surrealismus im film des fruehen 20. jahrhunderts

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Surrealismus im Film Eine Kunstbewegung und ihr Einfluss auf das Medium Film im frühen 20. Jahrhundert am Beispiel des Filmes „Un Chien andalou“ Semesterarbeit Felix Müller Storytelling & Textkonzeption MKB 4 Prof. Dr. Oliver Ruf Sommersemester 2013 Hochschule Furtwangen – Informatik, Technik, Wirtschaft, Medien Furtwangen University of Applied Sciences – Computer, Science, Engineering, Business, Media Fakultät Digitale Medien, Studiengang MK

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Page 1: Surrealismus im Film des fruehen 20. Jahrhunderts

Surrealismus im Film

Eine Kunstbewegung und ihr Einfluss auf das Medium Film

im frühen 20. Jahrhundert

am Beispiel des Filmes „Un Chien andalou“

Semesterarbeit

Felix Müller

Storytelling & Textkonzeption MKB 4

Prof. Dr. Oliver Ruf

Sommersemester 2013

Hochschule Furtwangen – Informatik, Technik, Wirtschaft, Medien

Furtwangen University of Applied Sciences – Computer, Science, Engineering, Business, Media

Fakultät Digitale Medien, Studiengang MK

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"[...] ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen und ethischen Überlegung."1

1 André Breton, 1. Manifest des Surrealismus.

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Eidesstattliche Erklärung

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Semesterarbeit selbständig und ohne unzulässige fremde Hilfe angefertigt habe.

Die verwendeten Literaturquellen sind im Literaturverzeichnis vollständig zitiert.

Furtwangen, 09. Juli 2013

Page 4: Surrealismus im Film des fruehen 20. Jahrhunderts

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung  

Inhaltsverzeichnis  1   Einleitung ........................................................................... 1  2   Die Kunstbewegung Surrealismus .............................................. 2  2.1   Ursprünge und surrealistisches Denken ......................................... 2  2.2   Ecriture Automatique & Cadavre Exquis ........................................ 4  2.3   Fotografie und Film im Surrealismus ............................................ 4  2.4   Dalí und Buñuel ..................................................................... 6  3   Un Chien andalou .................................................................. 8  3.1   Entstehung ........................................................................... 8  3.2   Schockästhetik - Die erste Szene ................................................ 8  3.3   Aufgebrochene Struktur ........................................................... 9  3.4 Metamorphosen .................................................................... 10  4   Reflexion ........................................................................... 13  5   Literaturverzeichnis ............................................................. 16  

 

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1 Einleitung Johannes Binotto geht in seinem Essay Für ein unreines Kino – Surrealismus und Film davon aus, dass Surrealismus und Kino nicht zu trennen und dass der Begriff des surrealistischen Kinos eine Tautologie sei. Bei einer Vermischung von Realität und Traum, die es beim Medium Film zwangsweise immer gebe, handele es sich grundsätzlich um Surrealismus, der seine Effektivität weniger in surrealistischen Avantgardefilmen, als in amerikanischen Genrefilmen ausspielen könne. 2 Immer wieder hört man von surrealistischen Aspekten in Filmen, wie z.B. in Kubricks Eyes Wide Shut oder in Lynchs Lost Highway. Doch nur wenige Filme werden als explizit surrealistische Filme bezeichnet.

Zu einem der surrealistischen Meilensteine der Filmgeschichte zählt Buñuels und Dalís Un Chien andalou. Doch was waren denn nun die konkreten Ansätze des Surrealismus, insbesondere des surrealistischen Films, welche Intentionen stecken dahinter und welche stilistischen Elemente prägten ihn? Um diese Fragen zu klären, geht diese Semesterarbeit einen Schritt zurück und beschäftigt sich mit den Grundlagen und den Ursprüngen des Surrealismus als Kunstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkung auf die Arbeitsweisen im Bereich Fotografie und Film.

Im ersten Teil beschäftigt sich die Semesterarbeit mit der Einordnung des Surrealismus in die Kunstgeschichte und mit ihren Forderungen an die Kunst. Zudem soll der Einfluss auf die Arbeitsweisen mit dem Medium Film herausgearbeitet werden. Dazu wird auch der Bereich der surrealistischen Fotografie beleuchtet. Es werden zudem zwei Arbeitsweisen vorgestellt, die mit der Entstehung des Surrealismus einhergingen und anhand derer sich die Absichten der Surrealisten verdeutlichen lassen.

Als Grundlage für die Betrachtung des Werkes Un Chien andalou im zweiten Teil der Arbeit sollen die Künstler Buñuel und Dalí in die Kunstbewegung des Surrealismus eingeordnet werden.

Soweit es Un Chien andalou zulässt, soll dieser Film hinsichtlich surrealer Aspekte analysiert werden und geklärt werden, inwieweit der Film zum Surrealismus in seinem Kernwesen beiträgt.

Der praktische Teil dieser Semesterarbeit beschäftigt sich mit der Produktion eines Kurzfilms. Hier wird es darum gehen, mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln, den surrealistischen Kreationsprozess des automatischen Gestaltens einzusetzen, um diesen Kurzfilm zu produzieren. Es werden dann diesbezüglich die Arbeitsschritte erläutert und geprüft, inwieweit die surrealistischen Stilmittel umgesetzt werden konnten bzw. ob man das Ergebnis mit surrealistischen Arbeiten des frühen 20. Jahrhunderts vergleichen kann.

2 Binotto, Johannes: Für ein unreines Kino – Film und Surrealismus. http://www.binotto.ch/johannes/Essay/Eintr%C3%A4ge/2010/4/30_Ein_Tag_beim_Longboarden.html .Zugegriffen am 22.5.2013.

