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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Tandem
aktualisierte Fassung vom:
18.3.13
AutorIn: Friedrich Ani
RedakteurIn: Katrin Zipse
Regie: Ulrich Lampen
Süden und die verschwundene Mörderin
Ein Tabor-Süden-Hörspiel
Studiobelegung:
4.+5. und 8.-11.4.2013; BAD Studio 7; 9.00-16.45
Sendung am: 30.4.2013 in SWR2 Tandem um 19.20 Uhr
Sprecher/Rollen: Tabor Süden, Anfang 50 Klaus Spürkel
Detektiv
Edith Liebergesell, Mitte 40
Chefin der Detektei
Nadine Falkner, 47
Pächterin einer Tankstelle
Paul Eberl, 40, Kfz-Mechaniker
Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen Genehmigung des Urhebers. © by the author
Dokument3
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1. Vorspann
Das Klingeln eines Telefons.
1EDITH LIEBERGESELL (ins Telefon)
Detektei Liebergesell.
2NADINE FALKNER (ins Telefon)
Hier ist Nadine Falkner, ich glaub, meine Freundin ist verschwunden.
3EDITH Waren Sie schon bei der Polizei?
4NADINE Hab’s nicht so mit der Polizei.
5EDITH Seit wann ist Ihre Freundin verschwunden?
6NADINE Vier Tage.
7EDITH Könnte sie einfach verreist sein, ohne jemandem Bescheid gesagt zu
haben?
8NADINE Sicher nicht. Die hat keinen Cent für sowas.
9EDITH Möchten Sie, dass mein Mitarbeiter Tabor Süden nach Ihrer
Freundin sucht?
10NADINE Klar. Soll herkommen, BKV-Tankstelle in der Welfenstraße.
11EDITH Er ist schon unterwegs.
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12 SÜDEN (Erzähler)
Die verschwundene Ruth Kargus war zweiunddreißig
Jahre alt, als sie ihren Geliebten mit zwei
Messerstichen in die Brust ermordete. Sie wurde
wegen Mordes zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt.
Weil Alkohol im Spiel war, und das Opfer – der 32-
jährige Simon Eberl – die Täterin in den Monaten
zuvor wiederholt geschlagen und misshandelt hatte,
blieb ihr eine lebenslange Haftstrafe erspart.
Außerdem hatte sie ein Geständnis abgelegt,
allerdings keine Reue erkennen lassen.
2. Erste Szene – Tankstelle – Donnerstagmittag
13NADINE FALKNER
Hab sie im Knast regelmäßig besucht, mindestens ein Mal im Monat.
14SÜDEN In der Justizvollzugsanstalt Aichach.
15NADINE Genau.
16SÜDEN Wie hatte sie auf das Urteil reagiert?
17NADINE Äußerlich gefasst. Eine Revision hat sie gleich abgelehnt, wollt sie
einfach nicht.
18SÜDEN Hat sie im Gefängnis Freundschaften geknüpft?
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19NADINE Nein. Gruppennachmittage waren ihr ein Gräuel. Sie hat in der
Bäckerei gearbeitet, das war alles. Die Arbeit hat ihr gefallen.
20SÜDEN Haben ihre Eltern sie besucht?
21NADINE Kein einziges Mal. Den Kontakt hat sie nach ihrer Festnahme total
abgebrochen. Ihr Vater ist mittlerweile gestorben und ihre Mutter lebt
verbittert in ihrem Heimatdorf auf dem Land. Beim Prozess war sie
keinen Tag, nicht mal bei der Urteilsverkündung.
Ein Motor heult auf. Eine Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt, in der gearbeitet
wird.
22NADINE Ihre Mutter behauptet, dass das, was sie getan hat, ihren Vater ins
Grab gebracht hätt. Kann man nichts machen. (ruft) Paul! Fahr den
Wagen bittschön da weg und stell ihn hinter die Staubsaugeranlage.
Hier kommt ja niemand mehr vorbei. (zu Süden) Zur Zeit geht’s wild
zu bei uns, die Leut‘ wollen alle gleichzeitig ihre Sommerreifen
aufziehen lassen.
23SÜDEN Sie sind die Chefin.
