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| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | M5 MAGAZIN SONNABEND/SONNTAG 14./15.MÄRZ 2015 SÄCHSISCHE ZEITUNG Verzerrte Gesellschaft Ist die Demokratie in einer Krise? Straßenproteste und neue Parteien sind Normalität, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Ihn treibt eine ganz andere Sorge um. chon Platon und Aristoteles spra- chen von einer Krise der Demokra- tie. Doch in letzter Zeit scheint das ewige Thema wieder brisant zu werden: soziale Ungleichheit, sinkende Wahlbeteiligung, Zusammenprall der Kulturen, Massenproteste in Dresden. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel befasst sich seit Jahren mit den Stärken und Schwächen demokratischer Systeme. Er warnt davor, dass sich ein Teil der Be- völkerung von der Politik verabschiedet. Herr Merkel, seit Jahren wird von der Politikverdrossenheit geredet. Sind Protestparteien und -bündnisse wie AfD und Pegida Zeichen dafür, dass die Verdrossenheit politisch wird? Protestparteien und wiederkehrende De- monstrationen zeigen häufig eine Politi- sierung von Bürgern an. Da kann ein Bahnhof in Stuttgart die Ursache sein oder aber die Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik in Dresden. Die AfD ist übrigens keineswegs nur eine Pro- testpartei. Sie repräsentiert auch Einstel- lungen und Meinungen eines gar nicht so kleinen Teils der Bevölkerung. Ist Pegida ein Symptom für eine Krise der Demokratie? Nein, das wäre zu viel der Ehre für diese dubiose Organisation. Eine Demokratie kann, soll und muss auch diese Manifesta- tionen aushalten, selbst wenn sie latente fremdenfeindliche Ansichten zum Aus- druck bringen. Man könnte Pegida auch so sehen: Tausende machen von ihrem Bürger- recht auf Demonstration Gebrauch und stoßen eine Debatte an. Ist das nicht lebendige Demokratie pur? Das wäre ja ein schickes sächsisches Para- dox: Bürger mit teilweise undemokrati- schen Einstellungen äußern diese auf der Straße, und schon wird die eingeschla- fene Demokratie wieder quicklebendig. Aber dafür ist Pegida selbst zu wenig de- mokratisch. Dennoch: Da gibt es Bürger – und das geht über Pegida und AfD hinaus –, die fühlen sich von den konven- tionellen Parteien nicht mehr repräsen- tiert. Sie gründen neue Parteien und Orga- nisationen und füllen damit eine Reprä- sentationslücke. Auch das ist Teil, wenn nicht gar Stärke der Demokratie. Der sächsische CDU-Landtagsabgeord- nete Lars Rohwer vergleicht Pegida mit der 68er-Bewegung, weil die „Sys- temfrage wieder auf der Tagesord- nung“ sei. Sehen Sie auch Parallelen? Das ist im ersten Anschein ignorant, bei genauerer Ansicht geradezu abstrus. Wer Pegida attestiert, sie hätte die Systemfrage gestellt, also die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein der Demokratie, bläst die Be- deutung einer in sich gerade zusammen- fallenden Bewegung noch mal kräftig auf und unterschätzt fahrlässig die Robust- heit unserer Demokratie. Der Vergleich mit der 68er-Bewegung offenbart zudem eine erstaunliche historische Unkenntnis. Inwiefern? Die damalige Studentenbewegung ist angetreten, die Reste der formierten Adenauer-Gesellschaft aufzulösen. Sie wollte die Gesellschaft öffnen, Pegida will sie schließen. Sie trat für die Überwin- dung nationaler Engstirnigkeit ein, Pegida will zurück in nationalistische Ressenti- ments. Die Studentenbewegung hat die bundesdeutsche Gesellschaft kulturell modernisiert, Pegida parodiert mit rück- wärtsgewandten Parolen. S In Sachsen lag die Wahlbeteiligung voriges Jahr bei historisch niedrigen 49,1 Prozent. Was ist eine Demokratie noch wert, in der jeder Zweite nicht zur Wahl geht? Fast nur die Hälfte. Dabei geht es nicht nur um die niedrige Wahlbeteiligung, sondern vielmehr um deren ständigen Rückgang. Das eigentliche Problem aber ist, dass diejenigen, die nicht wählen gehen, kein repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung sind. Sie sind vor allem den unteren Schichten zuzurechnen. Nicht nur in Sachsen, sondern auch in ganz Deutschland, Europa und der gesam- ten westlichen Welt: Die unteren Schich- ten steigen aus der politischen Teilnahme aus. Wir laufen Gefahr, zu einer „Zwei- Drittel-Demokratie“ zu werden. Oft hört man jedoch, die Wahlbeteili- gung sei so niedrig, weil es den Men- schen einfach zu gut geht. Es gibt diese Zufriedenheitsthese, sie kommt vor allem aus den USA. Dies ist empirischer Unsinn. Denn es sind nicht die saturierten oberen Mittelschichten, die sich der Wahlen enthalten. Die wählen fleißig überproportional weiter. Es sind die unteren Schichten, die mit ih- rem Leben unzufrieden sind. Sie protes- tieren aber immer weniger, sondern zie- hen sich resigniert in die politische Apa- thie zurück. In Belgien gibt es eine Wahlpflicht. Aber kann das die Lösung sein, die Bürger an die Wahlurne zu zwingen? Ich halte eine Wahlpflicht für sinnvoll. Einmal in vier oder mehr Jahren zu Kom- munal-, Landtags-, Bundestags und Euro- pawahlen zu gehen ist keine Freiheits- beraubung. Das Steuerrecht verlangt von den Bürgern ganz andere Pflichten. Bei einer Wahlpflicht sollte es aber auch eine Protestoption auf dem Wahlzettel geben, das heißt eine Wahlkategorie, die besagt: „Keine der Parteien.“ Die Wahlpflicht alleine wird es allerdings nicht richten. Sind Volksentscheide ein Mittel, um die Bürger wieder mehr für Politik zu interessieren? Jein. Zum einen erweitern Volksent- scheide die Mitwirkungsmöglichkeiten. Das ist positiv. Aber: Zu Volksentscheiden gehen noch weniger Bürger als zu Wah- len. Je häufiger sie stattfinden, umso we- niger nehmen teil. Je weniger sich beteili- gen, umso größer ist der Überhang der Mittelschichten und die Unterrepräsen- tation der unteren Schichten. Wenn knapp 25,1 Prozent vor allem der männ- lichen Mittel- und Oberschichten mittle- ren Alters ein Gesetz beschließen, das für alle gilt – dann kann das auch weniger De- mokratie bedeuten. Dann erhebt sich mit Fug und Recht die Frage: Wer ist das Volk? In Brüssel werden viele wichtige Ent- scheidungen getroffen, die unser Leben betreffen. Das EU-Parlament hat darauf nur wenig Einfluss, wir Wähler also auch nicht. Ist das nicht eine schleichende Aushöhlung der Demo- kratie? Ja, leider ist das so. Die EU ist deutlich we- niger demokratisch als die meisten ihrer Mitgliedsländer, nicht zuletzt Deutsch- land. Würde die EU die Aufnahme ihrer selbst in den Klub verlangen, sie würde wegen gravierender Defizite abgelehnt. Das Europäische Parlament bietet keinen Ausweg aus dem Dilemma. Die Bürger schätzen es nicht, falls sie überhaupt seine Kompetenzen kennen. Die Wahl- beteiligung ging seit 1979 noch bei jeder Wahl zurück. Bei den letzten Wahlen 2014 beteiligten sich europaweit nur noch 43,1 Prozent. Ein dünnes Eis, das nicht weit trägt. In Deutschland gibt es viele, die mit Putin sympathisieren. Steckt dahinter auch eine Sehnsucht nach dem „star- ken Mann“, den es in einer Demokra- tie kaum geben kann? Die Deutschen fühlen sich da doch besser bei einer „Mutti“ aufgehoben, die nicht polarisiert, keine klare Meinung vorträgt, abwartet und sich geradezu präsidial überparteilich gibt. Ihr Typus verkörpert in Wort und Bild eher den deutschen Durchschnittstypus als eine herausgeho- ben autoritäre Regentin. Brauchen wir vielleicht doch wieder mehr Nationalstolz, um die Menschen für Politik zu begeistern? Nein, weiß Gott nicht. Da reicht schon die Begeisterung für unsere Fußball-Elf. „Wir“ spielen uns gegenwärtig schon ge- nügend als wirtschaftspolitischer Lehr- meister in Europa auf. Das wird Deutsch- land längerfristig in der EU zurückgezahlt werden. Am deutschen Wesen soll bitte niemand genesen. Weil sich immer mehr vom System ab- wenden, wird jetzt oft nach politischer Bildung gerufen. Riecht das nicht nach „Staatsbürgerkunde“ wie in der DDR? Nein, Staatsbürgerkunde ist