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2 Die Kunstbewegung Surrealismus Im Folgenden soll der Surrealismus als historische Kunstbewegung erläutert werden. Dabei kann im Rahmen dieser Arbeit sicherlich nicht die gesamte Kunstbewegung in all ihrem Ausmaß erfasst und zusammengefasst werden. Vielmehr geht es, auch im Hinblick auf die surrealistische Ästhetik im Film, um die Grundzüge des surrealistischen Denkens und deren Einflüsse auf die Arbeitsweisen der Medien Fotografie und Film im frühen 20. Jahrhundert. Zudem sollen diese stilistischen Mittel, die dem Film zur Verfügung standen und im Sinne des Surrealismus eingesetzt wurden beleuchtet werden.

2.1 Ursprünge und surrealistisches Denken Um André Breton bildete sich im Oktober des Jahres 1924 eine kleine Gruppe junger Künstler und Dichter, die in Paris nahe dem Boulevard St.-Germain ein Büro für surrealistische Forschung eröffneten, um den surrealistischen Gedanken systematisch zu verbreiten. Breton verfasste zuvor das erste Manifest des Surrealismus, das am 15. Oktober 1924 erschien.3 Darin kritisiert er die materialistische Haltung genauso wie den Realismus, beispielsweise in Romanen.4 Er stellt fest, dass wir in einer Herrschaft der Logik leben.5 Für Breton ist es allein das Wort Freiheit, das ihn noch zu begeistern vermag.6 Er wendet sich ab von den logischen Methoden, die nur der Lösung zweitrangiger Probleme dienen, und ebenso wendet er sich ab vom Rationalismus. Unter dem Vorwand der Zivilisation und des Fortschritts sei es gelungen, „alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt“.7 Des Weiteren bezieht sich Breton auf die Imagination und den Traum, den es einzufangen gilt. Er wundert sich, warum dem Traum und den Ereignissen des Wachseins so unterschiedliche Wichtigkeit und Bedeutung beigemessen wird. Seine Überlegungen bringen ihn zur Überzeugung, dass es künftig zu einer Auflösung von „Traum und Wirklichkeit in einer Art absolute[n] Realität“ kommen muss. Er bezeichnet diesen Zustand oder diese absolute Realität als Surrealität. Breton definiert in seinem Manifest den Surrealismus wie folgt.

„SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“8

3 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.12. 4 Vgl. Breton, André (2009): Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek: Rowohlt Verlag, 12. Auflage, S.12 f. 5 Ebd., S.15. 6 Ebd., S.12. 7 Ebd., S.15. 8 Ebd., S. 26.

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Die Überlegungen Bretons führen auch zu Sigmund Freud – auf den er sich mehrmals beruft - der mit seiner Psychoanalyse und Traumdeutung unbewusste Geisteszustände und Träume analysierbar machte und damit das Bild vom Menschen wesentlich erweiterte. Doch der große Unterschied zu Freud ist, dass es Breton um den unbewussten Geisteszustand an sich ging und nicht um dessen Analyse.9

Man muss bedenken, dass es den Surrealisten nicht nur um den Traum, oder das Unbewusste, Unterbewusste und damit einem Entzug der Realität ging, sondern vielmehr um eine Erweiterung der Realität. Diese Erweiterung durch das Traumhafte, das subjektive Wahrnehmen und den Wahnsinn sollte die Grenzen zwischen Realität und Imagination aufheben und zur absoluten Realität verschmelzen.10

Diese Abkehr vom Rationalismus ging sicherlich auch aus den Gräueltaten des Ersten Weltkrieges hervor, die die menschliche Vernunft nicht verhindern konnte oder vielleicht sogar mit geschaffen hatte.11 Bereits 1916 formierte sich aus diesem Grund mit der Dada-Bewegung ein radikaler Gegenpol zur damaligen Gesellschaft und Kultur12. Aus dem Dadaismus 1921/1922 allmählich herausgelöst, stellte der Surrealismus, allen voran Breton, diese menschliche Vernunft ebenfalls radikal in Frage. Für Breton steht die Vernunft im Gegensatz zum Unterbewussten und schränkt dieses sogar ein. So betont er auch im Zweiten Surrealistischen Manifest von 1930, dass es dem Surrealismus darum geht, „unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen auf einem Wege, der nichts anderes ist als der schwindelnde Abstieg in uns selbst, die systematische Erhellung verborgener Orte und die progressive Verfinsterung anderer, ein ständiges Wandeln auf streng verbotenem Terrain; [...].“13

Zu den frühen Mitgliedern der surrealistischen Gruppe um André Breton, die auch an der ersten Ausgabe der Zeitschrift La Révolution Surréaliste zur Verbreitung des surrealistischen Gedankens mitgearbeitet hatten, gehörten die Literaten Pierre Naville, Benjamin Péret, der Fotograf Jacques-André Boiffard, die Dichter Paul Eluard, Roger Vitrac, sowie Louis Aragon, Robert Desnos, Philippe Soupault und die bildenden Künstler Max Ernst und André Masson.14 Wie man bereits an der Anzahl der Literaten und Dichter erkennen kann, war die surrealistische Bewegung zu Beginn hauptsächlich literarisch bestimmt. Doch der Surrealismus ergriff nach und nach auch von der Malerei, der Objektkunst, sowie der Fotografie und dem Film Besitz. Dies war auch im Sinne Bretons, der jegliche Spezialisierung vermeiden wollte, ja sogar die Frage stellte, zu welchem Kapitel der Surrealismus nichts zu sagen hätte.15

9 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.45. 10 Vgl. ebd., S.52 f. 11 Vgl. Klotter, Christoph Beckenbach, Niels (2012): Romantik und Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.171. 12 Vgl. Nagel, Joachim (2007): Wie erkenne ich? Die Kunst des Surrealismus. Stuttgart: Balser Verlag, S. 6. 13 Breton, André (2009): Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek: Rowohlt Verlag, 12. Auflage, S.65. 14 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.12. 15 Vgl. ebd., S.12 f.