24NADINE Eigentlich ist mein Vater der Chef, aber er ist grad wieder in der
Reha. Die Bandscheiben, geht schon Jahre so. Übel. Ich hab schon
als Jugendliche in unserer Tankstelle ausgeholfen, auch in der
Werkstatt. Ich hab BWL studiert, aber einen Bürojob wollt ich nie. Ich
mag die Arbeit hier.
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25SÜDEN Was ich noch nicht verstanden habe: Sie kannten den Mann, den
Ihre Freundin erstochen hat, auch sehr gut. Oder nur flüchtig?
26NADINE Ich kannte ihn. Ein böser Mensch.
27SÜDEN Und Ruth konnte ihn nicht einfach verlassen.
28NADINE Nein.
29SÜDEN Sie hing an ihm, trotz allem.
30NADINE Kann man so sagen.
31SÜDEN Vor vier Tagen, am Montag, kamen sie abends nach Hause, und Ihre
Freundin war nicht mehr da. Was dachten Sie im ersten Moment, wo
sie sein könnte?
32NADINE Was ich gedacht hab? Weiß ich nicht mehr. Was ich gedacht hab …
Ist das so wichtig?
33SÜDEN Ja.
34NADINE Wieso denn?
35SÜDEN Dachten Sie, Ruth wäre in einer Kneipe?
36NADINE In einer Kneipe? Nein, ich … ich hab, glaub ich, gedacht, dass sie
vielleicht zu ihrer Mutter gefahren ist. Ja, genau, das war’s: ich hab
gedacht, jetzt hat sie doch den Kontakt wieder aufgenommen.
37SÜDEN Und dann haben Sie bei Ruths Mutter angerufen.
38NADINE Ich hab doch keine Nummer von der.
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39SÜDEN Sie hätten sich die Nummer über die Auskunft besorgen können.
40NADINE Hätt ich. Hab ich nicht.
41SÜDEN Sie haben sich vorerst also nicht weiter gesorgt.
Autohupen. Ein Motor heult wieder auf.
42NADINE (ruft)
Jetzt fahr endlich die Kiste weg, Paul! Du siehst doch, dass der Mann
mit seinem Wagen da nicht vorbeikommt. Beeilung! (zu Süden)
Sorry. Wie war Ihre letzte Frage?
43SÜDEN Sie haben sich zunächst keine ernsten Sorgen um Ihre Freundin
gemacht.
44NADINE Klar hab ich das. Sag ich doch die ganze Zeit. Ich hab mich total
gesorgt. Aber was hätt ich machen sollen? Ich hab gewartet. Am
nächsten Tag auch. Gestern auch. Und heut hab ich das
Branchenbuch genommen und bin auf Ihre Detektei gestoßen.
45SÜDEN Mit der Polizei haben Sie es nicht so.
46NADINE Kann man so sagen.
Schweigen
Was ist?
Schweigen
7
Die Polizei hat in den letzten zwei Jahren dreimal unsere Werkstatt
durchsucht, sie haben einen Tipp gekriegt, wir würden Autos frisieren
und für irgendwelche Albaner arbeiten. Alles Quatsch. Sie haben
nichts gefunden, aber einer von denen hat jedes Mal bei der Zeitung
angerufen und uns Reporter auf den Hals gehetzt. Elende Bagage.
Zur Polizei geh ich in diesem Leben nicht mehr freiwillig.
47SÜDEN Ich würde gern Ihre Wohnung sehen.
48NADINE Wieso?
49SÜDEN Sie haben Ruth Kargus vor zwei Wochen bei sich aufgenommen,
nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis
50NADINE Ja, klar. Und?
51SÜDEN Ich möchte mich umsehen. Sie hat doch noch Sachen bei Ihnen.
52NADINE Was für Sachen?
53SÜDEN Sachen.
Schweigen
Ihre persönlichen Dinge, die sie im Knast auch hatte.
54NADINE Da ist nichts. Sie hat alles mitgenommen.
55SÜDEN Und was?
56NADINE Was?
57SÜDEN Was hat sie besessen? Was hat sie mitgenommen?
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58PAUL EBERL Entschuldigung. Nadine, ich hab den Wagen jetzt hinter den
Staubsaugern geparkt, aber da können wir ihn nicht stehen lassen.
Der Zaun zur Schule wird immer noch repariert, die Arbeiter müssen
da durch.
59NADINE Hab ich vergessen. Dann stellen wir ihn über Nacht in die
Waschanlage, ok?
60PAUL Von mir aus. Hast du inzwischen was von Ruth gehört?
