tacke auf eine deutsche stadt. nach new york, politik. ob ... · tet, fast erwartet hatte: die...

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E „Nichts mehr da, wo es vorher war“ Es sind 279 Tage vergangen, auch der Sommer ist schon wieder vorbei, da läuft Russell Schulz an einem Sonntagmorgen gegen eine Wand von Menschen. Sie stehen nicht weit von seiner Haustür in Berlin-Charlottenburg am Straßen- rand, trotz Nieselregens. Überhaupt scheint die halbe Stadt unterwegs an diesem Tag, der Tag des Marathons, das sieht er dann: auf der Straße die Läufer, einzelne, Gruppen, bunte Trikots und rote Gesichter, auf den Bürgersteigen die Zu- schauer. Sie jubeln, sie klatschen, sie schreien: „Go! Go! Go!“ Sie feuern an: „Du schaffst es!“ Russell Schulz bleibt stehen. Läufer, Zuschauer, Schreie. Tränen laufen seine Wangen herunter, ein paar erst, dann immer mehr. Er tut nichts mehr dagegen. Er hat viele Gründe zu weinen, und er hat viel geweint in den Wochen, in den Monaten zuvor. Vor Trauer, Schmerz, Hoff- nungslosigkeit, vor Angst. Aber an diesem Tag, sagt Russell Schulz, weinte er vor Glück. Da wa- ren so viele Menschen, und keiner verletzte ei- nen anderen, keiner war gegen einen anderen; die einen gaben ihr Bestes, und die anderen wünschten es ihnen, sagt er. Und dass er dachte: Das ist, wie das Leben sein soll. Diese Momente. 19. Dezember 2016, Montag: Ich war im „Momm- seneck“ am Hindemithplatz. Es sind düstere und trübe Tage gerade, das Wetter, die Stimmung. Mir ist nicht danach, viel zu unternehmen, Hubertus geht es auch so. Er wird heute Nachmittag nach Spandau fahren, Ich werde mich mit Peter und Richard am Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz treffen, auf einen Glühwein oder zwei, oder drei. Sie waren bei dem zweiten Glühwein, als der riesige Lkw auf den Breitscheidplatz raste, in den Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen starben an diesem Abend, mehr als 70 wurden verletzt. Es war der Anschlag, den man so lange befürch- tet, fast erwartet hatte: Die erste große Terrorat- tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Madrid, London, Paris, Brüssel: Berlin. Es dauer- te knapp 79 Stunden, bis der Attentäter in einem kleinen Ort bei Mailand erschossen wurde. Es ging in diesen Stunden und in Tausenden danach sehr oft, immer wieder um ihn. Um die Men- schen, die jetzt die Opfer hießen, ging es auch. Manchmal. An den Tagen nach dem Anschlag etwa, als ge- fragt wurde, wer sie waren. Oder ein paar Wo- chen später, als sich immer mehr Unmut darü- ber regte, wie mit ihnen, mit den Angehörigen der Toten, und mit den Verletzten umgegangen wurde, vor allem von den Behörden und von der Politik. Ob die Hilfen ausreichend, die Aufmerk- samkeit angemessen waren. Es begann eine Dis- kussion über fehlende Trauerkultur in Deutsch- land, über die offizielle Trauerfeier, die nicht stattgefunden hatte, das Denkmal, das gebaut werden sollte, und über Geld. Es ging um Zahlen, um Zuständigkeiten und um Schuld. Es geht da- rum noch immer. Gerade erst haben einige der Hinterbliebenen einen Brief an Angela Merkel geschrieben, dieses Mal hat man sie gehört. Aber um die Leben, die zerstört und verletzt wurden, ging es selten. Das hatte auch damit zu tun, dass die Betroffenen nicht wollten, dass die- se Leben vor aller Augen ausgestellt wurden, und dass sie – das immerhin funktionierte – da- vor auch bewahrt blieben. Aber es gibt es auch diejenigen, die nach Monaten des Schweigens darüber sprechen wollen, was sie erlebten. Der Mann, der ein halbes Jahr nach dem An- schlag in ein Leben erwachte, das nicht mehr sei- nes war. Die Frau, die Monate am Bett ihres Mannes saß und sich daran festhielt, dass ihr Bauchgefühl verlässlicher war als die Maschinen auf der Intensivstation. Oder der Amerikaner Russell Schulz, der durch die dunkelste Zeit sei- nes Lebens ging und immer wieder an der Frage verzweifelte, warum er überlebt hatte. Und dann sind da auch der Berliner Anwalt, der plötzlich Ansprechpartner für mehr als 100 Opfer und An- gehörige war, manchmal der einzige. Der Pfarrer, dessen Kirche nun auf der ganzen Welt mit Ter- ror verbunden wurde. Der Arzt, der noch Wo- chen nach dem Anschlag um Leben kämpfte. Ha- ben die letzten Monate sie verändert? An einem Tag im Herbst steht Russell Schulz in seiner Wohnung in Berlin, in den Händen zwei dicke Bücher in schwarzem Leder, er ist ein großer Mann, auch seine Hände sind groß, Pia- nistenhände. Russell Schulz war früher Musik- professor in Austin, Texas, seit einigen Jahren lebt er in Berlin. Er ist jetzt 73 Jahre alt, 40 davon hat er in solchen Büchern beschrieben, er schreibt fast täglich, immer beim Mittagessen. Wie am 19. Dezember. Das nächste Mal nahm er sein Tagebuch erst wieder an Heiligabend in die Hand. Er schrieb auf, was passiert war, drei, vier, fünf eng beschriebene Seiten. Russell Schulz klappt das Buch nicht auf. Er hat es ohnehin vor Augen. Seine Hände zittern nur noch selten, wenn er davon erzählt. Wie sie in der Glühweinbude zusammensa- ßen, er, seine beiden Freunde, eine Frau mit ih- rem Sohn. Wie es plötzlich knallte. Wie Dinge herumflogen, über, auf ihn, und er seltsam angstfrei dachte: Das ist jetzt ernst, ich könnte sterben. Wie plötzlich alles ganz still war. Wie er dann auf der Straße stand, und neben ihm ein Mann lag, blutüberströmt, mit offenen Augen. Wie das Chaos ausbrach, Schreie und Weinen und Sirenen. Ein paar Meter weiter sah er die Frau, die eben neben ihm gesessen hatte, über sie gebeugt Menschen, die auf ihre Brust drück- ten. Den Sohn, der in Kreisen lief, eine Runde nach der