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2.2 Ecriture Automatique & Cadavre Exquis Bereits im Jahr 1922 setzten sich Breton und weitere sich später zum Surrealismus bekennende Literaten und Künstler in einem dunklen Raum zusammen. Schweigend und sich willentlich in Trance versetzend saßen sie um einen Tisch, um dann geistesabwesend zu reden, zu schreiben, zu zeichnen. Ziel war es, das Unbewusste, dem Verstand Verborgene heraufzuholen und es, frei vom Zwang des Bewusstseins aufzuzeichnen. Texte, die auf diese Art und Weise entstanden, hatten die Eigenschaft, dass der Satzbau zwar an sich erhalten blieb, jedoch der kausale Zusammenhang zwischen Worten oder Satzabschnitten aufgegeben wurde. Sowohl bei den Texten, als auch bei Zeichnungen oder Malereien wurden ästhetische Aspekte nicht berücksichtigt. Auch auf handwerkliches Können oder Talent wurde keinen Wert gelegt. Vielmehr ging es um das Gefühl der völligen Ungebundenheit, das genauso von der Kindheit ausgehe, so schreibt Breton in seinem Manifest.16 Ähnlich verhielt es sich mit dem cadavre exquis. Es handelt sich hierbei ebenfalls um ein gemeinschaftliches Arbeiten an einem Satz oder einer Zeichnung. Ein Blatt Papier wird in mehrere Teile gleichmäßig gefaltet und ein Teilnehmer beginnt eine Zeichnung anzufertigen (z.B. eine Figur oder Gestalt). Lediglich die letzten Linien der Zeichnung, die über die Papierfalte gezeichnet sein sollten, sind für den nächsten Teilnehmer sichtbar und dienen als Orientierung für seine weiterführende Zeichnung. So entstanden Faltmontagen, die in ihrer Entstehung eine eigentlich kunstlose Methode nutzt. Und dennoch bestachen die Zeichnungen aber auch Sätze, die so entstehen konnten, durch ihre Unvorhersehbarkeit, Überraschungen und Metamorphosen, was zu den grundlegenden Prinzipien der surrealistischen Bilder zählt.17

2.3 Fotografie und Film im Surrealismus Die Medien Fotografie und Film haben beide die Eigenschaft, die Realität detailgetreu abzubilden. Die Surrealisten nahmen sich beider Medien an und nutzten diese Eigenschaft in ihrem Sinne. Man könnte sich fragen, wie es denn möglich ist, Surreales abzubilden mittels eines Mediums, das die Realität wiedergeben kann. Die surrealistische Fotografie ab 1925 beantwortet diese Frage wie im Folgenden erläutert. Es geht dieser Fotografie hauptsächlich darum, das Surreale in der Realität einzufangen, indem im Alltag vom Bewusstsein oder womöglich durch die Vernunft Verdrängtes wieder an die Oberfläche befördert wird. Der Realität sollte damit zugleich auch neu erfunden werden. Der Fotograf Brassaï beschäftigte sich beispielsweise in mehreren Fotoserien mit dem nächtlichen Paris und entfaltete in seinen Arbeiten ein unheimliches, gespenstisches Moment, das den „Betrachter zum Traumwandler“18 erhebt. Man Ray experimentierte in seinen Fotografien mit der „teils zufälligen, teils planvollen Verfremdung der Realität im Bild“19. So entstand mit der Solarisation, dem zusätzlichen der Sonne Aussetzen des Fotopapiers, eine Akt- und Halbaktfotoserie, bei der die Konturen des Models verwischen und eine Art Aura um den Körper entsteht. Das Model ist dabei, im

16 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.23 ff. 17 Vgl. ebd., S.29 ff. 18 Vgl. Nagel, Joachim (2007): Wie erkenne ich? Die Kunst des Surrealismus. Stuttgart: Balser Verlag, S. 114. 19 Vgl. ebd., S.117

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Traum versunken, in sich geschmiegt20. Aber es sind auch die doppeldeutigen Sichtweisen auf ganz alltägliche Gegenstände, die erst durch ihr Hervorheben in der Fotografie diese Sichtweise auf sie ermöglichen. Auch das Isolieren von einzelnen Gegenständen, die, losgelöst aus ihrem gewöhnlichen Kontext, etwas Unbewusstes, Unterbewusstes, ja etwas Geheimnisvolles hervorbringen, wurde in der surrealistischen Fotografie praktiziert. Der Aufgerollte Fahrschein aus der Serie Sculptures involontaires von Brassaï ist ein gutes Beispiel für die durch seine Aufnahmeart hervorgerufene Verwandlung eines simplen Gegenstandes in eine Skulptur – geheimnisvoll und von Schönheit, die vermutlich erst in dieser Fotografie sichtbar wird21. Diese gezielte Inszenierung von Objekten und aber auch Menschen war die zweite Arbeitsweise, die in der surrealistischen Fotografie hervorging. Diese Motive der inszenierten Fotografie hatten dann nahezu dokumentarischen Charakter. Vor allem war es Man Ray, der diese Art der surrealistischen Fotografie meisterhaft beherrschte. Er verstand es, die Inszenierungen von Personen und Gegenständen so zu gestalten, dass ein rätselhaftes Bild entstand. Auch hierbei stand die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Dargestellten im Vordergrund der Fotografie.

Man muss dazu sagen, dass es niemals die eine surrealistische Fotografie gegeben hat, sondern dass es sich stets um eine Stilvielfalt handelte, die angewendet wurde.22

Das bewegte Bild, der Film, der ebenfalls die Wirklichkeit abbilden konnte, kann in seinen Absichten in vielerlei Hinsicht mit denen der Fotografie verglichen werden. Ein großer Unterschied zur Fotografie ist jedoch der Zeitaspekt mit dem die Surrealisten spielen konnten und mit dem einige Eigenschaften des surrealistischen Films des frühen 20. Jahrhunderts einhergingen. Ein chronologischer, Handlungsablauf, wie ihn die Realität darbot, spielte genauso wenig eine Rolle wie dessen Logik. Die konkrete Aufhebung der Zeit, Zeitsprünge, Raumwechsel oder Metamorphosen waren ebenso Bestandteile des surrealistischen Filmes wie der Hang zur Sinnlichkeit und Sexualität und zum Grauenhaften, Schrecklichen23. Das Dargestellte wies einerseits Elemente der Wirklichkeit auf, andererseits aber eine Verrückung der Realität. Und genau das sollte das Unbewusste der Psyche und der Umwelt bewusstmachen und vor allem sichtbarmachen, ja wiederum dem Betrachter eine Überprüfbarkeit bieten.