keine Anwei- sung von oben. Es ist eine Ermächtigung der Zivilgesellschaft, die da oben zu kon- trollieren und sich aktiv in die öffentli- chen Angelegenheiten einzumischen. Heute vollziehen sich nämlich politische Lernprozesse viel stärker in der Zivil- gesellschaft als unter staatlicher Ägide. Sind Islam und Demokratie miteinan- der vereinbar? „Den“ Islam und „die“ Demokratie gibt es nicht. Es gibt Schiiten, Sunniten, Sufis, IS, Euroislam, Hassprediger, Judenhasser, aber auch rechtsstaatlich-demokratisch denkende Muslime in Europa und anders- wo. Allerdings kann kein Zweifel beste- hen, dass manche Varianten des gegen- wärtigen Islam nur schwer mit den Gebo- ten der Demokratie vereinbar sind. Wer den Abfall vom „rechten Glauben“ drako- nisch bestraft, wer Homosexualität krimi- nalisiert, die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen verweigert, wer Kritik am Pro- pheten mit Fatwas belegt, der steht außer- halb der Demokratie. Leider reden wir weltweit da nicht über kleine Minder- heiten. Warum gibt es in Deutschland eigent- lich keine Massenproteste gegen die zunehmende soziale Ungleichheit? Wir sind eine saturierte Mittelschichts- gesellschaft geworden. Die benachteilig- ten Schichten beteiligen sich nur noch wenig an der Politik. Gewerkschaften ver- treten nicht mehr die Unterschichten. Warum aber nicht gegen eine Entwick- lung protestiert wird, die 1 Prozent oder 0,1 Prozent der Gesellschaft schamlos su- perreich macht, ist auch für Politikwis- senschaftler schwer zu erklären. Die demokratischen Regierungen haben welt- weit mit der perspektivlosen Deregulie- rung der Märkte und der Privatisierung öffentlicher Güter dem Kapitalismus zu viel Raum gegeben. Der Zauberlehrling hat zu viel aus der Hand gegeben. Viele klagen, es gebe kaum noch Un- terschiede zwischen den Parteien. Was sagt die Politikwissenschaft dazu? Das ist zwar ein populärer Spruch, stimmt aber nicht. Die Programme von FDP und der Linken, der AfD und den Grünen un- terscheiden sich erheblich. Richtig ist, dass die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD sich in Fragen der Finanz-, Wirt- schafts- und Sozialpolitik nur noch wenig unterscheiden, wenn sie in der Regierung sitzen. Große Koalitionen sind aber kei- neswegs weniger demokratisch als an- dere Koalitionen, da sie einen größeren Anteil der Wähler repräsentieren. Ausgerechnet den Ostdeutschen, die ihre Freiheit selbst erkämpft haben, wird vorgeworfen, ihnen fehle Demo- kratie-Erfahrung. Ist es nicht umge- kehrt so, dass Westdeutsche in einer Wohlfühldemokratie gelebt haben? Die Bürgerrechtsaktivisten und die gro- ßen Montagsdemonstrationen 1989 in der DDR verdienen allen Respekt. Gerade von den Wohlstandswessis, die die Chance der Demokratie 1945 auch eher von den Westmächten „geschenkt“ bekamen. Für Ostdeutschland wurde die Freiheit eher in Moskau entschieden, in Polen erkämpft und in Ungarn vorbereitet. Erst dann wuchs der Protest auch in der DDR. Der System-Kollaps kam dann für viele unerwartet. Können wir sicher sein, dass unsere Demokratie stabil ist? Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Der faktische Ausschluss der unteren Schich- ten ist besorgniserregend. Die Transfor- mation der sozialen Marktwirtschaft in eine sozial unsensible Marktgesellschaft stellt ein Problem dar. Aber: Die deutsche Demokratie zählt in der Politikwissen- schaft mit Recht zu den besten der Welt. Zudem ist sie außerordentlich stabil. Daran ändert auch die randständige Pegida nichts. Gespräch: Marcus Krämer Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokra- tisierung“ am Wissenschafts- zentrum Berlin für Sozialforschung. Soeben erschienen ist das von ihm herausgegebene Buch „Demokratie und Krise“, Verlag Sprin- ger VS, 500 Seiten, 59,99 Euro. Mehr als 25 000 Menschen kamen nach Schätzungen der Polizei am 12. Januar 2015 zu dieser Pegida-Demonstration in Dresden. Foto: Arno Burgi / dpa