anderen. Russell Schulz lief los, er fand seinen Freund Richard, auf dem Boden, bewe- gungslos, wimmernd. Da war der Truck. Einer von uns fehlt, sagte Russell Schulz einer Polizis- tin. Er schrie jetzt auch, Peter, Peter, Peter, er schrie den Truck an. Unter dem Truck lagen Kör- per. Jemand brachte ihn weg, in einen warmen Raum, seine Hand blutete, alles war voller Blut. Er lieh sich ein Handy, ein Polizist half ihm, sei- nen Ehemann anzurufen. Das war um 20:37 Uhr, sie haben es später nachgeschaut. Sie fuhren mit einem Taxi ins Krankenhaus, er wollte die Kran- kenwagen für die Schwerverletzten lassen. Es gibt ein Bild von so einem Krankenwagen am Breitscheidplatz, das ging in den nächsten Tagen um die Welt, einige Zeitungen druckten es. Man sieht darauf nicht viel, nur Krankenwa- gen eben, Feuerwehrmänner, und einen weiß verpackten Körper auf einer Liege. Es ist der Körper von Christian B.*, das haben ihm später Was macht der Terror mit denen, die er wirklich trifft? Ein Jahr nach dem Anschlag sprechen Betroffene über ihr Leben danach. Über den Horror der ersten Stunden und der Tage danach, über Wut und Angst – und über das, was ihnen Hoffnung gab FORTSETZUNG AUF SEITE 8 „Ich bin jetzt ein besserer Mensch“: Russell Schulz wurde bei dem Anschlag verletzt Monatelanger Kampf um die Leben der Opfer: Prof. Dr. Michael Schütz von der Charité Berlin VON JAN LINDENAU UND JENNIFER WILTON MARTIN U. K. LENGEMANN (2) WELT AM SONNTAG NR. 51 17. DEZEMBER 2017 6 POLITIK 1000 Euro in bar, aber ohne Ausweis FORTSETZUNG VON SEITE 5 statt eines Ausweises zog Amri seine Kleinkaliberpistole und schoss einen der Beamten nieder. Der zweite Polizist feuerte zurück und tötete den Angreifer aus kurzer Distanz. Da der Tote zwar über 1000 Euro in bar, aber keinen Ausweis bei sich trug, blieb seine Identität zunächst unklar. Erst Stunden später wurde er anhand sei- ner Fingerabdrücke als der Weihnachts- markt-Attentäter von Berlin identifiziert. Eigentlich sollte den beiden italieni- schen Polizisten, die Anis Amri ge- stoppt und erschossen hatten, das Bun- desverdienstkreuz verliehen werden. Doch dann stellte sich heraus, dass Luca Scata, einer der beiden, ein Foto von sich in verdächtiger Pose, mit erhobe- nem rechtem Arm, auf Instagram veröf- fentlicht hatte. Deshalb blieb die Eh- rung aus. Dafür nahm das amerikanische Ver- teidigungsministerium knapp vier Wo- chen nach dem Anschlag auf den Weih- nachtsmarkt die Telefonkontakte und Chatpartner Anis Amris in Libyen ins Visier. Und dieses Mal nicht nur mit Drohnenkameras. Auf der Whiteman Air Force Base in Missouri wurden drei Tarnkappen- Bomber vom Typ B2 mit „JDAMs“ bela- den, satellitengelenkten Präzisions- bomben, Einzelgewicht: 227 Kilo- gramm. Die Operation trug den Namen „Odyssee Lightning“ – Zufall oder ein dezenter homerischer Hinweis darauf, dass die Amerikaner die gut überwachte Odyssee des Anis Amri mit einem Blitz- schlag beendeten? Nach dem Flächenbombardement am frühen Morgen des 19. Januar 2017, ge- nau einen Monat nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin, griffen amerikanische Kampfdrohnen die IS-Stellungen in der Libyschen Wüs- te mit Hellfire-Raketen an. Niemand sollte hier überleben. Auf einer Pressekonferenz erläuterte der damalige US-Verteidigungsminister Ashton Carter den Einsatz: „Unser Afri- ca Command hat Luftschläge gegen zwei IS-Lager südlich von Sirte ausge- führt. Wir gehen von mehr als 80 getö- teten IS-Kämpfern aus. Wichtig ist, dass sich diese Angriffe gegen Anschlagspla- ner des IS richteten, die aktive Opera- tionen gegen unsere Alliierten in Euro- pa vorbereiteten.“ Die Militäraktion galt also vor allem den Anschlagsplanern des IS in Libyen, den Planern von Anschlägen in Europa. Doch davon gab es wohl nur einen – den von Anis Amri auf dem Weihnachts- markt in Berlin. Und das „Africa Command“ der US- Streitkräfte, unter dessen Befehl der Angriff auf die beiden IS-Camps in Li- byen erfolgte, hat sein Hauptquartier in den Kelley Barracks in Stuttgart-Möh- ringen. Vielleicht hatte Anis Amri – oh- ne es zu wollen – durch den ausgedehn- ten Chat-Verkehr mit seinen Auftragge- bern vom IS in Libyen mit dazu beige- tragen, dass die Amerikaner sie ins Vi- sier nehmen konnten. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass die deutschen Sicherheitsdienste ihre umfangreichen Informationen nicht mit ihren US-Partnern geteilt haben. Seit September dieses Jahres stehen Amris frühe Kontaktpersonen zum IS in Celle vor Gericht. Abu Walaa und des- sen Gefolgsleute sind wegen Mitglied- schaft beziehungsweise Unterstützung einer ausländischen terroristischen Ver- einigung angeklagt. Die VP01, der Poli- zeispitzel, der alles ins Rollen brachte und so dicht auch an Anis Amri dran war, wird von der Polizei versteckt. Er wird vor Gericht nicht aussagen. Aus Si- cherheitsgründen. Sicherheit. Ein Wort, das inzwischen einen bitteren Nachhall hat. Nicht nur in Berlin. Anis Amri ist dreizehn Mona- te lang von Polizei und Diensten bear- beitet, beschattet und abgehört worden. Man könnte sagen: eine erfolgreiche Überwachungsaktion. Wenn nicht Anis Amri am Ende doch noch sein mörderi- sches Ziel, über das er so viel geredet und gechattet hatte, erreicht hätte. Es war ein Terroranschlag mit Ansa- ge, und die Frage ist, ob man Anis Amri nicht besser hätte vorher festnehmen oder eben ausreisen lassen sollen. Gründe dafür gab es genug. T Die Dokumentation von Stefan Aust und Helmar Büchel „Anschlag mit An- sage – Das planvolle Staatsversagen im Fall Anis Amri“ wird am heutigen Sonntag, 17.12., ab 20.05 Uhr bei N24 ausgestrahlt

