tacke - netzwerk und adresse

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Netzwerk und Adresse Veronika Tacke 1 Zusammenfassung: Der Artikel schlägt vor, Netzwerke systemtheoretisch über das Konzept der sozialen Adresse zu konzeptualisieren und im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung als eine sekundäre Form der Ordnungsbildung in der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Im Unterschied zu Systemen, deren Konstitution einem Primat der Problemstellung folgt, bilden sich (personale und organisationale) Netzwerke über einen Primat der Adresse. Sie konstituieren sich durch eine reflexive Kombination von Möglichkeiten, die mit 'polykontexturalen Adressen' – ihrem spezifischen Profil der Inklusion und Exklusion – verbundenen sind. Sie generieren dabei neue Problemstellungen und Steigerungsmöglichkeiten. – Der Artikel entwickelt den Begriffsvorschlag in Auseinandersetzung mit dem sozio- logischen Netzwerkansatz und entfaltet ihn sodann im Rekurs auf differenzierungs- theoretische Argumente und empirische Einsichten aus der Migrations- und Organisationsforschung. I. Einleitung Das sozialwissenschaftliche Interesse für Netzwerkphänomene ist in den vergangenen Jahren sichtbar gewachsen. Dazu hat nicht zuletzt die Organisationsforschung in der Soziologie, der Wirtschafts- und der Politikwissenschaft beigetragen, die seit Mitte der 1980er Jahre einen deutlichen Relevanzgewinn von Netzwerken – wenn nicht eine “Netz- werkrevolution” (Teubner 2000, 4) – empirisch ausgemacht hat. Allein in diesem Feld der Netzwerkforschung zeigt sich eine extreme Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit der Beschreibungen, die aus unterschiedlichen disziplinären Reflexionsmodi und Theorieansprüchen ebenso resultiert wie aus der empirischen Vielfalt und kontextspezi- fischen Heterogenität beobachteter Vernetzungsphänomene. Im Ergebnis stehen sich heute eine Reihe sehr spezifisch gebauter Netzwerkkonzepte 1 Ich danke den TeilnehmerInnen des Bielefelder Systemtheoretischen Kolloquiums am 29.5.00 sowie Gunther Teubner für kritische Anregungen. Mein besonderer Dank gilt Michael Bommes, ohne dessen fortgesetzte Diskussions- bereitschaft es den vorliegenden Text, für dessen Schwächen die Autorin allein zeichnet, nicht gäbe. Soziale Systeme 6 (2000), H. 2, Verlag Leske + Budrich, Opladen S.291-320.

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Veronika Tackes Zusammenführung von luhmannscher Systemtheorie und sozialer Netzwerktheorie (mit freundlicher Genehmigung von Frau Prof. Veronika Tacke)

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Netzwerk und Adresse Veronika Tacke1

Zusammenfassung: Der Artikel schlägt vor, Netzwerke systemtheoretisch über das Konzept der sozialen Adresse zu konzeptualisieren und im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung als eine sekundäre Form der Ordnungsbildung in der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Im Unterschied zu Systemen, deren Konstitution einem Primat der Problemstellung folgt, bilden sich (personale und organisationale) Netzwerke über einen Primat der Adresse. Sie konstituieren sich durch eine reflexive Kombination von Möglichkeiten, die mit 'polykontexturalen Adressen' – ihrem spezifischen Profil der Inklusion und Exklusion – verbundenen sind. Sie generieren dabei neue Problemstellungen und Steigerungsmöglichkeiten. – Der Artikel entwickelt den Begriffsvorschlag in Auseinandersetzung mit dem sozio-logischen Netzwerkansatz und entfaltet ihn sodann im Rekurs auf differenzierungs-theoretische Argumente und empirische Einsichten aus der Migrations- und Organisationsforschung.

I. Einleitung

Das sozialwissenschaftliche Interesse für Netzwerkphänomene ist in den vergangenen Jahren sichtbar gewachsen. Dazu hat nicht zuletzt die Organisationsforschung in der Soziologie, der Wirtschafts- und der Politikwissenschaft beigetragen, die seit Mitte der 1980er Jahre einen deutlichen Relevanzgewinn von Netzwerken – wenn nicht eine “Netz-werkrevolution” (Teubner 2000, 4) – empirisch ausgemacht hat. Allein in diesem Feld der Netzwerkforschung zeigt sich eine extreme Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit der Beschreibungen, die aus unterschiedlichen disziplinären Reflexionsmodi und Theorieansprüchen ebenso resultiert wie aus der empirischen Vielfalt und kontextspezi-fischen Heterogenität beobachteter Vernetzungsphänomene. Im Ergebnis stehen sich heute eine Reihe sehr spezifisch gebauter Netzwerkkonzepte

1 Ich danke den TeilnehmerInnen des Bielefelder Systemtheoretischen

Kolloquiums am 29.5.00 sowie Gunther Teubner für kritische Anregungen. Mein besonderer Dank gilt Michael Bommes, ohne dessen fortgesetzte Diskussions-bereitschaft es den vorliegenden Text, für dessen Schwächen die Autorin allein zeichnet, nicht gäbe.

Soziale Systeme 6 (2000), H. 2, Verlag Leske + Budrich, Opladen S.291-320.

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gegenüber, ohne daß dabei sichtbar wird, was die verschiedenen Phänomene gemeinsam als Netzwerke auszeichnet und also solche von Organisationen unterscheidet. Die bestehende Schwierigkeit, “für so ver-schiedene Verhältnisse eine einheitliche Formel zu finden” (Luhmann 2000, 408), verstärkt sich noch, wenn in Rechnung gestellt wird, daß Netzwerke, jedenfalls für die Soziologie, nicht von vornherein einen organisationsspezifischen Sachverhalt darstellen. Man denke, um nur ein empirisches Beispiel zu nennen, an Netzwerke der Migration (Pries 1996; Müller-Mahn 2000).

Im Rahmen der Systemtheorie ist auf diese jüngere Diskussion sowie die mit dem Netzwerkproblem für sie verbundene theoretische Heraus-forderung2 nur zögerlich reagiert worden. Zwar kommt der Netzwerkterm in systemtheoretischen Texten verschiedentlich und zu-nehmend häufig vor (vgl. für einen Überblick: Kämper/Schmidt 2000, 219ff.), es wurden aber abgesehen von losen Verwendungen eigentlich nur zwei Vorschläge für ein systemtheoretisches Netzwerkkonzept aus-gearbeitet. Während Teubner (1992) zunächst vorgeschlagen hat, Netz-werke als ein “echtes Emergenzphänomen” zu fassen, das sich im Modus eines re-entry von Vertrag und Organisation – als den zugrunde liegenden Netzwerkkonstituenten – abhebe, haben Kämper und Schmidt (2000) Netzwerke als eine strukturelle Kopplung von Organisationen be-schrieben und das zentrale Moment in der Inanspruchnahme von Inter-aktionssystemen gesehen. Beide Vorschläge sind auf den Fall von Organisationsnetzwerken hin konzeptualisiert. Sie sind dabei zum einen in einer Weise spezifiziert (Vertrag/Organisation; Interaktion), daß sie empirisch jeweils ganz unterschiedliche organisatorische Vernetzungs-phänomene zu erfassen vermögen3 und damit dann beide kein hin-reichend allgemeines Konzept des Organisationsnetzwerkes repräsentieren können. Hinzu kommt zum anderen, daß die hochspezi-fischen begrifflichen Zuschnitte kaum Gesichtspunkte für theoretische Generalisierungen auch über den Fall organisatorischer Netzwerk-phänomene hinaus anbieten4.

Im Interesse an der Entwicklung eines systemtheoretisch allgemeinen

2 Die Herausforderung besteht für diese Theorie mit Universalismusanspruch nicht

nur darin, auch noch dieses soziale Phänomen beschreiben zu können, sondern mehr noch darin, einen Unmöglichkeitsverdacht auszuräumen. Er lautet, die Systemtheorie greife mit der Prämisse, daß Offenheit Geschlossenheit voraus-setze, “bei der Beschreibung prinzipiell nicht begrenzter Zusammenhänge ins Leere” (Hessinger u.a. 2000, 66; ähnlich: Weyer 2000, 245).

3 Die Beschreibungen lassen zwar, empirisch gesehen, einen Überschneidungs-bereich erkennen, sind aber wechselseitig nicht inklusiv: Während die Unter-scheidung Vertrag/ Organisation nicht geeignet erscheint, auch Fällen nicht-vertraglicher, vertrauensbasierter organisatorischer Beziehungsnetzwerke zu ent-sprechen, sind beispielsweise Fälle des sogenannten 'Franchising' nicht plausibel im Rekurs auf die Inanspruchnahme von Interaktion beschreibbar.

4 Es wird sich im weiteren allerdings zeigen, daß die Vorstellung der Konstitution von Netzwerken über einen reflexiven Modus (Re-Entry) plausiblere Anschlüsse bietet als die Annahme der Interaktionsabhängigkeit von Netzwerken.

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und respezifizierbaren Netzwerkkonzeptes werde ich vor dem Hinter-grund dieser Ausgangslage im weiteren nicht den Weg der Aus-einandersetzung mit vorliegenden systemtheoretischen Begriffsvor-schlägen gehen. Vielmehr werde ich allgemeiner ansetzen und diese beiden Vorschläge ebenso wie die handlungstheoretischen Kontroversen in der organisationsbezogenen Netzwerkdebatte, zu denen die beiden systemtheoretischen Vorschläge erkennbare Affinitäten aufweisen, zu-nächst auf Distanz bringen5.

Auf Distanz bringen werde ich auch zunächst Fragen, die sich in der Systemtheorie mit dem Netzwerkproblem unmittelbar zu stellen scheinen. Ist ein Netzwerk ein System? Hat es eine Umwelt? Sollte man eine zusätzliche Ebene der Systembildung einführen?6 Es scheint, daß Fragen dieser Art die systemtheoretische Diskussion vorschnell auf eine falsche Fährte gelockt haben. Auch dies zeigen die beiden genannten Bei-träge. Während Teubner mit der Emergenzthese eine Ergänzung der Systemtypologie Funktionssysteme/Organisationen/Interaktionen 'ober-halb' von Organisationen vorschlug, wollen Kämper und Schmidt das Netzwerkkonzept 'nach oben' begrenzt wissen7, es aber 'nach unten' hin für Interaktionen öffnen (vgl. Kämper/Schmidt 2000, 235). Die Suche nach der adäquaten Systemebene für die Beschreibung von (Organisations-)Netzwerken hat, so gesehen, die vorgelagerte und generellere Frage verdeckt, welche Rolle eigentlich der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung sowohl für die Konstitution wie für die Differenzierung von Netzwerkphänomenen in der Gesellschaft zu-kommt.

