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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________________ SWR2 LITERATUR „ICH KRIEGE LUST, EINEN TANGO ZU TANZEN“ DER ARGENTINISCHE SCHRIFTSTELLER JULIO COTRÁZAR VON EVA KARNOFSKY SENDUNG /// 18.03.2014 /// 22.03 UHR Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Literatur sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. 1. O-Ton: Gabriela Cabezón Cámara: Hablar de Julio ... suplementos especiales, peliculas. Overvoice 1: „Von Julio Cortázar zu sprechen, bedeutet heute in Argentinien, von einem der beiden großen Mythen der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu sprechen. Der andere Mythos ist Jorge Luis Borges. Borges ist sehr bekannt, jeder Argentinier weiß, wer er ist.

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Page 1: SWR2 LITERATUR12845320/property=download/nid=659892/1co5zt1/... · uruguayische Schriftstellerin Cristina Peri Rossi, in ihrer Biographie des Autors mit dem schlichten Titel Julio

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________________

SWR2 LITERATUR

„ICH KRIEGE LUST, EINEN TANGO ZU

TANZEN“

DER ARGENTINISCHE SCHRIFTSTELLER JULIO COTRÁZAR

VON EVA KARNOFSKY

SENDUNG /// 18.03.2014 /// 22.03 UHR Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Literatur sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

1. O-Ton: Gabriela Cabezón Cámara: Hablar de Julio ... suplementos especiales, peliculas.

Overvoice 1:

„Von Julio Cortázar zu sprechen, bedeutet heute in Argentinien, von einem der beiden

großen Mythen der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu sprechen. Der andere

Mythos ist Jorge Luis Borges. Borges ist sehr bekannt, jeder Argentinier weiß, wer er ist.

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Doch im Gegensatz zu Cortázar liest ihn niemand. Cortázar dagegen wird von sehr vielen

Menschen gelesen. Er ist einer der beiden großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und in

diesem Jahr werden wir seiner gedenken, mit Zeremonien, mit Kalendern, mit

Sonderbeilagen der Zeitungen, mit Filmen.“

Autorin:

Gabriela Cabezón Cámara ist Literaturkritikerin der größten argentinischen

Tageszeitung Clarín. Der Anlass der Feierlichkeiten, von denen sie erzählt: Julio

Cortázars Geburtstag jährt sich am 26. August zum hundertsten Mal.

2. O-Ton: Julio Cortázar: Las circunstancias de mi nacimiento... que hay en este planeta.

Overvoice 2:

„Die Umstände meiner Geburt waren überhaupt nicht ungewöhnlich, aber doch ein wenig

pittoresk, denn die Geburt fand in Brüssel statt, obwohl sie genauso gut in Helsinki oder

Guatemala hätte stattfinden können. Alles hing von dem Posten ab, den man meinem Vater

in dem Moment gerade zugewiesen hatte. Die Tatsache, dass er gerade geheiratet hatte

und quasi auf Hochzeitsreise nach Belgien kam, führte dazu, dass ich in Brüssel geboren

wurde, und zwar genau in dem Moment, in dem der deutsche Kaiser und seine Truppen

dabei waren, Belgien zu erobern. Das hat mir meine Mutter erzählt. Meine Geburt war

höchst kriegerisch, mit dem Resultat, dass ich einer der pazifistischsten Menschen wurde,

die es auf diesem Planeten gibt.“

Sprecher:

Während seine Mutter im Kreißsaal lag, erzählte Julio Cortázar dem Spanischen

Fernsehen 1977 weiter, hörte sie das deutsche Trommelfeuer. Der Vater arbeitete als

Wirtschaftsberater an der argentinischen Botschaft. Ebenfalls in Folge des ersten

Weltkrieges wurde die Familie nach einem guten Jahr in die Schweiz geschickt, und

schließlich nach Barcelona.

1. Musik: Carlos Gardel: Buenos Aires, drübersprechen

Autorin:

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Julio Cortázar war vier Jahre alt, als er in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires zog,

genauer, in einen Vorort der Stadt mit dem englischen Namen Banfield:

3. O-Ton: Cortázar: Nosotros lo llamabamos ... por los niños.

Overvoice 2:

„Wir sagten Bamfiel. Es war fast ein Dörfchen, eine halbe Stunde mit dem Zug vom

Stadtkern von Buenos Aires entfernt. Es ist diese Art von Stadtvierteln, die du oft in den

Tangotexten findest. Es ist kein richtiger Vorort, sondern ein Vorort vor dem Vorort, das

heißt: unbefestigte Straßen, über die in meiner Kindheit noch viele Menschen mit dem

Pferd unterwegs waren. Der Milchmann brachte die Milch mit dem Pferd. ... Nur an den

Ecken gab es Straßenlaternen, die Beleuchtung war sehr schlecht, was die Kriminalität

enorm förderte. So war meine Kindheit ein wenig von Vorsicht und Angst geprägt, denn die

Mütter hatten große Angst um die Kinder.“

Sprecher:

Als Julio sechs Jahre alt war, verließ der Vater die Familie, zu der inzwischen auch Julios

ein Jahr jüngere Schwester Memé zählte. Die Familie blieb in prekären finanziellen

Verhältnissen zurück. Vater und Sohn sahen sich nie wieder.

Autorin:

Julio Cortázar las als Kind so viel, dass der Arzt ihm mit acht oder neun Jahren für einige

Monate das Lesen verbot.

Zitatsprecherin 1:

„Von klein auf konnte man sagen, dass Cortázar ein gieriger, süchtiger, unmäßiger Leser

war. „Ich lese alles, sogar die Beipackzettel der Medikamente“, sagte er. Besonders süchtig

war er nach Kitschromanen.“

Sprecher:

Er pflegte sie bei Zugfahrten zu lesen, erinnert sich Cortázars langjährige Freundin, die

uruguayische Schriftstellerin Cristina Peri Rossi, in ihrer Biographie des Autors mit dem

schlichten Titel Julio Cortázar.

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Autorin:

Ebenfalls mit neun Jahren schrieb er, unter einer Weide im Garten sitzend, seinen ersten

Roman. Das erzählte er 1977 dem legendären spanischen Fernsehmoderator Joaquín

Soler Serrano.

4. O-Ton: Cortázar: Es verdad que a los nueve años... lloran en el cine.

Overvoice 2:

„Es stimmt, ich habe mit neun Jahren einen Roman geschrieben. Ich weiß nicht mehr,

worum es darin ging, nur, dass es etwas sehr Tränenreiches war, sehr romantisch, alle

starben am Schluss. Ich bin überhaupt sehr sentimental, ich habe, was Gefühle angeht,

einen sehr schlechten Geschmack. Ich gehöre zu denen, die im Kino weinen.“

Sprecher:

Cortázar blieb bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr in Banfield. Er hatte dann das

Abitur in der Tasche, was ihn damals zum Unterricht an Grundschulen befähigte. Der

Besuch der Universität kam für ihn nicht in Frage, denn er musste arbeiten und der

Mutter finanziell unter die Arme greifen. Er absolvierte lediglich eine weitere dreijährige

Ausbildung zum Gymnasiallehrer.

Autorin:

Ab 1936 folgten Jahre an Schulen verschiedener argentinischer Provinzstädte, bis er

1944 als Dozent für Literatur an die neu gegründete Universität von Cuyo in der Provinz

Mendoza wechselte, wo er auch begann, Französisch zu lernen. Seine Mutter hatte

neben deutschen französische Wurzeln, die Großeltern des Vaters waren aus dem

spanischen Baskenland nach Argentinien gekommen.