Der Versuch, Traumhaftes darzustellen, wurde bereits um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in theatralischen Spielformen von Theaterleuten, Choreographen und Autoren versucht umzusetzen. Auch hierbei ging es lediglich um die Darstellung und nicht die Deutung des Traumes oder des Traumhaften.

20 Vgl. Nagel, Joachim (2007): Wie erkenne ich? Die Kunst des Surrealismus. Stuttgart: Balser Verlag, S.117. 21 Vgl. ebd., S. 118. 22 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S. 176ff. 23 Vgl. ebd., S. 194.

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Das Augenmerk lag ebenfalls auf Absurditäten, Groteskem und auf Irrationalität. Auch hier kam es zu Metamorphosen sowie Rollenspielen und Maskeraden.24

Es gibt nur wenige Filme die in der Bewegung des Surrealismus im frühen 20. Jahrhundert entstanden. Ein Meilenstein, der auch heute noch als explizit surrealistischer Film gekennzeichnet wird, ist Buñuels und Dalís Un Chien andalou – ein andalusischer Hund.25 Doch immer wieder werden in Filmen, die nicht während der surrealistischen Bewegung entstanden, solche stilistischen Elemente verwendet und als „surrealistisch“ bezeichnet. Michael Lommel fasst in der Einleitung des Buches „Surrealismus und Film“ die Ästhetik des Surrealen in vier Punkten zusammen. Der erste Punkt stellt fest, dass das Bild und die Szene wichtiger sind, als die Erzählung. Weiter heißt es, dass Verfremdung und Deplatzierung eine wichtige Rolle spielen können und damit eine A-Logik, Absurdität, Paradoxie und ein Gegen-Sinn Einzug hält. Als drittes Kennzeichen surrealer Filmästhetik gilt die Verwandlung von Raum und Zeit – auch in Form von bereits genannten Metamorphosen. Das letzte Merkmal resultiert, so Lommel, aus den zuvor genannten Merkmalen: Realität und Traum, Realität und Halluzination, sowie Wahrnehmung und Erinnerung verschwimmen miteinander.26

Auch wenn Filme außerhalb der surrealistischen Bewegung auch diese Elemente aufgreifen, sind es z.B. für Marcus Stiglegger lediglich „Bezüge zum Surrealismus und dessen Bestrebungen“27, jedoch könne man nicht von einem surrealistischen Film sprechen.

Diese Charakteristika werden für den praktischen Teil dieser Semesterarbeit wichtig sein und führen jetzt schon zur Erkenntnis, dass es sich dabei um einen Versuch handeln wird, die Kernelemente surrealistischen Filmens aufzugreifen und umzusetzen, nicht aber um einen durch und durch surrealistischen Film.

2.4 Dalí und Buñuel Der junge, katalanische Künstler Salvador Dalí war, nachdem er von der neuen Bewegung des Surrealismus hörte, rasch auf deren Seite. 1928 wurde er von Miró in den Kreis der Pariser Surrealisten eingeführt. Der Surrealismus bescherte Dalí die bedeutendste Phase seiner Malerei, in der er Beispiele für „das neue Denken, die neue Moral, das Empfinden von Obsessionen, die ausgiebige Beschäftigung mit Sexualität und Traum und die Freude an der Provokation“28 lieferte. Den Überlegungen und Überzeugungen seines Vorbildes Breton schloss er sich ausnahmslos an und lehnte ausdrücklich die

24 Vgl. Lommel, Michael (Hrsg.) (2008): Vorwort. In: Lommel, Michael (Hrsg.) Maurer Queipo, Isabel (Hrsg.) Roloff, Volker (Hrsg.): Surrealismus im Film – Von Fellini bis Lynch. Bielefeld: Transcript Verlag, S.8. 25 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.194. 26 Vgl. Lommel, Michael (Hrsg.) (2008): Vorwort. In: Lommel, Michael (Hrsg.) Maurer Queipo, Isabel (Hrsg.) Roloff, Volker (Hrsg.): Surrealismus im Film – Von Fellini bis Lynch. Bielefeld: Transcript Verlag, S.11 f. 27 Stiglegger, Marcus (2011): Surrealismus. In: Koebner, Thomas (Hrsg.): Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam Verlag, S. 707. 28 Wiedemann, Christiane (2007): Salvador Dalí. München: Prestel Verlag, S. 11.

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Amoralität vernünftiger Ideen ab.29 Doch seine Arbeit beschränkte sich nicht nur auf die Malerei. Die Idee des Surrealismus setzte er auch in den Bereichen der Buchillustration, Werbung, Theater- und Kostümaustattung und Film fort. Luis Buñuel lehnte sich zu dieser in seinem Heimatland gegen die „erstarrte bürgerliche Kultur des postimerialen Spaniens“30 mit Kreativität und Zorn auf. Nachdem Buñuel 1925 nach Paris kam, erlernte er das Filmhandwerk bei Jean Epstein und stieß auf die surrealistische Bewegung, wenngleich er ihr noch nicht angehörte. Nach 1928 kam es dann zur Zusammenarbeit mit Dalí, den er noch aus Studienzeiten kannte. Gemeinsam realisierten sie den Film Un Chien andalou. Diese Zusammenarbeit sicherte sowohl Dalì als auch Buñuel einen Platz in den Reihen des Pariser Surrealisten.

29 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.122. 30 Löser, Claus (2002): Luis Buñuel. In: Kath. Institut für Medieninformation (Hrsg.): Lexikon des internationalen Films. Frankfurt am Main: Verlag Zweitausendeins, S. B 31.

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3 Un Chien andalou In diesem Abschnitt soll nun der surrealistische Film Un Chien andalou zu einer Analyse herangezogen werden. Dabei soll das Augenmerk auf den genannten surrealistischen Stilmitteln im Zusammenhang mit den Absichten des Surrealismus liegen und somit herausgearbeitet werden, warum dieser Film damals wie heute zu einem mustergültigen Meisterwerk des surrealistischen Films zählt. Die Zeitangaben beziehen sich auf die Quelle https://vimeo.com/18540575 .