61NADINE Nein.
62SÜDEN Sie kennen Ruth Kargus.
63PAUL Ja, sie hat meinen Bruder umgebracht.
Ein Motor heult mehrmals auf. Straßengeräusche.
3. Zweite Szene – Alter Wirt – Donnerstagmittag
Stimmen in einem kleinen Biergarten. Vogelgezwitscher.
64PAUL Ich hab nur eine halbe Stunde Mittagspause, also los.
Er isst und trinkt.
65SÜDEN Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, Herr Eberl. Sie arbeiten
schon länger für Frau Falkner in der Werkstatt.
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66PAUL Fast fünf Jahre. Früher hab ich die Reinigung meiner Eltern geführt,
aber die lief dann nicht mehr. Zuviel Konkurrenz. Ich hab das
Geschäft zugemacht. Ist meine Eltern natürlich hart angegangen. Sie
selber waren zu krank für die Arbeit, aber den Laden hätten sie
schon gern erhalten gewusst. Wie’s halt so läuft manchmal. Nadine
hat jemanden zur Aushilfe gesucht, da bin ich eingesprungen und
geblieben. Mit Autos kenn ich mich aus.
67SÜDEN Sind Sie Frau Kargus in den vergangenen Tagen begegnet?
68PAUL Einmal. Drüben, in der Werkstatt. Wir sind dann auch hier rüber zum
Alten Wirt und haben was getrunken.
69SÜDEN Sie haben sich unterhalten.
70PAUL Ja.
Er isst und legt das Besteck auf den Teller. Trinkt, beendet die Mahlzeit.
Sie hat die ganzen zwölf Jahre abgesessen.
71SÜDEN Sie haben sie auch im Gefängnis besucht.
72PAUL Gelegentlich.
73SÜDEN Gemeinsam mit Nadine Falkner.
74PAUL Allein.
75SÜDEN Worüber haben Sie mit ihr geredet? Über die Tat?
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76PAUL Den Mord? Ja. Ab und zu. Mein Bruder war schwierig, schon als
Kind. Jähzornig, gewaltbereit. Meine Eltern haben ihn nie in den Griff
gekriegt. Mich hat er in Ruhe gelassen. Später haben wir uns eine
Zeitlang aus den Augen verloren. Er fing in einer Spedition an und
war viel unterwegs, Touren mit dem Lkw durch ganz Europa.
77SÜDEN Aber dann ließ er sich wieder in München nieder.
78PAUL Er hatte eine Wohnung in Sendling, fuhr aber immer noch für die
Spedition, nach Österreich, Südtirol, relativ kurze Strecken.
79SÜDEN Und lernte Ruth Kargus kennen.
80PAUL Kneipenbekanntschaft. Sie war Verkäuferin im Großmarkt. Nadine
war ihre beste Freundin.
81SÜDEN Woher kannten sich die beiden?
82PAUL Pilatus.
83SÜDEN Pilates.
84PAUL Von mir aus.
85SÜDEN Waren Sie in der Nähe, als Ruth Kargus Ihren Bruder erstochen hat?
86PAUL Wie meinen Sie „in der Nähe“?
Schweigen
Sie müssen sich schon deutlicher ausdrücken.
87SÜDEN Ich habe mich deutlich ausgedrückt.
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88PAUL In der Nähe … Ich war nicht in der Wohnung, wenn Sie das meinen.
89SÜDEN Ich habe den Polizeibericht noch nicht gelesen, Herr Eberl. Meine
Chefin kümmert sich gerade darum. Ich kenne also noch nicht alle
Details.
90PAUL Mein Bruder wurde in seiner Wohnung umgebracht. Ich war grad auf
dem Weg zu ihm.
91SÜDEN Sie waren in Ihrem Auto.
92PAUL Sagen wir so: ich war in einem Auto.
Schweigen
Wenn Sie den Polizeibericht lesen, erfahren Sie auch nicht mehr. Ich
hatte mir das Auto von Ruth geliehen.
Schweigen
Was wollen Sie noch wissen, Mann? Sie hat gesagt, ich soll mal
damit fahren, weil es eigenartige Geräusche macht. Da war aber
nichts.
So, und jetzt muss ich wieder rüber in die Werkstatt.
93SÜDEN Während Sie mit Ruths Auto unterwegs waren, hat sie Ihren Bruder
erstochen.