Sprecher:

1938 war Cortázars erstes Buch erschienen, ein Band symbolistisch angehauchter

Sonette. Presencia, Präsenz, lautete der Titel, den er unter dem Pseudonym Julio Denis

veröffentlichte. Gerade 250 Stück wurden davon gedruckt.

Zitatsprecherin 1:

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„Julio wollte immer Dichter werden, obwohl er sehr streng mit seinen Gedichten war. „Zum

Glück“ – schrieb er mir einmal – „habe ich eine sehr genaue Vorstellung davon, welchen

Platz mein Zettelkasten einnimmt, und von meinen Gedichten akzeptiere ich nur sehr

wenige, immer weniger.“

Autorin:

So sind nur wenige Gedichte von ihm veröffentlicht. 1979 hat Cortázar seiner Freundin

und Kollegin Cristina Peri Rossi fünfzehn Gedichte gewidmet, die sie ihrer nur auf

Spanisch vorliegenden Cortázar-Biographie angefügt hat.

Zitatsprecherin 1:

„Ich glaube, dass ich dich nicht liebe,

dass ich nur die Unmöglichkeit liebe,

die so offensichtliche, dich zu lieben

wie die linke Hand

verliebt ist in jenen Handschuh

der auf der Rechten lebt.“

Sprecher:

Nachdem 1946 der populistisch-autoritäre Präsident Juan Domingo Perón zum

argentinischen Präsidenten gewählt worden war, musste der Antiperonist Julio Cortázar

seinen Posten an der Universität von Cuyo nach nur eineinhalb Jahren wieder aufgeben.

Autorin:

1950 erschien dann Bestiarium, Cortázars erster Erzählband. Darin findet sich eine

seiner wohl berühmtesten Kurzgeschichten, „Das besetzte Haus“.

5. O-Ton: Gabriela C.C.: Con Casa tomada... en la Argentina, no?

Overvoice 1:

„Mit „Das besetzte Haus“ gelang Cortázar eine sehr beunruhigende Synthese dessen, was

der Peronismus in Argentinien war und ist.“

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Sprecher:

Wie etliche Literaturkritiker, begreift Gabriela Cabezón Cámara „Das besetzte Haus“ als

eine politische Geschichte. Der Autor hatte die Kurzgeschichte nach einem Alptraum zu

Papier gebracht, in dem ihn etwas Unbestimmtes, Lautes aus seinem Haus gedrängt

hatte. Gegenüber dem Spanischen Fernsehen sagte er auch Folgendes:

6. O-Ton: Cortázar: Esa interpretacion ... de una manera fantástica.

Overvoice 2:

„Diese Interpretation, dass ich vielleicht meine Reaktion als Argentinier auf das, was in der

Politik passierte, übertragen habe, kann man nicht ausschließen. Es ist sehr wohl möglich,

dass ich meinen Alptraum auf fantastische Weise übertragen habe.“

Zitatsprecher 1:

„Ich werde mich immer deutlich daran erinnern, denn es ging ganz einfach und ohne viel

Umstände vonstatten. Irene strickte in ihrem Schlafzimmer, es war acht Uhr abends und

mir fiel plötzlich ein, das Mate-Teekesselchen aufs Feuer zu stellen. Ich ging den Korridor

entlang bis zur angelehnten Eichentür, bog in den schmalen Gang ein, der zur Küche führt,

als ich etwas im Esszimmer oder in der Bibliothek hörte. Es klang dumpf und unbestimmt,

wie ein Stuhl, der auf den Teppich fällt, oder wie Gemunkel. Gleichzeitig oder eine Sekunde

später hörte ich es auch hinten im Korridor, der von den Zimmern dort bis zur Eichentür

führt. Ich stürzte zur Tür, bevor es zu spät wäre, warf mich mit dem ganzen Körper gegen

sie und schlug sie zu; zum Glück steckte der Schlüssel auf unserer Seite, und zur Sicherheit

schob ich noch den Riegel vor.

Ich ging in die Küche, setzte das Kesselchen auf, und als ich mit dem Teetablett wiederkam,

sagte ich zu Irene:

„Ich mußte die Korridortür zuschließen. Sie haben den hinteren Teil besetzt.“

Autorin:

Am Ende werden der Ich-Erzähler und seine Schwester Irene gänzlich aus ihrem Haus

gedrängt. Wie der Peronismus den Autor der Geschichte aus der Universität gedrängt

hatte.

7. O-Ton: Gabriela C.C.: Hay que tomar en cuenta ... los lectores leen, no?

Overvoice 1:

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„Man muss berücksichtigen, dass ein literarischer Text immer das ist, was ein Autor

schreibt und was die Leser daraus lesen, nicht wahr?“

8. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Man sagt ja immer, er ist der fantastische Erzähler, aber die Fantastik eben um 12 Uhr

mittags. Sie bricht aus der Normalität aus, es sind keine Geister, die kommen. Julio hat

immer gesagt, mir passieren solche Sachen. Also, irgendetwas, das eigentlich unerklärlich

ist, passierte ihm ständig.“

Sprecher:

Die Literaturwissenschaftlerin Michi Strausfeld hatte Julio Cortázar im November 1972

auf einem Seminar in Frankreich zum ersten Mal getroffen.

Autorin:

Cortázars mexikanischer Schriftsteller-Kollege Carlos Fuentes bezeichnet ihn nicht als

fantastischen, sondern als realistischen Autor.

9. O-Ton Carlos Fuentes: Solo que no en el sentido ... mas allá de la obra.

Overvoice 3:

„Nur nicht in dem Sinne des naturalistischen Realismus eines Emile Zola. Bei Cortázar ist

Realität etwas, was geschaffen wird, etwas, das man erfindet, etwas, das vorher nicht

existierte. ... Er schuf eine Welt einer freieren Wirklichkeit, einer Realität, die vom Leser

abhing, von der Fähigkeit des Lesers, sie fortzuschreiben, neu zu schaffen, zurück zu

blicken und vorwegzunehmen, sie über das Werk hinauszutragen.“

Sprecher:

1950, im gleichen Jahr, in dem auch Bestiarium erschien, bekam Julio Cortázar ein

Studien-Stipendium der französischen Regierung und zog nach Paris. Argentinien war

ihm unter Präsident Perón zu engstirnig geworden.

Autorin:

Bald bekam er in Paris eine Stelle als Übersetzer bei der UNESCO, für die er fast bis zu

seinem Tod immer wieder arbeitete. Und er lernte einige Zeit später seine erste Frau

kennen. Die heute 94-jährige Übersetzerin und Lektorin Aurora Bernárdez stammt wie

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Cortázar aus Buenos Aires. „Das besetzte Haus“ war schuld daran, dass sich die beiden

über den Weg liefen.