3.1 Entstehung Eine Wolke, die den Mond zerschneidet sowie eine Rasierklinge, die gleiches mit einem Augapfel tut. Eine Hand, aus der Ameisen krabbeln. Zurückführend auf Aufzeichnung Dalís dienten zwei Träume als Grundlage und Ausgangspunkt für ihren Film. Der Entstehungsprozess des Konzeptes ähnelte einer Mischung aus dem Prozess der Ecriture Automatique und dem des Cadavre Exquis. In einer engen Zusammenarbeit schrieben Dalì und Buñuel das Skript innerhalb von sechs Tagen und gingen dabei nach einem einfachen Prinzip vor: kein Bild sollte logisch erklärbar sein und schon gar nicht sollten die Bilder in kultureller, rationaler oder psychologischer Hinsicht deutbar und erklärbar sein.31

Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass die filmische Umsetzung zu dieser Zeit eine präzise technische Vorbereitung verlangte. Anders als z.B. in der surrealistischen Malerei war es kaum möglich, während dem direkten Entstehungsprozesses - dem Drehen des Films - nach dem Prinzip des automatischen Gestaltens zu handeln. Vor allem Buñuels Vorkenntnisse der Filmproduktion leisteten ihren Beitrag sowohl während der Entstehung des Skriptes, als auch bei der Umsetzung. Es zeigt sich aber bei diesem Vorgehen, dass das eigentliche surrealistische Moment im Entstehungsprozess in den spontanen Bildern lag, die Buñuel und Dalí entstehen ließen.

Im Folgenden soll verdeutlicht werden wie diese Bilder durch gekonntes filmisches Know-How nochmals in ihrer Art und Weise verstärkt werden.

3.2 Schockästhetik - Die erste Szene Mit den Worten „Il était une fois...“ („Es war einmal...“) beginnt der Kurzfilm (01:01). Anschließend ist ein Mann zu sehen, der sorgfältig, Zigarette rauchend, eine Rasierklinge schärft. Er tritt auf den Balkon und blickt in den Nachthimmel. Eine schmale Wolke nähert sich dort dem Vollmond. Im nächsten Bild ist eine Frau zu sehen. Eine Männerhand weitet die Augenlider mit zwei Fingern und führt waagerecht die Rasierklinge in Richtung Auge. Es folgt ein Schnitt. Die schmale Wolke am Nachthimmel schiebt sich über den Vollmond. Nach einem weiteren Schnitt wird das Auge der Frau in Großaufnahme gezeigt, das nun von der Rasierklinge durchgeschnitten wird. Es tritt Flüssigkeit aus dem Auge heraus. 31 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.200.

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Die Anfangssequenz, eingeleitet durch die Texteinblendung, die an einen Beginn eines Märchens erinnert, ist ,vor allem mit dem Aufschneiden des Auges, eine Schlüsselsequenz in der die Schockästhetik des surrealen Filmes zur vollen Geltung kommt. Mit der Einstellung, die das Gesicht der Frau und die vom Mann geführte Rasierklinge zeigt, wird dem Zuschauen klar, hier passiert gleich etwas Schreckliches, Unangenehmes. Das Auge wird wohl mittels des Messers aufgeschnitten. Der Filmschnitt bewahrt den Betrachter im ersten Moment jedoch vor diesem Anblick, indem er stattdessen den von der schmalen Wolke zerschnittenen Mond zeigt. Gewissermaßen erleichtert dieser Schnitt den Zuschauer einerseits. Andererseits lädt er den Schockmoment der nächsten Einstellung zusätzlich auf, der dann das tatsächliche Aufschneiden des Auges und das Herauslaufen des Inneren zeigt. Und so wie Buñuel bereits zu Beginn also das Auge zerschneidet, zerstören die folgenden Szenen jegliche Sehgewohnheiten. Dem Sehen des Äußeren, der Wirklichkeit, der Realität wird sozusagen ein Schnitt durch die Rechnung gemacht, es wird sogar komplett ausgeschaltet und zugleich richtet sich der Blick ins Innere.32 Und so wird mit diesem Höhepunkt nicht nur das Auge im Film gewalttätig überwältigt, sondern auch das Auge des Zuschauers.

Das Auge ist ein Motiv, das mit Un Chien andalou nicht zum ersten Mal im Surrealismus anzutreffen ist. Auch in Georges Ribemont-Dessaignes’ Theaterstück L’Empereur de Chine wird ein herausgeschältes Glasauge inszeniert, Max Ernst zeigt in einer Illustration ein Auge, durch das ein Faden gezogen ist und der Faden wiederum von Händen geführt wird. In Object to be destroyed von Man Ray ist ein aus einer Fotografie ausgeschnittenes Auge einer Frau am Pendel eines Metronoms befestigt. So lässt sich dieses im Surrealismus immer wiederkehrende Motiv des Auges auch als eine Metonymie lesen, die die neue, andere Sicht auf die Welt verdeutlichen soll.33

3.3 Aufgebrochene Struktur Man kann sagen, dass Un Chien andalou eigentlich zwei Anfänge hat. Die einleitende Szene, in der das Auge zerschnitten (01:01) wird und die darauf folgende Szene, in der ein Radfahrer eine Straße entlang fährt (01:44). Die beiden Szenen sind inhaltlich nicht miteinander verbunden, lediglich durch die Zeitangabe im Zwischentitel. Auch die Frau aus der ersten Szene ist im Folgenden unversehrt.

Mit dem erfolgreichen Durchschneiden des Auges (01:39), dem Überfahren der Frau auf der Straße (06:06), dem Erschießen des Doppelgängers (11:44) und dem im Sand eingegrabenen, toten Paar (15:30) gibt es während dem Verlauf auch immer wieder Endungen einer ansatzweisen Erzählstruktur bzw. Endungen eingestreuter Handlungsstränge, die jedoch nicht zu einer konkreten Auflösung des Filmes führen.

