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Stellungnahme der Herausgeber: Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen

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Stellungnahme der Herausgeber:

Aktuelle Entwicklungen undEmpfehlungen

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STELLUNGNAHME

1. Schwerpunkt: Die neue Hochrüstung sprengtalle Dimensionen

Zwanzig Jahre ist es her, dass in der internationalen Sicherheits-politik ein epochaler Durchbruch gelang. Noch vor dem Endedes Ost-West-Konflikts wurde möglich, was zuvor vielfach alsUtopie abgetan worden war: handfeste Abrüstung. Beide Seiteneinigten sich, ihre Arsenale an atomaren Raketen, die sie inderZeit der Systemkonfrontation angehäuft hatten, zu reduzieren.Die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit, die zumzigfachen Overkill fähigen Atombomben, verlor viel von ihremSchrecken.

Inzwischen hat sich dieser Trend umgekehrt. Seit der Jahr-Präzedenz-lose Hoch-rüstung

tausendwende leben wir in einer Periode präzedenzloser Hoch-rüstung. Weltweit verschlingen Streitkräfte und Rüstung mehrMittel als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Die neue Hochrüs-tung kann bedrohlicher werden als der Kalte Krieg. Sie bindetimmense Ressourcen, nährt wechselseitiges Misstrauen, zeugtvon Illusionen über militärische Konfliktlösungen, und siewirdweder durch effektive Rüstungskontrolle noch durch eine wach-same Öffentlichkeit gebremst. Außerdem haben wir es nichtmehr mit nur zwei, sondern einer Vielzahl von Protagonistenzutun. Mit dem raschen Aufstieg Chinas und Indiens zeichnet sicheine ungewohnte Mächtekonstellation ab. Nuklearwaffen dro-hen weiter verbreitet zu werden und unberechenbaren Akteurenin die Hände zu geraten.

Von 2001 bis 2006 nahmen die inflationsbereinigten Militär-ausgaben um etwa 30 Prozent zu und durchbrachen 2003 erst-mals die Schallmauer von einer Billion US-Dollar. Fast die Hälf-te davon entfällt auf die USA, dabei sind die Kosten der Krie-Ausnahme:

Westeuropage im Irak und in Afghanistan nicht eingerechnet. Doch selbstwenn man die US-Ausgaben abzieht, sind die globalen Militär-haushalte zwischen 2001 und 2006 real um 15 Prozent angestie-gen – in Westeuropa allerdings nur um vier Prozent. Die Dif-ferenz springt ins Auge, dennoch vertreten die Europäer dieseZurückhaltung bislang eher verschämt als selbstbewusst.

Die höchsten Rüstungsausgaben verzeichnen die USA,Großbritannien, Frankreich, China und Japan, während diegrößten Wachstumsraten von 25 bis 30 Prozent in Zentral- und

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DIE HERAUSGEBER

Südasien, in Nordafrika und im Nahen Osten anfallen. Es rüs-ten vornehmlich Indien, Indonesien, Pakistan und Russlandauf,in Lateinamerika vor allem Chile und Kolumbien. Bei Waffen-importen weisen Indien und Pakistan sowie der Nahe Osten diegrößten Zuwächse auf.

Grundlose Hochrüstung?

Die neue Hochrüstung ist leichter beschrieben als erklärt.Der„unipolare Moment“, während dessen sich die USA als „Welt-macht ohne Gegner“ fühlten, gehört der Vergangenheit an. DerÜbergang zu einer neuen internationalen Mächtekonstellationscheint mit einer generellen Stärkung von nationalstaatlichen Si-cherheitskalkülen und Machtambitionen einherzugehen. Dabeiwird die eigene Politik der Stärke mit realen oder imaginiertenPolitik der

Stärke Gegnern begründet. Zugleich soll Aufrüstung in der Selbst-undFremdwahrnehmung den eigenen Status aufwerten. Ermöglichtwird die neue Hochrüstung durch hohes Wirtschaftswachstumin einigen Schlüsselregionen und den erleichterten Erwerbmili-tärischer Technologie.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind dieInnen- wie Außenpolitik der USA von einem Klima des Alar-mismus geprägt. Die von der Bush-Administration geschürteSi-cherheitsmanie fungiert als eine Art Generalermächtigungfürdie forcierte Hochrüstung, die Demontage internationalerRüs-tungskontrollabkommen und den massiven Ausbau des Sicher-heitsstaates im Inneren. Berauscht vom enormen Machtzuwachsseit dem Zerfall der Sowjetunion, aber auch von neokonserva-tiven Überlegenheitsideologien, rückte Washington von seinerbisherigen Außen- und Sicherheitspolitik ab. Diese hatte die ei-gene Hegemonie mittels internationaler Organisationen, Bünd-nissen und Rüstungskontrollabkommen gesichert, die auch denInteressen der Partner Rechnung trugen. Von diesem partiellenMultilateralismus sagte sich die Bush-Administration los. Siesetzt auf militärische Überlegenheit und die Macht des Stärke-ren. Die Wirkung ist fatal: Die internationale Rüstungskontrol-Rüstungs-

kontrolle:Ein Scherben-haufen

le ist ein Scherbenhaufen, und die Kriege „gegen den Terroris-mus“, zumal im Irak, haben das Ansehen der UNO wie auch dasVölkerrecht schwer beschädigt.

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STELLUNGNAHME

Vielleicht noch schwerer wiegt ein anders Motiv der Hoch- MilitärischeÜberver-sicherung

rüstung: Der Unilateralismus militärischer Überversicherungder USA und die Doppelstandards bei der Bewertung von Mas-senvernichtungswaffen werden von aufstrebenden Mächten zu-rückgewiesen – und zugleich kopiert. Obschon militärisch un-terlegen, nutzen andere Staaten ihr Potenzial, um ihre Forde-rung nach einer multipolaren Welt ohne US-Vorherrschaft zuuntermauern, allen voran Russland. Die Imitation der Politik derStärke droht zu einer weltweiten Wiederkehr des Militärs als In-strument der Politik zu führen. Washingtons demonstrativePo-litik militärischer Übermacht ist eine wesentliche Ursache fürInstabilität und Hochrüstung, militärische Multipolarität ist esfreilich nicht minder.

Rückkehr zu Krieg und Gewaltpolitik gescheitert

Die Renaissance klassischer Macht- und Militärpolitik istana-chronistisch, weil die Staaten in der globalisierten und inter-dependenten Welt mehr denn je aufeinander angewiesen sind.Weder der Klimawandel noch die Weiterverbreitung von Atom-waffen lassen sich mit militärischen Mitteln aufhalten; auch dieDemokratisierung autoritärer Systeme kann nicht durch Kriegerzwungen werden. Hochrüstung mindert reale Gefährdungenkeineswegs, im Gegenteil. Obsessionen militärischer Über-, gar Militärische

AllmachtgleichpolitischeOhnmacht

Allmacht haben sich als politische Ohnmacht entpuppt. Afgha-nistan, Irak und der Nahostkonflikt verdeutlichen, dass militä-rische Übermacht kontraproduktiv ist und Politik nicht ersetzt.Insofern ist die Strategie unilateraler Dominanz gescheitert; sieerzeugt das klassische Sicherheitsdilemma: Wer nach militäri-scher Überlegenheit strebt, ruft Ängste und militärische Gegen-maßnahmen hervor, dadurch steigt wiederum das Gefühl vonBedrohung und Unsicherheit.