10. O-Ton: Aurora Bernárdez: Le conocí a raíz .. fui.

Overvoice 4:

„Ich lernte ihn aufgrund dieser Erzählung kennen. Durch eine Freundin, die sagte, hör mal,

es gibt da einen Schriftsteller, von dem war eine sehr gute Erzählung in der Tageszeitung

La Nación, sie heißt „Das besetzte Haus“. Kennst du ihn? Ich kannte ihn nicht. Mir scheint,

er ist Argentinier, sagte sie. Spanier ist er jedenfalls nicht. Er ist sehr groß, mit einem

jungenhaften Gesicht. Ich sehe ihn nächsten Freitag. Warum kommst du nicht mit? Ich ging

mit.“

Zitatsprecher 2:

„Ich hatte die beiden vor einem Vierteljahrhundert bei einem gemeinsamen Freund in Paris

kennengelernt, und seitdem und bis zu jenem letzten Mal, dass ich sie beide zusammen sah,

1967 in Griechenland – wo wir drei auf einer internationalen Konferenz über Baumwolle

als Übersetzer tätig waren - , hatte ich immer wieder über das Schauspiel gestaunt, das

einem geboten wurde, wenn man Aurora und Julio im Tandem sprechen sah und hörte. Wir

übrigen schienen alle überflüssig zu sein. Alles, was sie sagten, war intelligent, kultiviert,

lebendig. ... Sie spielten sich gegenseitig die Themen zu wie zwei vollendete Jongleure.“

Sprecher:

Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa schrieb dies im Vorwort zur deutschen

Ausgabe der Erzählungen von Cortázar, und er widmete es Aurora Bernárdez. Die

beiden hatten 1953 geheiratet und waren im gleichen Jahr für eine Weile nach Italien

gegangen. Dort entstand Cortázars kleine Geschichte „Unterweisung im

Treppensteigen“.

11. O-Ton: Aurora Bernárdez: Eso fue en la Villa Medici... muy divertida.

Overvoice 4:

Das war in der Villa Medici, ein wunderbares Renaissance-Gebäude, das eine

außergewöhnliche, spektakuläre Treppe hat, die eine Kurve macht. Ein bisschen wie diese

Schleppen der Kleider der Flamenco-Sängerinnen. Und ich dachte, dass ich auf dieser

Treppe eine schöne Frau sehe, hochelegant, mit einem wunderbaren Kleid, die hinaufgeht.

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Und ich sehe, wie sich die Schleppe ausbreitet. Und ich sage, wie zu mir selbst: Diese Treppe

muss man raufgehen. Und Julio sagt: Glaubst Du? Und ich sage ihm, aber das sieht man

doch: Da muss man raufgehen. Und danach entstand die kleine Erzählung. Wirklich sehr

lustig.“

Zitatsprecher 1:

„... Um eine Treppe zu steigen, beginnt man damit, dass man jenen Teil des Körpers hebt,

der rechts unten gelegen, fast immer in Schweins- oder Sämischleder gehüllt ist und, außer

in Ausnahmefällen, genau auf die Stufe paßt. Hat man besagten Teil, den wir der Kürze

halber Fuß nennen wollen, auf die erste Stufe gesetzt, zieht man den entsprechenden Teil

zur Linken (ebenfalls Fuß genannt, darf aber nicht mit dem vorhergenannten verwechselt

werden) nach, hebt ihn in Höhe des Fußes und weiter, bis er sich auf der zweiten Stufe

befindet. ...

Ist man auf diese Weise zur zweiten Stufe gelangt, genügt es, die Bewegungen in ständigem

Wechsel zu widerholen, bis man das Ende der Treppe vor sich hat. Mühelos bringt man sie

hinter sich, indem man ihr mit dem Absatz einen leichten Tritt versetzt, der sie an ihren

Platz fesselt, von dem sie sich nicht bewegen wird, bis man wieder hinabsteigt.“

12. O-Ton: Aurora Bernárdez: Pero hay otra historia ... // Cortázar era... // era muy

cómico.

Overvoice 4:

„Es gibt noch eine Geschichte, sie ist in dem Band Ein gewisser Lukas veröffentlicht, die mir

auch außergewöhnlich erscheint. Sie heißt „Lukas und seine Kämpfe mit der Hydra“.

Cortázar war hochgradig frei, in seinem Kopf und in seinem Leben. Er machte, was ihm

richtig erschien. In allem. Persönlich und politisch. Und er lehnte es ab, dass man ihm

Gewohnheiten oder Routinen aufzwang. Die gefielen ihm gar nicht. Sogar manchmal

ungerechterweise. So mochte er nicht, wenn Frauen strickten. Denn bei ihm zuhause in der

Familie wurde gestrickt. Sehr gut sogar. Gleichzeitig hatte er selbst jede Menge Manien,

Routinen und Gewohnheiten. Man glaubt zunächst, sein Werk beinhalte die große Freiheit

und die große Strenge. Doch es ist nicht alles erlaubt, die Vorstellungskraft geht nicht in

alle Richtungen, sondern nur in die Richtung, die er vorgibt. Es geht um seine Freiheit. Aber

seine Freiheit geht auf Kosten seines Kampfes gegen die eigenen Routinen: Die Pfeife muss

links liegen, der Bleistift rechts, das Papier in einer Schublade. Das war sehr komisch.“

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Zitatsprecher 1:

„Es ist eine Sache, die Hydra zu töten, und eine andere, diese Hydra zu sein, die einmal nur

Lukas war und jetzt wieder nur Lukas sein möchte. Du schlägst ihr zum Beispiel den Kopf

ab, der Schallplatten sammelt, und den anderen, der die Pfeife immer links auf den

Schreibtisch legt und den Becher mit den Filzstiften rechts hinstellt. Etwas nach hinten.

Hm, etwas hat man erreicht, zwei Köpfe weniger bringen die restlichen etwas in

Schwierigkeiten, so daß sie angesichts der traurigen Tatsache denken und denken. Das

heißt: Für eine Weile wenigstens ist dieser Drang, die Serie der Madrigale von Gesualdo,

Fürst von Venosa, zu komplettieren, nicht mehr so obsessiv. ... Außerdem ist es

beunruhigend neu, wenn man zur Pfeife greift, feststellen zu müssen, daß sie nicht an

ihrem Platz ist.“

2. Musik: Charlie Parker: Ornithology, drübersprechen

Autorin:

Julio Cortázar hatte eine Schwäche für den Boxsport, für Dinosaurier, für Kaleidoskope,

und er liebte Musik. Nicht nur argentinischen Tango, sondern fast jede Art von Musik. Er

ging leidenschaftlich gern in die Oper, und der Jazz hatte es ihm angetan. Was sein

mexikanischer Schriftsteller-Kollege und Freund Carlos Fuentes eine ganz Nacht lang zu

spüren bekam, als er 1968 mit Cortázar und dem kolumbianischen Literatur-

Nobelpreisträger Gabriel García Márquez auf Einladung des tschechischen Schriftstellers

Milan Kundera auf dem Weg nach Prag war, um den Prager Frühling zu unterstützen.

13. O-Ton: Carlos Fuentes: Fuimos en el mes ... de no mostrarlo.

Overvoice 3:

„Wir fuhren im Dezember. In einem Nachtzug von Paris nach Prag. Wir schliefen nicht,

denn wir verbrachten die Nacht im Speisesaal mit Julio Cortázar, der sich der Geschichte

des Jazz widmete. Cortázar wusste sehr viel über Jazz. Also erzählte er uns zwischen dem

Pariser Gare de Lyon und dem Prager Bahnhof die Geschichte des Jazz, beginnend mit ihren

Anfängen, Kapitel für Kapitel, Trompeter für Trompeter. Und Sänger für Sänger. Er wusste

absolut alles. Das ist das Geheimnis von Cortázar: Er wusste immer viel mehr als alle

anderen. Und er hatte den Takt, das nicht zu zeigen.“

Sprecher:

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Dem dritten Prag-Reisenden, Gabriel García Márquez, ist diese Zugfahrt ebenfalls im

Gedächtnis haften geblieben.