Zwischen Anfängen und Enden sucht der Zuschauer vergeblich nach einer linearen Erzählung in der es einen konkreten Anfang, einen Konflikt, Protagonist und Antagonist sowie einen Höhepunkt hin zur Auflösung des Konfliktes gibt. Dies geschieht trotz des einleitenden Zwischentitels „Es war einmal...“, der eine narrative Grundstruktur eigentlich erwarten lässt. Die

32 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.198f. 33 Vgl. Adamowicz, Elza (2010): Un Chien Andalou. New York: I.B.Tauris, S. 69 f.

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klassischen, bis dahin gekannten filmischen Erzählstrukturen werden dagegen von Abschweifungen gebrochen. Ein Beispiel hierfür ist die Szene (04:07), in der eine Großaufnahme von einem Loch in einer Hand, aus dem Ameisen krabbeln, übergeht zur Aufnahme von Achselhaaren, dann zum Seeigel und dann zur Frau und der abgetrennten Hand auf der Straße. Aber auch ein Match-Cut (11:46) überführt den fallenden Doppelgänger von einer in die nächste Szene, womit sich wiederum eine entsprechende Handlungsabschweifung vollzieht.34

Alle diese Brüche und Manipulation der Erzähllogik erzeugen im Verlauf immer wieder akzentuierte, surrealistische Schockmomente. Sie sind wohl überlegt eingesetzt und setzen eine genaue Kenntnis des Regelwerks filmischen Erzählens voraus. Buñuel hatte diese Kenntnis vor allem durch die Erfahrungen, die er bei Jean Epstein sammeln konnte.

Wie das Surreale in Un Chien andalou zeigt sich auch das Unbewusste, das der Surrealismus herauskristallisieren wollte, in Momenten der Unterbrechung, wie Binotto feststellt.35 Es situiert sich immer auch in der Realität in „Form all jener Lücken, Irrtümer und Fehlleistungen, über welche das Bewusstsein andauernd stolpert.“36

So wird also deutlich, dass die Handlungsstruktur in Un Chien andalou mit ihren, wenn auch vielen, punktuellen Brüchen gerade dadurch die surreale Komponente erfährt, indem Erzählregeln, ohne die es gar keine Schocks des Unterbewussten gäbe, durchaus beachtet wurden, um diese wiederum effektvoll zu brechen.37

3.4 Metamorphosen Neben der aufgebrochenen Handlungslogik gibt es Aspekte, die sich auf das – nach Lommel - dritte Merkmal surrealistischer Ästhetik beziehen, nämlich der Veränderung von Raum und Zeit. Zudem soll aber auch auf einzelne Motive eingegangen werden, die Metamorphosen erfahren.

Nach der einleitenden Szene folgt ein weiterer zeitlicher Hinweis -„Huit ans après“ („Acht Jahre später“) (01:44). Sollten doch eigentlich diese zeitlichen Markierungen dem Betrachter auch eine gewisse Orientierung geben, so haben diese hier nun den gegenteiligen Effekt. Im Gegensatz zum zeitlosen „Es war einmal...“ zu Beginn des Films (01:01) wird nun mit der Einblendung „Acht Jahre später“ diese Zeitlosigkeit aufgehoben. Zudem wirkt sich diese nahezu willkürliche Zeitinformation nicht auf die Handlung aus. Es gibt auch keine Verbindung zur vorherigen Szene. Das Auge der Frau ist nämlich unversehrt. Auch alle weiteren Einblendungen, wie „gegen drei Uhr morgens“ (09:07), „sechszehn Jahre zuvor“ (10:31) und „im Frühjahr“ (15:22) spielen mit den Erwartungen des Betrachters, der vergeblich einen Zusammenhang sucht. Dieser bleibt jedoch aus. Sehr stark ist dieser Bruch in der Erwartungshaltung bei der Angabe „sechzehn Jahre zuvor“, wenn vor und nach der Einblendung der gleiche Ort, die gleichen Akteure in gleicher Position aus derselben Perspektive gezeigt werden. Und auch die Angabe „im Frühjahr“ lässt eine

34 Vgl. Adamowicz, Elza (2010): Un Chien Andalou. New York: I.B.Tauris, S. 32. 35 Vgl. Binotto, Johannes: Für ein unreines Kino – Film und Surrealismus. http://www.binotto.ch/johannes/Essay/Eintr%C3%A4ge/2010/4/30_Ein_Tag_beim_Longboarden.html .Zugegriffen am 10.6.2013. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd.

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Auflösung, Fortführung oder Erneuerung erwarten, doch der Film endet mit dem Tod der Protagonisten, die bis zur Brust in Sand eingegraben sind.38

Neben diesem zeitlichen Aspekt, der maßgeblich zur Desorientierung des Betrachters beiträgt, gibt es auch eine räumliche Komponente im Film, die sich nicht konsistent verhält und somit ebenfalls dem Betrachter den Boden unter den Füßen wegzieht. Diese Inkonsistenz wird nicht nur durch einige Änderungen im Raum hervorgerufen, sondern auch durch gezielten Filmschnitt, der Räume ineinander übergehen lässt und jegliche Logik verwirft.

So sieht z.B. die Frau auf als der Radfahrer die Straße entlang fährt und blickt zum Fenster (02:23). Das Anschlussbild zeigt den Radfahrer seitlich, gefilmt auf dessen Höhe und suggeriert somit, dass Frau und Radfahrer auf einer räumlichen Ebene sind. Doch als die Frau zum Fenster heraus schaut sieht man den Radfahrer aus der Vogelperspektive (02:33).

In der Szene, in der der Mann übergriffig wird, flieht die Frau in ein anderes Zimmer (08:31), in dem der Mann im Bett liegt. Das Bett stand in der zweiten Szene in eben dem Zimmer, aus dem die Frau zuvor floh (02:14).

Später überführt der Matchcut den von seinem Doppelgänger erschossenen Protagonisten vom Schlafzimmer in eine parkähnliche Anlage (11:44).