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Interview Crisis of Democracy

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    M5

    MAGAZIN

    S O N N A B E N D / S O N N T A G

    1 4 . / 1 5 . M R Z 2 0 1 5 S C H S I S C H E Z E I T U N G

    Verzerrte Gesellschaft

    Ist die Demokratie in einer Krise? Straenproteste und neue Parteien sind Normalitt,

    sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Ihn treibt eine ganz andere Sorge um.

    chon Platon und Aristoteles spra-

    chen von einer Krise der Demokra-

    tie. Doch in letzter Zeit scheint das

    ewige Thema wieder brisant zu

    werden: soziale Ungleichheit, sinkende

    Wahlbeteiligung, Zusammenprall der

    Kulturen, Massenproteste in Dresden. Der

    Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel

    befasst sich seit Jahren mit den Strken

    und Schwchen demokratischer Systeme.

    Er warnt davor, dass sich ein Teil der Be-

    vlkerung von der Politik verabschiedet.

    Herr Merkel, seit Jahren wird von der

    Politikverdrossenheit geredet. Sind

    Protestparteien und -bndnisse wie

    AfD und Pegida Zeichen dafr, dass

    die Verdrossenheit politisch wird?

    Protestparteien und wiederkehrende De-

    monstrationen zeigen hufig eine Politi-

    sierung von Brgern an. Da kann ein

    Bahnhof in Stuttgart die Ursache sein

    oder aber die Unzufriedenheit mit der

    Einwanderungspolitik in Dresden. Die

    AfD ist brigens keineswegs nur eine Pro-

    testpartei. Sie reprsentiert auch Einstel-

    lungen und Meinungen eines gar nicht so

    kleinen Teils der Bevlkerung.

    Ist Pegida ein Symptom fr eine Krise

    der Demokratie?

    Nein, das wre zu viel der Ehre fr diese

    dubiose Organisation. Eine Demokratie

    kann, soll und muss auch diese Manifesta-

    tionen aushalten, selbst wenn sie latente

    fremdenfeindliche Ansichten zum Aus-

    druck bringen.

    Man knnte Pegida auch so sehen:

    Tausende machen von ihrem Brger-

    recht auf Demonstration Gebrauch

    und stoen eine Debatte an. Ist das

    nicht lebendige Demokratie pur?

    Das wre ja ein schickes schsisches Para-

    dox: Brger mit teilweise undemokrati-

    schen Einstellungen uern diese auf der

    Strae, und schon wird die eingeschla-

    fene Demokratie wieder quicklebendig.

    Aber dafr ist Pegida selbst zu wenig de-

    mokratisch. Dennoch: Da gibt es Brger

    und das geht ber Pegida und AfD

    hinaus , die fhlen sich von den konven-

    tionellen Parteien nicht mehr reprsen-

    tiert. Sie grnden neue Parteien und Orga-

    nisationen und fllen damit eine Repr-

    sentationslcke. Auch das ist Teil, wenn

    nicht gar Strke der Demokratie.