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Page 1: tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Politik. Ob ... · tet, fast erwartet hatte: Die erste große Terrorat-tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Madrid, London,

E „Nichtsmehr da, wo es vorher war“Es sind 279 Tage vergangen, auch der Sommerist schon wieder vorbei, da läuft Russell Schulzan einem Sonntagmorgen gegen eine Wand vonMenschen. Sie stehen nicht weit von seinerHaustür in Berlin-Charlottenburg am Straßen-rand, trotz Nieselregens. Überhaupt scheint diehalbe Stadt unterwegs an diesem Tag, der Tagdes Marathons, das sieht er dann: auf der Straßedie Läufer, einzelne, Gruppen, bunte Trikots undrote Gesichter, auf den Bürgersteigen die Zu-schauer. Sie jubeln, sie klatschen, sie schreien:

„Go! Go! Go!“ Sie feuern an: „Du schaffst es!“Russell Schulz bleibt stehen. Läufer, Zuschauer,Schreie. Tränen laufen seine Wangen herunter,ein paar erst, dann immer mehr. Er tut nichtsmehr dagegen. Er hat viele Gründe zu weinen,und er hat viel geweint in den Wochen, in denMonaten zuvor. Vor Trauer, Schmerz, Hoff-nungslosigkeit, vor Angst. Aber an diesem Tag,sagt Russell Schulz, weinte er vor Glück. Da wa-ren so viele Menschen, und keiner verletzte ei-nen anderen, keiner war gegen einen anderen;die einen gaben ihr Bestes, und die anderenwünschten es ihnen, sagt er. Und dass er dachte:Das ist, wie das Leben sein soll. Diese Momente.

19. Dezember 2016, Montag: Ich war im „Momm-seneck“ am Hindemithplatz. Es sind düstere undtrübe Tage gerade, das Wetter, die Stimmung. Mir istnicht danach, viel zu unternehmen, Hubertus geht esauch so. Er wird heute Nachmittag nach Spandaufahren, Ich werde mich mit Peter und Richard amWeihnachtsmarkt am Breitscheidplatz treffen, aufeinen Glühwein oder zwei, oder drei.

Sie waren bei dem zweiten Glühwein, als derriesige Lkw auf den Breitscheidplatz raste, inden Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen starbenan diesem Abend, mehr als 70 wurden verletzt.Es war der Anschlag, den man so lange befürch-tet, fast erwartet hatte: Die erste große Terrorat-tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York,Madrid, London, Paris, Brüssel: Berlin. Es dauer-

te knapp 79 Stunden, bis der Attentäter in einemkleinen Ort bei Mailand erschossen wurde. Esging in diesen Stunden und in Tausenden danachsehr oft, immer wieder um ihn. Um die Men-schen, die jetzt die Opfer hießen, ging es auch.Manchmal.

An den Tagen nach dem Anschlag etwa, als ge-fragt wurde, wer sie waren. Oder ein paar Wo-chen später, als sich immer mehr Unmut darü-ber regte, wie mit ihnen, mit den Angehörigender Toten, und mit den Verletzten umgegangenwurde, vor allem von den Behörden und von derPolitik. Ob die Hilfen ausreichend, die Aufmerk-samkeit angemessen waren. Es begann eine Dis-kussion über fehlende Trauerkultur in Deutsch-land, über die offizielle Trauerfeier, die nichtstattgefunden hatte, das Denkmal, das gebautwerden sollte, und über Geld. Es ging um Zahlen,

um Zuständigkeiten und um Schuld. Es geht da-rum noch immer. Gerade erst haben einige derHinterbliebenen einen Brief an Angela Merkelgeschrieben, dieses Mal hat man sie gehört.

Aber um die Leben, die zerstört und verletztwurden, ging es selten. Das hatte auch damit zutun, dass die Betroffenen nicht wollten, dass die-se Leben vor aller Augen ausgestellt wurden,und dass sie – das immerhin funktionierte – da-vor auch bewahrt blieben. Aber es gibt es auchdiejenigen, die nach Monaten des Schweigensdarüber sprechen wollen, was sie erlebten.

Der Mann, der ein halbes Jahr nach dem An-schlag in ein Leben erwachte, das nicht mehr sei-nes war. Die Frau, die Monate am Bett ihresMannes saß und sich daran festhielt, dass ihrBauchgefühl verlässlicher war als die Maschinenauf der Intensivstation. Oder der Amerikaner

Russell Schulz, der durch die dunkelste Zeit sei-nes Lebens ging und immer wieder an der Frageverzweifelte, warum er überlebt hatte. Und dannsind da auch der Berliner Anwalt, der plötzlichAnsprechpartner für mehr als 100 Opfer und An-gehörige war, manchmal der einzige. Der Pfarrer,dessen Kirche nun auf der ganzen Welt mit Ter-ror verbunden wurde. Der Arzt, der noch Wo-chen nach dem Anschlag um Leben kämpfte. Ha-ben die letzten Monate sie verändert?

An einem Tag im Herbst steht Russell Schulzin seiner Wohnung in Berlin, in den Händenzwei dicke Bücher in schwarzem Leder, er ist eingroßer Mann, auch seine Hände sind groß, Pia-nistenhände. Russell Schulz war früher Musik-professor in Austin, Texas, seit einigen Jahrenlebt er in Berlin. Er ist jetzt 73 Jahre alt, 40 davonhat er in solchen Büchern beschrieben, erschreibt fast täglich, immer beim Mittagessen.Wie am 19. Dezember. Das nächste Mal nahm ersein Tagebuch erst wieder an Heiligabend in dieHand. Er schrieb auf, was passiert war, drei, vier,fünf eng beschriebene Seiten. Russell Schulzklappt das Buch nicht auf. Er hat es ohnehin vorAugen. Seine Hände zittern nur noch selten,wenn er davon erzählt.