Spielraum nutzen für neuen Multilateralismus

Die Bush-Administration hat viel Ansehen und politischenEinfluss der USA verspielt. Selbst in der NATO wächst dasBewusstsein, dass uneingeschränkte Solidarität mit den neokon-servativen Gewaltstrategen in Washington nicht zu Sicherheits- Europas

Chancengewinnen führt, sondern Unsicherheit mehrt und die eigene Po-

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DIE HERAUSGEBER

sition schwächt. Großbritannien hat das im Irak bitter erfahren.Dieses Momentum gilt es zu nutzen. Wer immer Bush im Wei-ßen Haus nachfolgt, wird versuchen müssen, mit neuen Ideenund attraktiver Politik Partner zu gewinnen. Das verbessert dieAussicht, Multilateralismus und Rüstungskontrolle wiederzube-leben. Die Europäer sollten diese Chance durch eigene Initiati-ven nutzen.

Regionale Zusammenarbeit ist eine Alternative zu natio-naler Hochrüstung. Die Europäische Union hat durch In-Regionale

Kooperation stitutionalisierung ihrer Entscheidungsprozesse und kollektiveSelbstbindung ein Vorbild für die Bearbeitung innerer Sicher-heitsprobleme und jener von EU-Anwärtern geschaffen. DieAfrikanische Union und der Schanghaier Kooperationsrat versu-chen zumindest in Ansätzen, Lehren des europäischen Integrati-onsprozesses zu beherzigen. Regionale Kooperation hilft,Miss-trauen abzubauen und durch offene Diskussionen gemeinsameWert- und Zielvorstellungen zu entwickeln. Sie trägt dazu bei,autistische Sicherheitsdebatten zu beenden und für grenzüber-schreitende Herausforderungen gemeinsame Lösungen zu erar-beiten. Buchstäblich entwaffnend ist vor allem Transparenz: alsvertrauensbildende Maßnahme, bei Rüstungsexporten und beider Verifikation.

Statt antiquierter Machtpolitik die „Soft Power“ Europasnutzen

Die Europäische Union verfügt über „weiche Macht“, ohne dassGestaltungs-macht der EU sie dieses Potenzial bisher ausreichend nutzt. Nachdem euro-

päische Staaten jahrhundertelang Kriege gegeneinander führtenund die Welt eroberten, verfolgen sie seit Ende des ZweitenWeltkriegs eine Politik der Kooperation, Integration und Ver-söhnung. Aus ihrer Bereitschaft zur Entkolonialisierung,zurEinbindung, zur Zusammenarbeit in internationalen Organisa-tionen und Regelwerken sowie aus ihren Erfahrungen mit Ver-trauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung lässt sich Ge-staltungskraft gewinnen. Das setzt freilich voraus, dass die Eu-ropäer antiquierte Machtbegriffe ablegen und das Licht ihres po-litischen Paradigmenwechsels nicht länger unter den Scheffelstellen.

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STELLUNGNAHME

Als Organisation von 27 Staaten, die ehemalige Kolonial-und Interventionsmächte, große und kleine, NATO-Mitgliederund neutrale sowie dezidiert zivil ausgerichtete Staaten ein-schließt, eignet sich die EU nicht zur Machtpolitik. Sie istau-ßerstande, militärisch mit Großmächten um Einflusssphärenzukonkurrieren und sollte nicht versuchen, sich die USA zum Vor-bild zu nehmen und deren Militärmacht zu duplizieren. Die An-kündigung des Direktors der Europäischen Verteidigungsagen-tur, 2008 müsse „Europas Jahr der Rüstung“ werden, weist indie falsche Richtung. Die Europäische Union muss sich dar-auf besinnen, dass ihre Stärke in der strukturellen, langfristigenStabilisierung und Modernisierung gefährdeter Regionen liegt. Langfristige

StabilisierungDies stellt eine aufwändige Aufgabe dar, zumal das Instrumen-tarium am ehesten in der Nachbarschaft greift. Wo ihr der Hebelder Beitrittsperspektive fehlt, kann sie weniger direktenEinflussausüben. Jedoch gibt es Elemente ihrer Erweiterungsstrategie,die sich durchaus für die Nachbarschaftspolitik übernehmen lie-ßen, vor allem die Verbindung von Konditionen mit attraktivenAngeboten.

Mutigere europäische Initiativen zur Rüstungskontrolle

Es ist höchste Zeit, der Renaissance nationalstaatlicher Macht-projektion und Hochrüstung entgegenzutreten. Im Zeitalter derGlobalisierung und ständig wachsender Interdependenz sindKonzepte multilateraler kooperativer Sicherheit alles andere alsobsolet. Es ist vielmehr diese Vision, der nach dem Scheiterndes militärischen Unilateralismus zum Durchbruch verholfenwerden muss. Die EU kann dabei eine Schrittmacherfunktionübernehmen. Im Laufe der europäischen Integration haben ihreMitgliedstaaten gelernt, dass es überaus vorteilhaft ist,nationa-le Machtpolitik zugunsten gemeinsamer Sicherheit zu überwin-den.

Dass die EU einen Aktionsplan zur nuklearen Nichtweiter-verbreitung verabschiedet und dafür jetzt eine Sonderbeauftrag-te des Hohen Repräsentanten ernannt hat, sind richtige Schritte.Wir plädieren dafür, auch auf dem Gebiet der Abrüstung dasAvantgarde

gefragtAvantgarde-Modell zu erproben, nach dem ein Kern europäi-scher Staaten die Initiative ergreifen kann, ohne zu warten, bissich alle Mitglieder einig sind.

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DIE HERAUSGEBER

Die Perspektive vollständiger nuklearer Abrüstung bedarfEine Weltohne Atom-waffen

der Wiederbelebung. Sie ist keine abstrakte Utopie, wie alteund neue Falken behaupten; vielmehr haben der Vertrag überdie Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) und der ato-mare Teststoppvertrag (CTBT) dieses Ziel einst festgeschrieben,um der noch immer größten Bedrohung der Menschheit zu be-gegnen. Seit Monaten engagieren sich namhafte Autoren ausdem amerikanischen Sicherheits-Establishment – die Republi-kaner George W. Shultz und Henry Kissinger zusammen mitden Demokraten William Perry und Sam Nunn – dafür, das Zieleiner nuklearwaffenfreien Welt wieder auf die sicherheitspoliti-sche Agenda zu setzen. James Baker, Colin Powell und andereschlossen sich ihrem Appell an. Von einem Land wie der Bun-desrepublik, das auf Kernwaffen ein für alle Mal verzichtethat,darf erwartet werden, dass es die – in Europa von Norwegenaufgegriffene – Kampagne nach Kräften unterstützt und wei-ter vorantreibt. Da sie aus dem „realistischen“ Zentrum derUS-amerikanischen Sicherheitselite kommt, könnte sie helfen, denRaum für eine ehrgeizige und weitreichende Politik der Rüs-tungskontrolle und Abrüstung zu öffnen.

Der Weiterverbreitung von MassenvernichtungswaffenEinhalt gebieten

Das Regime zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atom-waffen erodiert zunehmend. Viele Vertragsmitglieder setzensich zwar nach wie vor für den Vertrag ein, sind aber enttäuscht,weil sämtliche Atommächte sträflich gegen ihre Abrüstungs-pflichten verstoßen. Zu befürchten ist, dass nach Nordkoreawei-tere Mitglieder aus dem NPT austreten. Europa ist in dieser Fra-ge uneins. Während Großbritannien und Frankreich ihre Kern-Nukleare

Rüstungs-kontrolle

waffen modernisieren, engagieren sich Schweden, Deutschlandund andere für die Abrüstungsoption. Ebenso tritt die Bundes-regierung für den umfassenden Teststoppvertrag und eine veri-fizierbare Beendigung der Produktion von waffenfähigem Uranund Plutonium ein. Sie sollte alles tun, um die künftige ameri-kanische Regierung für eine Rückkehr zur nuklearen Rüstungs-kontrolle zu gewinnen.