    Der schsische CDU-Landtagsabgeord-

    nete Lars Rohwer vergleicht Pegida

    mit der 68er-Bewegung, weil die Sys-

    temfrage wieder auf der Tagesord-

    nung sei. Sehen Sie auch Parallelen?

    Das ist im ersten Anschein ignorant, bei

    genauerer Ansicht geradezu abstrus. Wer

    Pegida attestiert, sie htte die Systemfrage

    gestellt, also die Frage nach dem Sein oder

    Nicht-Sein der Demokratie, blst die Be-

    deutung einer in sich gerade zusammen-

    fallenden Bewegung noch mal krftig auf

    und unterschtzt fahrlssig die Robust-

    heit unserer Demokratie. Der Vergleich

    mit der 68er-Bewegung offenbart zudem

    eine erstaunliche historische Unkenntnis.

    Inwiefern?

    Die damalige Studentenbewegung ist

    angetreten, die Reste der formierten

    Adenauer-Gesellschaft aufzulsen. Sie

    wollte die Gesellschaft ffnen, Pegida will

    sie schlieen. Sie trat fr die berwin-

    dung nationaler Engstirnigkeit ein, Pegida

    will zurck in nationalistische Ressenti-

    ments. Die Studentenbewegung hat die

    bundesdeutsche Gesellschaft kulturell

    modernisiert, Pegida parodiert mit rck-

    wrtsgewandten Parolen.

    S

    In Sachsen lag die Wahlbeteiligung

    voriges Jahr bei historisch niedrigen

    49,1 Prozent. Was ist eine Demokratie

    noch wert, in der jeder Zweite nicht

    zur Wahl geht?

    Fast nur die Hlfte. Dabei geht es nicht

    nur um die niedrige Wahlbeteiligung,

    sondern vielmehr um deren stndigen

    Rckgang. Das eigentliche Problem aber

    ist, dass diejenigen, die nicht whlen

    gehen, kein reprsentativer Durchschnitt

    der Bevlkerung sind. Sie sind vor allem

    den unteren Schichten zuzurechnen.

    Nicht nur in Sachsen, sondern auch in

    ganz Deutschland, Europa und der gesam-

    ten westlichen Welt: Die unteren Schich-

    ten steigen aus der politischen Teilnahme

    aus. Wir laufen Gefahr, zu einer Zwei-

    Drittel-Demokratie zu werden.

    Oft hrt man jedoch, die Wahlbeteili-

    gung sei so niedrig, weil es den Men-

    schen einfach zu gut geht.

    Es gibt diese Zufriedenheitsthese, sie

    kommt vor allem aus den USA. Dies ist

    empirischer Unsinn. Denn es sind nicht

    die saturierten oberen Mittelschichten,

    die sich der Wahlen enthalten. Die

    whlen fleiig berproportional weiter.

    Es sind die unteren Schichten, die mit ih-

    rem Leben unzufrieden sind. Sie protes-

    tieren aber immer weniger, sondern zie-

    hen sich resigniert in die politische Apa-

    thie zurck.

    In Belgien gibt es eine Wahlpflicht.

    Aber kann das die Lsung sein, die

    Brger an die Wahlurne zu zwingen?

    Ich halte eine Wahlpflicht fr sinnvoll.

    Einmal in vier oder mehr Jahren zu Kom-

    munal-, Landtags-, Bundestags und Euro-

    pawahlen zu gehen ist keine Freiheits-

    beraubung. Das Steuerrecht verlangt von

    den Brgern ganz andere Pflichten. Bei

    einer Wahlpflicht sollte es aber auch eine

    Protestoption auf dem Wahlzettel geben,

    das heit eine Wahlkategorie, die besagt:

    Keine der Parteien. Die Wahlpflicht

    alleine wird es allerdings nicht richten.

    Sind Volksentscheide ein Mittel, um

    die Brger wieder mehr fr Politik zu

    interessieren?

    Jein. Zum einen erweitern Volksent-

    scheide die Mitwirkungsmglichkeiten.