94PAUL Ja.
95SÜDEN Trotzdem haben Sie sie später im Gefängnis besucht.
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96PAUL Ja.
97SÜDEN Und jetzt waren Sie mit ihr im Biergarten.
98PAUL Ja.
99SÜDEN Wohin könnte Ruth gegangen sein?
100PAUL (ruft)
Johanna! Ich möcht zahlen. (zu Süden) Sie sollen das doch
rausfinden, oder nicht?
101SÜDEN Ich verstehe immer weniger, warum eigentlich.
102PAUL Bitte?
103SÜDEN Niemand scheint ein Interesse zu haben, Ruth zu finden.
104PAUL Nadine bezahlt Sie für Ihre Arbeit, oder nicht?
105SÜDEN Das tut sie.
106PAUL Na also. Hurtig ans Werk! Der Detektiv, der niemals schlief!
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4. Dritte Szene – Straßen – Donnerstagnachmittag
Straßengeräusche. Autoverkehr. Trambahnen. Radfahrer klingeln.
107 SÜDEN (Erzähler)
Am Roecklplatz hatten fünf Personen die aus dem
Gefängnis entlassene Ruth Kargus gesehen, und
zwar in Begleitung von Nadine Falkner. Im
Erdgeschoss des Hauses, in dem Nadine Falkner
wohnte, befand sich ein Café. Dessen Besitzerin
erinnerte sich genau an die Strafentlassene, weil
Nadine Falkner eine ihrer Stammkundinnen und mit
ihrer Freundin am vergangenen Samstag zum
Kaffeetrinken da gewesen war. Weitere Zeugen
sahen die beiden Frauen auf der Straße und in zwei
Gaststätten.
Nadine Falkner hatte mir ein Foto gegeben, auf dem
Ruth Kargus an einem ihrer Geburtstage im
Gefängnis zu sehen war – eine dunkelblonde,
hagere Frau mit einem runden, blassen Gesicht und
müden, abwesenden Augen, bekleidet mit einem
grauen Pullover. Sie saß an einem Tisch und blickte
in die Kamera, als wäre sie nicht gemeint. In
derselben Haltung habe sie auch in ihrem Café
gesessen, sagte die Besitzerin zu mir. Wie jemand,
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der die Orientierung verloren habe und vollkommen
allein sei, fügte sie hinzu.
Ich hatte die Absicht, solange durchs Viertel zu
laufen, bis Nadine Falkner nach Hause kam. Und
dann wollte ich mir endlich ein Bild von ihrer
Wohnung machen,
5. Vierte Szene – Roecklplatz – Donnerstagabend
108EDITH (am Telefon)
Aber sie hat ihre Freundin bei uns als vermisst gemeldet, Süden. Sie
bezahlt uns. Was soll sie mit Ruths Verschwinden zu tun haben?
109SÜDEN (ins Handy)
Das weiß ich nicht.
110EDITH Ich hab mit dem Leiter der JVA Aichach über Ruth Kargus
gesprochen. Sie war eine seiner unauffälligsten Gefangenen, sagt er.
Sie hat sich dem Gefängnisalltag von Anfang an angepasst und nie
gegen irgendetwas aufbegehrt. Sie war nicht unterwürfig, sie wollte
nur ihre Ruhe. Sie nehme ihre Strafe an und werde bis zum Ende
durchhalten, hat sie erklärt. Was hältst du davon?
111SÜDEN Wann darfst du einen Blick in die Ermittlungsakten werfen?
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112EDITH Vielleicht morgen. Vor einer Stunde rief mich einer deiner
ehemaligen Kollegen an, Kriminaloberrat Johann Gerke, er sagt, du
müsstest ihn eigentlich kennen.
113SÜDEN Ja. Er war damals noch Hauptkommissar und stellvertretender
Dezernatsleiter.
114EDITH Heute leitet er das Morddezernat. Er erinnert sich gut an den Fall
Kargus. Die Spuren am Tatort waren eindeutig. Fingerabdrücke und
DNA-Spuren von Ruth Kargus überall in der Wohnung. Ihr
Geständnis. Das Motiv: Hass auf einen Mann, der sie schlecht
behandelt und geschlagen hat. Dazu der Alkohol, den beide
getrunken hatten.
115SÜDEN Trotzdem hatte Gerke Zweifel.
116EDITH Richtig. Wie kommst du drauf?