Zitatsprecher 3:

„Als es Schlafenszeit war, kam es Carlos Fuentes in den Sinn, Cortázar zu fragen, wie, wann

und durch wen das Klavier in den Jazz gekommen sei. Die Frage war eine rein zufällige und

verlangte nichts weiter zu wissen als ein Datum und einen Namen, die Antwort indes war

ein brillanter Vortrag, der unter gewaltigen Mengen von Bier und elenden Würstchen mit

kalten Kartoffeln bis zum Morgengrauen dauerte. Cortázar, der seine Worte sehr gut

abzumessen wusste, ließ mit einer kaum zu glaubenden Versiertheit und Klarheit eine

geschichtliche und ästhetische Lektion abrollen, die beim ersten Tageslicht in einer

homerischen Apologie von Thelonius Monk gipfelte. Er sprach nicht nur mit einer tiefen,

dröhnenden Stimme, das „r“ in die Länge ziehend, sondern auch mit seinen großknochigen

Händen, wie ich sie ausdrucksstärker bei keinem anderen Menschen je gesehen habe.“

Autorin:

Literarisch hat Cortázar dem 1955 verstorbenen und von ihm sehr verehrten Jazz-

Saxophonisten Charlie Parker vier Jahre später ein Denkmal gesetzt, mit seiner

Erzählung „Der Verfolger“. Zwar gibt er seinem Protagonisten den Namen Johnny, doch

er widmet die Geschichte Charlie Parker. Johnny ist drogenabhängig wie Parker und

stirbt an seiner Abhängigkeit. Cortázars Erzähler ist ein Jazzkritiker.

Zitatsprecher 1:

„Da ich Johnnys Halluzinationen schon lange kenne, wie die von denen, die ein ähnliches

Leben führen, höre ich zwar aufmerksam zu, doch messe ich dem, was er sagt, nicht viel

Bedeutung bei. Hingegen frage ich mich, wie er in Paris wohl an die Drogen kommt. Ich

werde Dédée ins Gebet nehmen müssen, ihr verbieten, Beihilfe zu leisten. In diesem Zustand

wird Johnny nicht mehr lange durchhalten können. Drogen und Elend vertragen sich nicht.

Ich denke an all die Musik, die uns verlorengeht, an die Dutzende von

Schallplattenaufnahmen, bei denen Johnny diese erstaunliche Überlegenheit, die er allen

anderen Musikern gegenüber hat, weiterhin zeigen könnte. Dies >>Das bin ich morgen am

Spielen<< war mir auf einmal völlig klar, denn Johnny ist immer dabei morgen zu spielen,

und alle anderen bleiben hinter ihm zurück, in diesem Heute, das er mit den ersten Noten

seiner Musik mühelos überspringt.“

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Sprecher:

Der Nicaraguaner Sergio Ramírez lernte Cortázar 1976 kennen. Ramírez zählt heute

selbst zu den anerkannten Schriftstellern Lateinamerikas und mehrere seine Romane

wurden auch ins Deutsche übersetzt. Er glaubt, Cortázar liebte Jazz, weil er seiner

Melancholie entsprach.

14. O-Ton: Sergio Ramírez: Yo creo que la melancolía ... instrumentos muy

melancholicos.

Overvoice 5:

„Ich glaube, Cortázars Melancholie drückte sich in seiner Liebe zum Saxophon aus. Das

Saxophon ist ein sehr melancholisches Instrument. Ich weiß nicht, wie gut er als

Saxophonist war, aber er übte Sax. Es hat diese afroamerikanische Melancholie.

Trompeten, Saxophone sind für mich sehr melancholische Instrumente.“

Autorin:

Auf etlichen Fotos ist Cortázar auch abgebildet, wie er Trompete spielte.

5. Musik: Herbie Hancock: „Blow up. Thomas studies photos“, drübersprechen

Sprecher:

1959 veröffentlichte Julio Cortázar neben der kurzen Erzählung „Das besetzte Haus“ mit

„Teufelsgeifer“ eine Kurzgeschichte, die fast siebzehn Jahre später Michelangelo

Antonioni zu seinem Kultfilm „Blow up“ animieren sollte.

Autorin:

Zwar spielt der Film des italienischen Regisseurs nicht in Paris, sondern im Swinging

London der Sechzigerjahre, doch er dreht sich wie Cortázars Geschichte darum, dass ein

Fotograf beim Vergrößern eines Fotos von einem Liebespaar einem Verbrechen auf die

Spur kommt – einem Mord bei Antonioni, einer Entführung bei Cortázar.

Musik kurz hochziehen, dann abrupt enden.

Sprecher:

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Zwar nicht in Deutschland, aber in Lateinamerika und in etlichen anderen Ländern der

Welt war Julio Cortázar, als „Blow up“ in die Kinos kam, bereits ein Kultautor. Denn

1963 war Rayuela Himmel und Hölle, sein zweiter Roman, erschienen. Dem ersten

Roman, Die Gewinner aus dem Jahr 1960, war nicht viel Erfolg beschieden.

15. O-Ton: Aurora Bernárdez: Cortázar es un gran cuentista ... los chicos de 20.

Overvoice 4:

„Cortázar ist ein großartiger Geschichten-Erzähler. Und dann kam Rayuela. Das Problem

war, dass ein Autor, der Geschichten geschrieben hat, aus Sicht der Leser seiner Generation

auch dabei hätte bleiben sollen. Aber es gab auch andere Leser, die jungen Leser jener Zeit.

Bei denen war die Reaktion einmütig. Bei den Zwanzigjährigen. Dabei hat Julio Rayuela für

die 40jährigen geschrieben, aber nein, es waren die Zwanzigjährigen, die ihn annahmen.

Und bis heute lesen ihn die Zwanzigjährigen.“

Autorin:

Sergio Ramírez war 21 Jahre alt, als Rayuela auf den Markt kam. Der spätere

sandinistische Revolutionär und Vizepräsident Nicaraguas war damals Student.

16. O-Ton: Sergio Ramírez: Para mí generación ... una reconstrucción.

Overvoice 5:

„Für meine Generation war Rayuela eine Bibel, was das Verhalten anbelangt. Rayuela war

kein politischer Roman, aber ein Roman, der vorschlug, eine Ladung Dynamit an die

bürgerliche Welt zu legen, an die Welt, wie sie damals war, an die althergebrachten Werte.

Und aus dieser Perspektive war es ein sehr lehrreiches Buch. Es stand für

Nonkonformismus. Es ging darum, wie wir Sandinisten es ja auch gemacht haben, die alten

Formen aufzubrechen. Sich anders zu verhalten. Ich glaube, in diesem Sinne war Rayuela,

von den literarischen Werten abgesehen, eine generationenspezifische Lektüre der

Rebellion, ein Buch von anarchischen Vorschlägen, würde ich sagen. Denn Rayuela schlägt

nur eine De-Konstruktion der Welt vor, nicht deren Neuaufbau.“

Zitatsprecher 1:

„Reinheit wie die eines Koitus zwischen Kaimanen, nicht die Reinheit von o Maria Mutter

mein mit schmutzigen Füßen; Reinheit eines Schieferdaches mit Tauben, die

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selbstverständlich auf die Köpfe der Wut und Radieschenbüschel schnaubenden Señoras

scheißen.“

Sprecher:

Die Vulgärsprache, das Veralbern des Marienkultes – das waren die

lateinamerikanischen Leser damals nicht gewöhnt.

17. O-Ton Sergio Ramírez: Rayuela pone en cuestion ... valores tradicionales./ Aun las

partes ... el gato se llama Adorno.