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STELLUNGNAHME

NATO: Keine neue Konfrontation mit Russland

Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 widersetzten sich Spannun-gen mitRusslandabbauen

europäische Schlüsselländer, darunter die Bundesrepublik, demVorhaben der USA, Georgien und der Ukraine mit einem „Akti-onsplan zur Mitgliedschaft“ den Weg in das Bündnis zu ebnen.Indem sie jedoch den Grundsatzbeschluss zur Aufnahme beiderLänder akzeptierten, ist die Erweiterung nur aufgeschoben. Inder Ukraine lehnen drei Viertel der Bevölkerung einen NATO-Beitritt ab. Georgien, wo eine Mehrheit dafür ist, befindet sich ineinem schwerwiegenden Grenz- und Territorialkonflikt mit sei-nem Nachbarn Russland um die sezessionistischen ProvinzenAbchasien und Südossetien. Durch eine NATO-Mitgliedschaftwollen beide Staaten ihre Souveränität gegenüber Russlandfes-tigen, doch würden dadurch auch die Spannungen zwischen derNATO und Russland intensiviert.

Der noch 1997 in der NATO-Russland-Grundakte beschwo-rene gemeinsame Sicherheitsraum eines Europas ohne neueGrenzen blieb ein leeres Versprechen. Desgleichen rückt dieNATO von einstigen Erklärungen ab, in den neuen Mitglied-staaten keine dauerhafte ausländische Militärpräsenz einzurich-ten: In Rumänien und Bulgarien wird es künftig amerikanischeTruppenstützpunkte geben, in Polen und der Tschechischen Re-publik ist die Installation amerikanischer Abfangraketenund desdazugehörenden Leitradars geplant.

Die US-Raketenabwehr in Osteuropa tangiert russische Si-Kein US-Raketenschildcherheitsinteressen. Je mehr die strategischen Beziehungen zwi-

schen Washington und Moskau wieder konfrontative Züge an-nehmen, desto höher bewertet Moskau sein Kernwaffenarsenalals militärische Rückversicherung. Trotz aller amerikanischenBeschwichtigungen könnte der spätere Ausbau zu einem funkti-onstauglichen Abwehrsystem die russische Zweitschlagskapa-zität untergraben. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Moskauin die Rolle des passiven Zuschauers fügen wird. Unter einemneuen nuklearen Wettrüsten, zumal auf dem eigenen Kontinent,würde die Sicherheit der Europäer deutlich leiden.

Die NATO verfügt über vielfältige Instrumente, die Transiti- NATO:kooperierenstatterweitern

on des postsozialistischen Militärestablishments zu fördern. Siesollte aber neue Sicherheitsdilemmata, die von einer Vollmit-gliedschaft der Ukraine und Georgiens ausgingen, vermeiden.

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DIE HERAUSGEBER

Stattdessen gilt es, den gemeinsamen Rat mit Russland und denmit der Ukraine aufzuwerten und mit Substanz zu füllen. Da-durch würde Russland reale Mitsprache erhalten. Zudem kanndie NATO bei der Bewältigung humanitärer Katastrophen, durchAustausch sicherheitsrelevanter Erkenntnisse, beim Ausbau voneffektiven Grenzregimen und bei der Sicherheitssektorreformeine aktivere Rolle spielen.

Für ein Verbot von Streubomben

Streubomben gelten als besonders effektiv. Sie werden vonFlugzeugen oder Artilleriegeschützen abgefeuert und verteilenMengen kleiner Sprengsätze über dem Kampfgebiet, von denenviele beim Aufprall nicht explodieren. So verminen sie ganzeLandstriche und gefährden auch nach dem Ende der Kämpfedie Zivilbevölkerung. In mindestens 23 Staaten sind sie bisherzum Einsatz gekommen, unter anderem im Kosovo, Libanon,Irak und in Afghanistan.

Derzeit wird die Einschränkung bzw. ein Verbot von Streu-munition in zwei Foren verhandelt. 2007 hat Norwegen den„Oslo-Prozess“ initiiert, um ein umfassendes Verbot zu errei-chen. Mit Russland, China, Indien, Israel und den USA lehnendies allerdings jene Staaten ab, die sich schon gegen die wirksa-me Einschränkung der Verbreitung kleiner und leichter Schuss-waffen wehrten. Ungeachtet dessen führen inzwischen mehr als90 Staaten den Prozess fort.

Daneben wird auch im Rahmen des UN-Waffenabkommensvon 1980 verhandelt. Dessen Protokolle über verborgeneSprengkörper, Splitter-, Brand-, Laser- und andere Waffensol-len durch einen Zusatz über Streumunition ergänzt werden. ImStreubomben

ganz verbieten Juni 2007 brachte Deutschland einen Entwurf ein, der statt ei-nes gänzlichen Verbots Einfallstore für neuartige Formen dieserWaffengattung öffnet.

Das Nebeneinander von zwei Verhandlungsforen eröffnetChancen eines Wettbewerbs um die beste Vorgehensweise. DieBundesregierung beteiligt sich sowohl am Oslo-Prozess alsauchan der Überprüfungskonferenz zum UN-Waffenabkommen. Siefordert Regeln für den eingeschränkten Einsatz und plädiertfür eine Unterscheidung zwischen „gefährlichen“ und „nicht-gefährlichen“ Streubomben, bei denen die Blindgängerquote

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unter einem Prozent liegt. Wir fordern die Bundesregierungje-doch auf, wie Norwegen, Österreich, Ungarn, Belgien oder Ir-land für ein vollständiges internationales Streubombenverboteinzutreten und die Produktion und den Handel dieser Waffen-kategorie in Deutschland zu verbieten. Dies würde dem Oslo-Prozess einen weiteren Schub geben und die Glaubwürdigkeitder deutschen Rüstungskontrollpolitik unterstreichen.

Rüstungsexporte

Rüstungsexporte fördern regionale Rüstungsdynamiken, wiederzeit insbesondere im Nahen und Mittleren Osten deutlichwird. Hochmoderne Waffen werden in Länder geliefert, die sichdem Regelwerk internationaler Beziehungen nur halbherzigun- Handel mit

Waffen:EU-Kodexstärken

terwerfen. Um diesen Gefahren zu begegnen, hat die EU 1998einen Verhaltenskodex aufgestellt, der Waffenexporte an ge-meinsamen Standards ausrichtet: Einhaltung völkerrechtlicherVerträge und der Menschenrechte, Bekämpfung des Terroris-mus und Verhinderung des Re-Exports gelieferter Rüstungs-güter. Zugleich schreibt der Kodex Konsultationsmechanismenund eine Berichtspflicht über nationale Rüstungstransfersvor.Gleichwohl ist seine Wirkung bisher begrenzt. Er hat nicht ver-hindert, dass Deutschland 2006 Rüstungslieferungen im Wertvon 1,12 Milliarden Euro für 53 Staaten genehmigte, die nachunabhängiger Einschätzung den Kriterien des Kodex nicht ge-nügten.

Die Verbreitung konventioneller Waffen stand allzu langeim Schatten der Sorge um die Proliferation von Massenvernich-tungsmitteln und Raketen. Die EU-Staaten sollten in der UNOMotor der Verhandlungen zu einem Vertrag über den Waffen-handel sein, um zumindest die illegale Verbreitung von kleinenund leichten Waffen einzudämmen.

Der EU-Verhaltenskodex bietet eine Maßgabe für Rüstungs-exportkontrolle; dringlich ist seine Aufwertung zu einem „Ge-meinsamen Politischen Standpunkt“ der EU. Damit verliert erseinen Empfehlungscharakter und wird verbindlich für die na-tionalen Gesetzgebungen. Es gilt, zögerliche Staaten auf die Sei-te der Unterstützer zu ziehen und zu verhindern, dass sich In-teressenunterschiede zu Blockaden verfestigen. Dies erfordertBereitschaft zur Transparenz im Rüstungshandel, eine Stärkung

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des UN-Waffenregisters und eine Verbesserung der einzelstaatli-chen Berichterstattung über Ein- und Ausfuhren. Nur so wirddierestriktive Rüstungsexportpolitik, derer sich Deutschland gernerühmt, überprüfbar.