Wie sie in der Glühweinbude zusammensa-ßen, er, seine beiden Freunde, eine Frau mit ih-rem Sohn. Wie es plötzlich knallte. Wie Dingeherumflogen, über, auf ihn, und er seltsamangstfrei dachte: Das ist jetzt ernst, ich könntesterben. Wie plötzlich alles ganz still war. Wie erdann auf der Straße stand, und neben ihm einMann lag, blutüberströmt, mit offenen Augen.Wie das Chaos ausbrach, Schreie und Weinenund Sirenen. Ein paar Meter weiter sah er dieFrau, die eben neben ihm gesessen hatte, übersie gebeugt Menschen, die auf ihre Brust drück-ten. Den Sohn, der in Kreisen lief, eine Rundenach der anderen. Russell Schulz lief los, er fandseinen Freund Richard, auf dem Boden, bewe-gungslos, wimmernd. Da war der Truck. Einervon uns fehlt, sagte Russell Schulz einer Polizis-tin. Er schrie jetzt auch, Peter, Peter, Peter, erschrie den Truck an. Unter dem Truck lagen Kör-per. Jemand brachte ihn weg, in einen warmenRaum, seine Hand blutete, alles war voller Blut.Er lieh sich ein Handy, ein Polizist half ihm, sei-nen Ehemann anzurufen. Das war um 20:37 Uhr,sie haben es später nachgeschaut. Sie fuhren miteinem Taxi ins Krankenhaus, er wollte die Kran-kenwagen für die Schwerverletzten lassen.

Es gibt ein Bild von so einem Krankenwagenam Breitscheidplatz, das ging in den nächstenTagen um die Welt, einige Zeitungen drucktenes. Man sieht darauf nicht viel, nur Krankenwa-gen eben, Feuerwehrmänner, und einen weißverpackten Körper auf einer Liege. Es ist derKörper von Christian B.*, das haben ihm später

Was macht der Terror mit denen, die er wirklich trifft? Ein Jahr nach demAnschlag sprechen Betroffene über ihrLeben danach. Über den Horror derersten Stunden und der Tage danach,über Wut und Angst – und über das, was ihnen Hoffnung gab

FORTSETZUNG AUF SEITE 8

„Ich bin jetzt ein besserer Mensch“:

Russell Schulz wurde beidem Anschlag verletzt

Monatelanger Kampf um die Leben der Opfer: Prof. Dr. Michael Schützvon der Charité Berlin

VON JAN LINDENAU UND JENNIFER WILTON

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WELT AM SONNTAG NR. 51 17. DEZEMBER 20176 POLITIK

1000 Euro inbar, aberohne Ausweis

FORTSETZUNG VON SEITE 5

statt eines Ausweises zog Amri seineKleinkaliberpistole und schoss einender Beamten nieder. Der zweite Polizistfeuerte zurück und tötete den Angreiferaus kurzer Distanz.

Da der Tote zwar über 1000 Euro inbar, aber keinen Ausweis bei sich trug,blieb seine Identität zunächst unklar.Erst Stunden später wurde er anhand sei-ner Fingerabdrücke als der Weihnachts-markt-Attentäter von Berlin identifiziert.

Eigentlich sollte den beiden italieni-schen Polizisten, die Anis Amri ge-stoppt und erschossen hatten, das Bun-desverdienstkreuz verliehen werden.Doch dann stellte sich heraus, dass LucaScata, einer der beiden, ein Foto vonsich in verdächtiger Pose, mit erhobe-nem rechtem Arm, auf Instagram veröf-fentlicht hatte. Deshalb blieb die Eh-rung aus.

Dafür nahm das amerikanische Ver-teidigungsministerium knapp vier Wo-chen nach dem Anschlag auf den Weih-nachtsmarkt die Telefonkontakte undChatpartner Anis Amris in Libyen insVisier. Und dieses Mal nicht nur mitDrohnenkameras.

Auf der Whiteman Air Force Base inMissouri wurden drei Tarnkappen-Bomber vom Typ B2 mit „JDAMs“ bela-den, satellitengelenkten Präzisions-bomben, Einzelgewicht: 227 Kilo-gramm. Die Operation trug den Namen„Odyssee Lightning“ – Zufall oder eindezenter homerischer Hinweis darauf,dass die Amerikaner die gut überwachteOdyssee des Anis Amri mit einem Blitz-schlag beendeten?

Nach dem Flächenbombardement amfrühen Morgen des 19. Januar 2017, ge-nau einen Monat nach dem Anschlagauf den Weihnachtsmarkt in Berlin,griffen amerikanische Kampfdrohnendie IS-Stellungen in der Libyschen Wüs-te mit Hellfire-Raketen an. Niemandsollte hier überleben.

Auf einer Pressekonferenz erläuterteder damalige US-VerteidigungsministerAshton Carter den Einsatz: „Unser Afri-ca Command hat Luftschläge gegenzwei IS-Lager südlich von Sirte ausge-führt. Wir gehen von mehr als 80 getö-teten IS-Kämpfern aus. Wichtig ist, dasssich diese Angriffe gegen Anschlagspla-ner des IS richteten, die aktive Opera-tionen gegen unsere Alliierten in Euro-pa vorbereiteten.“

Die Militäraktion galt also vor allemden Anschlagsplanern des IS in Libyen,den Planern von Anschlägen in Europa.Doch davon gab es wohl nur einen – denvon Anis Amri auf dem Weihnachts-markt in Berlin.

Und das „Africa Command“ der US-Streitkräfte, unter dessen Befehl derAngriff auf die beiden IS-Camps in Li-byen erfolgte, hat sein Hauptquartier inden Kelley Barracks in Stuttgart-Möh-ringen. Vielleicht hatte Anis Amri – oh-ne es zu wollen – durch den ausgedehn-ten Chat-Verkehr mit seinen Auftragge-bern vom IS in Libyen mit dazu beige-tragen, dass die Amerikaner sie ins Vi-sier nehmen konnten.

Und es ist eher unwahrscheinlich,dass die deutschen Sicherheitsdiensteihre umfangreichen Informationen nichtmit ihren US-Partnern geteilt haben.

