs. In Italien lebte sie drei Jahre inmitten der Natur, „um die Wildnis und Kräfte der Natur zu erforschen“.

In fast allen Ländern der Erde, darunter auch in Europa, hat der Schamanismus eine jahr-tausendalte Tradition, die bis in die Steinzeit zurückreicht. Der Begriff selbst leitet sich aus dem Tungusischen, einer Sprachfa-milie aus dem ostasiatischen Raum ab: „Saman“ bezeichnet jemanden, der sieht und weiß. Je nach ethnischer Herkunft wird Schamanismus durchaus unterschiedlich praktiziert, abhängig von kulturellen und geografischen Bedingungen. Allen schamanischen Kultu-ren gemeinsam sei ein ähnliches Verständnis von Kosmos, Na-tur, Heilung und Tod – scha-manisch zu arbeiten bedeute, so Leonie Gaul, einen Zugang zu verschiedenen Wahrneh-mungsebenen zu haben. „Wir nehmen mithilfe der geistigen Welt, die uns unterstützt, mehr

wahr.“ Ein weiterer wichtiger Teil des Schamanismus ist au-ßerdem die Natur – diese ehren und respektieren Schamanen al-ler Kulturkreise. „Alles ist mit-einander verbunden, und alles Lebendige hat eine Seele“, er-klärt die Heilpraktikerin. „Wir verbinden uns mit dieser See-le und schauen dann, was sie braucht.“ Denn: „Die Seele ist die Essenz des Menschen, das, was uns ausmacht.“ Für Leonie Gaul entstehen Krankheiten oft genau hier: Wenn die Seele aus dem Gleichgewicht kommt, durch beispielsweise Traumata, Krankheit, den Tod einer gelieb-ten Person oder Trennung, dann stellen Schamanen in Ritualen die innere Balance und Harmo-nie von Menschen, Familien und sogar ganzen Systemen oder Or-ten wieder her. „Im Gespräch finde ich mit meinen Patienten oft ein Schlüsselerlebnis in ihrer Vergangenheit, dass die Ursache für körperliche und psychische Symptome sein kann.“ Ihr Vater habe sie deshalb einmal scherz-haft als „Ärztin für die Seelen“ bezeichnet.

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Stadtleben

Leonie Gaul ist seit 28

Jahren Heil-praktikerin

Auch Kristalle und Edelsteine spielen eine Rolle im scha-manischen Heilen

Laborbefunden befragt, damit sie die Diagnose absichern und ge­zielter arbeiten kann. Die Koo­peration mit Ärzten und Thera­peuten ist ihr wichtig. „Ich will den Heilungsprozess unterstüt­zen, wo mir das möglich ist.“ Für die Zukunft wünscht sich Leo­nie Gaul deshalb eine bessere Vernetzung von Ärzten, Thera­peuten und Heilpraktikern, de­ren Behandlungen sich gegensei­tig ergänzen, anstatt gegeneinan­der zu arbeiten. Heilversprechen mache sie nicht, obwohl ihre Sitzungen und Rituale oft einen Heilimpuls auslösen würden, so Leonie Gaul. Sie zitiert eine alte Weisheit: „Wer heilt, hat Recht.“

In ihrer Praxis arbeitet die Heilpraktikerin mit einer Vielzahl von schamanischen Heilmethoden: Meditation, Trommeln, Singen, Räuchern, Handauflegen und Massagen gehören zu ihrem Repertoire, außerdem nutzt sie Werkzeuge wie Klangschalen und Kristalle und arbeitet mit Chakren, den Ener giezentren des Menschen. Zu Beginn jeder Sitzung spricht sie mit den Patienten ausführlich

über deren Anliegen und erstellt einen Behandlungsplan. In ei­ner schamanischen Aufstellung – dem Visualisieren von Bezie­hungsgeflechten und Problemen mithilfe von Steinen und Kris­tallen – findet Leonie Gaul zu­sammen mit dem Patienten he­raus, welches Gepäck sie mit sich herumtragen. „Dann gestalte ich ein Ritual, indem die Menschen ihr Leid, ihre Trauer oder Ab­hängigkeiten loslassen können“, erklärt sie. Auch andere schama­nische Rituale, wie die Extrakti­on, sind Teil ihrer Arbeit: Dabei werden bestimmte Krankheiten, zum Beispiel Zysten oder Tumo­re, als spirituelle Eindringlinge im Körper betrachtet, die ent­fernt werden können. In einigen Fällen, so Leonie Gaul, konnte man diese nach ihrer Behand­lung auf einem Ultraschall nicht mehr entdecken. Eine weitere Methode ist die Seelenrückho­lung. „Wenn sich durch trauma­tische Erfahrungen Teile der Seele dissoziiert haben, dann können diese Anteile in Hei­lungsritualen wieder zurückge­rufen werden.“ Wenn Menschen mit schwersten Erkrankungen oder nach dem Tod einer gelieb­ten Person zu ihr kommen, dann bietet Leonie Gaul auch Sterbe­begleitung und Trauerrituale an. „Diese Menschen suchen Trost und Begleitung.“ Wer sich nur berieseln lassen will, ist bei Le­onie Gaul allerdings falsch: „Ich bin nicht zuständig für Well­ness“, sagt sie. „Meine Arbeit ist ein tiefer Prozess, es geht um Ur­sachenforschung und Heilung von Krankheiten.“

Warum sich die Menschen dazu entscheiden, neben einer ärztlichen Behandlung auch noch die schamanische Arbeit bei Leonie Gaul in Anspruch zu nehmen, hat unterschied­liche Gründe: Oft suchen sie nach Antworten in einer Le­benskrise oder sind bei Ärzten, Therapeuten oder Psychiatern offiziell austherapiert. Men­schen mit chronischen Krank­heiten finden in der Schulme­dizin vielleicht wenig Alterna­tiven, beispielweise zu Medika­menten mit vielen Nebenwir­kungen, und haben ihren Mut verloren. Wer mit Krankheit, einer schwierigen Lebenssitu­ation oder zwischenmensch­lichen Konflikten zu kämpfen hat, würde Hilfe in der Not su­chen und Mitgefühl und Ge­duld brauchen. „Wenn ich dann den Menschen mit Liebe bege­gne, ihnen zuhöre, sie annehme und nicht bewerte, dann kann sich innerlich etwas entspan­nen und öffnen.“ Das scha­manische Heilen würde also durch die Kraft der Liebe und die geistige Kraft des Glaubens an Heilung wirken. Darin stärkt Leonie Gaul ihre Patienten, vor allem mit Empathie, jeder Menge Heilwissen, der Über­zeugung, dass Heilung mög­lich ist – und mit Liebe. Denn: „Liebe ist die einzige Kraft, die wirklich heilt.“

l www.leoniegaul.de

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