Vor diesem Hintergrund werde ich im folgenden einen system-theoretisch allgemeinen Begriffsvorschlag unterbreiten, der das Netz-werkproblem zugleich im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung zu erfassen sucht, ohne es allerdings direkt aus der Differenzierungsstruktur der modernen Gesellschaft herzuleiten. Der Vorschlag lautet, daß Netzwerke sich über Adressen (vgl. Fuchs 1997; Stichweh 2000) – genauer: über die reflexive Kombination der mit polykontexturalen Adressen verbundenen Möglichkeiten – konstituieren,

5 Die beiden systemtheoretischen Vorschläge weisen deutliche Affinitäten zu hand-

lungstheoretischen Positionen in der Netzwerkdebatte auf: auf die Vorstellung des vertraglichen Kontinuums Markt – Netzwerk – Hierarchie in der Transaktions-kostentheorie (Williamson 1996) reagiert Teubner mit der These, daß Netzwerke auf einem Re-Entry von Vertrag / Organisation beruhen. Wo dagegen persönliche Vertrauenbeziehungen ins Zentrum des Netzwerkkonzepts gerückt werden (Powell 1990; Mahnkopf 1994), setzen Kämper und Schmidt mit ihrem Vorschlag an, die Inanspruchnahme von Interaktion zentral zu stellen.

6 Diese Fragen formulierte ein Gutachter der Sozialen Systeme mit Bezug auf eine vorherige Fassung des Textes.

7 Das ist überraschend, zumal Luhmann an entsprechender Stelle betont: “Die richtige Systemreferenz für dieses Problem (symbiotische Verhältnisse zwischen Organisationen, V.T.) ist dann auch nicht die Einzelorganisation, sondern die Ge-sellschaft, die Organisationen benutzt, um laufende Turbulenzen abzufangen” (Luhmann 1992, 124).

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wobei die mit Adressen verbundenen Möglichkeiten auf Leistungen und Modi der Inklusion von ausdifferenzierten Systemen beruhen. Netz-werkbildung setzt damit funktionale Differenzierung voraus8. Der An-lage der Systemtheorie entsprechend, werde ich das Netzwerkproblem nicht, wie im soziologischen Netzwerkansatz üblich, sozialstrukturell einführen, sondern beobachtungstheoretisch begründen und von dort her dann im weiteren auf den Gesichtspunkt struktureller Stabilisierung zurückkommen. Ich werde den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Vorschlages beim sozialstrukturell gebauten Netzwerkansatz in der all-gemeinen Soziologie nehmen (II.) und sodann an empirischen Beispielen schrittweise entfalten, wie sich Netzwerke über die Suche nach Adressen konstituieren, wie sie sich stabilisieren und wie sie an Strukturen funktionaler Differenzierung partikulare Möglichkeiten und Steigerungspotentiale generieren (III.). Ich werde abschließend das Ver-hältnis von System und Netzwerk noch einmal am Fall von Organisationen betrachten (IV.).

II. Netzwerktheorie und Systemtheorie

Netzwerke sozialtheoretisch: Konstitution oder Kontingenz?

Mit dem Netzwerkansatz ist in der Soziologie bis heute eher eine 'uni-verselle' Methode zur formalen Analyse von Sozialstrukturen als eine ausgearbeitete Sozialtheorie angesprochen (Trenzzini 1998). Gleichwohl liegen dem Ansatz sozialtheoretische Annahmen zugrunde, die ihn als eine “strukturelle Handlungstheorie” (Burt 1982) erkennbar machen, die einem “antikategorialen Imperativ” der Handlungserklärung folgt (vgl. Emibayer/Goodwin 1994, 1414). Der klassischen Fronstellung öko-nomischer und normativer Handlungsmodelle, die beide als subjektivistisch zurückgewiesen werden, weicht der Netzwerkansatz aus, indem er das Schisma durch die Annahme der Kontextabhängigkeit des Handelns substituiert. Angenommen wird, daß Handeln kontext-abhängig in dem Sinne ist, daß Handelnde sich in ihrem Handeln stets 8 Der im weiteren auszuarbeitende Zusammenhang von Netzwerkbildung und

Systemdifferenzierung erläutert, warum das Konzept der Adresse – und nicht das der Person – für den Vorschlag herangezogen wird. Analog der Unter-scheidung von Person und Rolle, die nur auf der Seite der Rolle Individualisierung vorsieht, sieht die Unterscheidung von Person und Adresse nur auf der Seite der Adresse Polykontexturalität vor. Die Form Person ist da-gegen systemtheoretisch bestimmt als “attribuierte Einschränkung von Ver-haltensmöglichkeiten” (Luhmann 1995b: 148) und steht für die Notwendigkeit der Kontinuität und Disziplin des Erwartens im Zusammenhang des Problems der doppelten Kontingenz (ebd.: 149).

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auf konkrete andere Handelnde beziehen und auf diese Weise immer schon in soziale Beziehungen zueinander treten, die das Handeln kontextuieren, es – mit Granovetter (1985) gesprochen – “einbetten”. Aus der Annahme der wechselseitigen Konstitution von 'sozialem Handeln' und 'sozialen Beziehungen' (als Sozialstrukturen) geht hervor, daß Netz-werke in diesem Ansatz als unhintergehbarer sozialer Sachverhalt aufgefaßt werden. Sie können in ihren formalen Struktureigenschaften untersucht und verglichen werden9, sie können im Rahmen dieser Theorie aber nicht von anderen Formen sozialer Strukturbildung unter-schieden werden. Netzwerke können dann grundsätzlich nicht als kontingentes Phänomen beschrieben werden.

Auf die Kontingenz von Netzwerkarrangements machen aber empirische Beobachtungen aufmerksam, beispielsweise in der jüngeren Unternehmensforschung, die in den vergangenen Jahren nicht weniger als einen historischen Übergang von einem fordistischen zu einem “Netzwerkparadigma der Industrieentwicklung” (Hessinger et al. 2000, 31) konstatiert hat. Obwohl sicher nicht alle der neuerlich registrierten Formen der Unternehmensvernetzung als historisch neu gelten können10, zeigen diese Forschungen doch, daß es erst im Zuge durch-greifender Veränderungen in der globalen Ökonomie und in Reaktion auf gesteigerte organisatorische Unsicherheitspotentiale zum Auf- und Ausbau vertrags- und vertrauensgestützter interorganisatorischer Netz-werke kommt. Aber auch jenseits der weitreichenden Diagnose einer historischen Kontingenz solcher Unternehmensvernetzungen läßt sich diesen Forschungen entnehmen, daß einzelne Organisationen bzw. deren Mitglieder Netzwerkbeziehungen eingehen, aufbauen und nutzen können – aber sie müssen es eben nicht; sie tun es nicht durchgängig, sie tun es nicht notwendig dauerhaft und sie tun es nicht in jedem organisatorischen Funktionsbereich. Auch in diesem Sinne sind Unter-nehmensnetzwerke als ein kontingentes soziales Phänomen zu be-trachten und zu erfassen.

Auf die empirische Entdeckung und den Bedeutungsgewinn von Netzwerken ist in der Organisationsforschung allerdings nicht mit einer

9 Vermutlich ist schon oft gesagt worden, daß der Netzwerkansatz auf eigentüm-

liche Weise formal bleibt. Muster sozialer Beziehungen werden unter Zuhilfe-nahme mathematischer Modellierungen und Matrizenrechnungen in ihrer Dichte, Komplexität, Transitivität usw. sichtbar gemacht. Schnell drängt sich dann die Frage auf, inwiefern der Netzwerkanalytiker eigentlich etwas be-obachtet, was so – zumal in seiner Gesamtheit – eigentlich niemand anders be-obachtet bzw. beobachten kann. Die Netzwerktheorie präsentiert sich als über-legener Beobachter, der die Gesellschaft von außen beobachtet, das Verhältnis seiner Beobachtungen zu den Beobachtungen im Gegenstandsbereich aber nicht aufklärt.

10 Man denke beispielsweise an die Wiederentdeckung regionaler Unternehmens-netzwerke in Norditalien (Piore/Sabel 1985). Ihr Überraschungswert beruhte auf der Beobachtungsfolie eines fordistischen Produktions- und Regulationsregimes – und damit auf Annahmen der historischen Durchsetzung, Dominanz und Effizienz von 'netzwerkfrei' operierenden vertikal integrierten Großunternehmen.

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entsprechenden Ausarbeitung des Verhältnisses von Organisation und Netzwerk reagiert worden, sondern mit einem Austausch organisations-theoretischer gegen netzwerktheoretische Beobachtungskategorien. Davon zeugt nicht zuletzt die steile Karriere des embeddedness-Konzepts in der wirtschafts- und organisationssoziologischen Forschung. Genau dieser theoretische Zugriff auf das Phänomen impliziert aber, den Unter-schied von Organisation und Netzwerk und damit die empirische Be-sonderheit und Kontingenz von Netzwerken zwangsläufig zum Ver-schwinden zu bringen. Denn das in der Tradition der soziologischen Netzwerktheorie stehende embeddedness-Konzept kann auch Organisationen nur als Netzwerke beschreiben. Anstatt also zu ver-stehen, was Organisationssysteme tun, wenn sie Netzwerke bilden, wird der Zusammenhang von Organisation und Netzwerk vollständig in Netzwerkbeziehungen aufgelöst. – Entsprechendes gilt für andere empirische Netzwerkfälle.

Ersichtlich geht es um Theorieoptionen, die in Bezug auf Problem-stellungen gewählt werden können und mit ihren jeweiligen Folgen ge-wählt werden müssen. Denn um den Preis einer konsistent gebauten Theorie kann das Netzwerkkonzept nicht gleichzeitig den Sinn der Konstitution von Sozialität11 und der Kontingenz des sozialen Sachver-haltes annehmen, den es bezeichnet. Sofern Netzwerke, gleich welcher Art und Erscheinung, als besondere, kontingente soziale Phänomene erfaßt und beschrieben werden sollen, bedarf es dann einer Theorie, in der das zu spezifizierende Problem des Netzwerkes nicht schon mit einem ihrer Grundbegriffe zusammenfällt. Diese Möglichkeit bietet die Systemtheorie mit ihren Grundbegriffen des sozialen Systems und der Beobachtung. Sie betreibt die Spezifizierung von Problemen grundsätz-lich nicht auf der Ebene sozialtheoretischer Grundbegriffe, sondern macht sie zur Aufgabe von Gesellschaftstheorie. Das heißt dann, das Problem des Netzwerkes im Kontext einer Theorie der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft zu klären.

Netzwerke gesellschaftstheoretisch: Primat der Adressen?