Seit September dieses Jahres stehenAmris frühe Kontaktpersonen zum IS inCelle vor Gericht. Abu Walaa und des-sen Gefolgsleute sind wegen Mitglied-schaft beziehungsweise Unterstützungeiner ausländischen terroristischen Ver-einigung angeklagt. Die VP01, der Poli-zeispitzel, der alles ins Rollen brachteund so dicht auch an Anis Amri dranwar, wird von der Polizei versteckt. Erwird vor Gericht nicht aussagen. Aus Si-cherheitsgründen.

Sicherheit. Ein Wort, das inzwischeneinen bitteren Nachhall hat. Nicht nurin Berlin. Anis Amri ist dreizehn Mona-te lang von Polizei und Diensten bear-beitet, beschattet und abgehört worden.Man könnte sagen: eine erfolgreicheÜberwachungsaktion. Wenn nicht AnisAmri am Ende doch noch sein mörderi-sches Ziel, über das er so viel geredetund gechattet hatte, erreicht hätte.

Es war ein Terroranschlag mit Ansa-ge, und die Frage ist, ob man Anis Amrinicht besser hätte vorher festnehmenoder eben ausreisen lassen sollen.Gründe dafür gab es genug.

T Die Dokumentation von Stefan Austund Helmar Büchel „Anschlag mit An-sage – Das planvolle Staatsversagenim Fall Anis Amri“ wird am heutigenSonntag, 17.12., ab 20.05 Uhr bei N24ausgestrahlt

Page 2: tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Politik. Ob ... · tet, fast erwartet hatte: Die erste große Terrorat-tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Madrid, London,

Sie haben keine Chance zu vergessen. Es gabTreffen, mit Bundespräsident Joachim Gauck imFebruar, in der Gedächtniskirche, später, im Ro-ten Rathaus, einige Angehörige blieben in Kon-takt, es gibt eine WhatsApp-Gruppe. Aber oft ge-nug waren sie: allein. Die Ärzte konnten denErnstfall proben. Sie konnten es nicht.

Russell Schulz, der Amerikaner, sagt, er habelange auch deswegen nicht über die Tage im De-zember und alle danach sprechen wollen, weil erso vieles schwierig fand: die Schuldzuweisungen.Die Vorwürfe. Die politische Instrumentalisie-rung. Er wollte nicht in so einem Zusammen-

hang auftauchen, sagt er. Unter anderem, weil eswenig mit dem zu tun hatte, was er nach demAnschlag erlebte. Die Tage, die Wochen, sie wa-ren voll von Menschen, die halfen, sagt er, dieihm Kraft gaben. Die Ärzte, die Schwestern, dieihm an jenem Abend entgegenkamen, kaum hat-te er das Taxi verlassen. Die Blumenhändlerin,die Apothekerin, die Leute im Restaurant um dieEcke, die ihn umarmten. Die Freunde, die mitihm wegfuhren über Weihnachten. Es war eineReise, die unheimlich begann, Bahnhöfe, in de-nen Fahndungsbilder des Attentäters hingen, woirgendwann über einen Bildschirm die Aufnah-men seines Ende flimmerten, sie ließen RussellSchulz aus dem Raum flüchten. Es war immer je-mand für ihn da. Russell Schulz hat eine Liste ge-macht, vor wenigen Wochen erst, wem er dank-bar ist, die Liste ist sehr lang. Aber die Listekonnte nicht verhindern, dass er fiel.

Seine Hand heilte. Sonst heilte nichts. „Ichhatte überlebt, aber die Frau neben mir nicht.Warum ich? Warum sie? Warum? Es war nicht

seine Töchter erzählt. Das meiste, was seit demTag im Dezember passierte, musste ihm erzähltwerden. Manchmal, sagt er, finde er das selbstgruselig. Er sitzt an einem Tag im November ineinem Zimmer, das sich Mühe gibt, nicht nachKrankenhaus auszusehen, gelbe Vorhänge, sanf-tes Licht, Bilder mit freundlichen Farben. Chris-tian B.s Erinnerung lässt sich in einem Satz zu-sammenfassen: Er kam aus dem Büro, er holteim KaDeWe ein Weihnachtsgeschenk ab, er liefzur U-Bahn, über den Weihnachtsmarkt, eineAbkürzung. Als Nächstes wachte er auf, und eswar Juni.

Die Leute um ihn herum, auf der Intensivsta-tion der Charité, sprachen von ihm als einemmedizinischen Wunder. Er selber sagt: „Ohnedie Charité hätte ich nicht überlebt, sie habendem Tod keine Chance gelassen.“ Er lächelt.Christian B. hat einen eher trockenen Humor.Neben ihm, auf einem Tisch, steht ein Famili-enfoto, er steht dort zwischen drei schönenFrauen, ein sportlicher Mann, dunkle Haare, ersieht aus wie Mitte 40, obwohl er da schon 55war. Es ist drei Jahre her. Das Lächeln ist das-selbe.

Eine der Frauen sitzt auch jetzt neben ihm,schmales Gesicht, energische Gesten, sie sindseit 26 Jahren verheiratet. Renate B. hat an je-dem Tag seit dem Anschlag neben ihm gesessen,auch während der ersten sechs Monate, als erkaum ansprechbar war. Sie hat die Erinnerung,die ihm fehlt, sie hat vielleicht sogar ein bisschenzu viel davon, gerade von der Nacht der Kata-strophe. Eine Nacht der stundenlangen Versu-che, ihn zu erreichen, das Telefon, das immerwieder ins Leere tutete. Die ältere Tochter hatteals Erste vom Anschlag gehört, sie war in Valen-cia, ein Auslandssemester. Renate B. saß mit derjüngeren Tochter zu Hause in Hessen. Irgend-wann ging der Leiter einer Notaufnahme an dasHandy. Er sagte, ihr Mann sei bei ihnen, es beste-he Lebensgefahr. Sie fuhren sofort los nach Ber-lin, ein Freund am Lenkrad. Sie sprachen wenig.Sie riefen regelmäßig im Bundeswehrkranken-haus an. Es waren noch anderthalb Stunden bisBerlin, da hieß es: Es musste noch mal operiertwerden. Und: „Wir denken nicht, dass Sie IhrenMann noch lebend sehen werden.“

Als sie am frühen Morgen ankamen, stand derArzt schon am Eingang. Er lebt, sagte der Arzt.Er brachte sie zu ihrem Mann, ihrem Vater, er lagin einer Wärmedecke, er sah anders aus, eineKopfverletzung. Sie fassten ihn an, sie umarm-ten ihn. Ab dem Moment, sagt Renate B., „waruns alles egal“. Sie sagt, sie habe gewusst, dass eres schaffen würde, sie hatte einfach diesesBauchgefühl. Sie würde es noch sehr oft brau-chen in den kommenden Monaten.