Overvoice 5:

„Rayuela stellt alles in Frage und macht sich über das Establishment lustig. Rayuela ist ein

sehr komisches Buch. Man kann es lesen wie eine Nacht in der Oper mit den Marx Brothers.

Es ist Nonkonformismus, der sich konstant über die traditionellen Werte lustig macht.

Sogar die Teile, in denen Cortázar seine philosophischen Reflexionen unternimmt, durch

Morelli, diesen alten Mann, der die Rolle des Philosophen hat, stellen alles sehr

humoristisch in Frage. Das heißt, Rayuela ist ein humoristisches Buch, es ist, genau

genommen, eine Verschwörung gegen Gleichmut und Förmlichkeiten. Morelli ist

schlussendlich eine komische Figur, obwohl er ernsthaft philosophiert und über Theodor

Adorno nachdenkt. Die Katze in Rayuela heißt ja auch Adorno.“

18. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Rayuela hat eine ganze Generation von Lesern und Autoren verändert. Es hat den größten

Einfluss ausgeübt, den man sich von einem Buch nur vorstellen kann, weil es die

Lesegewohnheiten eines Kontinents plus Spanien verändert hat.“

Autorin:

Die 155 Kapitel von Rayuela müssen nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen

werden. Der Autor hat eine weitere Lesefolge vorgeschlagen, lässt dem Leser aber auch

die Freiheit, die Lektüre an beliebiger Stelle im Buch zu beginnen und an beliebiger

Stelle fortzusetzen. Der Roman fordert also den aktiven Leser.

Sprecher:

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Eine chronologische Fortschreibung einer Handlung gibt es nicht, vielmehr werden

Episoden erzählt, die man auch jede für sich wie eine Kurzgeschichte lesen kann, ohne

das sie ihren Sinn verlören.

19. O-Ton: Sergio Ramírez: Es un libro de gente ... bien reflejada en Rayuela.

Overvoice 5:

„Es ist ein Buch über Randexistenzen. Mir scheint, dass es sehr gut die schwierige

Beziehung widerspiegelt, die die Lateinamerikaner immer schon zu Paris hatten. Nur

schwer fanden die lateinamerikanischen Schriftsteller, die später berühmt wurden, in ihrer

Zeit dort eine Beziehung zu französischen Intellektuellen, sie blieben in ihrer eigenen Welt.

Von César Vallejo bis Rubén Darío waren die lateinamerikanischen Schriftsteller in Paris

immer Randexistenzen. Paris ist bis heute eine Sinnestäuschung. Ich glaube, das spiegelt

sich sehr gut in Rayuela wieder.“

Autorin:

Die Protagonisten von Rayuela, ein junger Argentinier aus bürgerlichem Haus namens

Horacio Oliveira und seine uruguayische Freundin Lucía, genannt La Maga, schlagen sich

im ersten Teil des Romans mit Gelegenheitsjobs und Geld-Überweisungen von Oliveiras

Bruder in Paris durch.

Zitatsprecher 1:

„So hatten sie angefangen, durch ein märchenhaftes Paris zu wandern, sich leiten zu lassen

von den Zeichen der Nacht, Wege einzuschlagen, die aus dem Satz eines Clochards

entstanden waren, aus einer beleuchteten Dachkammer in der Tiefe einer schwarzen

Straße. Auf den kleinen intimen Plätzen hielten sie an, küßten sich auf den Bänken und

betrachteten die Kreidestriche von Himmel-und-Hölle, die kindlichen Riten mit dem Kiesel,

das Hüpfen auf einem Bein, um in den Himmel zu gelangen.“

Sprecher:

Und sie reden und reden, zu zweit oder mit ihren Freunden des sogenannten „Clubs der

Schlange“. Über den Sinn des Lebens, über dessen absurde Seiten, über den Tod, über

Literatur, Malerei, über Musik. Während sie argentinischen Mate trinken und Jazz hören.

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4. Musik: Bix Beiderbecke: Jazz me blues, drübersprechen

Zitatsprecher 1:

„Oliveira dachte, wo Bix wohl begraben sein mochte und wo Eddie Lang, wie viele Meilen

voneinander ihre beiden Nichtse, die sich eines künftigen Abends in Paris schlagen sollten,

Gitarre gegen Kornett, Gin gegen Unglück. Der Jazz.

- Man fühlt sich wohl hier. Es ist warm, es ist dunkel.

- Ein grandioser Irrer, dieser Bix. Leg mal „Jazz me blues“ auf.

- Der Einfluss der Technik auf die Kunst, sagte Ronald und griff in einen Plattenstapel,

wobei er flüchtig auf die Etiketten sah. Diese Burschen aus der Zeit vor dem long play

hatten für ihr Spiel nicht mal drei Minuten. Jetzt kommt so ein Schlaukopf wie Stan Getz,

pflanzt sich fünfundzwanzig Minuten lang vor dem Mikrophon auf und kann loslegen nach

belieben und das Beste aus sich herausholen. Der arme Bix musste mit einem Chorus

zurechtkommen und danke. Kaum wurden sie warm, zack, aus.“

Musik Ende.

20. O-Ton: Michi Strausfeld:

Natürlich ist es heute nicht mehr so interessant. Die existentialistischen Diskussionen mit

Musik und Tabak sind heute eigentlich ein bisschen passé, aber es werden Dinge von

Rayuela immer in Erinnerung bleiben. Es ist ein Roman der Großstadt, es spielt in Paris,

und nachher auf der anderen Seite des Ozeans, im zweiten Teil, kommt ja dann

Lateinamerika hinzu, all die Themen, die für Cortázar wichtig waren, die Verbindung

seiner beiden Welten. Aber es waren die intellektuellen Diskussionen, die man in den

Sechzigerjahren geführt hat.“

Autorin:

Für Cortázars peruanischen Kollegen und Freund Mario Vargas Llosa macht sein Stil den

besonderen Reiz seiner Werke aus.

Zitatsprecher 2:

„Ein Stil, der in wunderbarer Weise Oralität vorspiegelt, die zwanglose Flüssigkeit der

täglichen Sprache, den spontanen ungeschminkten, unverstiegenen Ausdruck des ganz

gewöhnlichen Menschen. Es handelt sich natürlich um eine Illusion, denn in Wirklichkeit

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drückt der gewöhnliche Mensch sich kompliziert, konfus und voller Weiderholungen aus,

was, in die Literatur übertragen, unerträglich wäre. Cortázars Sprache ist ebenfalls eine

Fiktion, eine vorzüglich fabrizierte Fiktion: der Kunstgriff ist so wirksam, dass sie natürlich

wirkt, eine dem Leben abgeschaute Sprache, die dem Leser direkt aus den lebhaften

Mündern, von den munteren Zungen der Männer und Frauen aus Fleisch und Blut

entgegenkommt, eine Sprache, die so transparent und einfach ist, daß sie mit dem

verschmilzt, was sie benennt.“

Sprecher:

Zurück in Buenos Aires, arbeitet Oliveira als Gehilfe im Zirkus der Familie Traveler.

Zirkusmann Traveler spielt Tango auf der Gitarre und singt dazu. Der Tango löst den

Jazz als Hintergrundmusik für die Gespräche Horacios mit seinen Freunden ab.

Zitatsprecher 1:

„>>Musik, schwermütige Nahrung für uns verliebtes Volk<<, hatte Traveler zum vierten

Mal zitiert, während er die Gitarre stimmte, um den Tango Kleiner Papagei des Glücks zu

Gehör zu bringen. ...“

Autorin:

Unter Literaturwissenschaftlern entstand die Theorie, dass der Jazz in Rayuela die Tür

zum Surrealismus öffnet, während der Tango in Opposition dazu steht.