Zusammenfassende Empfehlungen

1. Der Angepasste Vertrag über Konventionelle Streitkräfte inAKSE-Vertragratifizieren

Europa muss zügig ratifiziert und in Kraft gesetzt werden.Als Vorleistung sollte die NATO nach der Suspendierungdurch Russland das Inspektionsregime einseitig aufrechter-halten, um den KSE-Vertrag doch noch zu retten. Allein dieTransparenz, die gegenseitiger Informationsaustausch undregelmäßige Vor-Ort-Inspektionen schaffen, lohnt die Mühe.

2. Bundesregierung und EU sollten sich dem US-RaketenschildAuf Raketen-schildverzichten

in Osteuropa stärker widersetzen. Zu Recht waren Ab-wehrwaffen gegen Raketen interkontinentaler Reichweite bis2002 verboten. Sie destabilisieren die Abschreckungsba-lance zwischen den großen Atommächten, verschärfen dieamerikanisch-russischen Spannungen und ziehen die euro-päische Sicherheit in Mitleidenschaft. Der vorerst fiktivenGefahr einer Bedrohung durch Raketen dritter Staaten ist mitkooperativen diplomatischen Initiativen zu begegnen.

3. Die Existenz von Kernwaffen und ihre Verbreitung in wei-Nuklear-waffenabrüsten

tere Staaten ist eine der größten Bedrohungen. Die Atom-mächte sind im NPT die Verpflichtung zu vollständiger nu-klearer Abrüstung eingegangen. Doch existieren immer noch27.000 Atomwaffen, 95 Prozent davon in den russischen undamerikanischen Arsenalen. Nichtweiterverbreitung wird nurgelingen, wenn die Atommächte ihre Bestände sukzessiveverringern und auf die atomare Erstschlagsoption verzichten.Die Kampagne für eine nuklearwaffenfreie Welt verdient je-de Unterstützung.

4. Wir fordern rasche Verhandlungen, um die akute Gefahr ei-KeinWettrüstenim All

nes Rüstungswettlaufs im und um den Weltraum zu verhin-dern. Die zivile Infrastruktur aller europäischen Staatenistvon Technologien im All abhängig. Einem Antisatellitenan-griff wäre sie schutzlos ausgeliefert. Nur ein vollständigesVerbot von Weltraumwaffen könnte die Gefahr entscheidendverringern.

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STELLUNGNAHME

5. Europa und insbesondere Deutschland sollten im Rahmender UNO Vorreiter eines Vertrags über den Waffenhandel(Arms Trade Treaty) sein, um zumindest die illegale Verbrei-tung von kleinen und leichten Waffen einzudämmen.

6. Streubomben sind besonders heimtückische Waffen. DieBundesrepublik sollte vollständig auf Produktion, Handelund Einsatz von Streumunition verzichten. Wir unterstützenausdrücklich einen entsprechenden Vorstoß von Abgeordne-ten der Berliner Koalitionsfraktionen.

7. Aus dem EU-Kodex für Waffenexporte muss eine Verhaltens-norm werden, die alle Mitgliedstaaten bindet. Die Bundes-regierung rühmt sich einer restriktiven Rüstungsexportpoli-tik, doch bewilligt sie Lieferungen beträchtlichen Umfangsan Länder, die dem EU-Kodex nicht entsprechen.

8. Bei allen Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle istdie deutsche Politik auf die Unterstützung durch Verbünde-te und Partner angewiesen – mit einer Ausnahme: Über denAtomwaffen

ausDeutschlandabziehen

Abzug von Nuklearwaffen auf dem eigenen Territorium kannsie allein entscheiden. Sie sollte davon Gebrauch machen unddamit ein deutliches Zeichen gegen Renuklearisierung set-zen.

2. Klimawandel und neue Konfliktrisiken

Der Klimawandel und seine regional unterschiedlichen Folgensind nicht exakt vorherzusagen. Unstrittig ist jedoch, dass er inerheblichem Ausmaß von Menschen verursacht wird und Res-sourcenknappheit, insbesondere von Wasser, verschärft. Fort-schreitende Erderwärmung führt zu häufigeren Naturkatastro-phen und Wetterextremen wie Hitze, Dürre oder Überschwem-mungen. Ernteausfälle, Hunger, Armut und Umweltmigrationsind die Folge. Zudem haben einige Maßnahmen zur Bekämp-fung des Klimawandels – etwa die Förderung erneuerbarer Ener-gien – mitunter ungewollt konfliktverschärfende Auswirkungen.So besteht eine Ursache des aktuellen Lebensmittelnotstandesin Ägypten, Bangladesch oder Haiti darin, dass Böden, die zum Knappe

Ressourcenführen zuKonflikten

Lebensmittelanbau geeignet wären, für die Erzeugung von Bio-masse zur Treibstoffproduktion genutzt werden. Auch dadurchist der Reispreis in den letzten Monaten so stark gestiegen,dass

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DIE HERAUSGEBER

selbst die UNO ihre Hilfslieferungen nicht mehr bezahlen kann.Je knapper die Ressourcen und je größer die Konkurrenz, destogrößer ist die Gefahr gewalttätiger Konflikte.

Prävention statt sicherheitspolitischer Gegenmaßnahmen

Klimabedingte Ressourcenverknappung führte in der jüngerenVergangenheit selten zu zwischenstaatlichen Kriegen. Aufsub-staatlicher Ebene dagegen sind bereits zahlreiche gewaltträch-tige Konflikte zu beobachten, bei denen sie zum Ursachenge-flecht gehörte. Aktuelle Beispiele sind die Unruhen in Indienund Bangladesch und der Krieg in Darfur. Vor allem in insta-bilen autokratischen Systemen fördern die Auswirkungen derErderwärmung den weiteren Zerfall oft nur rudimentärer staat-licher Strukturen und erhöhen so das Gewaltrisiko. Besondersdie Umweltmigration mit ihren Folgekonflikten verdeutlicht dasPotenzial überregionaler Eskalation – und die Dringlichkeit in-ternationalen Handelns.

Anders als manche seiner Folgen haben die Ursachen desKlimawandel:EinSicherheits-problem?

Klimawandels keine sicherheitspolitische Dimension. Gegen-maßnahmen müssen vor allem auf die Ursachen zielen. In denIndustriestaaten wird Handlungsbedarf jedoch primär aus si-cherheitspolitischen Gefahren abgeleitet. Diese Verengung derDiskussion auf die Sicherheitsaspekte ist kontraproduktiv. Nochist der Klimawandel in erster Linie ein Problem des hohenSchadstoffausstoßes in den Industrieländern mit besonders ne-gativen Auswirkungen in schwach entwickelten Staaten. Zurrealen Gefahr für die internationale Sicherheit wird er erst durchzu spätes und falsches Reagieren. Im Klartext: Um die Ge-fahr zukünftiger Konflikte zu vermindern, muss die Erderwär-mung sehr schnell und effektiv bekämpft werden. Das erfor-dert dringend, dass eine präventive, international abgestimmtePolitik die Ursachen angeht. Eine deutliche Reduzierung desCO2-Ausstoßes in den Industrieländern ist dabei die dringlichs-te Maßnahme. Ohne Wohlfahrtseinbußen lässt sich dies nocham ehesten durch höhere Energieeffizienz erreichen. Diese mussauch bei regenerativen Quellen, also bei der Solarenergie,derWind- und der Wasserkraft und bei der Energiegewinnung ausNeue Tech-

nologien Rest-Biomasse gesteigert werden. Hier bedarf es national wie

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international entschiedener Bemühungen, damit neue Technolo-gien entwickelt und konkurrenzfähig produziert werden können.