Christian B. war vermutlich einer der Letzten,der noch vom dem Lkw getroffen wurde. „Über-rolltrauma“, hieß es. „Es war ja nichts mehr dort,wo es vorher gewesen war“, sagt Renate B. „Eswar alles Brei“, sagt Christian B. Niere, Darm,Bauchspeicheldrüse, Leber. Lunge. Die Aufzäh-lung der Diagnosen ist drei Seiten lang.

Die drei Seiten kennt kaum jemand so gut wieProfessor Michael Schütz, Direktor der Unfall-chirurgie der Charité. Er saß am 19. Dezembergerade mit Kollegen aus Australien beim Essenam Gendarmenmarkt, als die Handys zu vibrie-

ren begannen. Er stand auf und fuhr in die Kli-nik, vermutlich mit derselben Unaufgeregtheit,mit der er Monate später darüber spricht. Sogarunter Kollegen gelten die Unfallchirurgen alshart im Nehmen, gerade in Notlagen. Die Klinikwar voll an dem Abend, vor allem mit Kollegen,die helfen wollten. Ähnlich wird es von anderenBerliner Kliniken erzählt. Michael Schütz sagt,es sei ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis esBerlin treffen würde. Das war ihm klar, das warden anderen klar, so wie es Kollegen in allen eu-ropäischen Großstädten klar war, sie tauschensich aus. Sie hatten längst für den Ernstfall ge-

probt. Und er sagt: „Es ist jetzt nicht so, dass wirplötzlich einen Schalter umlegen und sagen: Dasist Terror, das ist etwas völlig anderes.“ Sie ha-ben sich um die Patienten gekümmert. Ihren Jobgemacht. Keine Zeit, um nachzudenken. Und sieseien, das sagt er auch, durchaus stolz auf „dieErgebnisse“. Etwa darauf, dass sie Christian B.durchgebracht haben. Und alle anderen auch. Eshilft, das sagen auch andere Ärzte, wenn man ir-gendetwas tun kann inmitten der Ohnmacht.

Was macht der Terror mit denen, in deren Le-ben er einbricht? Es ist in den vergangenen Jah-ren immer wieder darüber gesprochen worden,was der Terror mit uns macht – und „uns“ wardann die sogenannte Gesellschaft. Wie er sieverändert, ob er sie ängstlicher macht, miss-trauischer, feindlicher. Es ist nach dem Anschlagin Berlin ziemlich schnell diskutiert worden, obdie Stadt zu unbeeindruckt reagiert hat, das warmal positiv, mal negativ gemeint. Das Leben gingweiter. Aber eben nicht für die, die damals amBreitscheidplatz waren, und für ihre Familien.

fair.“ Er fühlte sich schuldig, als Überlebender.Er trauerte um seinen Freund Peter, der gestor-ben war. Immer wieder, sagt Russell Schulz, saher ihn vor sich, in diesen letzten Sekunden. Wieer lachte, dieses laute, herzliche Lachen, das Pe-ter hatte, wie er sich dann umdrehte am Glüh-weinstand, vermutlich wegen des plötzlichenKrachs. Lachen, umdrehen, Dunkelheit. Alleswurde zu viel: Geräusche. Frauen mit halb lan-gen, braunen Haaren, wie die Frau im Glühwein-stand, er sah sie überall. Er schlief nicht mehr. Erweinte viel. Er trank zu viel. Er verstand, dass eretwas tun musste.

In der Traumatherapie sagte seine Therapeu-tin, er dürfe nicht zulassen, dass sich das Mit-gefühl mit den Toten in Schuld verwandele,sagt er. Er zitiert sie oft. Er sagt, wie sehr sieimmer die richtigen Worte hatte. Ob er ein klas-sischer Fall war? Vermutlich, sagt er, lächelt. Erlächelt viel. Wie schwer es wirklich für ihn war,sieht man in seinem Badezimmer, bis heute.Dort steht ein kleiner Rahmen, darin freundli-che Handlungsanweisungen („connect, be creati-ve, be thankful, be loving, invite good things to hap-pen“). Rettungsanker für Morgende, an denenAufstehen nicht mehr selbstverständlich war.„Ich dachte am Anfang, ich könnte es irgend-wann wegstecken, abschließen. Aber das wirdnicht passieren. Es wird nie vorbei sein. Aberich will die guten Dinge mitnehmen, mit ihnenweitergehen“, sagt er. Vielleicht ist es so, dassRussell Schulz ein besonderes Talent dafür hat:das Gute in allem zu sehen. Vielleicht war esvor allem dieses Talent, das ihn in den Monatengerettet hat.

Roland Weber sagt, natürlich muss jeder sei-nen eigenen Weg finden. Erst ist alles überlagertvon Trauer und Trauma, das kennt er von seinenFällen. Roland Weber ist Anwalt in Berlin, und erist seit einigen Jahren der sogenannte Opferbe-auftragte der Stadt, ehrenamtlich. Als Anwaltwar er schon immer der Mann für die schwieri-gen Fälle, die dramatischen. Er vertrat die Fami-lie des Jungen Jonny K., der am Alexanderplatzermordet wurde, und gerade die Nebenklägerinim Prozess um das „Horrorhaus in Höxter“. Erhat Erfahrungen mit Horror. Mit Terror hatte erkeine, so wenig wie die Dutzenden Angehörigen,die im Januar manchmal nur eine Nummer hat-ten, an die sie sich wenden konnten: seine.

Roland Weber ist ein ruhiger Mann, bedacht inseinen Worten, zurückhaltend mit Gesten, auf-merksam beim Zuhören. Er hat in den vergange-nen Monaten sehr viel zugehört, gelegentlich hater selber gesprochen, meist wurde er gefragt. Erhat dann gesagt, was er auch jetzt sagt: dass vie-les falsch gelaufen ist, vor allem in den ersten Ta-gen nach dem Anschlag. Dass Menschen nichtwussten, wo ihre Angehörigen sind. Dass nichtgut kommuniziert wurde. Dass die Strukturenfehlten für die richtige Unterstützung.