Zitatsprecher 1

„Der kleine Papagei des Glücks hatte inzwischen ein rosa Papier gezogen: Ein Bräutigam,

langes Leben. Was nicht hinderte, daß Traveler mit hohler Stimme die galoppierende

Krankheit der Heldin beschrieb, und am Abend, da sie starb so traurig / frage sie die

Mutter: >Ist er nicht gekommen?>. Rrrrrums.

-Wie gefühlvoll, sagte die Guttusso. Man macht den Tango schlecht, aber nie werde ich ihn

mit den Kalypsos und ähnlichen Schweinerein, die im Radio kommen, auf eine Stufe stellen.

Reichen Sie mir doch die Bohnen, Don Horacio.“

5. Musik: Carlos Gardel: Mano a mano, drübersprechen

Sprecher:

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Wie bei so vielen argentinischen Autoren, die im Ausland leben, begann auch Cortázars

enge Beziehung zum Tango in Paris. Er flocht ihn nicht nur in seine literarischen Texte

ein, er schrieb auch Essays darüber. In der berühmten argentinischen Kulturzeitschrift

Sur huldigte er 1953 Carlos Gardel, der Nachtigall der Pampa.

Zitatsprecher 1:

„Ich höre einmal mehr Mano a mano, (Von Hand zu Hand), den ich jedem anderen Tango

und allen anderen Aufnahmen Gardels vorziehe. Der Text, die unbarmherzige Bilanz einer

Frau, einer Prostituierten, enthält in wenigen Strophen eine ganze Lebensgeschichte und

die unfehlbare Vorhersage des Niedergangs. Sich vor diesem Schicksal verbeugend, das er

für einen Moment teilte, drückt der Sänger weder Wut noch Groll aus. Verbiestert in seiner

Traurigkeit, denkt er an sie zurück und stellt fest, dass sie in ihrem Paria-Leben nur eine

gute Frau gewesen ist. Vielleicht mag ich diesen Tango besonders, weil er das genaue Maß

ist für das, was Gardel repräsentiert.“

Autorin:

Und die argentinische Tangowelt erwiderte die Liebe Cortázars. Susana Rinaldi, eine der

größten Sängerinnen der Tango-Geschichte, deren Konzerte der Schriftsteller im

Übrigen gern besuchte, huldigt ihm bei ihren Auftritten, wenn sie Fragmente aus

Rayuela rezitiert.

6. Musik: Susana Rinaldi, Fragmento de Rayuela/ Sexto Piso: Decia Cortázar ...

Overvoice Zitatsprecher 1:

„Nichts ist verloren, wenn man nur endlich den Mut hat, zu verkünden, dass alles verloren

ist und man von neuem anfangen muss.“

Sprecher: (über Musik drübersprechen)

Dieses Zitat aus Rayuela ist in Argentinien inzwischen zu einem geflügelten Wort

geworden. Nach jeder Diktatur musste sich das Land neu aufstellen, nach jeder

Wirtschaftskrise trifft der Satz Cortázars für die meisten seiner Mitbürger zu: Sie

müssen neu beginnen.

Musik nach einigen Akkorden des Gesangs der Rinaldi ausblenden.

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Autorin:

1979 erschien in Frankreich eine Tango-Langspielplatte, deren Texte von Julio Cortázar

stammen. Die Musik schrieb sein Landsmann Edgar Cantón.

Zitatsprecher 3:

„Ich hatte zusammen mit Julio Cortázar die Idee, Tangos zu schreiben. Er hatte Gedichte,

die wie Tangos klangen. Wir machten uns an die Arbeit und schrieben die Stücke, die dann

von Juan Cedrón gesungen wurden. Das 1979 erschienene Album war so erfolgreich, dass

wir fanden, wir müssten einen Ort finden, wo wir den Tango der großen Orchester der

vierziger Jahre präsentieren könnten, den damals niemand in Frankreich kannte. Einige

bekannte Persönlichkeiten und Freunde, darunter Susana Rinaldi ... halfen uns. Als Namen

wählten wir den Titel eines Tangos, den wir komponiert hatten, „Les trottroirs de Buenos

Aires“, Die Bürgersteige von Buenos Aires.“

7. Musik: Juan Cedrón: Las veredas de Buenos Aires (drübersprechen)

Zitatsprecher 1:

Als Jungs nannten wir ihn den „Bürgerstieg“

Und es gefiel ihm, dass wir ihn mochten,

Auf seine leidgeprüften Huckel zeichneten wir

So viele Rayuelas.

Später, schon mehr Raufbolde, bewegten wir uns

tanzend ums Eck mit der Gruppe,

Laut pfeifend, damit die Blonde

Aus dem Laden mit ihren schönen Zöpfen

Ans Fenster käme.

Eines Tages musste ich sehr weit fortgehen

Aber nie vergas ich die „Bürgerstiege“

Hier oder dort, ich spüre sie

Wie die treue Umarmung meiner Heimat.

Wie viel würde ich gehen, bis ich

sie wiedersehen könnte.

Sprecher:

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Das Lokal „Les trottoirs“ öffnete im November 1981 seine Pforten, und in den zwölf

Jahren seiner Existenz traten dort sämtliche Tango-Größen auf. Und es gibt

Buchautoren, die behaupten, es habe zu einer Renaissance des Tangos in Frankreich und

sogar in Argentinien selbst beigetragen.

Autorin:

Julio Cortázar hat einmal geäußert, er sei in einer Tango-Atmosphäre aufgewachsen.

Zitatsprecher 1:

„Wir hörten ihn im Radio, denn das Radio fing an, als ich klein war. Und danach gab es

einen Tango nach dem anderen. Und in meiner Familie gab es Leute, meine Mutter und

eine Tante, die Tangos auf dem Klavier spielten und sangen. Der Tango wurde ein Teil

meines Bewusstseins und ist die Musik, die mir meine Jugend und Buenos Aires zurückgibt.“

Sprecher:

Vor allem während der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 gab der

Tango Julio Cortázar einen Hauch von Buenos Aires zurück. Die Militärs hatten den

Schriftsteller gemeinsam mit vielen anderen Intellektuellen und Künstlern auf eine

schwarze Liste gesetzt. Seine Tangos wurden verboten und er durfte nicht mehr

einreisen, war plötzlich ein Exilant. Doch er haderte nicht nur damit.

Zitatsprecher 1:

„So grausam meine Worte auch erscheinen mögen, ich sage nochmals, daß das Exil den

bereichert, der die Augen offenhält und wachsam bleibt. Wir werden weniger

provinzlerisch, weniger nationalistisch, weniger egoistisch in unsere Heimat

zurückkehren.“

Autorin:

Nicht Cortázars Romane und Kurzgeschichten waren der Grund für die drastischen

Maßnahmen der Militärs. Den antikommunistischen Diktatoren missfielen dessen

politische Aktivitäten. Mario Vargas Losa hat diese politischen Aktivitäten noch in

seinem Nachruf auf den Kollegen bedauert.