Verursacher und Leidtragende des Klimawandels

Es bestehen große Unterschiede zwischen den Staaten, die denKlimawandel verursachen, und denjenigen, die unter ihm lei-den. Die hoch entwickelten Industriestaaten sind seine Haupt- Westen in

der Verant-wortung

verursacher, da sie mit Abstand am meisten Erdöl und Erd-gas verbrauchen und den Großteil des schädlichen CO2 emittie-ren. Ihnen stehen diejenigen Staaten gegenüber, die selbstwenigzur Erderwärmung beitragen, von deren Folgen aber am stärks-ten betroffen sind. Dies sind zumeist Entwicklungsländer derDritten Welt, in denen Ressourcenverknappung, Hunger, Armutund Umweltmigration mit mangelnder Wirtschaftsentwicklung,fragiler Staatlichkeit und einer schwachen Zivilgesellschaft zu-sammentreffen. Diese Mischung erzeugt ein brisantes Konflikt-potenzial. Bleibt in diesen Ländern in Zukunft – wie Klimasi-mulationen prognostizieren – immer öfter der Regen aus, wirdLandwirtschaft unmöglich und Abwanderung schließlich zumeinzigen Ausweg.

Die westliche Welt als Hauptverursacher steht in der Ver-antwortung und muss für Ausgleich sorgen. Sie kann den Auf-bau eines integrierten Wassermanagements unterstützen (umden täglichen Bedarf zu decken und Landwirtschaft zu ermögli-chen), aber auch bei der Entwicklung der Zivilgesellschaftoderstabiler demokratischer Strukturen und Institutionen helfen.Schließlich ist auch ein Regelwerk zu schaffen, um die Emissi-onsrechte global gerecht zuteilen zu können. Entwicklungs- undSchwellenländer streben danach, mit „nachholender Entwick-lung“ den Lebensstandard der Industriestaaten zu erreichen, wasauf einen ähnlich hohen Energieverbrauch hinausläuft. Kon-flikte zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Industriestaatensind darum vorprogrammiert. Lösungsmodelle ohne weltwei-te Gleichbehandlung werden sich nur machtpolitisch durchset- Weltweite

Gleichbe-handlung

zen lassen. Gewaltprävention muss also nicht nur einen gerech-ten Ausgleich zwischen Verursachern und Leidtragenden desKlimawandels schaffen, sondern stellt auch die Zukunftstaug-lichkeit des vom Westen propagierten und exportierten Wachs-

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DIE HERAUSGEBER

tumsparadigmas und seiner energieintensiven LebensweiseinFrage.

Abschmelzen der Arktis

Die Dilemmata der Klimaschutzpolitik offenbaren sich in derNeue Arktis-abkommennötig

Arktis. Dort ermöglicht das kontinuierliche Abschmelzen desPolareises die Ausbeutung von Gas, Erdöl und anderen Rohstof-fen, aber auch Fischfang, was den Anrainerstaaten große wirt-schaftliche Gewinne verspricht. Dieser Nutzen aus der Erder-wärmung schwächt freilich das Interesse, dem Klimawandel unddamit einem weiteren Abschmelzen der Polkappen entgegenzu-wirken. Darüber hinaus wecken die Aussichten auf bisher un-genutzte Ressourcen neue Begehrlichkeiten und Konkurrenzen.Schon heute gibt es Spannungen zwischen den Anliegerstaa-ten USA, Russland, Dänemark, Norwegen und Kanada, die sichin Zukunft verschärfen könnten. Alte Konfliktlinien über Sou-veränitätsansprüche, See- und Territorialgrenzen erhalten neueBrisanz, etwa im Hinblick auf die Nordwestpassage, den Nord-pol und die Barentssee. Bisherige Kooperationsmuster stoßenan ihre Grenzen. Die existierenden Abkommen beziehen sichfast ausschließlich auf Umweltfragen, bestehende Konfliktrege-lungsmechanismen reichen nicht mehr aus. Noch ist die Diskus-sion nicht eskaliert, noch wären diplomatisch-kooperative Kon-fliktregelungen möglich. Die Gespräche – insbesondere überei-ne arktisspezifische Ergänzung derUN Convention on the Lawof the Sea– müssen rasch intensiviert und von der Einrichtunggemeinsamer Institutionen zur Konfliktbeilegung flankiertwer-den.

Klimaschutzpolitik ist auch Konfliktprävention

Die negativen Folgen des Klimawandels sind nicht zwangsläu-fig; sie können aufgehalten werden. Die Zeit drängt, aber esgibt durchaus wirtschaftlich, sozial und technisch umsetzbareHandlungsoptionen. Klimaschutzpolitik bedeutet auch Konflikt-prävention. Wenn vorausschauende ökologische, entwicklungs-Energie

sparenreicht nicht

und friedenspolitische Maßnahmen international aufeinanderabgestimmt werden, ist effektive Konfliktvermeidung möglich.Empfehlungen wie die Zertifizierung des Biomasse-Anbaus zur

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STELLUNGNAHME

energetischen Nutzung, eine möglichst weitgehende Regionali-sierung der Energieversorgung oder Pläne zum integriertenWas-sermanagement liegen längst auf dem Tisch, ebenso konkre-te Maßnahmen zur Einsparung bzw. Effizienzsteigerung beimEnergieverbrauch. Letzterem gilt die größte Aufmerksamkeitder Bundesregierung. Wir fordern, die Anstrengungen auf in-ternationaler Ebene zu intensivieren. Deutschland solltefüreinen gerechten Lastenausgleich hinsichtlich des Klimawandelseintreten und in internationalen Institutionen darauf drängen,dass entsprechende Verfahren zwischen entwickelten und un-terentwickelten Staaten rasch ausgearbeitet und implementiertwerden. Es gilt auch, das „Klimarisiken-Schutzprogramm“ derUNO weiterzuentwickeln und umzusetzen. Ebenso ist die Bun-desregierung aufgefordert, sich in der UNO für einen „Rat fürGlobale Entwicklung und Umwelt“ mit weitreichenden Kompe-tenzen einzusetzen.

Bilder von Hungeraufständen oder von afrikanischenFlüchtlingen, die täglich die vermeintlich sicheren Ufer Europas Umfassender

Ansatz derKlimapolitik

zu erreichen suchen, mahnen uns, nicht die Symptome, sonderndie Ursachen zu bekämpfen. Dabei müssen langfristige Sicher-heitsinteressen, entwicklungspolitische Ziele, Konfliktpräventi-on, umfassender Menschenrechtsschutz und Umwelt- bzw. Kli-maschutz in Einklang gebracht werden. Hier kann und sollte dieBundesregierung eine noch aktivere Rolle spielen und sowohltreibende als auch gestaltende Kraft einer zügigen internationa-len Klimaschutzpolitik werden.