Er sagt, das, was anders war in den Gesprä-chen mit den Menschen in diesen Monaten, an-ders als bei dem Horror, mit dem er es sonst zutun hat: Die Enttäuschung, die Wut, richtetesich, zumindest bei einigen, gegen den Staat.Nicht gegen eine Behörde, nicht gegen einzelnePersonen, wie sonst in seinen Fällen, er kenntdiese Wut ja. „Es gab viele, die sagten: Dieser An-schlag sollte den Staat treffen, aber er hat unsgetroffen.“ Und wenn das schon nicht verhin-dert werden konnte – weil der Staat versagt ha-be, so die einen, weil es keine absolute Sicherheitgäbe, so die anderen – dann müsse doch hinter-her etwas getan werden. Aber die Antwort, diedie Menschen bekamen, waren Bürokratie undFormulare. „Wenn ich dann erklärte, es gibt daverschiedene Stellen, verschiedene Töpfe undAnträge, dann war das Verständnis gering“, sagtRoland Weber. „Das war aufgrund der Ausnah-mesituation mehr als verständlich.“

Im März bekam Roland Weber Unterstützung,Kurt Beck wurde als Opferbeauftragter des Bun-des eingesetzt. Gerade hat er seinen Abschluss-bericht vorgestellt. Es geht darin um Kommuni-kation und Strukturen, die fehlten, und wie es inZukunft besser laufen könnte: mit einer zentra-len Anlaufstelle für Opfer und höheren Entschä-digungen, auch mit einem achtsameren Umgangmit den Betroffenen.

Die Betroffenen. Gibt es einen Alltag im Alb-traum? Für Renate B. musste es ihn bald geben.Wochen, später Monate auf der Intensivstationder Charité, ihr Job, das Leben in Hessen einge-froren – bis auf die Freunde, die sie unermüdlichunterstützten. Sie sagt, sie hatte ihr altes Lebenverlassen, sie lebte jetzt auf einer Parallelspur.Sie konnte nicht weg, denn da war ihr Gefühl,dass sie dort sein müsste, an seiner Seite, dassnur dann nichts Schlimmes passieren könnte,„auch wenn das Quatsch ist, natürlich“, sagt sie.Denn Schlimmes passierte trotzdem, in den Mo-naten, als ihr Mann an unzählige Apparate ange-schlossen war, permanentes Piepen und Pum-pen: Blutvergiftungen, Drainagen, Notoperatio-nen. Zwei Herzstillstände an einem Tag. Dazwi-schen: nur das Piepen und Pumpen. In diesenAlltag segelte einen Monat nach dem Anschlagein Brief, unterschrieben von Heiko Maas, Jus-tizminister. Es war das erste Mal, dass sie über-haupt etwas hörte von der BundesrepublikDeutschland. Zu spät für sie – und der Brief fandnicht die richtigen Worte. Nicht im Trost undnicht in der praktischen Hilfe.

„Die Festsetzung der Härteleistungen wird nachsorgfältiger Prüfung aller Umstände des Einzelfallesund unter Beachtung des Grundsatzes der Gleichbe-handlung erfolgen.“

Sie, Juristin, kann solche Schreiben verstehen.Um wirklich alles in die richtigen Wege zu leiten,mussten aber auch ihr Freunde helfen, Juristen,ein Lokalpolitiker aus Berlin. Opferentschädi-gungsgesetz, Härteleistungen für Terroropfer.Die erste Hürde, um Hilfe zu bekommen, die seisehr hoch gewesen, sagt sie. Zu hoch womöglichfür die, die keine Hilfe hatten. Zu hoch für die,die vor allem trauerten. Sie sagt aber auch, dasses nur diese Hürde war. Dass danach alles klapp-te. Geld als Soforthilfe, die Finanzierung desKrankenhausaufenthaltes. Das gab ihr die Kraft,die sie am Krankenbett ihres Mannes brauchte.Das – und die Hoffnungsschimmer, wenn er ge-legentlich aufwachte. Erinnern kann er sichselbst nicht mehr daran. Für ihn ging sein Lebenerst im Juni weiter. Sein anderes Leben.

In den ersten Tagen nach seinem Erwachen,sagt Christian B., dachte er, er liege in einer Film-kulisse, gefangen in einem Albtraum. Als er sichin der Realität der Intensivstation zurechtgefun-den hatte, kamen die Albträume nachts. Gewalt.Schüsse. Tod. Er erfuhr erst langsam, was passiertwar. Im Dezember – und danach. Dass sein Vatergestorben war, während er im Koma lag. Dass ernicht Opfer eines Unfalls geworden war, sonderneines Terroranschlags. Und er erfuhr, dass dieserAnschlag möglicherweise verhindert hätte wer-den können. „Wenn ich lese, was bei der Polizeiund der Staatsanwaltschaft schiefgelaufen ist!“ Erschluckt, hält inne, es fällt ihm nicht leicht, darü-ber zu sprechen. Es tut ihm nicht gut, sich mitdem Anschlag zu beschäftigen. Er sagt, hätten an-

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Der einzige Ansprechpartner:Der Anwalt Roland Weber,Opferbeauftragter der StadtBerlin

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ÄrztekonntendenErnstfallproben.DieOpfernicht.Der Mann auf der Bahre: Die

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Vater zu sehen ist

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Page 3: tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Politik. Ob ... · tet, fast erwartet hatte: Die erste große Terrorat-tacke auf eine deutsche Stadt. Nach New York, Madrid, London,

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dere ihren Job ordentlich gemacht, wäre das nichtpassiert. „Ich sehe mein Vorher und mein Heute.Damals war ich, wie man so sagt, pumperlgesund,jetzt bin ich – auch wenn ich rauskomme – einchronisch Kranker.“

Grübeln, sagt er, bringe ja nichts. „Ich habeein Leben, und es ist lebenswert“, sagt er. Er lä-chelt. Er schaut seine Frau an. Seine Frau sagt,die Zeit, die sie in den vergangenen Monaten ge-meinsam hatten, die nehme ihnen niemandmehr. Er nickt. Er betet mehrmals täglich. DerGlaube und seine Familie haben ihm geholfen zuüberleben, sagt er. Und dass der schönste Tag inden vergangenen Monaten der war, an dem eraus der Charité entlassen wurde, im Oktober. Erkam in ein Reha-Krankenhaus. Seinen Entlas-sungstermin dort kennt er nicht.