Zuletzt tritt die Frau durch eine Tür aus dem Zimmer heraus und findet sich zugleich an einem Strand wieder (13:54).

Durch die geschickte technische Umsetzung, vor allem durch Schnitte, entziehen sich alle diese räumlichen Metamorphosen einer logischen Handlungsabfolge und Erklärung. Dalí und Buñuel brechen auch hiermit gezielt die klassischen Konventionen des Films.39

Nicht nur Raum und Zeit unterliegen Metamorphosen, sondern auch einzelne Motive, ja sogar die Charaktere selbst sind davon betroffen und erzeugen damit immer wieder eine besondere Absurdität. So sieht der Betrachter in einer bereits erwähnten Szene (04:07), wie Ameisen aus dem Loch in der Hand herauskrabbeln und in einer Überblendung dann eine Achsel samt schwarzer Haare. Eine weitere Überblendung zeigt darauf einen schwarzen Seeigel.

In der Szene, in der der Mann übergriffig wird, die Frau bedrängt und ihre Brüste streichelt, ist sie im nächsten Moment nackt (06:54). Der Mann streichelt ihre nackten Brüste und später verwandeln sich diese in ihr nacktes Gesäß.

Auch in der Doppelgänger-Szene verwandeln sich zwei Bücher in zwei Pistolen (11:21) und später scheint es durch den Schnitt, als verwandle sich der Totenkopffalter in den Mann (13:25). Dieser wischt sich, im wahrsten Sinne des Wortes, den Mund ab, und trägt im nächsten Moment die Achselhaare der Frau an der Stelle, an der zuvor der Mund war.

All diese Verwandlungen, sowohl die von Raum und Zeit, als auch die der einzelnen Motive tragen dazu bei, dass der Betrachter das Traumhafte nicht mehr von der Realität unterscheiden kann und umgekehrt. Beide Anteile verschwimmen, verschmelzen miteinander und erzeugen so „einen vollständig anderen Blick in eine Welt der dunklen Bilder und der Obsessionen, der Begierden und des Todes.“40

38 Vgl. Adamowicz, Elza (2010): Un Chien Andalou. New York: I.B.Tauris, S. 34 f. 39 Vgl. ebd., S. 36. 40 Vgl. Schneede, Uwe M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck, S.200.

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Und es ist gerade auch dieser Blick, der nun, nach der Blendung des Auges zu Beginn, nach Innen geht und Bilder erzeugt, die von Innen kommen und damit die Wahrnehmungsgewohnheiten des Betrachters außer Kraft setzt. Daher ist Un Chien andalou so beispielhaft für die surrealistische Ästhetik im Film.

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4 Reflexion In diesem Teil der Semesterarbeit soll nun auf die praktische Arbeit eingegangen werden. Dabei wird einerseits die Vorgehensweise erläutert und andererseits das Ergebnis reflektiert. Zudem werden Auffälligkeiten hinsichtlich der Produktion der praktischen Arbeit im Vergleich zum Bezugswerk Un Chien andalou herausgearbeitet.

Zwischen der Entstehung von Un Chien andalou und der vorliegenden, praktischen Arbeit liegen etwa 84 Jahre, in denen sich die technischen Möglichkeiten des Filmes enorm entwickelt haben. Und auch der Umgang der Rezipienten mit dem Medium Film hat sich gewandelt. Längst ist es - dank der digitalen Technik - selbst für Amateure möglich, Filme ohne langwierige Vorbereitungen zu erstellen. Die Verfremdung von Filmmaterial in Postproduktions-Programmen ist einfacher denn je. Um also nun den Grundgedanken des Surrealismus auf die praktische Arbeit anzuwenden, wurden diese Eigenschaften zu Nutze gemacht.

Dalí und Buñuel konnten lediglich bei der Erstellung ihres Skriptes für den Film auf die Möglichkeit zurückgreifen, spontane, absurde Gedanken und Bilder zu sammeln und in einem ausgearbeiteten Drehbuch zusammenzufügen. Diese Planung wirkte sich – wie bereits erläutert - selbstverständlich auch auf den Einsatz filmischer Regeln bzw. deren Bruch aus, der umso gezielter inszeniert werden konnte. Zur damaligen Zeit, in der die Erfindung des Mediums Film noch nicht weit zurück lag und die Sehgewohnheiten der Zuschauer erst noch ausgebildet werden mussten, war Un Chien andalou eine Revolution, da das gekonnte Spiel mit den bisher etablierten Regeln des Films an die Grenzen der Wahrnehmung ging.

Im Hinblick auf die Übertragung des automatischen Gestaltens auf heutiges Filmemachen müssen zwei Aspekte der Entstehung der vorliegenden praktischen Arbeit beleuchtet werden. Zum einen entstanden die einzelnen Szenen teilweise direkt während der Aufnahme - ausgehend von der thematischen Vorgabe „Wald“. Die Idee war, spontane Beobachtungen direkt im Wald festzuhalten und frei assoziativ zu filmen. Ohne ein konkretes Skript, das zuvor bspw. eine feste Einstellungsgröße definierte, ergaben sich so subjektive Abbildungen der Umgebung, die im Moment der Entstehung auch von entsprechend subjektiven Empfindungen beeinflusst wurden. Aufbauend auf diesen Momentaufnahmen und Skizzen ergaben sich während dem Drehen auch weiterführende Assoziationen, Eindrücke und Einflüsse, die dann in weiteren Aufnahmen festgehalten wurden. Zum Teil können diese Aufnahmen auch mit den surrealistischen Fotografien verglichen werden, da sie ebenfalls einen Blick auf Alltägliches werfen und darin Unerwartetes, Unscheinbares oder Ausgeblendetes aufzeigen. Ermöglicht wird dies aber auch durch das Zusammenfügen der Aufnahmen im Schnitt. Dies führt nun auch zum zweiten Entstehungsaspekt. Die Postproduktion spielte eine zentrale Rolle im Prozess des automatischen Gestaltens. Ausgangspunkt für die Nachbearbeitungen war das gefilmte Material in einzelnen Clips. Der Schnitt sollte keiner Logik folgen und auch nicht erklärbar sein. Daher ist es auch schwierig, diesen abstrakten Prozess genau zu beschreiben. Der Schnittvorgang gestaltete sich ebenfalls aus dem Entstehungsmoment heraus und erzeugte so eine assoziative Bildabfolge. Wie bereits erwähnt können dank der digitalen Technik auch sehr schnell

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Bildmanipulationen unterschiedlichster Art vorgenommen werden. Solche Manipulationen wurden ebenfalls angewendet. Wichtige Bestandteile sind dabei Überblendungen, Unschärfen, Helligkeitsveränderungen, Kontrastveränderungen, Bildspiegelung, sowie Änderungen der Abspielgeschwindigkeit.