3. Trügerische Stabilität autoritärer Systeme

Viele autoritär regierte Länder weisen eine bedrohliche Insta-bilität auf. Je mehr die Bevölkerung und politische, ethnischeoder religiöse Minderheiten von der Macht ausgeschlossen blei-ben, und je weniger diese sich öffentlich artikulieren können,desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich radika-lisieren. Häufig kaschiert Autoritarismus schwache Staatlich-keit, Korruption und kleptokratische Eliten. Regt sich Wider-stand, besteht die Gefahr, dass Sicherheitsapparate den Staat Autoritaris-

mus schafftInstabilität

direkt oder indirekt übernehmen. Autoritäre Herrschaftsformenbedrohen aber nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch

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DIE HERAUSGEBER

die regionale Stabilität. Krisen autoritärer Regime können dra-matische Auswirkungen für Nachbarstaaten haben, etwa durchFlüchtlingsströme, nationalistischen oder religiösen Radikalis-mus und die Ausbreitung von Gewalt. Westliche Staaten wollendiese Quelle von Instabilität häufig nicht wahrhaben und billigenAutoritarismus als „innere Angelegenheit“. Allzu oft erliegensie dem trügerischen Stabilitätsversprechen dieser Regime. Diesgilt in besonderem Maße da, wo westliche Staaten das Interesseam ungehinderten Zugang zu Energie und anderen Ressourcenabsolut setzen. Indem sie zur Legitimierung solcher Regimebei-tragen, machen sie sich zu Komplizen von Autoritarismus undRepression. Das treibt die Opposition fundamentalistischen undterroristischen Gewaltstrategen in die Arme.

Wie sollte der Westen mit autoritären Staaten umgehen?Eine „Demokratisierung durch Waffengewalt“ verbietet sich,wie das Debakel im Irak unterstreicht, ebenso die stillschwei-gende Partnerschaft mit Despoten. Wir plädieren für eine Mi-schung aus behutsamer und langfristig angelegter Demokratie-förderung, die sich nicht auf die Forderung nach freien Wahlenbeschränkt, und für das alte Rezept aus der Zeit der Entspan-nungspolitik, „Wandel durch Annäherung“. Der Westen mussWandel

durch An-näherung

auch gegenüber jenen Ländern beharrlich für Demokratie undMenschenrechte eintreten, die wichtige wirtschaftliche oder si-cherheitspolitische Partner sind. Gleichzeitig kritisieren wir Ge-sprächstabus. Dass die USA 1979 sämtliche Beziehungen mitIran abbrachen, war ein folgenschwerer Fehler. Er erleichtertdem Regime in Teheran bis heute die Verteufelung der USA,und er erschwert die Suche nach einer Regelung der Nuklearfra-ge ebenso wie die unumgängliche Kooperation bei der Stabili-sierung des Irak. Autoritären Regimen müssen handfeste Anrei-ze für friedliches Verhalten und innere Liberalisierung gebotenAnreize für

Liberalisie-rung

werden, z.B. regionale Integration, Wirtschaftshilfe, Schulden-erlass oder die konditionierte Aufhebung von Sanktionen.

Die Finanz- und Investitionspolitik sollte an die Korrup-tionsbekämpfung geknüpft werden. Erfolgreiche Sicherheits-sektorreform kann dazu beitragen, den autoritären Missbrauchder Sicherheitsapparate zu erschweren. Regionalorganisationenwie die Afrikanische Union sind zu ermutigen, entschiede-ner als bisher auf autokratische und menschenverachtende Re-

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STELLUNGNAHME

gime einzuwirken. Deutschland und die EU sollten versuchen,externe Mächte – beispielsweise China im Falle Simbabwesund Sudans – davon abzubringen, mörderische Regime durchWaffenlieferungen zu stützen. Generell müssen die EU-Staaten Keine

Waffen anAutokraten

ihr Verhalten gegenüber autoritären Staaten frühzeitig miteinan-der abstimmen. Das verbessert nicht nur ihre Chance, Gehör zufinden, sondern erleichtert es auch, im Krisenfall mit einerStim-me zu sprechen.

4. Aktuelle Brennpunkte

Aufbauhilfe statt Krieg in Afghanistan

Inzwischen stehen über 60.000 ausländische Soldaten in Afgha-nistan – Ende 2006 waren es nur 40.000, 2002 waren es erst4.500 Mann derInternational Security Assistance Force(ISAF)und eine etwas höhere Zahl an US-Truppen. Seitdem wurden– zusätzlich zu den Kriegskosten – rund 15 Milliarden US-Afghanistan-

Einsatzdroht zuscheitern

Dollar für den Wiederaufbau ausgegeben. Trotzdem steht derAfghanistan-Einsatz am Rande des Scheiterns. Gemessen anseinen ursprünglichen Zielen – Überwindung der Gewalt, Auf-bau eines funktionierenden Staates, Zerschlagung von Talibanund al-Qaida sowie Bekämpfung des Terrorismus – hat sichdie Lage zusehends verschlechtert. Von einem Staat, der seinStaatsgebiet beherrscht, kann keine Rede sein: Nach Angabendes Koordinators der US-Geheimdienste, Michael McConnell,kontrolliert die Zentralregierung in Kabul knapp 30 Prozent desLandes, den Rest teilen sich regionale Stammesfürsten (60 Pro-zent) und die Taliban (10 Prozent). Im letzten Jahr gab es mehrals 8.000 Kriegstote, die Zahl der Selbstmordanschläge stieg imVergleich zum Vorjahr auf über 150 – in einem Land, in dembis 2001 Selbstmordattentate unbekannt waren. Insgesamt hatsich die Zahl der Angriffe durch Aufständische seit 2005 ver-fünffacht. 2007 wurden rund 40 Konvois mit Lebensmitteln desUN-Welternährungsprogramms geplündert; es gab 130 Angrif-fe auf humanitäre Projekte und ihr Personal, 40 Helfer wurdengetötet und 89 verschleppt. In den letzten Jahren waren aller-dings auch Erfolge zu verzeichnen, etwa beim Bau von Schulenund Straßen. Doch haben weder die wachsende Militärpräsenz

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DIE HERAUSGEBER

noch die Anstrengungen zum Wiederaufbau die Rückkehr derTaliban zu verhindern und die wachsende Gewalt einzudämmenvermocht.

Der Einsatz der Bundeswehr im Norden Afghanistans istTeil des Gesamteinsatzes der NATO und der USA. Dessen Er-folg oder Scheitern entscheidet sich indes nicht im Norden al-lein, sondern hängt von der Entwicklung im gesamten Land,Regierung

in Kabulstärken

in erster Linie von der Stärkung der afghanischen Regierungab. Der Auftrag der Bundeswehr unterliegt einem schleichen-den Wandel von Assistenz zu Kampfeinsätzen, den die Politikwieder umkehren muss. Seit Sommer 2007 leistet das Tornado-Geschwader Feindaufklärung und Kampfunterstützung. Die Ab-stellung von Fernmelde- und anderen Unterstützungskräften inden afghanischen Süden ist, obwohl als befristet beschlossen,dauerhaft geworden. Ab diesem Sommer soll die in AufstellungbefindlicheQuick Reaction Forceauch „proaktive“ Kampfauf-gaben übernehmen. Und für die im Herbst anstehende Mandats-verlängerung ist eine Aufstockung der Truppenstärke um 500bis 1.500 Soldaten im Gespräch. All dies erfolgt, weil Washing-ton und einige NATO-Partner auf eine größere Rolle der Bun-deswehr drängen, nicht, weil es erfolgversprechend wäre. DerKeine Auf-

stockungdes Militärs

Krieg in Afghanistan wird nicht militärisch, sondern politischentschieden – die NATO meint, gewinnen zu müssen, währendes für die Aufständischen reicht, nicht zu verlieren.