Manchmal haben Leute zu Christian B. gesagt,den Attentäter, „den musst du doch hassen“.„Das war für mich beliebig“, sagt er lakonisch.Die Töchter gehen jetzt nicht mehr auf Weih-nachtsmärkte. Aber ihre christlichen, humanisti-schen Werte, auch ihre politischen Überzeugun-gen, die hätten sie sich bewahrt, sagt Renate B.

Vor Kurzem segelten erneut Briefe in ihren All-tag im Reha-Zentrum. Einladungen von der Bun-deskanzlerin und dem Regierenden Bürgermeisterzu den Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag.Christian B. wird nicht hingehen können, er will esauch nicht. Er findet, dass ein paar Punkte in demBrief der Angehörigen an Angela Merkel stimmen.Er sagt, dass auch er sich alleingelassen gefühlt ha-be, dass er finde, das Treffen mit der Kanzlerinkomme zu spät. Aber er sagt auch: „Jetzt kann mirdie Bundeskanzlerin ohnehin nicht mehr helfen.“Auch seine Frau wird nicht hingehen, zum Treffen,zum Gottesdienst. Sie bleibt hier, an seiner Seite.

Den Gottesdienst wird Martin Germer halten,er ist der Pfarrer der Gedächtniskirche am Breit-scheidplatz, seit zwölf Jahren. Das vergangenewar von dem Anschlag bestimmt, auch für ihn,natürlich. Martin Germer ist in Berlin aufge-wachsen, er war vier Jahre alt, als die neue Kir-che gebaut wurde, sie war für ihn schon immerda, ein Mahnmal an vergangene Katastrophen.

Er war am Abend des 19. Dezembers ein paar Me-ter weiter nur, im Europacenter am Breitscheid-platz. Er sagt, auf eine Art war es gut, dass eineKirche neben diesem Ort stand, dem Ort des An-schlages. Sie haben sie damals sofort geöffnet,um den Trauernden Raum zu geben, sie versuch-ten, da zu sein, und es kamen viele. Er sagt, eswar ja so: Auch der viel kritisierte Gottesdienstam Tag nach dem Anschlag entstand aus demWunsch, sofort etwas zu tun. Das Bundeskabi-nett kam fast vollständig an dem Abend – wäh-rend viele Menschen noch nach ihren Angehöri-gen suchten. Es gab danach nicht noch einen of-fiziellen Trauerakt, wo alle da gewesen wären.

Für Martin Germer aber standen so gut wie al-le Gottesdienste, die er seitdem feierte, auch imZeichen der Trauer. Er kennt sich aus mit Trau-er, als Pfarrer, er hat schon oft die richtigen Wor-

te finden müssen. Er sagt, was er vor allem sagenkann, ist: Es gibt kein Maß, mit dem man siemessen kann. Nicht einen Weg, wie man mit ihrumgeht. Er selbst hätte es seltsam gefunden, aufdie Straße zu gehen, für eine Demonstration, wiein anderen Städten. „Wozu? Gegen wen?“ MartinGermer hat in diesem Jahr begonnen, engerenKontakt mit Gemeinden anderer Konfessionenzu knüpfen, vor allem mit einer muslimischen.Er ist dafür auch kritisiert worden. Aber MartinGermer sagt, er sieht genau das jetzt als seineAufgabe, diese Zusammenarbeit. Weil der An-schlag eben vor seiner Kirche passierte.

Der Weihnachtsmarkt hat wieder geöffnet, einpaar Tage gerade, da steht Russell Schulz amBreitscheidplatz, am Eingang der Gedächtniskir-che. Es ist sehr lange her, dass er hier zum erstenMal stand. Als er noch im College war, sang er in

einem Chor, und der Chor machte eine Reisenach Deutschland. Seine Eltern bekamen dasGeld irgendwie zusammen, sie dachten, das wäreeine Chance, dass wenigstens er einmal in dasLand der Familie, der Ahnen fahren könnte, indie „Heimat“, sagt Russell Schulz. Also fuhr er,1965, und der Chor sang in der Gedächtniskirchein Berlin. Dort vorne, am Altar, sagt er, zeigt er.Er hat sich diesen Ort ausgesucht, für ein Foto.Weil das seine wichtige Erinnerung ist, undnicht, was 51 Jahre später, was 50 Meter von hierpassierte. Russell Schulz sagt, er sei jetzt ein bes-serer Mensch als vor dem Anschlag.

Michael Schütz, der Arzt, der um so viele Le-ben gekämpft hat, sagt, wenn die Menschen beiihm ankommen, dann spielt es keine Rolle, waspassiert ist. Aber am Ende spielt es natürlich eineRolle, ob es ein Verkehrsunfall war oder Terror.Er sagt, die Opfer des Anschlages seien auch Op-fer einer globalen Politik, und die Gemeinschaftmüsse sich damit auseinandersetzen. Er sagt, erhabe Zweifel, ob das wirklich stattgefunden hat.

Roland Weber, der Anwalt, sagt, was ihm spä-ter auffiel, auch das war anders als sonst, bei Op-fern des Horrors, mit dem er sonst zu tun hat:Die Menschen stellten kaum Fragen zu dem Tä-ter. Und seinem Motiv.

Christian B. und seine Frau Renate sagen, esbringe nichts, immer wieder nach dem Warumzu fragen. Der Anschlag werde jetzt für immer inihren Leben sein, und das müssten sie akzeptie-ren. Aber er soll nicht das sein, was für immermit ihnen, mit ihrem Namen verbunden wird.Deswegen wollten sie hier auch anonym bleiben.

Russell Schulz sagt, es gibt Fragen, auf die eskeine Antwort gibt, die nach dem Warum gehörtdazu. „Ich trauere immer noch jeden Tag um dieToten. Ich denke an die Verletzten. Aber ich wer-de den Terroristen keine Macht geben.“ RussellSchulz sagt noch einmal, er sei jetzt ein bessererMensch als vor dem Anschlag. „Nicht wegen desAnschlages. Sondern weil ich danach wichtigeDinge über das Leben verstanden habe.“

* Namen auf Wunsch der Familie geändert

Es gibt kein richtigesMaß für Trauer:Martin Germer, der Pfarrer der Gedächtniskirche

MART

IN U.

K. LE

NGEM

ANN