Zitatsprecher 2:

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„Cortázars Wandel, der außergewöhnlichste, den ich je bei einem Menschen erleben durfte,

eine Mutation, die ich oft mit der verglichen habe, die der Erzähler von Axolotl erfährt,

geschah der offiziellen, von ihm selbst sanktionierten Version zufolge im französischen Mai

1968. Damals, in diesen turbulenten Tagen, konnte man ihn auf den Pariser Barrikaden

sehen, wo er selbstverfaßte Flugblätter verteilte, mitten unter den Studenten, welche >>die

Phantasie an die Macht<< wünschten. Er war vierundfünfzig Jahre alt. Fortan, in den

sechzehn Jahren bis zu seinem Tod, sollte er der Schriftsteller sein, der sich für den

Sozialismus engagierte, der Verteidiger von Kuba und Nikaragua, der Unterzeichner von

Manifesten und der habitué von revolutionären Kongressen.

Sprecher:

Vargas Llosa glaubt, der Wandel habe mit der Trennung von seiner ersten Frau Aurora

Bernárdez zu tun. Cortázar wandte sich zunächst der litauischen Übersetzerin und

Schriftstellerin Ugnè Karvelis zu, um dann die kanadische Fotografin Carol Dunlop zu

heiraten. Sein Freund und Kollege fand ihn ohne Aurora vollständig verändert.

Autorin:

In Nicaragua war man froh über seine Wandlung.

21. O-Ton: Sergio Ramírez: Para nosotros era importante ... dar declaraciones.

Overvoice 5:

Für uns Sandinisten war es wichtig, den internationalen Rückhalt zu haben, in einer so

harten Auseinandersetzung, wie wir sie damals führten. Die Polarisierung zwischen der

US-Regierung unter Ronald Reagan und der sandinistischen Revolution war groß. Es war

wichtig, jemanden wie Julio Cortázar als Verteidiger der Revolution zu haben. Er hatte sich

der Solidarität mit Nicaragua verschrieben, er war in der Lage, nach Barcelona zu fahren

und an einer Fernsehsendung teilzunehmen, Briefe zu schreiben, sich für uns zu bewegen,

Erklärungen abzugeben.“

Sprecher:

Die Revolution in Nicaragua hatte Cortázar vor allem begeistert, weil sie auf

Alphabetisierung, Bildung und auf nicht kommerzielle Kultur setzte, auf ihre eigene

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Literatur und Musik. Und ihn faszinierte, dass mit Sergio Ramírez, Ernesto Cardenal,

Tomás Borge und anderen Schriftsteller und Dichter in die Politik einbezogen waren.

8. Musik: Luis Enrique Mejía Godoy: Soy de un pueblo pequeño, drüber sprechen

Zitatsprecher 1:

„Kaum ist man in Nikaragua angekommen, ... hallt einem das Wort >>Kultur<< in den

Ohren, es ist Teil einer äußerst vielfältigen Thematik und Programmatik, und schon nach

ganz kurzer Zeit merkt man, daß dieses Wort hier einen anderen Stellenwert hat, wo es in

einem Bereich benutzt wird, den manche privilegiert nennen könnten, den ich aber lieber

als elitär bezeichne.“

Autorin:

Salman Rushdie unterstützte wie Cortázar die Sandinistische Revolution. Cortázar

veröffentlichte 1983 sein Buch Nikaragua so gewaltsam sanft. Rushdie brachte seine

Nicaragua-Erinnerungen 1987 in Das Lächeln des Jaguar zu Papier.

Zitatsprecher 3:

„Wenn er in Nicaragua war, suchte er am liebsten die Märkte auf. Zusammen mit Tomás

Borge wanderte er dann über den alten >>orientalischen<< Markt, der in den Ruinen der

Innenstadt entstanden war. ... Nicaragua erwiderte Cortázars Zuneigung, und seine

Menschen liebten ihn. Der Autor des teuflisch esoterischen und schwierigen Werkes

Rayuela ... hatte mit vielen Marktleuten auf Duzfuß gestanden.“

Musik hochziehen, sodass man noch „juntos somos un volcán“ hört, danach weg.

Sprecher:

Mario Vargas Llosa fand Cortázar auch äußerlich verändert.

Zitatsprecher 2:

„Er hatte sich das Haar wachsen lassen und trug einen rötlichen, beeindruckenden Bart,

wie ein biblischer Prophet. Er brachte mich dazu, mit ihm zusammen erotsiche

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Zeitschriften kaufen zu gehen, und redete von Marihuana, von Frauen von der Revolution

wie früher von Jazz und von Phantasmen. Nach wie vor besaß er diese warmherzige

Freundlichkeit. Dieser andere Julio Cortázar war als Schriftsteller, so scheint mir, weniger

er selbst und weniger schöpferisch als der ursprüngliche. Aber ich glaube, daß er zum

Ausgleich ein intensiveres und womöglich glücklicheres Leben führte als zuvor.“

Autorin:

In dem Poem „Nachricht für Reisende“, das er Nicaragua widmete, findet sich nicht der

tiefgründige, dem Surrealismus zugewandte Tango-Dichter wieder, sondern der

sentimentale Junge von einst.

Zitatsprecher 1:

„Läßt man dem vollen Herzen die Zügel schießen,

liegt über allen Gesichtern des Mittags Glück,

spielen Kinder arglos im Wald mit Waffen,

gewann sich das Leben jede Straße zurück,

Der Wind der Freiheit ist dein Pilot gewesen,

des Volkes Kompaß war der Wegweiser dir,

wie viele Hände strecken sich dir entgegen,

wie viele Frauen, Kinder und Männer sind hier!

Reisender, siehst du, seine Tür ist offen,

das ganze Land scheint ein riesiges Haus zu sein.

Nein, der Flugplatz ist auch kein Irrtum gewesen,

Nikaragua ist es, bitte, tritt ein.“

Sprecher:

Cortázar nahm von 1974 bis 1976 am zweiten Russell-Tribunal teil, dessen Ziel es war,

aufzuzeigen, dass in vielen Ländern Lateinamerikas die Menschenrechte systematisch

verletzt wurden.

Autorin:

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Weil er wohl zu Recht befürchtete, dass vor allem in Lateinamerika niemand von den

Enthüllungen des Tribunals erfahren würde, schrieb er eine Kurzgeschichte, deren

Hauptfigur die mexikanische Comic-Figur Fantomas war und in die er die Ergebnisse

des Tribunals einbaute und auf die unrühmliche Rolle multinationaler Konzerne in der

Welt hinwies.

Sprecher:

Sujet der durchaus witzigen Propaganda-Geschichte ist die Vernichtung sämtlicher

Bücher dieser Welt durch einen Konzernchef namens Steiner. Schriftsteller wie Susan

Sontag, Alberto Moravio, Octavio Paz und natürlich Cortázar selbst tun sich mit

Fantomas zusammen, um das zu verhindern.

Zitatsprecher 1:

„Und obwohl der Erzähler die sehr fragwürdige Gewohnheit hatte, in Paris zu wohnen,

meldete er sich aus Barcelona, was ihn äußerst erfreute, weil diese Gabe der Allgegenwart

als Erklärung für viele eher ungewöhnliche Dinge, die sich gerade ereigneten, reichen

musste.

- Herr Julio Cortázar in Barcelona mein Herr.

- Es freut mich, dass du anrufst, Fantomas.

- Was sagt man in Barcelona zu dieser Büchervernichtungswelle?

- Anfangs tanzten die Verleger vor Freude. Sie witterten schon ein großes Geschäft durch

Millionen von Neuauflagen. Das Jubeln verging ihnen, als sie anonyme Drohungen

erhielten: Sie würden sterben, falls sie die verbrannten Ausgaben ersetzen wollten.

- Abzocker, interessant.

- Und du, Julio? Hat man dir nicht gedroht?