Die Bundesregierung sollte sich einer Ausweitung derKämpfe widersetzen und sich stattdessen auf politische undent-wicklungspolitische Aktivitäten konzentrieren, welche die af-Staat

aufbauen ghanische Regierung stärken. Die internationale Gemeinschaftbenötigt eine einheitliche und verantwortungsvolle Führung, dieden Schwerpunkt ihrer Hilfe auf die Staatsbildung, besondersden Aufbau eines funktionierenden Rechtswesens, die Durch-setzung von Rechtsstaatlichkeit sowie die Stärkung staatlicherFähigkeiten legt. Die Reform des Sicherheitssektors muss vor-angetrieben, während die enormen Geldsummen effektiver fürden Aufbau lokaler Kapazitäten statt für eingeflogenes Perso-nal und dessen Versorgung angelegt werden müssen. Die militä-rischen Komponenten des Einsatzes sollten diesem politischenSouveränität

Afghanistansrespektieren

Schlüsselziel untergeordnet werden. Der NATO-Einsatz kanndie afghanische Regierung nur unterstützen, nicht ersetzen. Wo

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STELLUNGNAHME

sie nicht präsent ist, gibt es nichts zu unterstützen. Deshalb soll-te die Bundesregierung einen Rückzug der Bundeswehr in dieStädte anvisieren. Präsident Karzai sandte ein deutlichesWarn-signal, als er Ende April 2008 beklagte, dass seine Regierung inSchlüsselfragen von den USA und Großbritannien übergangenwerde, die gegen seinen Willen ihren „Krieg gegen den Terro-rismus“ in den Dörfern Afghanistans führen und dadurch einepolitische Übereinkunft mit den Taliban verhindern. Er forderte,die Souveränität Afghanistans zu respektieren und mehr fürdenWiederaufbau zu tun, statt an Stelle der Afghanen zu agieren.

Die Bundesregierung könnte die Initiative für eine neueGrenzenstabilisierenPetersberg-Konferenz ergreifen; die bisherigen LondonerVer-

einbarungen (Afghanistan Compact) sind teils irreal, teils über-holt, teils ohne Gespür für Prioritäten. Da die porösen Gren-zen Afghanistans nicht nur den Rückzug illegaler Kombattan-ten, sondern auch den Drogen- und Waffenhandel begünstigen,sollten Nachbarn wie Iran, die zentralasiatischen Anrainer, Indi-en und Pakistan, China und nicht zuletzt auch Russland in Be-mühungen zur Grenzstabilisierung, aber auch in Investitionenzugunsten von Afghanistans Infrastruktur einbezogen werden.

Druck auf Beijing mit der Anerkennung seinerReformpolitik verbinden

Dreißig Jahre nach Beginn der Reformära hat China eine be-achtliche Erfolgsbilanz vorzuweisen. Nie zuvor in der Geschich-te gelang es – bei allen sozialen und ökologischen Widersprü-chen –, in einem so kurzen Zeitraum so viele Millionen Men-schen von Hunger und Elend zu befreien. Der Großteil der Be-völkerung teilt den Stolz darauf mit der Führung. Die Tibeternutzen die weltweite Aufmerksamkeit für die olympischen Spie-le, um ihre Nöte und Forderungen vorzutragen. Beijing reagiertauf die Unruhen in Tibet und auf Störungen des olympischenFackellaufs mit harter Hand, macht dafür in einem Rückfall inalte Propaganda den Dalai Lama als Verschwörer verantwortlichund bezichtigt ihn des Separatismus. Das Oberhaupt der Tibeterwirft China seinerseits „kulturellen Genozid“ vor.

In China – zu fast 92 Prozent von Han-Chinesen bewohnt –machen die Tibeter 0,42 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

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DIE HERAUSGEBER

Chinas Nationalitätenpolitik ist widersprüchlicher, alsdas gän-gige Bild von der Minderheitenunterdrückung zeigt. Für Ange-hörige von Minoritäten gelten Ausnahmen von der rigiden staat-Autonomie

für Minder-heiten

lichen Ein-Kind-Politik, sie genießen auch einen Bonus beimHochschulzugang. Beijing bemüht sich, die rückständigen Re-gionen im Westen zu modernisieren, damit sich die Schere zwi-schen boomenden Metropolen und abgelegenen Gebieten nichtweiter öffnet. Der formellen Gleichheit der Volksgruppen stehteine uralte, vom Maoismus bekräftigte Tradition entgegen,dieden Han-Chinesen Kultur zuschreibt, während es die rückstän-digen Minderheiten zu zivilisieren gelte. Diese genießen realnicht die Autonomie, die ihnen laut Verfassung und Gesetzge-bung zusteht. Dem tibetischen Buddhismus wiederum fällt esschwer, Religion und Politik zu trennen. NationalbewussteTibe-ter wehren sich gegen die turbokapitalistische Modernisierungmit ihren sozialen und mentalen Verwerfungen, die ihre Tradi-tionen untergraben. Ihr Widerstand revitalisiert die Religion unddas ethno-nationale Selbstbewusstsein, was wiederum die AngstBeijings vor Sezessionismus schürt. Je mehr Chinas Regierungdarauf mit Unterdrückung reagiert, desto mehr wächst die Nei-gung unter tibetischen Jugendlichen zu gewaltsamen Protesten –eine Gewaltspirale.

Obwohl in Beijing noch immer die Kommunistische Parteiregiert, unterscheidet sich das heutige China von der Sowjetu-nion und dem Totalitarismus unter Mao von Grund auf. For-derungen nach Menschenrechten und Rechtssicherheit in Chinaverdienen Unterstützung, auch das Verlangen der Tibeter undanderer Minderheiten nach kultureller Autonomie und Religi-onsfreiheit. Nötig ist beharrlicher diplomatischer Druckauf dieRegierung in Beijing, sie solle mit dem Dalai Lama direkt ver-handeln. Dieser Druck aus dem Westen dürfte umso erfolgrei-cher sein, je weniger man China den Respekt für seine Reform-anstrengungen und -leistungen versagt.

Die neue chinesische Führung hat in den letzten Jahrendurchaus außenpolitische Flexibilität gezeigt. Sie hat vieles un-ternommen, um die angespannten Beziehungen zu Japan undDialog statt

Konfronta-tion

zu Indien zu entkrampfen. Im Konflikt mit Taiwan hat sie ihreDrohungen zurückgeschraubt, was dazu beitrug, dass im März2008 das dortige Referendum über die Unabhängigkeit schei-

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STELLUNGNAHME

terte. Es ist durchaus denkbar, dass sie auch in Tibet von ihrerKonfrontationspolitik abrückt und sich für den Dialog entschei-det. Die chinesische Führung kann sich allerdings nur bewegen,ohne ihr Gesicht zu verlieren, wenn pauschale anti-chinesischeKampagnen eingestellt werden. Diese stärken eher die Nationa-listen und jene, die vor einer weiteren Liberalisierung warnen.Die rapide wachsende wirtschaftliche Kooperation mit einem indie Globalisierung eingebundenen China verbietet kategorischeine Rückkehr zur Systemkonfrontation.

Mit Gewalt ist der Palästinakonflikt nicht zu lösen

Nach sieben Jahren Stillstand unternahmen die israelischen undpalästinensischen Regierungen im November 2007 einen neu-en Versuch, ihren Dauerkonflikt beizulegen. Im amerikanischenAnnapolis vereinbarten Ministerpräsident Ehud Olmert undPrä-sident Mahmud Abbas, binnen eines Jahres den Weg zu einempalästinensischen Staat zu ebnen. Die Hürden sind allerdingshoch. Neben der sperrigen Konfliktsubstanz, zu der die Territo-rialfrage, der Status Jerusalems und die Rückkehr palästinensi- Hürden

zumPalästi-nenserstaat

scher Flüchtlinge gehören, nähren der Verhandlungsansatzunddie Führungsschwäche auf beiden Seiten Zweifel an einer ra-schen Vereinbarung über den Endstatus. Wie bei der geschei-tertenRoad Mapvon 2003 gibt es im Annapolis-Prozess we-der klare Ziele noch einen Mechanismus zur Streitschlichtung.Überdies ist fraglich, ob die Parteien schmerzhafte Kompromis-se gegen interne Opposition durchsetzen könnten. Weder siehtsich Olmert in der Lage, dem fortgesetzten Siedlungsbau vorallem in und um Ost-Jerusalem Einhalt zu gebieten, noch ge-währleistet Abbas die Kontrolle palästinensischer Gewalttäter,von der Israel die Normalisierung der Lebensbedingungen inder Westbank abhängig macht. Hatte seine Autorität unter derWahlniederlage derFatah im Januar 2006 gelitten, so ist sie mitder Spaltung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen seitJuni 2007 weiter geschrumpft.