117SÜDEN Gerke hatte immer Zweifel. Er misstraute jedem Tatort und sogar
jedem Geständnis. Er bekam oft Ärger mit den Kollegen, weil ihn
auch kriminaltechnische Auswertungen nicht überzeugten. Oder weil
ihm die Lücken bei der Rekonstruktion keine Ruhe ließen, für die
andere Kollegen simple Erklärungen fanden, die auch logisch
klangen. Aber Ruth Kargus wurde trotzdem verurteilt.
118EDITH Der Staatsanwalt war von ihrer Schuld absolut überzeugt. Was
Gerke beschäftigte, war die Tatsache, dass an der Kleidung des
Opfers auch Spuren einer anderen Person gefunden wurden, die
aber an dem Tag angeblich nicht in der Wohnung war.
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119SÜDEN Nadine Falkner.
120EDITH Sie kannte Simon Eberl, das hat sie auch zugegeben. Vermutlich
hatten die beiden ein Verhältnis, und er hat sie genauso mies
behandelt wie seine anderen Frauen. Aber in den Befragungen durch
die Kripo hat sie nie ein schlechtes Wort über ihn verloren. Gerke
hält sie bis heute für eine dubiose Figur in dem Mordfall. Er bedauert
immer noch, dass er diese Spur, die der Staatsanwalt für abseitig
hielt, nicht weiter verfolgen konnte. Wo bist du eigentlich jetzt?
121SÜDEN Am Roecklplatz, gegenüber von Nadine Falkners Wohnung.
122EDITH Ich versuche, die Mutter von Ruth Kargus zu erreichen. Sie wohnt in
Miesbach.
123SÜDEN Nadine Falkner kommt nachhause. Ich melde mich später.
6. Fünfte Szene – Wohnung Nadine – Donnerstagnacht
Klingeln an der Wohnungstür.
Nadine öffnet die Tür.
124NADINE Was machen Sie hier?
125SÜDEN Guten Abend, Frau Falkner. Darf ich reinkommen?
126NADINE Ich wollt grad ein Bad nehmen und dann …
127SÜDEN Wollen Sie immer noch, dass ich nach Ihrer Freundin suche?
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128NADINE Klar, aber …
129SÜDEN Wo waren Sie, als Simon Eberl ermordet wurde?
Schweigen
Süden geht in die Wohnung. Nadine schließt die Tür. Sie gehen ins Wohnzimmer.
Der Fernseher läuft: ein Boxkampf. Nadine stellt den Ton ab.
130NADINE Ich hoff, das stört Sie nicht, wenn der Fernseher weiter läuft. Ich steh
auf Boxen, vor allem von Frauen. Ein Bier?
131SÜDEN Nein, danke. Ruth hat hier auf der Couch geschlafen?
132NADINE Ja. Sie sehen ja: alles aufgeräumt, nichts mehr da von ihr.
133SÜDEN Sie haben mir immer noch nicht gesagt, welche Sachen Ruth aus
dem Gefängnis mitgebracht hat.
134NADINE Sachen … Sie mit Ihren Sachen! Sie hat … eine Tasche gehabt, so
eine Sporttasche, zwei, drei Pullover, Unterwäsche, zwei Jeans,
solche Sachen, mehr nicht.
Schweigen
Was schauen Sie so? Gefällt Ihnen was nicht?
Schweigen
135SÜDEN Wo waren Sie, als Simon Eberl starb?
136NADINE Wieso wollen Sie das wissen? Geht’s grad nicht um was ganz
Anderes?
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137SÜDEN Das glaube ich nicht.
138NADINE Tschuldigung?
139SÜDEN Sagen Sie mir, wo Sie zur Tatzeit waren.
140NADINE „Zur Tatzeit“. Waren Sie mal Polizist?
141SÜDEN Ja.
142NADINE Echt?
Schweigen
Ich war zuhause, das hab ich auch der Polizei damals gesagt.
Zuhaus, allein. Und wieso ist das jetzt wichtig?
143SÜDEN Sie waren nicht mit Paul Eberl zusammen.
144NADINE Mit Paul?
Schweigen
Nein. War ich nicht.
145SÜDEN Ihre Wohnung ist wirklich sehr ordentlich. Haben Sie eine Putzfrau?
146NADINE Geht Sie das was an?
147SÜDEN Nein.