    Das ist positiv. Aber: Zu Volksentscheiden

    gehen noch weniger Brger als zu Wah-

    len. Je hufiger sie stattfinden, umso we-

    niger nehmen teil. Je weniger sich beteili-

    gen, umso grer ist der berhang der

    Mittelschichten und die Unterreprsen-

    tation der unteren Schichten. Wenn

    knapp 25,1 Prozent vor allem der mnn-

    lichen Mittel- und Oberschichten mittle-

    ren Alters ein Gesetz beschlieen, das fr

    alle gilt dann kann das auch weniger De-

    mokratie bedeuten. Dann erhebt sich mit

    Fug und Recht die Frage: Wer ist das Volk?

    In Brssel werden viele wichtige Ent-

    scheidungen getroffen, die unser

    Leben betreffen. Das EU-Parlament hat

    darauf nur wenig Einfluss, wir Whler

    also auch nicht. Ist das nicht eine

    schleichende Aushhlung der Demo-

    kratie?

    Ja, leider ist das so. Die EU ist deutlich we-

    niger demokratisch als die meisten ihrer

    Mitgliedslnder, nicht zuletzt Deutsch-

    land. Wrde die EU die Aufnahme ihrer

    selbst in den Klub verlangen, sie wrde

    wegen gravierender Defizite abgelehnt.

    Das Europische Parlament bietet keinen

    Ausweg aus dem Dilemma. Die Brger

    schtzen es nicht, falls sie berhaupt

    seine Kompetenzen kennen. Die Wahl-

    beteiligung ging seit 1979 noch bei jeder

    Wahl zurck. Bei den letzten Wahlen

    2014 beteiligten sich europaweit nur

    noch 43,1 Prozent. Ein dnnes Eis, das

    nicht weit trgt.

    In Deutschland gibt es viele, die mit

    Putin sympathisieren. Steckt dahinter

    auch eine Sehnsucht nach dem star-

    ken Mann, den es in einer Demokra-

    tie kaum geben kann?

    Die Deutschen fhlen sich da doch besser

    bei einer Mutti aufgehoben, die nicht

    polarisiert, keine klare Meinung vortrgt,

    abwartet und sich geradezu prsidial

    berparteilich gibt. Ihr Typus verkrpert

    in Wort und Bild eher den deutschen

    Durchschnittstypus als eine herausgeho-

    ben autoritre Regentin.

    Brauchen wir vielleicht doch wieder

    mehr Nationalstolz, um die Menschen

    fr Politik zu begeistern?

    Nein, wei Gott nicht. Da reicht schon die

    Begeisterung fr unsere Fuball-Elf.

    Wir spielen uns gegenwrtig schon ge-

    ngend als wirtschaftspolitischer Lehr-

    meister in Europa auf. Das wird Deutsch-

    land lngerfristig in der EU zurckgezahlt

    werden. Am deutschen Wesen soll bitte

    niemand genesen.

    Weil sich immer mehr vom System ab-

    wenden, wird jetzt oft nach politischer

    Bildung gerufen. Riecht das nicht nach

    Staatsbrgerkunde wie in der DDR?

    Nein, Staatsbrgerkunde ist keine Anwei-

    sung von oben. Es ist eine Ermchtigung

    der Zivilgesellschaft, die da oben zu kon-

    trollieren und sich aktiv in die ffentli-

    chen Angelegenheiten einzumischen.

    Heute vollziehen sich nmlich politische

    Lernprozesse viel strker in der Zivil-

    gesellschaft als unter staatlicher gide.

    Sind Islam und Demokratie miteinan-

    der vereinbar?

    Den Islam und die Demokratie gibt es

    nicht. Es gibt Schiiten, Sunniten, Sufis, IS,

    Euroislam, Hassprediger, Judenhasser,

    aber auch rechtsstaatlich-demokratisch

    denkende Muslime in Europa und anders-

    wo. Allerdings kann kein Zweifel beste-

    hen, dass manche Varianten des gegen-

    wrtigen Islam nur schwer mit den Gebo-

    ten der Demokratie vereinbar sind. Wer

    den Abfall vom rechten Glauben drako-

    nisch bestraft, wer Homosexualitt krimi-

    nalisiert, die sexuelle Selbstbestimmung

    der Frauen verweigert, wer Kritik am Pro-

    pheten mit Fatwas belegt, der steht auer-

    halb der Demokratie. Leider reden wir

    weltweit da nicht ber kleine Minder-

    heiten.