Obgleich der Netzwerkansatz als Sozialtheorie und universell ver-standene Methode der Analyse von Sozialstrukturen keine prinzipielle Differenz zwischen der modernen Gesellschaft und ihren Vorläufern kennt und entsprechende Unterscheidungen auch explizit zurückweist (Granovetter 1985), läßt sich mit den Beobachtungsmitteln der System-theorie zeigen, daß dieser Ansatz in seinen Grundannahmen an Strukturen funktionaler Differenzierung gebunden ist – dies allerdings,

11 In der organisationsbezogenen Netzwerkdebatte wird dieses Problem der Unver-

einbarkeit manchmal übersehen – mit der Folge so unsinniger Annahmen wie der, daß es sich bei Netzwerken um soziale Beziehungen handelt, die eben sozialer sind als andere soziale Beziehungen (vgl. Powell 1990, 300).

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wie ich kurz anhand der Unterscheidung stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung sichtbar machen möchte, auf eigentümliche Weise.

Auf der einen Seite vermittelt die Netzwerktheorie den Eindruck, daß sie die Vorstellung einer primär stratifikatorisch differenzierten Ge-sellschaft kontinuiert, weil sie sozialstrukturellen “Positionen” und “Bindungen” (Thorelli 1986) einen “kausalen Primat” (Hessinger et al. 2000, 31) einräumt. Unter Bedingungen der gesellschaftlichen Strati-fikation sind soziale Beziehungen durch Rangordnungen und Zuge-hörigkeiten bestimmt und Teilnahmebedingungen an Kommunikation in diesem Sinne durch sozialstrukturelle status-role-sets (Burt 1982) definiert. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, daß die Netzwerktheorie selbst nur als Reflexion auf jene spezifisch moderne Einsicht und Erfahrung verstanden werden kann, daß sich soziale und zeitliche Bindungen und sozialstrukturelle Positionierungen gesellschaft-lich verflüssigen. Eine Netzwerktheorie macht überhaupt erst unter dem Gesichtspunkt Sinn, daß soziale Beziehungen nicht als gesellschaftsstrukturell festgelegt, sondern als reflexiv herstellbar ver-standen werden. Insofern kann man sagen, daß der Netzwerkansatz jene gesellschaftsstrukturelle Differenz voraussetzt, die sie leugnet: den Über-gang von einer primär stratifikatorisch zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft, die auf einer gesellschaftsweiten Durch-setzung reflexiver Beobachtungsweisen 'sozialer Beziehungen' beruht. Setzt die Netzwerktheorie, so gesehen, zwar einerseits die Freigabe sozialer Beziehungen von durchgreifenden gesellschaftlichen Konditionierungen voraus, dunkelt sie aber hinsichtlich der reflexiven Erzeugung sozialer Beziehungen andererseits ab, daß die Freistellung aus gesellschaftsstrukturell zugewiesenen Positionen und Teilnahme-bedingungen an Kommunikation mit neuen Konditionierungen und selektiven Spezifikationen von Kommunikationen einher geht. Diese be-ruhen, das hat die differenzierungstheoretische Tradition von Marx über Weber und Parsons zu Luhmann gezeigt, auf der sinnlogischen Aus-differenzierung und Autonomisierung gesellschaftlicher Teilbereiche. “Soziale Beziehungen”, das sah schon Weber, sind “ihrem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestellt” (Weber 1980, 13), und sie ge-raten, so formuliert es Luhmann schließlich aus, mit der sinnlogischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in den “Inklusionssog von Funktions-systemen” (Luhmann 1997, 738) – und werden darüber hinaus auch durch Organsiationen und Interaktionen in je spezifischer Weise selektiv konditioniert.

Was die Netzwerktheorie übersieht ist, daß der Übergang von einer gesellschaftlichen Differenzierungsform zur anderen mit einem radikalen Wechsel der Inklusionsmodi von Individuen einher geht. Funktionale Differenzierung ist möglich nur, wenn Individuen nicht mehr eine Position in der Sozialstruktur einnehmen (Totalinklusion), sondern – auf der Grundlage von Exklusion ('Freisetzung') – nunmehr unter je eingeschränkten Gesichtspunkten und unter Absehung von

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anderem an differenzierten Kontexten der Kommunikation teilnehmen (Inklusion). Schichtabhängige, auf gesellschaftliche Positionen bezogene status-role-sets werden delegitimiert und an deren Stelle treten die funktionsspezifischen Rollenasymmetrien (Produzent/Konsument, Lehrer/Schüler, Arzt/Patient usw.) (ebd., 739). Das bedeutet, daß sich nunmehr von den jeweiligen Systemkontexten her entscheidet, unter welchem spezifischen Gesichtspunkt Individuen als Adressen für Kommunikation in Anspruch genommen werden und für den Fortgang der jeweiligen Kommunikation für relevant (Inklusion) oder irrelevant (Exklusion) gehalten werden (Luhmann 1995a, 241). Die Systeme – Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionen – regeln selbst, welche Themen sie aufgreifen und sie regeln entsprechend, welche Position sie Personen verleihen (Luhmann 1997, 738f.). Die Positionen, die erwarbar machen, was erwartet werden kann, wechseln mit den Sinnbezügen und sind nicht beliebig von einem Systemkontext in einen anderen übertrag-bar. – Der Professor muß geduldig warten, bis der Friseur dem Assistenten die Haare geschnitten hat (Luhmann).

Die Konditionierung der Teilnahme von Individuen an Kommunikation durch ausdifferenzierte soziale Sinnbezüge ist die Schaltstelle, an der netzwerk- und systemtheoretische Beschreibungen auseinander laufen. Ausdifferenzierung bedeutet, daß die Systeme sich über je eigene Problemstellungen konstituieren, für die sie sodann Personen als Adressen suchen und als Zurechnungspunkte für Mitteilungen an-steuern. In der Netzwerktheorie gibt es keinen solchen sinnlogischen Primat systemspezifischer Problemstellungen, der dann die Erzeugung von Adressen und entsprechenden 'sozialen Beziehungen' konditioniert. Vielmehr gilt in der Netzwerktheorie – systemtheoretisch formuliert – ein Primat der Adressen.

Diesen Primat der Adressen gesellschaftstheoretisch aufzufassen, hieße, wie gesehen, einem Mißverständnis der Netzwerktheorie zu folgen, das einer defizitären Spezifikation der strukturellen Bedingungen der Inklusion und Adressierung von personalisierten Anderen in der modernen Gesellschaft entspringt. Wenn man – dieses Mißverständnis ausräumend – den Primat der Adressen zugunsten des Systembegriffs aufgibt, bleibt allerdings die Möglichkeit bestehen, das Netzwerkkonzept als eine Operationalisierung von Systemtheorie zu nutzen, es begrifflich also in den Rahmen ihrer differenzierungstheoretischen Annahmen ein-zufügen und ihr methodisches Rüstzeug fruchtbar zu machen. Das Ver-hältnis von System und Netzwerk wäre dann grundsätzlich so zu ver-stehen, daß die Problemstellungen und Leitgesichtspunkte aus-differenzierter Systeme zunächst Teilnahmebedingungen festlegen, auf deren Grundlage dann Netzwerke – im Sinne selektiver Ansteuerungen von adressierbaren Positionen – zum systeminternen Strukturaufbau bei-tragen12. Die Frage ist dann allerdings, wie Netzwerke dies machen, wie 12 Anschließbar im Hinblick auf einzelne Systemtypen wären hier etwa Argumente

zum Strukturaufbau von Märkten über systeminterne Beobachtungspositionen (Baecker 1988, White 1981) oder – im Kontext von Organisationen – Be-

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wie sie sich konstituieren und welches die Gesichtspunkte sind, unter denen solche Positionen als Adressen – auf der Basis genereller Teilnahmebedingungen – selektiv angesteuert werden.

Der im weiteren vorgeschlagene und an empirischen Beispielen ent-faltete Konzeptualisierungsvorschlag beruht darauf, den Primat der Adressen ernst zu nehmen, ihn aber empirisch zu verstehen. Er gilt dann für Netzwerkbildungen, nicht aber für Systembildungen in der Gesell-schaft. Das heißt: Anders als Systeme (Primat der Problemstellung für die Suche nach Adressen) bilden sich Netzwerke über die Ansteuerung von Adressen (Primat der Adressen für die Suche nach Problem-lösungen, Problemstellungen und Steigerungsmöglichkeiten). Netzwerk und System bilden sich empirisch komplementär, wobei allerdings der gesellschaftstheoretische Primat der Systemdifferenzierung ein asym-metrisches Verhältnis von System und Netzwerk impliziert13. Insofern die moderne Gesellschaft primär durch Strukturen funktionaler Differenzierung gekennzeichnet ist, sind Netzwerkbildungen als Formen sekundärer Ordnungsbildung aufzufassen.

Das zu prüfende Argument ist, daß Netzwerkbildungen an Be-obachtungen der Kombinierbarkeit von Adressen ansetzen und sich konstituieren unter dem Gesichtspunkt der über Adressen zugänglich werdenden Möglichkeiten sowie im Hinblick auf das mit der Verknüpf-barkeit dieser Möglichkeiten verbundene Potential.

Als Form der sekundären Ordnungsbildung beruht Netzwerk-bildung auf Voraussetzungen funktionaler Differenzierung. Notwendige Bedingung für die Genese von Netzwerken ist funktionale Differenzierung dabei nicht nur, weil es erst in ihrem Zuge zu einer durchgreifenden Adressenfreigabe kommt, sondern vielmehr, weil erst diese Differenzierungsform jene “polykontexturalen Adressen” (Fuchs 1997) erzeugt, deren reflexive Beobachtung und Kombinatorik Netz-werkbildungen ausmacht14. Damit ist aber noch keine hinreichende Voraussetzung für die Konstitution sowie die strukturelle Erhaltung von Netzwerken begründet. Die These ist, daß jene Potentiale, die an der Kombinierbarkeit der Möglichkeiten von Adressen entdeckt und im reflexiven Bezug dieser Möglichkeiten aufeinander generiert werden, Netzwerke (je spezifisch und partikular) konstituieren und strukturell zu stabilisieren vermögen. Die Konstitution von Netzwerken setzt Strukturen funktionaler Differenzierung dabei insofern voraus, als die

schreibungen der Relevanz informeller Netzwerke der Kommunikation (vgl. Luhmann 2000, 25).

13 Zu beachten ist hier, daß ein gesellschaftstheoretischer Primat nicht gleichzu-setzen ist mit einem empirischem Primat.

14 Hinzu kommt – darauf komme ich zurück – eine unter Bedingungen funktionaler Differenzierung strukturspezifisch hohe Offenheit primärer für sekundäre Strukturbildungen. Sekundäre Strukturbildungen kamen zwar auch in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften vor. Bekanntlich haben Märkte, Zünfte, Universitäten etc. den Übergang in eine andere Differenzierungsform vorbereitet. Die gesellschaftlichen Primärstrukturen waren aber strukturspezi-fisch nicht in gleicher Weise offen für sekundäre Strukturbildungen.