- Noch ein Roman und die köpfen mich.

22. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Die späteren Erzählbände sind vielleicht nicht mehr durchgängig so toll, aber in jedem

Buch gibt es drei, vier von acht Erzählungen, die einfach wunderbar sind, und andere, die

vielleicht nicht ganz so perfekt sind.“

Autorin:

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In Deutschland kam Julio Cortázar erst sehr spät an. Sein erster Erzählband Bestiarium

kam 1979 mit 29jähriger Verspätung hier auf den Markt. Rayuela erschien achtzehn

Jahre nach Erscheinen des Romans auf Spanisch. Es war Michi Strausfeld, die schließlich

für den Suhrkamp Verlag die Rechte für Cortázars Werke erwerben konnte.

23. O-Ton Michi Strausfeld:

„Es gab in Deutschland nur diesen Erzählband von Edith Aron, und dann gab es noch in der

Übersetzung von Wolfgang Promies Geschichten der Cronopien. Sonst gab es nichts.“

Sprecher:

In einem Brief an seinen spanischen Verleger hatte Cortázar 1964 geschrieben, er könne

sich Edith Aron, mit der er vor seiner Ehe mit Aurora Bernárdez liiert war, nicht als

Übersetzerin von Rayuela vorstellen. Er konnte sich deshalb wohl lange nicht

durchringen, die deutschen Übersetzungsrechte an seinen Werken zu verkaufen, weil er

Aron nicht vor den Kopf stoßen wollte.

24. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Julio sagte dann auch, das ist sehr schwierig mit Rayuela.“

Autorin:

Seit einigen Jahren weiß man, das sich Edith Aron hinter der Maga verbirgt. Noch 2005

warf sie Cortázar in einem Interview vor, mit seinem Brief an seinen spanischen

Verleger, der zwischen den Zeilen ihre intellektuellen Fähigkeiten angezweifelt habe,

ihre Karriere als Übersetzerin zerstört zu haben.

Sprecher:

Als Rayuela Himmel und Hölle dann 1981 endlich in einer glänzenden Übersetzung von

Fritz Rudolf Fries auf Deutsch erschien, wurde der Roman auch hier ein Erfolg.

9. Musik: Los Brujos: Canción del Cronopio, drübersprechen

Autorin:

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Die Rockgruppe Los Brujos, zu deutsch Die Hexer, mischten in den Neunzigerjahren die

argentinische Musik-Szene auf, unter anderem mit ihrem Lied vom guten Cronopium,

der wohl bekanntesten Schöpfung von Julio Cortázar. Vielen Lesern fallen beim Namen

Cortázar zuerst die Geschichten der Cronopien und Famen ein.

Zitatsprecher 1:

„Wenn die Cronopien auf Reisen gehen, finden sie die Hotels besetzt, die Züge sind schon

fort, es regnet lautstark, und die Taxis wollen sie nicht mitnehmen oder verlangen

gesalzene Preise. Die Cronopien lassen sich davon nicht entmutigen, denn sie sind des

festen Glaubens, daß solche Dinge jedermann erlebt, und zur Schlafenszeit sagen sie

zueinander: >>Die schöne Stadt, die wunderschöne Stadt<<. Und träumen die ganze Nacht,

daß in der Stadt große Feste gefeiert und sie dazu eingeladen werden. Anderntags stehen

sie auf und sind von Herzen froh: auf diese Weise reisen die Cronopien.“

25. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Diese Cronopien, diese kleinen grünen feuchten Dingerchen, die sind natürlich so was von

poetisch und wunderbar, dass man immer sagt, ja, er ist das Cronopium par excellence.“

Sprecher:

Mario Vargas Llosa glaubt, dass in Cortázars Welt, und besonders in den Cronopien, das

Spiel zu einer ernsten Tätigkeit wird.

Zitatsprecher 2:

„Wahrscheinlich hat kein anderer Schriftsteller dem Spiel so sehr zu literarischen Würden

verholfen wie Cortázar es getan hat. Und niemand hat, wie er, aus dem Spiel ein derart

geschmeidiges, nützliches Element der künstlerischen Schöpfung und Erkundung gemacht.

... Julio spielte nicht, um Literatur zu machen. Für ihn war das Schreiben selbst spielen, sich

amüsieren, das Leben.“

26. O-Ton: Michi Strausfeld:

„Er hat mit Judith, die damals fünf war, unter dem Tisch gespielt. Er war so ein

zugewandter, unglaublich höflicher, aufmerksamer Mensch, der mit seinem jugendlichen

Aussehen und seiner kindlichen Weisheit – das ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber er

hatte etwas Kindliches immer an sich, und er war ein weiser Mann, das will ich damit

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sagen, ein ganz kluger, aber auch ein weiser Mann, was viele Dinge anbetraf, in anderen

war er ein Enthusiast.“

Autorin:

Während eines Strandaufenthaltes in Nicaragua erfahren Julio Cortázar und seine

zweite Ehefrau, die kanadische Fotografin und Schriftstellerin Carol Dunlop, dass Carol

an Krebs erkrankt ist. Wenig später bekommt er die gleiche Diagnose. Beide schon

todkrank, gehen sie noch mit einem VW-Bus auf eine letzte gemeinsame Reise von Paris

nach Marseille.

Sprecher:

Aus den Reiseerlebnissen wird ein gemeinsames Buch, Die Autonauten auf der

Kosmobahn.

Zitatsprecher 1:

„Leser, vielleicht weißt du es schon: Dieses Buch, das von Bärchen und dem Wolf gelebt und

geschrieben wurde, so wie ein Pianist eine Sonate spielt und dabei die Hände in einer

einzigen Suche nach Rhythmus und Melodie vereint sind, beendet und ordnet Julio, der

Wolf, allein.“

Autorin:

Carol Dunlop verstarb am 2. November 1982. Julio Cortázar überlebte seine 32 Jahre

jüngere Frau nur um gut zwei Jahre. Er starb am 12. Februar 1984. Seine erste Frau,

Aurora Bernárdez, hat ihn bis zuletzt gepflegt.

Sprecher:

Lange glaubte man, er sei einer Leukämie zum Opfer gefallen. Seine Freundin Cristina

Peri Rossi fand jedoch heraus, dass er an AIDS erkrankt war, in Folge einer

Bluttransfusion, die er einige Jahre zuvor während einer Magenblutung erhalten hatte.

Er hatte Carol Dunlop mit AIDS infiziert, und weil sie jünger war, entwickelte sich die

Krankheit bei ihr schneller.

Zitatsprecherin 1:

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„Vor seiner Krankheit, eine der wenigen, die er im Laufe seines Lebens hatte, pflegte Julio

mir lächelnd zu sagen: „Ich bin unsterblich“. ... Er war ein optimistischer Mensch, der nie

zusammenbrach, weder bei Carols Tod, noch angesichts seiner eigenen Krankheit.“

27. O-Ton Michi Strausfeld:

„Auf seinem Grabstein steht ein Cronopium, das sein Freund Julio Silva für ihn gemacht hat,

aus Marmor.“

Autorin:

Julio Cortázar wurde auf dem Pariser Friedhof Montparnasse begraben. Am 26. August

2014 wäre er 100 Jahre alt geworden.

28. O-Ton: Sergio Ramírez: Ahora que se cumplen ... su resurreción.

Overvoice 5:

„Und jetzt, anlässlich seines 100sten Geburtstags, werden wir seine Auferstehung erleben.“

10. Musik: Gardel: Mi noche triste