    Warum gibt es in Deutschland eigent-

    lich keine Massenproteste gegen die

    zunehmende soziale Ungleichheit?

    Wir sind eine saturierte Mittelschichts-

    gesellschaft geworden. Die benachteilig-

    ten Schichten beteiligen sich nur noch

    wenig an der Politik. Gewerkschaften ver-

    treten nicht mehr die Unterschichten.

    Warum aber nicht gegen eine Entwick-

    lung protestiert wird, die 1 Prozent oder

    0,1 Prozent der Gesellschaft schamlos su-

    perreich macht, ist auch fr Politikwis-

    senschaftler schwer zu erklren. Die

    demokratischen Regierungen haben welt-

    weit mit der perspektivlosen Deregulie-

    rung der Mrkte und der Privatisierung

    ffentlicher Gter dem Kapitalismus zu

    viel Raum gegeben. Der Zauberlehrling

    hat zu viel aus der Hand gegeben.

    Viele klagen, es gebe kaum noch Un-

    terschiede zwischen den Parteien. Was

    sagt die Politikwissenschaft dazu?

    Das ist zwar ein populrer Spruch, stimmt

    aber nicht. Die Programme von FDP und

    der Linken, der AfD und den Grnen un-

    terscheiden sich erheblich. Richtig ist,

    dass die beiden groen Parteien CDU/CSU

    und SPD sich in Fragen der Finanz-, Wirt-

    schafts- und Sozialpolitik nur noch wenig

    unterscheiden, wenn sie in der Regierung

    sitzen. Groe Koalitionen sind aber kei-

    neswegs weniger demokratisch als an-

    dere Koalitionen, da sie einen greren

    Anteil der Whler reprsentieren.

    Ausgerechnet den Ostdeutschen, die

    ihre Freiheit selbst erkmpft haben,

    wird vorgeworfen, ihnen fehle Demo-

    kratie-Erfahrung. Ist es nicht umge-

    kehrt so, dass Westdeutsche in einer

    Wohlfhldemokratie gelebt haben?

    Die Brgerrechtsaktivisten und die gro-

    en Montagsdemonstrationen 1989 in der

    DDR verdienen allen Respekt. Gerade von

    den Wohlstandswessis, die die Chance der

    Demokratie 1945 auch eher von den

    Westmchten geschenkt bekamen. Fr

    Ostdeutschland wurde die Freiheit eher in

    Moskau entschieden, in Polen erkmpft

    und in Ungarn vorbereitet. Erst dann

    wuchs der Protest auch in der DDR.

    Der System-Kollaps kam dann fr viele

    unerwartet. Knnen wir sicher sein,

    dass unsere Demokratie stabil ist?

    Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Der

    faktische Ausschluss der unteren Schich-

    ten ist besorgniserregend. Die Transfor-

    mation der sozialen Marktwirtschaft in

    eine sozial unsensible Marktgesellschaft

    stellt ein Problem dar. Aber: Die deutsche

    Demokratie zhlt in der Politikwissen-

    schaft mit Recht zu den besten der Welt.

    Zudem ist sie auerordentlich stabil.

    Daran ndert auch die randstndige

    Pegida nichts.

    Gesprch: Marcus Krmer

    Wolfgang Merkel, geboren

    1952 in Hof, ist Professor

    fr Politikwissenschaft und

    Direktor der Abteilung

    Demokratie und Demokra-

    tisierung am Wissenschafts-

    zentrum Berlin fr Sozialforschung. Soeben

    erschienen ist das von ihm herausgegebene

    Buch Demokratie und Krise, Verlag Sprin-

    ger VS, 500 Seiten, 59,99 Euro.

    Mehr als 25 000 Menschen kamen nach Schtzungen der Polizei am 12. Januar 2015 zu dieser Pegida-Demonstration in Dresden. Foto: Arno Burgi / dpa