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über diese Art der reflexiven Adressenkombinatorik erst zugänglich werdenden und neu geschaffenen Möglichkeiten (Problemlösungen, Problemstellungen und gegebenenfalls Steigerungseffekte) auf Leistungen ausdifferenzierter Systeme beruhen und entsprechende In-klusionen von Individuen und Organisationen, den möglichen Adressen der Netzwerkbildung, voraussetzen. Insofern Netzwerke sich an Strukturen funktionaler Differenzierung ernähren und stabilisieren, sind sie Parasiten (vgl. Hutter/Teubner 1993).

III. Strukturmerkmale von Netzwerken

Bevor gezeigt und schrittweise entfaltet wird, wie Netzwerke über Adressenkombination zustandekommen, sind in knapper Form einige Ausgangspunkte darzulegen. Sie betreffen die Konstruktion und Funktion von Adressen in der Kommunikation, die Frage, welche Art von Adressen für Netzwerkbildung in Frage kommen und in welcher Weise die Kommunikation über Adressen disponiert. Ausgehend von Adressenspeichern der Kommunikation (Adressbüchern) werde ich sodann erläutern, wie es zur Konstitution und im weiteren dann zur Stabilisierung von Netzwerken kommt.

Adressen

Eine soziale Adresse ist ein in der Kommunikation für Kommunikation erzeugtes Zurechnungsartefakt, ein mehr oder weniger ausgearbeitetes Profil aus Eigenschaften und Verhaltensweisen, mit dem personalisierte Andere in der Kommunikation identifiziert und ausgestattet werden und mit dem die Kommunikation als Unterstellung operiert (Fuchs 1997; Luhmann 1995b; Stichweh 2000). An Eigennamen, die soziale Adressen elementar auszeichnen, lagern sich dabei in der Kommunikation eine Vielzahl weiterer Unterscheidungen an, die sie zu “komplexen Adressen” machen (ebd.). Dazu gehören zum einen jene Komponenten, die alltagssprachlich als Adresse zusammengefaßt werden und im Sinn-horizont der Erreichbarkeit auf Zugänge hinweisen: wenigstens eine An-schrift, meistens eine Telefonnummer, in wachsendem Maße eine e-mail-Adresse. Kontur gewinnen soziale Adressen aber erst durch ihr “mehr oder minder spezifisches Inklusions-Exklusions-Profil” (Fuchs 1997, 63), das auf Geschichten und Karrieren der Teilnahme an differenzierten Systemkontexten zurück- und damit zugleich auf Horizonte der Relevanz für weitere Kommunikationen vorausweist. Als “Positiv im Negativ der Exklusion” (ebd., 64) eröffnen Adressen Möglichkeiten und schließen anderes aus. “Niemand ist in allen kommunikativen Hin-

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sichten adressabel und jeder ist in allen ihm zugänglichen Kommunikationskontexten auf verschiedene Weise eingeschlossen/aus-geschlossen” (ebd., 63). Adressen sind in der modernen Gesellschaft keine scharf limitierten, in einer Schicht lokalisierten 'dichten' Adressen, sondern der gesellschaftlichen Differenzierungsform entsprechend 'polykontextural' konstituiert. Polykontexturale Adressen sind dabei dis-lozierte Adressen in dem Sinne, daß sie “jenseits des Namens, der sie minimal identifiziert, differente Ausprägungen in den wechselnden Kontexten” aufweisen (ebd., 69). Sie werden als Partialadressen immer nur kontextabhängig aktualisiert, wobei mit Kontextabhängigkeit – anders als in der Netzwerktheorie – Sinnhorizonte der Kommunikation und entsprechend systemspezifisch konstituierte Unterscheidungen und Zurechnungsformen gemeint sind15.

Soziale Adressen kommen ins Spiel, wenn kommunikativer Sinn ein-heitlich auf einen Absender oder Empfänger, also auf jemanden zu-gerechnet wird, den die Kommunikation als Mitteilungsinstanz auf-fassen kann (Fuchs 1997). In der Kommunikation adressierbar (und potentiell dann als Netzwerkadressen ansprechbar) sind Individuen als Personen und Organisationen, nicht aber Funktionssysteme und Inter-aktionen. Daß neben Individuen auch Organisationen einheitlich an-sprechbar und personalisierbar sind, wissen nicht nur Juristen (Organisationen als 'juristische Person'), sondern ist auch im Alltag ge-läufig: Man kann einen Brief an ein Unternehmen oder eine Universität schreiben und mit Antwort rechnen, ohne wissen oder beachten zu müssen, welche Stelle dann organisationsintern mit dem Anliegen befaßt wird. Bekanntlich kann man sich aber auch direkt an einzelne Organisationsmitglieder wenden, sie anschreiben, anrufen oder auf-suchen. In diesem Fall muß man unterscheiden, ob in der Kommunikation die Organisation über das Mitglied als Repräsentanten angesprochen wird oder die Person unter Gesichtspunkten ihrer Mit-gliedschaft. In diesem Sinne sind im weiteren Organisationsnetzwerke von persönlichen Netzwerken im Organisationskontext zu unterscheiden16. Anders als Organisationssysteme sind sowohl Inter-aktionssysteme als auch Funktionssysteme nicht einheitlich adressierbar. Beim Versuch ein Interaktionssystem anzusprechen, wird man in die Kommunikation unter Bedingungen der Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens verwickelt (oder erst gar nicht wahr-genommen). Möglich ist aber, Personen oder Organisationen (über ihre 15 Mit Fuchs nehme ich nicht an, daß ein Individuum als “Gouverneur seiner

Adressen” (Fuchs 1997, 70f.) auftritt. Die Annahme der Einheitsbildung auf der Seite des Individuums unterliegt dagegen dem rollentheoretischen Versuch, das Netzwerkkonzept (bzw. seine Spielart der Embeddedness) im Rekurs auf ein Konzept des Indiviuduums als “fuzzy set of roles” auszubauen (vgl. Montgomery 1998).

16 Voreilig wäre es, hier bereits auf prinzipielle Strukturunterschiede zu schließen, etwa in der Weise, daß auf Vertrauen beruhende Gefälligkeiten nur auf der Ebene persönlicher, nicht aber auf der Ebene organisatorischer Netzwerke mobilisiert werden könnten.

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Mitglieder) in der Interaktion zu adressieren; und man kann annehmen, daß Interaktionen in vielen, wenn nicht den meisten Netzwerken eine Rolle spielen17. Ebenso wenig wie Interaktionen sind Funktionssysteme – eben “die Wirtschaft”, “die Politik” oder “die Wissenschaft” – einheitlich ansprechbar. Man kann Adressen wirtschaftlich ansprechen und in der Wirtschaft sind Zurechnungen unverzichtbar. Aber Funktionssysteme kommen weder als Adressaten von Netzwerkkommunikation, noch für Netzwerkbildung untereinander in Frage. Sie sind, wie zu zeigen sein wird, für Netzwerkbildungen aber keineswegs irrelevant.

Weil Adressenbildung sich an die Notwendigkeit von Zurechnungen in der Kommunikation heftet, produziert die Kommunikation laufend Adressen. Soziale Adressen sind mit der Teilnahme an Kommunikationen und damit mit systemspezifischen Modi der In-klusion unauflösbar verknüpft. Wenn kommuniziert wird, wird In-klusion vollzogen. Wenn Inklusion vollzogen wird, disponiert die Kommunikation über Adressen. Umgekehrtes gilt aber nicht ohne weiteres, weil die Kommunikation auch in einer reflexiven Weise über Adressen disponieren kann. Sie kann Adressen zum Thema von Kommunikation machen – eben ohne den thematisierten 'Jemand' in die Kommunikation einzubeziehen. Empirisch ist das ein durchaus trivialer Sachverhalt: “Bitte teilen sie uns gegebenenfalls eine Firma in ihrer Nähe mit, an die wir uns in dieser Sache wenden können.” In der reflexiven Disposition der Kommunikation über Adressen werden diese beobachtet im Hinblick auf Möglichkeiten, die mit ihrer oder durch ihre Adressierung zugänglich werden können.

Adressbücher und Adressenzusammenhänge

Im Zusammenhang des reflexiven Umgangs der Kommunikation mit er-reichbaren Adressen werden Adressbücher relevant und interessant. Man bekommt einen Namen genannt und kann sich an diese Adresse nur wenden, wenn man weitere Zugangsinformationen besitzt. Adress-bücher sind Adressenspeicher der Kommunikation. Vor allem dann, wenn sie schriftlich fixiert und verbreitet sind, erlauben sie, daß Adressen in Raum und Zeit ganz unvorhersehbar aktualisiert werden. Dabei verraten kategorial angelegte Adressbücher – neben Namen – häufig nur Gesichtspunkte der medialen Erreichbarkeit, machen die Hin-sichten der sozialen Adressabilität aber nur minimal sichtbar. Mit Tele-fonbüchern kann wenig anfangen, wer nicht schon weiß, wen er in welcher Angelegenheit anrufen will. Und selbst wenn jeder ein Telefon

17 Da Kommunikation unter Wahrnehmungsbedingungen aber keine prinzipielle

Voraussetzung für eine Adressierung von Personen oder Organisationen ist, werden interaktionsspezifische Fassungen des Netzwerkbegriffs (etwa: Kämper/Schmidt 2000) hier zunächst auf Distanz gebracht, um ein hinreichend allgemeines – und sodann respezifizierbares – Netzwerkkonzept zu entwickeln.

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hätte, wäre nicht jeder in jeder Hinsicht adressabel. Sogenannte 'gelbe Seiten' sind zwar ebenfalls kategorial angelegt, sie sortieren Adressen demgegenüber aber unter hochspezifischen Gesichtspunkten der Adressabilität. Sie spezifizieren Zugangsmöglichkeiten entlang von etablierten, nicht zuletzt an gesellschaftlichen Differenzierungsformen orientierten Sinnunterscheidungen. Es werden Zugangsmöglichkeiten zu wirtschaftlichen, rechtlichen, gesundheitlichen usw. Kommunikationen über Organisationen und Professionen markiert, die – ergänzt durch weitergehende Spezifikation (etwa: Branche/Marke/Leistung) – stets zugleich signalisieren, daß in anderen Hinsichten nicht mit Adressabilität zu rechnen ist18.