148NADINE Genau.
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149SÜDEN Ich habe mit Leuten aus Ihrer Nachbarschaft gesprochen, die Sie
und Ruth vor deren Verschwinden zusammen gesehen haben.
150NADINE Ja? Und? Ist ja klar.
151SÜDEN Selbstverständlich. Deswegen haben Sie uns den Auftrag erteilt,
nach ihr zu suchen.
152NADINE Was?
153SÜDEN Ich suche nach Ihrer Freundin, damit Sie ein Alibi haben.
154NADINE Was? Was denn für ein Alibi?
7. Sechste Szene – Stadt – Donnerstagnacht
Geräusche der nächtlichen Stadt im Hintergrund.
155 SÜDEN (Erzähler)
Gute Frage: Was denn für ein Alibi? Zu diesem
Zeitpunkt war ich mir noch nicht sicher, worauf meine
Befragung letztlich hinauslaufen sollte. Mir fehlten
sämtliche Beweise. Nur eines schien eindeutig: Die
Wohnung von Nadine Falkner war vor kurzem
vollständig geputzt worden. Im Lauf meiner
langjährigen Arbeit bei der Kripo, zuerst im Mord-,
später im Vermisstendezernat, habe ich eines gelernt
und immer wieder bestätigt bekommen: Auch wenn
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der Volksmund behauptet, die Augen seien die
Spiegel der Seele, so kann ich aus meiner Erfahrung
sagen, dass in Wahrheit die Zimmer und Wohnungen
die Seele ihrer Bewohner spiegeln, als
unbestechliche, meist unscheinbare Zeugen
verborgener Taten und Gedanken.
Je länger ich mich in der beschaulichen Dreizimmer-
Wohnung im Schlachthofviertel aufhielt, desto
unruhiger und angespannter wurde Nadine Falkner.
8. Siebte Szene – Wohnung Nadine – Donnerstagnacht
156SÜDEN Sie sollten jetzt Paul Eberl anrufen.
157NADINE Was? Wieso denn?
158SÜDEN Er kann uns helfen, Ihre Freundin zu finden.
159NADINE Wie denn?
Klingeln an der Tür.
Nadine geht in den Flur.
160NADINE Ich erwart niemanden.
Sie öffnet die Wohnungstür. Süden hört vom Wohnzimmer aus zu.
161NADINE Was willst du hier?
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162PAUL Wir müssen was besprechen.
163NADINE Was denn?
164PAUL Sag ich dir drin.
165NADINE Das geht jetzt nicht.
166PAUL Lass mich durch, blöde Kuh!
Er schiebt sie heftig beiseite und geht ins Wohnzimmer.
167PAUL Der Detektiv, der niemals schlief, ist auch da! Sehr praktisch. Also …
(er wendet sich an Nadine) Wo ist sie? Was hast du mit Ruth
gemacht? Spuck’s aus, Nadine.
168NADINE Ich hab gar nichts gemacht, sie ist einfach verschwunden.
169SÜDEN Sie ist nicht einfach verschwunden. Sie haben Ruths Spuren
beseitigt, Frau Falkner, und vielleicht haben Sie ihr dabei geholfen,
Herr Eberl.
170PAUL Spinnst du? Pass bloß auf …
171NADINE Du bist betrunken, Paul.
172PAUL (laut)
Ich bin nicht betrunken, ich bin total nüchtern, du Goaß. Glaubst du,
du kommst nochmal davon? Ja? Glaubst du, oder? Du mit deinem
zermantschten Hirn. Sie hat früher mal geboxt, haben Sie das
gewusst, Herr Süden?
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173SÜDEN Ruth Kargus hat Ihren Bruder nicht erstochen. Sondern Nadine.
174PAUL (laut) Logisch!
Stille
(laut) Sie war’s!
Stille
175SÜDEN Und Sie wussten das, Herr Eberl.
176PAUL Logisch.
177SÜDEN Sie waren ebenfalls in der Wohnung des Opfers, Frau Falkner, Sie
waren nicht allein zuhause. Aber warum hat Ruth die Tat auf sich
genommen?
Stille
178PAUL Er hat euch gegeneinander ausgespielt, sag’s halt endlich!
Geschlagen hat er euch, alle beide! Und misshandelt.
179NADINE Missbraucht hat er uns. Eine Sau war der. Hast du selber gesagt,
Paul.