Teilweise wurden für den Ton die Originaltöne übernommen. Zu Beginn ist auch eine Aufnahme eines Anrufbeantworters zu hören. Ein Großteil macht jedoch die musikalische Untermalung aus, die aus einer relativ monotonen elektronischen Musik besteht.

Mit dem gesamten Prozess verhielt es sich wie mit der Entstehung eines Bildes. Man mischt Farben, malt auf die Leinwand, kombiniert neue Farben, übermalt wieder eine Stelle und erschafft neue Formen und Zusammenhänge. Und jede Handlung des „Malers“ kommt aus seinem Inneren, bildet sich aus seinen Gedanken, Emotionen aber auch aus Vorerfahrungen.

Der größte Unterschied zu Un Chien andalou in Bezug auf den Entstehungsprozess ist wohl das automatische Gestalten während dem Drehen und der Postproduktion. Wohingegen Dalì und Buñuel ihre Szenen genau planen mussten, auch aufgrund des aufwendigen und teuren Mediums Film, kann nun mit der digitalen Technik heute direkt produziert werden. Im Gegensatz zu Un Chien andalou gibt es in der praktischen Arbeit keine Handlungslinie, die auf irgendeine Art und Weise unterbrochen, aufgelöst oder manipuliert werden könnte, um filmische Regeln zu brechen. Metamorphosen finden in der praktischen Arbeit hinsichtlich der permanenten Raumänderungen statt, die sich durch den Schnitt ergeben. Die Bilder sind dabei weniger inhaltlich verknüpft, sondern nähern sich entweder visuell an (01:11) oder sind durch bloßen Zufall kombiniert. Durch die Nachbearbeitung der Bilder entstanden z.B. auch Abstraktionen (01:51) und Bildüberlagerungen (01:08), die einen Blick in den Raum nicht mehr konkret zuordnen, verwischen oder verschwimmen lassen (03:25). Wichtiger sind die einzelnen Bilder an sich, die die praktische Arbeit ausmachen und die in ihrem Wesen, wie bereits erwähnt, auch mit surrealistischen Fotografien vergleichbar sind (02:25). Die zeitliche Komponente, die in Un Chien andalou hauptsächlich durch die Zwischentitel integriert wird, spielt in der praktischen Arbeit dann eine Rolle, wenn die Abspielzeit umgekehrt wird und in ihrer Geschwindigkeit manipuliert wird (02:15).

Um nun zur Frage nach dem Einfluss des Surrealismus auf das Medium Film zurückzukehren, lässt sich zusammenfassend sagen, dass es bereits während dieser Kunstbewegung zu unterschiedlichen Umsetzungsweisen kam. Ganz im Sinne des Surrealismus wurde hierbei versucht, vorhandene Regeln aufzubrechen und Werke „ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen und ethischen Überlegung“41 zu schaffen. Letztendlich wurde dies auch mit Un Chien andalou nahezu perfekt umgesetzt und ist daher immer noch ein mustergültiges Werk des surrealistischen Films. Während der Produktion der praktischen Arbeit ist aber auch klar geworden, dass die Stilmittel streng genommen unbegrenzt sein können, wenn nur die Essenz des surrealistischen Gedankens omnipräsent ist.

41 Breton, André (2009): Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek: Rowohlt Verlag, 12. Auflage, S.26.

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Zudem wurde klar, dass sich auch Verfahren wie Cadavre Exquis und Ecriture Automatique auf heutiges Filmemachen übertragen, ja sogar noch direkter anwenden lassen, wie zur damaligen Zeit. Sind die Mittel und Möglichkeiten zur Umsetzung heute durch den technischen Fortschritt zwar andere, so sind sie aber im Grunde immer mit ihren Ursprüngen in der surrealistischen Bewegung verknüpft.

 

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5 Literaturverzeichnis

ADAMOWICZ, ELZA (2010): Un Chien Andalou. New York: I.B.Tauris.

BINOTTO, JOHANNES (2010): Für ein unreines Kino – Film und Surrealismus. http://www.binotto.ch/johannes/Essay/Eintr%C3%A4ge/2010/4/30_Ein_Tag_beim_Longboarden.html . Zugegriffen am 10.6.2013

BRETON, ANDRÉ (2009): Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek: Rowohlt Verlag.

KLOTTER, CHRISTOPH BECKENBACH, NIELS (2012): Romantik und Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

LOMMEL, MICHAEL (Hrsg.) (2008): Vorwort. In: Lommel, Michael (Hrsg.) Maurer Queipo, Isabel (Hrsg.) Roloff, Volker (Hrsg.): Surrealismus im Film – Von Fellini bis Lynch. Bielefeld: Transcript Verlag.

LÖSER, CLAUS (2002): Luis Buñuel. In: Kath. Institut für Medieninformation (Hrsg.): Lexikon des internationalen Films. Frankfurt am Main: Verlag Zweitausendeins.

NAGEL, JOACHIM (2007): Wie erkenne ich? Die Kunst des Surrealismus. Stuttgart: Balser Verlag.

SCHNEEDE, UWE M. (2006): Die Kunst des Surrealismus. München: Verlag C.H. Beck.

STIEGLEGGER, MARCUS (2011): Surrealismus. In: Koebner, Thomas (Hrsg.): Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam Verlag.

WIEDEMANN, CHRISTIANE (2007): Salvador Dalí. München: Prestel Verlag.