Netzwerkbildungen setzen nicht am Typ des auf Vollständigkeit ge-mäß einer oder mehrerer Kategorien bedachten Adressenverzeichnisses ('directory') an, sondern vielmehr bei individuellen Adressbüchern. Gemeint sind damit erinnerte oder schriftlich fixierte “Adressensets” (Stichweh 2000), die unter Gesichtspunkten ihrer Relevanz und Erreich-barkeit bei einer Adresse versammelt und für sie gesammelt werden, seien es Individuen oder Organisationen. Individuelle Adressbücher sind Unikate, nicht nur, weil das Set von Namen sich von jedem anderen Adressbuch unterscheidet, sondern auch, weil jede durch einen Namen repräsentierte Adresse in einem solchen Adressbuch auf eine auf Systemkontexte bezogene Geschichte der Kontakte verweist, die ihr ein individuelles Profil der Adressabilität verleiht. Der gleiche Name ver-weist in zwei Adressbüchern auf ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Adressierbarkeit.

Das individuelle Adressbuch ist Ausgangspunkt und Grundlage für Netzwerkbildung, aber es ist noch nicht das Netzwerk. Die Verweise von Adressen auf Adressen, von individuellen Adressbüchern auf individuelle Adressbücher, führen auf eine enorme soziale Komplexität der Adressenordnung in der modernen Gesellschaft. Diese ist etwa unter dem Stichwort der 'small world' (Milgram 1967) zum Gegenstand um-fangreicher Forschungen geworden (vgl. Watts 1999)19. Allein im Rekurs auf die empirische Einschränkung, daß nicht jeder jeden kennt (als bekannt bezeichnen kann), kann aber noch nicht von Netzwerken ge-sprochen werden. Tatsächlich mag jeder 1000 und noch viel mehr Personen als Bekannte nennen können und im Adressbuch gespeichert haben, es handelt sich aber zunächst eben tatsächlich nur um “Adressen-zusammenhänge” (Stichweh 2000, 5). Selbst wenn nur minimalistische 18 Und darauf beruht beispielsweise dann der Handel mit Adressen: er ist ein Ge-

schäft, das auf Spezifikationen von Adressen beruht, mit denen sich ent-sprechende Erwartungen des Zugangs zu spezifischen Formen der Kommunikation verbinden lassen.

19 In diesen Forschungen wird in experimentellen Studien die Erreichbarkeit von Adressen (target person) durch Vermittlung über andere Adressen (by mailing it to a personal acquaintance more apt to know the person) untersucht. Small world verweist darauf, daß es nur sehr weniger 'intermediaries' bedarf, um über aquaintance-Verbindungen eine beliebige Adresse im globalen Raum anzu-steuern.

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Anforderungen an den Netzwerkbegriff gestellt werden, um empirisch auch noch sehr flüchtige Netzwerkformen erfassen zu können, müssen bloße Adressenzusammenhänge, individuelle Adressbücher und Netz-werke auseinandergehalten werden. Netzwerke sind keine bloßen Ver-weise von Adressen auf Adressen. Und auch das individuelle Adress-buch ist noch kein Netzwerk, obgleich es auf reflexiven Beobachtungen von Adressen beruht, den Adressenpool für Netzwerkbildung bereithält und auch Netzwerkadressen dokumentiert.

Einen weiterführenden Hinweis gibt Stichweh, wenn er anmerkt, daß das komplexe Set der bekannten Adressen, über das man verfügt, als “moderne Form von Sozialkapital” fungiert (ebd.). Wenn man fragt, worauf dieses soziale Kapital der Adressen beruht, wird sichtbar, daß es nicht in all den Hunderten oder sogar Tausenden von Bekannten steckt, die im individuellen Adressbuch festgehalten sind, sondern in den-jenigen unter ihnen, die als mobilisierbare Adressen gelten können20. Alle Adressen im individuellen Adressbuch repräsentieren Möglichkeiten, die auf Kontakte zurückverweisen und sie für erneute Aktivierung in der Kommunikation attraktiv und relevant machen. Am jeweiligen Modus der Kommunikation aber, der Adressen ins individuelle Adressbuch (und gegebenenfalls wieder hinaus21) bringt, trennen sich zunächst funktional aktivierbare und mobilisierbare Adressen. Das unterscheidet die im individuellen Adressbuch unter “Arzt” verzeichnete Adresse von derjenigen des Freundes, der zugleich Arzt ist und damit etwa unter dem Gesichtspunkt von Kommunikationsmöglichkeiten mobilisierbar ist, die im Rahmen professioneller Rollenasymmetrien und organisatorisch strukturierter Formen der Krankenbehandlung nicht erwartet werden können.

Der Pool der Adressen für Netzwerkbildung zeichnet sich durch im Voraus nicht bestimmte, diffuse Horizonte des Möglichen aus, die sich mit bekannten, mobilisierbaren Adressen verknüpfen. Dies hält eine Schulfreundin im Adressbuch, die längst nicht mehr bei den Schul-arbeiten hilft. Diffusität meint dabei nicht Beliebiges, sondern Kontingentes im Rahmen polykontexturaler Adressenprofile. Entsprechend kann man, wenn man Adressen erst einmal hat, an ihnen Möglichkeiten entdecken. Die Schulfreundin wohnt in der Stadt, in der man eine Wohnung sucht; der Bruder arbeitet in der Redaktion, in der ein Student gerne ein Praktikum machen möchte; der Vater geht mit dem Betriebsrat der Firma kegeln, in der der Sohn der Freundin einen Aus-

20 Vgl. in diesem Sinne zum Zusammenhang von sozialem Kapital und

Organisationsnetzwerken: Luhmann 2000, 409. 21 Im individuellen Adressbuch wird auch gestrichen: zum einen Adressen, die in

Folge der Änderung von Adressenaspekten irrelevant geworden sind, zum anderen solche, die nicht mehr als mobilisierbar gelten, weil z.B. die kommunikative Erfahrung gezeigt hat, daß die Mobilisierung von Möglichkeiten faktisch scheitert oder weil die Kontakte 'eingeschlafen' sind oder weil sich in den Kontakten zu dritten Adressen, mit Bezug auf die sie als kommunikativ mobilisierbar gelten konnten, relevante Änderungen ergeben haben usw.

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bildungsplatz bekommen möchte und am Nachbarn wird der Gesichts-punkt interessant, daß er in einem Unternehmen der Branche arbeitet, in der man Interviews machen möchte. Die Zugänge selbst hängen an den individuellen Geschichten der Kontakte, die die Adressen füreinander – zunächst in ihrem Kontext – spezifizieren: dem Nachbarn, der das Inter-view vermittelt, hatte man gelegentlich die Mülltonne rausgestellt oder die Post gesammelt und man ist sich darüber zu Nachbarn geworden, im Unterschied zu anonymen Briefkasteninhabern im gleichen Hause. Die Art der wechselseitigen Gefälligkeiten ist zunächst an den Kontext ge-bunden, der sie definiert, die wechselseitige Beobachtung der Adressen unter dem Gesichtspunkt möglicher weiterer Gefälligkeiten ist es – im Rahmen des polykontexturalen Profils der Adressen – nicht.

Netzwerkkonstitution und -stabilisierung

Das Anlaufen von Netzwerken ist in hohem Maße prekär, weil und sofern das Ansinnen des Zugangs zu den an einer Adresse entdeckten kontextübergreifenden Möglichkeiten nicht ohne weiteres sozial gedeckt ist oder die Mobilisierung der avisierten Adressenkombination sogar als illegitim gilt22. Die Sinnzumutung ist möglich, aber ihre Ablehnung ist es auch und dies in besonderem Maße. Denn die eine “ansprechbare Ressource” (Luhmann 1995c), die Mülltonnenfrage unter Nachbarn, hat mit der anderen, dem gewünschten Interviewtermin, sachlich nichts zu tun. In der antezipierbaren Ablehnung der Zumutung und der Be-obachtung als 'illegitimes' Ansinnen der Verknüpfung von Möglich-keiten, liegt das Risiko einer solchen Kommunikation23.

Sofern das Risiko aber nicht nur eingegangen, sondern auch be-wältigt wird, der Sinnvorschlag also angenommen wird, können im Rahmen der Adressenprofile weitere – mehr und andere – solcher Möglichkeiten entdeckt und wechselseitig aneinander herangetragen werden. So hatte der Ausländerverein den Sozialdezernenten einer Stadt angesprochen und mit dem Hinweis für sich gewinnen können, daß es nicht um seine aktive Teilnahme an der Vereinstätigkeit gehe, sondern um die Nutzung seines Namens für die Außendarstellung des Vereins – und damit auf seiner Seite an Erfordernisse angeknüpft, sich als Adresse unter politischen und beruflichen Gesichtspunkten adressabel zu halten. Auf diese Weise dann zum Vereinsmitglied geworden, kann er im weiteren von Zeit zu Zeit angesprochen werden auf Möglichkeiten, die 22 Die Möglichkeiten und Grenzen sind ersichtlich nicht pauschal zu beschreiben:

Freundschaft oder Verwandtschaft scheint – gegenüber Kollegialität – ein breiteres Spektrum der Mobilisierbarkeit von Adressengesichtspunkten sozial zu decken, aber das Ansinnen, Freunde oder Familienmitglieder unter dem Ge-sichtspunkt von Zahlungen zu adressieren, ist unter Legitimitätsgesichtspunkten zumindest prekär.

23 “Jede Kommunikation setzt sich selbst der Rückfrage, der Bezweifelung, der An-nahme oder Ablehnung aus und antezipiert das” (Luhmann 1997, 141).

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sich für die Arbeit des Ausländervereins mit dieser Adresse in der Ver-waltung verbinden lassen (z.B. Zugänge zu Geld oder Informationen), und der Sozialdezernent verfügt seinerseits über eine Netzwerkadresse, die es ihm erlaubt, Probleme (etwa Hilfen in “Fällen”, die mit den Mitteln der formalen Organisation nicht mehr bearbeitbar erscheinen) in den Verein auszulagern.