Schweigen
180SÜDEN Weiter, Frau Falkner.
181NADINE Ich war im Bad, hab geblutet wie ein Schwein, weil er mir so brutal
eine reingehauen hat, dass mir das Blut nur so aus der Nase
rausgeschossen ist. Ruth hat versucht, mit ihm zu reden. Reden! Mit
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dem! Ich habs nicht mehr ausgehalten. Bin in die Küche, hab das
Messer geholt, ins Wohnzimmer, und bevor er noch einmal blöd
glotzen konnt‘, hab ich ihm das Messer in die Brust gerammt. Volles
Rohr. Zwei Mal. Ich wollt das Messer wieder rausziehen, aber Ruth
hat gesagt, ich soll das lassen, und hat ihre Hände um den Griff
gelegt, als hätt sie selber zugestochen. Und dann hat sie gesagt, ich
soll abhauen. Ihr Leben sei eh Mist und verpfuscht, ihr Job im
Großmarkt, dreizehn Stunden am Tag, alles Mist. Gefängnis kann
nicht schlimmer sein, hat sie gesagt. Ich wollt gar nicht, dass sie das
für mich macht. Sie hat gesagt, ich soll die Klappe halten und endlich
verschwinden. Da bin ich weg.
182SÜDEN Sie haben Paul angerufen, und er hat Sie abgeholt.
183NADINE Ja.
184PAUL Wo ist Ruth?
185SÜDEN Warum haben Sie zugelassen, dass Ruth den Mord auf sich nimmt,
Herr Eberl?
186PAUL Mein Bruder war tot, nicht mehr zu retten. Und Ruth wollt das alles
so.
187SÜDEN Und Sie wollten Nadine.
188PAUL Damals schon, ja. Wo ist die Ruth, Nadine? Spucks endlich aus.
189SÜDEN Sie hatten Streit. Aus irgendwelchen Gründen wollte Ruth nicht mehr
schweigen, sondern endlich die Wahrheit sagen.
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190NADINE (steigert sich immer mehr hinein)
Sie wollt eine Viertel Million. Mehr nicht!, hat sie noch gesagt. Mehr
nicht! Und wissen Sie, was sie damit wollt? Sie wollt ihrer Mutter ein
Haus kaufen, als Entschädigung für das, was sie ihr angetan hat.
Das ist doch ein einziger blöder Witz! Redet die sich auf einmal was
von Familie ein! Mit dieser Mutter, die nicht mal beim Prozess dabei
war! Und wenn sie das Geld nicht kriegt, hat sie gesagt, geht sie zur
Polizei. Genau. Nach zwölf Jahren im Knast. Genau.
191SÜDEN Haben Sie sie erstochen, wie Simon Eberl?
192NADINE Ich hab sie erwürgt.
Schweigen
193SÜDEN Wo ist die Leiche?
Schweigen
194PAUL Ich hab immer gewusst, dass du komplett irre bist.
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9. Achte Szene – Torbräu – Freitagnacht
Stimmen. Geschirrklappern. Eine Kneipe mit leiser Musik.
195EDITH Und du bist sicher, dass Paul Eberl an der Tat nicht beteiligt war?
196SÜDEN Ich habe mit meinem Exkollegen Gerke telefoniert, er geht nach der
Obduktion und der Untersuchung von Nadines Auto, in dem sie die
Leiche transportiert hat, nicht von einem Mittäter aus.
197EDITH Sie hat sie also ganz allein weggeschafft.
198SÜDEN Sie ist kräftig, sie war mal Boxerin.
199EDITH Und warum ausgerechnet in den Forstenrieder Park?
200SÜDEN Das ist eine verlassene Gegend in der Nacht. Und es gibt dort
Wildschweine, die fressen Kadaver.
201EDITH Davon will ich nichts wissen. (Pause) Nadine wird lebenslänglich
bekommen, als Doppelmörderin.
202SÜDEN Die Staatsanwaltschaft will versuchen, auch Anklage gegen Paul
Eberl zu erheben, entweder wegen Mittäterschaft im Fall seines
ermordeten Bruders oder zumindest wegen unterlassener
Hilfeleistung und Vertuschung einer Straftat.
203EDITH Hoffentlich klappt’s. Zum Wohl, Süden.
204SÜDEN Möge es nützen!
Sie stoßen mit den Gläsern an und trinken. ENDE