Wirtschaftliche Erfolge wären nötig, um den palästinensi-Wirtschafts-erfolge nötigschen Präsidenten und die von ihm eingesetzte, aber ohne Wäh-

lermandat agierende Regierung in der Westbank zu stärken. Dieskönnte ihm den Spielraum verschaffen, Israel entgegenzukom-men. Indessen hat der Niedergang der palästinensischen Öko-

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DIE HERAUSGEBER

nomie dramatische Ausmaße angenommen. In der Westbankverhindern Hunderte israelische Straßensperren jede normaleWirtschaftstätigkeit. Der gegen dieHamasgerichtete finanzielleBoykott und die israelische Grenzblockade haben im Gazastrei-fen die Industrie, den Verkehr und die öffentliche Infrastrukturweitgehend lahmgelegt und große Teile der Bevölkerung in ex-treme Armut gestürzt.

Dessen ungeachtet halten die USA und die EU auch im drit-ten Jahr nach dem Wahlsieg derHamasam Ziel fest, diese in dieKnie zu zwingen. Ihre Politik kommt einer kollektiven Bestra-Mit Hamas

sprechen fung der Bevölkerung für ihre Wahl gleich. Nicht ausgeschlos-sen ist auch, dass Israel versucht, eine Entscheidung mit Waf-fengewalt herbeizuführen. Von Ägypten vermittelte Angeboteeiner Waffenruhe lehnte die israelische Regierung mehrfach un-geprüft ab. Auch die Vermittlungsbemühungen des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter stießen bei ihr auf taube Ohren.

Ökonomische Strangulierung und militärische Vernichtungsind Rezepte für ein politisches Desaster. In derHamashabensie die Hardliner gestärkt, die eine Fortsetzung des bewaffne-ten Kampfes propagieren, und die Pragmatiker an den RandKeine Ab-

riegelungGazas

gedrängt, die nach Möglichkeiten suchten, eine Zweistaaten-Lösung mit dem Selbstverständnis derHamaszu vereinbaren.Angesichts dieses Fiaskos sollte sich die BundesregierungdemEuropaparlament anschließen, das die politische und humani-täre Isolierung des Gazastreifens für gescheitert erklärthat. Wirempfehlen, Möglichkeiten eines Dialogs mit derHamasauszu-loten, um sie in Verhandlungen einzubinden.

Mittlerer Osten: Kooperation und Modernisierung stattAufrüstung

Die Gefahr einer iranischen Atombombe besteht fort. An mar-tialischen Drohungen herrscht kein Mangel. Provokativ stelltder iranische Präsident Ahmadinedschad das ExistenzrechtIs-raels in Frage, auch den Judenmord durch die Nazis. Im Okto-ber 2007 malte US-Präsident Bush einen „dritten Weltkrieg“andie Wand, sollte Teheran sein Atomprogramm nicht einstellen.Hillary Clinton erklärte im Wahlkampf, man wäre notfalls inder Lage, „Iran völlig zu vernichten“. Die Bush-Administration

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warnt bedeutungsschwanger, keine Option sei ausgeschlossen,und hält sich die Möglichkeit eines gewaltsamen Regimewech-sels offen. Doch haben ausgerechnet die US-Geheimdienste derGewaltoption die Legitimation entzogen: Im Dezember 2007legten sie einen Bericht vor, dem zufolge Iran 2003 sein Atom-waffenprogramm einstellte.

Die Europäer sollten die USA zu einem Politikwechsel drän-gen. Militärische Drohungen haben Teheran nicht gehindert,neue Zentrifugen zu bauen. Eindämmung und immer schärfereSanktionen unterbinden dies ebenso wenig wie sie die Regie-rung stürzen. Ziel der Sanktionen kann nicht die Kapitulationdes Regimes sein, sondern nur dessen Bereitschaft zu verhan-deln, um die ökonomischen und politischen Schäden der Isolie-rung zu minimieren. Hochrangige US-Diplomaten, die in denletzten Jahren mit iranischen Akademikern und Politikern Ge-spräche führten, haben einen Vorschlag ausgearbeitet, um Irans Kontrolle

der Uran-anreicherung

Urananreicherung multilateral zu kontrollieren. Offizielle in Te-heran – bis hin zum Präsidenten – haben Interesse an einer derar-tigen Lösung bekundet. Zwar gibt es dafür keine Erfolgsgaran-tie, doch darf kein Versuch unterbleiben, die verhärteten Frontenaufzubrechen und die Kräfte in Iran zu stärken, die zu Kompro-missen bereit sind.

Leider geschieht das Gegenteil. Die Durchhalteparolen imGegenAufrüstungin Nahost

Irak und die militärische Aufrüstung von Verbündeten durchdieUSA tragen zur weiteren Konfrontation in der Region bei. DerIrak-Krieg und das daraus folgende politische Debakel habendie Regionalvormacht Iran gestärkt. Das nehmen die USA zumAnlass, die Nachbarstaaten massiv aufzurüsten. Saudi-Arabienbleibt der engste Verbündete der USA, obwohl dessen Regimeeine der Ursachen für die regionale Instabilität ist. Die von Ge-orge W. Bush und Condoleezza Rice groß angekündigte De-mokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens, die allein auflange Sicht Sicherheit verbürge, ist heute, falls sie je ernst ge-meint war, Makulatur. Jetzt soll das autoritäre Regime in Riadmodernste Waffen im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollarerhalten. Außerdem will Washington eine sunnitisch-arabischeKoalition gegen Teheran schmieden. Das heizt die Feindschaftzwischen Sunniten und Schiiten, die im Irak und im Libanonmit Gewalt ausgetragen wird, in der gesamten Region weiter an.

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DIE HERAUSGEBER

Saudi-Arabien hat gedroht, als Schutzmacht der arabischenSun-niten im Irak einzugreifen. Und prompt drängt Israel, das sichvon der Hochrüstung arabischer Staaten bedroht fühlt, auf denAusbau seiner militärischen Kapazitäten und auf entsprechendeamerikanische Militärhilfe.

Das in Berlin erkennbare Unbehagen reicht nicht aus.Konkrete Initiativen zur Entspannung, Vertrauensbildungundkooperativen Rüstungskontrolle sind nötig. Weil das Irak-Abenteuer dieHardliner in Washington und London ge-schwächt hat, ist nicht auszuschließen, dass eine Abkehr vonder Konfrontation künftig auch in den USA unterstützt wird.DieEuropäer sollten die USA drängen, endlich direkt mit Iran überdie Urananreicherung zu verhandeln und die diplomatischenBe-ziehungen wieder aufzunehmen. Es bestehen durchaus gemein-same Interessen: Obwohl die USA und Iran um mehr Einfluss imGemeinsame

Interessenim Irak

Irak konkurrieren, stützen beide die Regierung in Bagdad. Beidebetonen, wie wichtig Iraks territoriale Integrität und eine starkeZentralregierung sind. Beide haben auch ein gemeinsames Inter-esse, in Afghanistan den Handel mit Opium einzuschränken undsunnitische Extremisten sowie die Taliban undal-Qaidazu ent-machten.Gouverner c’est prévoire, lautet eine klassische Devi-se weiser Politik. Militärische Konfrontation ist das Gegenteil –schon gar in einer Region, an deren Öl-Tropf die Weltwirtschafthängt.

Andreas Heinemann-GrüderJochen HipplerMarkus WeingardtReinhard MutzBruno Schoch

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