Die Mobilisierung der Möglichkeiten und Zugänge muß nicht ge-lingen (und geht vermutlich tausendfach schief). Aber wenn sie gelingt, sorgen die an einmal absorbierte Unsicherheit anschließenden Selbstver-stärkungseffekte der Kommunikation (vgl. Japp 1992) dafür, daß sich die Unwahrscheinlichkeit der Entstehung von Netzwerken in eine Wahr-scheinlichkeit ihrer Erhaltung transformieren kann. Aus flüchtigen werden stabile Netzwerkbeziehungen, dies aber nicht nur durch bloße Wiederholung von Kontakten (Powell 1990). Vielmehr kann bei Netz-werkbildungen gerade deshalb mit Aussichten auf Stabilität gerechnet werden, weil sie über Adressen Möglichkeiten verknüpfen, die unter-schiedlichen Systemen und Verweisungskontexten von Sinn entstammen und in diesem Sinne sachlich nicht zusammengehören. Zum sozialen Mechanismus der Stabilisierung von Netzwerkbeziehungen wird dann, daß es über die Sinngrenzen hinweg an Modi der Verrechnung für ge-währte Gefälligkeiten, Hilfen, Zugänge und Vermittlungen fehlt, so daß die Frage des sozialen Ausgleichs für gewährte Leistungen als “Kredit” auf unbestimmte Gegenleistung in die Zeitdimension verschoben werden muß. Im unspezifizierten Verhältnis der Leistungen wird dabei stets eine “übrig bleibende Verpflichtung” zur Gegenleistung miterzeugt (Luhmann 1997, 635). Anders gesagt: Die Polykontexturalität des Arrangements unterstützt die Etablierung einer generalisierten Rezi-prozitätsregel, die das Netzwerk stabilisiert und durch ihre “hohe Anspassungsfähigkeit an unterschiedliche Sachlagen” überdies “ihre fraglose Geltung zusätzlich sichert” (ebd.).

Das Prinzip der generalisierten Reziprozität ist in einem Zweig der Netzwerkdiskussion zum definierenden Merkmal von Netzwerken ge-worden (vgl. Mahnkopf 1994; Powell 1990). Diesem Vorschlag, der Netzwerke mit einem ihrer wichtigsten Stabilisierungsmechanismen verwechselt, wird hier nicht gefolgt. Dagegen sprechen auch empirische Gründe. So sind, um ein Beispiel zu nennen, im Rahmen der Unter-nehmensforschung als Franchising oder Zuliefernetzwerke bezeichnete Netzwerkarrangements belegt, deren Stabilität nicht auf generalisierter Reziprozität, sondern auf Preisanreizen und hierarchischen Vertrags-elementen beruht (vgl. Teubner 1992). Jenseits der Frage der Stabilisierungsmechanismen liegt Netzwerkkonstitution immer dort vor, wo eine Adresse, die – als eine solche – bestimmte Möglichkeiten repräsentiert, auf eine andere Adresse und ihre Möglichkeiten bezogen wird und zwar im Hinblick auf die mit ihrer Kombination erzeugten Potentiale. Die für Netzwerke konstitutive Reflexivität liegt, anders ge-sagt, in der Verknüpfung von Möglichkeiten, die neue Möglichkeiten konstituiert.

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Selbsttragende Netzwerkstrukturen

An einen ausgewählten empirischen Fall (vgl. Müller-Mahn 2000) werde ich im folgenden zeigen, wie es ausgehend von der Zufallsbedingung einer Adresse zur Herausbildung einer dauerhaft stabilisierten Netz-werkstruktur kommt, die dabei selbsttragend in dem Sinne geworden ist, daß sie ihre eigenen Fortsetzungsbedingungen generiert hat und sich von den namentlichen Ausgangsadressen, nicht aber von bestimmten Adressenmerkmalen als den Ein- und Ausschlußkriterien des Netz-werkes unabhängig gemacht hat24. Es geht in diesem Fall um ein durch das Adressenmerkmal der Verwandtschaft gekennzeichnetes Netzwerk der Arbeitsmigration, dessen 250-300 Teilnehmer in Paris leben und arbeiten und alle aus einem einzigen ägyptischen Dorf im Nildelta stammen. Ich rekonstruiere diesen Fall etwas ausführlicher, weil er – neben dem besonders interessierenden Aspekt der Verselbständigung des Netzwerkes – alle typischen Strukturmerkmale von Netzwerken aus-gesprochen klar erkennen läßt: die Konstitution von Netzwerken über Adressen, die durch Adressenkombinatorik erzielbaren Steigerungs-möglichkeiten sowie die Kristallisierung von Netzwerken an Struktur-bedingungen funktionaler Differenzierung.

Ausgangspunkt des Netzwerkes, der zugleich das geographische Muster der räumlichen Mobilität der Arbeitsmigration festlegte, ist die Adresse ein Ägypters in Paris, der bereits in den 1950er Jahren einer französischen Familie, für die er in Ägypten gearbeitet hatte, dorthin ge-folgt war. Vermittelt über das Adressbuch seiner Verwandten im Heimatdorf, zu denen er Kontakt hielt, wurde diese geographische Adresse in den 1970er Jahren zunächst für einige Männer aus Sibrbay unter dem Gesichtspunkt attraktiv, eine touristische Reise nach Paris durch Arbeit in Paris (die vermutlich über seine Adresse vermittelt wurde) zu finanzieren. “Diese ersten Pioniere des Netzwerkes kamen eher zufällig hierher, fungierten aber fortan als Anlaufadressen für ihre nachkommenden Landsleute” (Müller-Mahn 2000, 4; Herv. V.T.). Sie wurden zu Anlaufadressen auf der Grundlage verwandtschaftlicher

24 Ich beziehe den Fall aus der Migrationsforschung, die in einer Reihe von

empirischen Beschreibungen die Herausbildung sogenannter “transnationaler sozialer Räume” (Pries 1996) beobachtet und solche Strukturmuster der räum-lichen Mobilität von Individuen zwischen bestimmten Herkunfts- und Ziel-regionen in der Weltgesellschaft auf Netzwerke zurückgeführt hat. Mit Trans-nationalität wird dabei allerdings bei Pries die Vorstellung eines Relevanzver-lustes politischer Grenzen verbunden. Dieser These, die gegen Differenzierungs-theorie in Stellung gebracht wird, folge ich nicht (siehe dazu im Rekurs auf ähn-liche Annahmen in der kultursoziologischen Risikoforschung: Tacke 2000). Im Rahmen der Systemtheorie ist bereits dargelegt worden, daß und in welcher Weise solche Strukturen der räumlichen Mobilität von Individuen auf In-klusionsbedingungen sozialer Systeme reagieren und dabei auf der Organisation von Staatlichkeit und damit zusammenhängenden Verteilungen von Inklusions-chancen beruhen (Bommes 1999).

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Adressbücher und Kontakte sowie vor dem spezifischen Hintergrund des Versiegens alternativer (und legal erreichbarer) Zugänge zu Arbeit und Einkommen in den Golfstaaten. Auf der “Suche nach anderen Ein-kommensmöglichkeiten” (ebd.) repräsentierten diese Adressen Möglich-keiten, die über Verwandtschaft faktisch als Zugänge erschließbar waren.

Die besondere Relevanz von Anlaufadressen beruht im vorliegenden Fall darauf, daß die Migranten sich – infolge der über die Organisation von Staatlichkeit konstituierten und politisch moderierten Bedingungen der Inklusion und Exklusion von Staatsbürgern – im Einreiseland im Status der Illegalität befinden und damit nicht nur hinsichtlich des Zu-gang zu Einkommen, sondern auch zu anderen relevanten Bedingungen der Lebensführung (Wohnraum, Hilfen im Krankheitsfall usw.) in hohem Maße von Vermittlungsadressen abhängig sind. So verschaffen Netzwerkadressen den Neuankömmlingen Wohnraum, zu dem sie ohne Kontakte keinen Zugang finden könnten und es verschafft zugleich den Vermietern, die “sans-papiers” akzeptieren, Mieter, die sich “nicht über dunkle, heruntergekommene Unterkünfte (beklagen)”, aber “in der Regel deutlich höhere Mieten (zahlen) als Personen mit gültigen Papieren” (ebd., 13).

Der Umstand, daß die Anlaufadressen über ihr Inklusions-/Exklusionsprofil selbst spezifisch eingeschränkte Möglichkeiten und Zugänge repräsentieren, plausibilisiert eine – auch in anderen Fällen be-obachtete – hohe arbeitsbezogene Spezialisierung solcher Netzwerke der Arbeitsmigration. Rund 95% der Migranten aus Sibrbay arbeiten im Malergewerbe in Paris. Diese Spezialisierung wird im vorliegenden Fall als Voraussetzung und als Folge der Entwicklung einer sich selbst-tragenden Netzwerkstruktur erkennbar, deren ökonomische Möglich-keiten auf einem funktionalen Arrangement dreier Funktionen beruht, die Adressentypen mit je spezifischen Inklusionsvoraussetzungen repräsentieren:

- Kleinunternehmern ('Patronen'), die auf der Grundlage eines in-zwischen gesicherten Rechtsstatus im Einwanderungsland (französische Staatsbürgerschaft oder Arbeitserlaubnis) in der Lage sind, kleinere und große Maleraufträge von privaten und staatlichen Auftraggebern zu be-schaffen und legal abzuwickeln;

- Subkontraktoren ('Muqawwilin'), die an die Kleinunternehmer im Be-reich der Schattenwirtschaft flexibel einsetzbare Malerkolonnen ver-mitteln. Weil sie in ihrer Funktion viel im öffentlichen Raum unterwegs sind, verfügen sie wenigstens über eine Aufenthaltsgenehmigung;

- den Anstreichern, Verputzern und Hilfsarbeitern, die als 'sans-papiers' das Reservoir billiger und in hohem Maße flexibel einsetzbarer Arbeits-kräfte bilden.

Leicht ersichtlich ist, daß die ökonomischen Steigerungspotentiale und der faktische wirtschaftliche Erfolg des Arrangements auf dem Adressenprofil der 'sans-papiers' beruht, die als solche für die unter Konkurrenzbedingungen tätigen Kleinunternehmer im Vergleich zu normativ geschützten und besteuerten Mitgliedschaftsverhältnissen in

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Organisationen ('Normalarbeitsverhältnissen') attraktive Adressenprofile aufweisen. Der wirtschaftliche Erfolg der “Schattenwirtschaft” schafft zugleich die Voraussetzung dafür, daß die auf der untersten Stufe mit unsicheren Erwartungen auf regelmäßiges Einkommen eintretenden Migranten im Netzwerk ökonomisch 'Karriere' machen können, also über den Aufstieg zum Subkontraktor oder Kleinunternehmer ihre öko-nomischen Inklusionen verstetigen und steigern können25. Das Auf-stiegsarrangement wird damit schließlich zum wichtigen Motor des Nachzugs weiterer 'sans-papiers', die das Segment der flexiblen und billigen Hilfsarbeiter wieder auffüllen und den aufsteigenden Migranten damit ihren ökonomischen Erfolg erst sichern. Das Aufstiegsarrange-ment bildet den Kern einer Netzwerkstruktur, die über eigene Be-dingungen der Inklusion verfügt. Sie moderiert den Ein- und Austritt strukturähnlicher Adressen.

Beim Zu- und Nachzug des Migrantennetzwerkes spielt der Adressengesichtspunkt der Verwandtschaft eine zentrale Rolle. Darin ist, wie auch Müller-Mahn hervorhebt, keine besondere, vorgängige soziale Orientierung der Netzwerkteilnehmer zu sehen. Im Sinne von Adressen-kombinatorik werden Verwandte vielmehr relevant im Hinblick auf die Möglichkeit, den Zugang zu den ökonomischen Voraussetzungen der Partizipation an den ökonomischen Möglichkeiten des Netzwerk in Paris zu verschaffen: Engere Verwandte können für das Ansinnen in An-spruch genommen werden, ohne Rückversicherung – auf der Basis von Vertrauen – jene hohen Summen zu leihen, die die Arbeitsmigranten für eine illegale Einreise nach Europa aufbringen müssen. Sie sind dabei als Adressen mobilisierbar “in der Erwartung, daß die Gastarbeiter-Rücküberweisungen für ein gemeinsames großes Haus oder ein wirtschaftlich lukratives Projekt verwendet werden” (ebd., 9). Deutlich sichtbar wird sodann aber auch an diesem Aspekt die Verselbständigung der Netzwerkstruktur. Denn im Zuge der Etablierung des “sozialen Migrationskorridors” (ebd., 22) zwischen dem Dorf im Nildelta und 'Sibrbay sur Seine' müssen die Reisekredite nicht mehr von Verwandten im Heimatdorf gewährt werden, sondern fließen vielmehr von Netz-werkadressen in Frankreich als Darlehen zurück an migrationswillige Verwandte in Ägypten. Das Netzwerk organisiert und finanziert also den Nachzug von Migranten im Hinblick auf seine eigenen, oben genannten Erfolgsbedingungen. Daß auch dabei Verwandtschaft noch die Gelenkstelle der Adressenkombinatorik bildet, dürfte unter den ge-gebenen Bedingungen der “Transnationalität” mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Absicherung von Krediten durch Rechtsinstitute sowie den spezifischen Unsicherheiten erfolgreicher Grenzübertritte zu-

25 “Von den 21 Migranten, die bereits vor 1991 nach Frankreich kamen, arbeiten 17

inzwischen als Patron. Die in den Jahren 1991 bis 1994 eingereisten 39 Männer sind überwiegend als Muqawwil (18) beziehungsweise Patron (9) tätig, und nur bei den nach 1995 gekommenen Migranten arbeiten noch 16 von 26 auf der untersten Stufe der einfachen Anstreicher und Hilfsarbeiter” (Müller-Mahn 2000, 21).

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sammenhängen, die ersichtlich die Voraussetzung der Rückzahlung ge-währter Kredite sind.

An diesem wie anderen aus der Migrationsforschung bekannten Fällen wird nicht nur sichtbar, daß Netzwerke an den Inklusions-bedingungen und -chancen von Organisationen und Funktionssystemen Struktur und Stabilität gewinnen, sondern sie zeigen dabei auch, daß Netzwerke zum Ausgangspunkt für Organisationsbildung sowie weitere Netzwerkbildungen werden. Schlepperorganisationen, “Reise-organisatoren” und “Etappenhelfer” lassen sich dafür bezahlen, daß sie “über weitreichende Erfahrungen und gute Kontakte”, also wiederum: über Adressen verfügen, um Migranten illegal über Staatsgrenzen zu bringen (ebd., 8). Ersichtlich kristallisiert auch das damit angesprochene 'Netzwerkgeschäft' an der segmentären Binnendifferenzierung der Politik in Staaten, die mit ihrer Inklusionform der Staatsangehörigkeit “zum Filter für die Versuche von Migranten (wird), Inklusionschancen in die Funktionssysteme und ihre Organisationen durch geographische Mobilität zu realisieren” (Bommes 1999, 16)26.

Ein ebenfalls auf dem Zugang zu den Möglichkeiten von Adressen beruhendes Netzwerkgeschäft ganz anderer Art sei abschließend am vorliegenden Fall erwähnt. Es unterstreicht zugleich die Bedeutung der Aufrechterhaltung von Kommunikationen im Sinne der Bestätigung der Relevanz der Adressen im Netzwerk. In diesem Beispiel betrifft dies die Adressen im “Migrationskorridor”, dessen beiden geographischen Pole, wie gesehen, für den ökonomischen Erfolg und die dauerhafte Struktur des Netzwerkes zentral sind. Das Netzwerkgeschäft betrifft einen der in Paris lebenden Migranten, der “eine Art Telefonzentrale” betreibt, indem er seinen Landsleuten Zugang zu preisgünstigen internationalen Tele-fonverbindungen zwischen Paris und Sibrbay vermittelt (Müller-Mahn 2000, 15). Diese Möglichkeit basiert dabei auf der Adresse eines Kontaktmannes in Nordafrika, der seinerseits “Zugang zu einer inter-nationalen Vermittlungsstelle seines Landes hat und nebenbei und ohne Bezahlung die Verbindung in beiden Richtungen nach Frankreich und Ägypten schalten kann” (ebd.). Auf die ökonomischen Steigerungs-effekte dieser Adressenkombinatorik verweist die Tatsache, daß der Be-

26 Ein Beispiel, das noch einmal in besonderer Weise die Abhängigkeit von

Adressen sichtbar macht, schildert Müller-Mahn: “Im Oktober 1995 ließ sich Ali von dem Reiseorganisator in seinem Heimatdorf ein Flugticket und ein Visum für Weißrußland besorgen (...). Bei einer Zwischenlandung in Kiew verließ er das Flugzeug und wurde von einem ägyptischen Kontaktmann in Empfang ge-nommen, der ihm ein Visum für Polen verschaffte. (...) In Warschau traf er wieder einige Ägypter, deren Adresse ihm sein Helfer in Kiew mitgegeben hatte. Sie hatten Kontakt zu einer Gruppe von Polen und Ukrainern, die sich um die Weiterleitung von Transitreisenden nach Deutschland kümmerten. (...) Auf der anderen Seite des Flusses in Deutschland wartete bereits ein Auto auf sie (....). Von dort ging es mit dem Zug weiter nach Paris. Bei seiner Ankunft in Paris rief Ali sofort seinen Schwager an, der (...) als Maler und Verputzer gut verdiente. Am zweiten Tag seines Aufenthaltes ging Ali mit seinem Schwager zum ersten Mal zur Arbeit” (ebd., 10f.).

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treiber dieses Netzwerkgeschäftes ein Haus mit acht Wohnungen in Sibrbay bauen konnte. – “Zur Tarnung arbeitet er gelegentlich als An-streicher” (ebd.).

Ich hatte zunächst die Vorstellung von Netzwerken als bloßen Adressen-zusammenhängen auf Distanz gebracht und demgegenüber durch be-griffliche Spezifikationen und Einschränkungen gezeigt, wie sich die Konstitution und zunächst bilaterale Stabilisierung von Netzwerk-beziehungen sowie darüber hinaus dann auch die Etablierung von multi-lateralen, dauerhaft selbsttragenden Netzwerkstrukturen vollzieht und beschreiben läßt. Sichtbar geworden ist dabei, daß die Attraktivität von Netzwerken in der Kommunikation darin liegt, daß sie Heterogenes – in unterschiedlichen Systemkontexten generierte Möglichkeiten – auf-einander beziehen können. In allen Fällen konstituieren Netzwerke ihre spezifische Potentiale über die reflexive Verknüpfung der Möglichkeiten, die Adressen repräsentieren und über systemspezifisch moderierte Inklusions- und Exklusionsmodi gewinnen. Wie am Fall der 'sans-papiers' gesehen, können Adressen für Netzwerke gerade auch unter dem Gesichtspunkt ihrer spezifisch eingeschränkten Möglichkeiten der Realisierung von Inklusionschancen relevant und attraktiv werden.

Weil Netzwerke über die Kombinierbarkeit polykontextural konstituierter Adressen jeweils hochspezifische und partikulare Möglichkeiten konstituieren, führt ihre Beschreibung jenseits des all-gemeinen Konstitutionsmechanismus auf empirische Fragen. Auf seiner Basis lassen sich eine Vielzahl empirischer Netzwerkformen beobachten und unterscheiden. Zu denken ist – neben schon genannten Beispielen – an regionale Industriedistrikte (Grabher 1993; Piore/Sabel 1985), nationale Subskriptionsnetzwerke (C. Tacke 1995), globale Netzwerke unter Wissenschaftlern (Stichweh 1999), an Illegalitätsbedingungen sich nährende Korruptionsnetzwerke (Karstedt 1999), korporatistische Regulierungs- und Policy-Netzwerke (Kenis/Schneider 1996; Ladeur 1993; Mayntz 1993), Forschungs- und Entwicklungskooperationen zwischen Wissenschaft, Industrie und Staat (Schulz-Schaeffer et al. 1997) sowie verschiedenste Formen von Unternehmensnetzwerken: Hersteller-Anwender-Netzwerke der Innovation (Kowol/Krohn 1995), Hersteller-Zulieferer-Netzwerke der Produktion (Altmann/Sauer 1989; Hessinger et al. 2000), strategische Allianzen zwischen Konkurrenten (Hage/Alter 1997; Powell 1990) usw.. Netzwerke werden beobachtbar anhand der sie je konstituierenden, partikularen Möglichkeiten und Strukturbildungen sowie entlang des Typs der verknüpften Möglichkeiten, die an personalen oder organisatorischen Adressen hängen.

IV. System und Netzwerk

Ich habe das Verhältnis von System und Netzwerk bisher in der Weise behandelt, daß an ausgewählten Beispielen der Verknüpfung von

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Adressenmöglichkeiten sichtbar gemacht wurde, daß und wie Netz-werke ihre spezifischen Möglichkeiten auf der Grundlage von In-klusionen in und Zugängen zu Organisations- und Funktionssystem-kontexten generieren und im Rekurs auf entsprechende Inklusionsprofile von Adressen stabilisieren. Ich werde die Perspektive nun im ab-schließenden Teil noch einmal drehen und das Verhältnis von System und Netzwerk vom Systemkontext her betrachten. Ich richte den Blick dabei auf Organisationen und komme damit nunmehr auch auf die ein-gangs getroffene Unterscheidung von 'Netzwerken im Organisations-kontext' (Personen als Adressen der Netzwerkbildung) und 'Organisationsnetzwerken' (Organisationen als Adressen der Netzwerk-bildung) zurück. Im Rekurs darauf soll zum einen eine strukturspezi-fische Offenheit von Systemen für Netzwerkbildungen sichtbar gemacht werden, zum anderen gezeigt werden, welche Möglichkeiten sich für Organisationen mit Netzwerkbildungen verbinden.

Netzwerke im Organisationskontext

Auf die strukturspezifische Offenheit von Systemen für Netzwerk-bildungen führt die für die Theorie funktionaler Differenzierung zentrale Annahme, daß für Inklusionen in ausdifferenzierte Systeme systemspezi-fische Kriterien gelten27. Funktionssysteme und Organisationen unter-scheiden sich zwar im Grundsatz darin, ob für sie die 'Inklusion aller' oder die 'Exklusion der meisten' der konstitutive und zu rechtfertigende Normalfall ist (vgl. Luhmann 2000, 390f.), beiden ist aber eine uni-versalistische Orientierung in dem Sinne gemeinsam, daß sie keine anderen als systemspezifische Kriterien für Teilnahme kennen. Der gesellschaftsstrukturellen Neutralisierung partikularer Zugangs-restriktionen entspricht auf der Ebene von Funktionssystemen In-klusionsuniversalismus – als Strukturvoraussetzung der Differenzierungsform. Demgegenüber können Organisationen hoch-selektiv über Mitgliedschaft entscheiden und sie müssen es können – das ist ihre spezifische Strukturvoraussetzung. Nun besagt aber die selektive Entscheidbarkeit über Mitgliedschaften nicht, daß Organisationssysteme deshalb von der Adresse her – und in diesem Sinne partikularistisch – darüber befinden, wer für Inklusion in Frage kommt. Auch Organisationen kennen keine anderen als systemspezifische Lösungen für Inklusionsfragen. Sie entscheiden über Mitgliedschaften und orientieren sich dabei, im Sinne von achievement (im Unterschied zu askription), an der Selektivität von Karrieren, die mit Bezug auf Stellen – also von den Strukturen der Organisation her – relevant oder irrelevant

27 Diese Annahme erschließt sich darüber, daß die moderne Gesellschaft in der

Folge und als Voraussetzung ihrer Differenzierungsform keine gesamt-gesellschaftlichen Formen für Inklusion/Exklusion mehr kennt und Inklusions-fragen faktisch an die ausdifferenzierten Systeme delegiert hat.

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erscheinen. Auf der Grundlage dieser aus der Differenzierungsform der Gesell-

schaft resultierenden Neutralisierung prinzipieller zugunsten system-spezifischer Lösungen für Inklusionsfragen werden Organisationen aber zum Einfallstor für persönliche Beziehungsnetzwerke, die parasitär an ihnen kristallisieren28. Dies zeigt etwa eine Studie zur Rekrutierung von Auszubildenden in einem Großunternehmen der Automobilindustrie in Deutschland (Bommes 1996): Für immerhin 60% der in einem Jahrgang rekrutierten Auszubildenden galt, daß auch Vater oder Mutter im Unter-nehmen beschäftigt waren, wobei es – erst das ist interessant – unter den Bewerbern um einen Ausbildungsplatz ursprünglich nur 30% gewesen waren (ebd., 41)29. In der Studie wird erkennbar, daß dieses Ergebnis über personenbezogene, Mitgliedschaft voraussetzende Adressen-kombinatorik hergestellt wurde. Über Netzwerke wurden Zugänge zu organisations- und funktionsspezifischen Leistungen und Karrieren einerseits, entsprechende Ausschlüsse andererseits produziert30. Interessant ist hier, daß es sich um Inklusionsverhältnisse in Organisationen handelt, die treffend als “schweigend” (ebd.) bezeichnet werden. Schweigend sind sie dabei nicht nur, weil sie faktisch nicht Teil offizieller Darstellungen eines 'modernen', leistungsbezogenen organisatorischen 'Human Ressource Management' werden31. Schweigend sind sie vor allem deshalb, weil solche Inklusionsverhält-nisse, um die man in der Organisation weiß, für die Organisation gar nicht anders darstellbar sind, denn als Ergebnis ihrer eigenen Ent-scheidungen. Zentral ist dafür nicht, ob die über Netzwerkbeziehungen privilegierten Auszubildenden tatsächlich offizielle Bewerbungs-verfahren durchlaufen, also leistungsbezogene Tests, Aufsätze und Ge-spräche bestanden haben (das ist wahrscheinlich), sondern daß die Organisation das Ergebnis der Rekrutierung ihrer (!) Mitglieder nur als Entscheidung behandeln und entsprechend sich selbst zurechnen kann – und nicht dem Netzwerk, das dieses Ergebnis gleichsam “anonym produziert” hat (Luhmann 2000, 243) 32. 28 Auf die 'parasitäre' Struktur des Verhältnisses von Netzwerken und

Organisationen (für die Vermittlung von Zugängen zu Leistungen von Funktionssystemen) hat Luhmann im Zusammenhang regionaler Verhältnisse in Süditalien hingewiesen, in denen die Funktionsfähigkeit organisatorischer Infra-strukturen herabgesetzt und dadurch die Autonomie von Funktionssystemen eingeschränkt oder blockiert ist, weil sich die Kommunikation in “flexible Netz-werke persönlicher Beziehungen” verlagert und Fragen der Geltung und Durch-setzbarkeit geregelter Abläufe Netzwerken unterwirft (vgl. Luhmann 1995c).

29 Es geht dabei jeweils um mehrere Hundert Bewerbungen pro Jahr und ent-sprechend hohe Rekrutierungszahlen, z.B. 450 Bewerbungen/137 Rekrutierungen.

30 In der Beobachtungshinsicht der Studie sind dies Migrantenkinder, deren Eltern nicht Teil der Traditionsbildung des Unternehmens sind.

31 Nur im Nachhinein werden sie annonciert – man lese nur Firmengeschichten. 32 Entsprechend gilt auf der Seite der nicht berücksichtigten Jugendlichen, daß sie

sich die Nichtberücksichtigung als Defizit eigener Leistungen zurechnen (lassen) müssen.

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Beziehungsnetzwerke dieser Art nutzen die strukturelle Offenheit systemischer Inklusionsmodi als Einflugschneise für parasitär konstituierte Möglichkeiten. Sie sind als “nichtentschiedene Ent-scheidungsprämissen” (Luhmann 2000, 145) an Entscheidungen der Organisation und damit auch am 'structural drift' des Systems beteiligt. Damit ist aber nicht schon gesagt, daß sie Leistungsstandards der Organisation unterlaufen oder herabsetzen (Luhmann 1995c). Generell gilt wiederum, daß Organisationen dies nur selbst können. Leicht er-kennbar ist aber, daß Organisationen von solchen parasitären Formen der Netzwerkbildung im Rahmen ihrer eigenen Problemstellungen profitieren können. Sie sind auf Unsicherheitsabsorption angewiesen, zu der nicht nur eigene, sondern auch fremde, nicht nur primäre, sondern auch sekundäre Strukturbildungen einen Beitrag leisten können. Über die verwandtschaftlichen Beziehungsnetzwerke der Rekrutierung werden in diesem Sinne für die Organisation weitere Kommunikationen darüber abgeschnitten, welche der unter systemeigenen Gesichtspunkten in Frage kommenden Adressen im Hinblick auf die Vergabe eines Aus-bildungsplatzes angesteuert werden. Überdies können verwandtschaft-liche Traditionsbildungen innerhalb der Organisation registriert und be-obachtet werden unter dem Gesichtspunkt eines durch Entscheidung nicht herstellbaren, durch persönliche Bindungen und Verpflichtungen aber erzeugten Beitrages zur Compliance der Organisationsmitglieder. Und unter einem solchen organisationseigenen Gesichtspunkt der Be-obachtung kann dann – im Prinzip – auch Verwandtschaft zu einem offiziell anerkannten, ergänzenden Rekrutierungskriterium der Organisation werden, womit zugleich entsprechende Beziehungsnetz-werke substituiert würden. Wiederum aber geht es um empirische Fragen. Organisationen können solche “Traditionsbildungen” (Bommes) und “sozialmoralischen Milieus” (Moser) ebensogut als riskante Selbst-bindung beobachten, über die die systemkonstitutive sachliche Mobilität von Mitgliedschaften faktisch eingeschränkt wird. Ob das Parasitentum solcher sekundären Strukturbildungen zum Wohl oder Wehe ausfällt, mit Erfolgen oder Mißerfolgen verbunden wird, ist von Kontexten der Beobachtung abhängig und fällt entsprechend in mitgliedermobil konstitutierten Organisationssystemen grundsätzlich anders aus als in der Beobachtungsweise von Netzwerken, die den Adressen, über die sie sich konstitutieren, einen Primat einräumen.

Organisationsnetzwerke

Am Fall der personalen Beziehungsnetzwerke im Kontext von Organisationen habe ich die Frage nach dem Verhältnis von Organisation und Netzwerk bereits in die Frage umformuliert, wie Organisationen selbst diese Unterscheidung handhaben (vgl. Luhmann 2000, 24). In diesem Zusammenhang komme ich abschließend auf Organisationsnetzwerke, also auf den Fall zurück, daß Organisationen

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die mit ihren Adressen wechselseitig verbundenen Möglichkeiten be-obachtend aufeinander beziehen und im reflexiven Bezug dieser Möglichkeiten aufeinander neue Möglichkeiten konstituieren. Hinsichtlich des Mechanismus der Netzwerkkonstitution ist dabei kein prinzipiell anderer Sachverhalt angesprochen als auf der Ebene personaler Netzwerke. Insofern Organisationen auf der Grundlage ihres Reproduktionsmodus von Entscheidungen im eigenen Namen zur Kommunikation in der Lage sind, sind sie mögliche Adressaten für Mit-teilungen und entlang von reflexiven Beobachtungen der Kombinierbar-keit von Möglichkeiten auch zur Netzwerkbildung befähigt. Und auch mit Bezug auf organisatorische Adressen kann mit flüchtigen und stabileren, bilateralen und multilateralen Netzwerken gerechnet werden. Empirisch gibt die Literatur darüber umfangreich Auskunft. Sie zeigt auch, daß Organisationsnetzwerke – in terms des hier vorgeschlagenen Konzepts – auf der reflexiven Beobachtung von Adressen unter dem Ge-sichtspunkt von “complementary strength” (Powell 1990) beruhen und Steigerungseffekte durch “intelligente Kombination” (Teubner 1992) ihrer Adressenmöglichkeiten erzielen33. Auch dies haben sie noch mit personalen Netzwerken gemeinsam. Aus dem Umstand dagegen, daß Organisationen in Bezug auf ihre Grenzen entscheidungsfähig sind, er-geben sich auf dieser Ebene der Netzwerkbildung besondere Potentiale reflexiver Adressenkombinatorik. Am Beispiel der strategischen Aus-lagerung von Unternehmensfunktionen in selbständige Organisationen ('outsourcing') kann man etwa studieren, daß Organisationssysteme ihre Adressbücher nicht nur nach attraktiven Netzwerkadressen absuchen können, sondern Netzwerkadressen auch aus ihren eigenen Möglich-keiten heraus – und im Rahmen ihrer Möglichkeiten – in ihrer Umwelt (mit)erzeugen können. Qua Entscheidung werden dabei neue Organisationen im Hinblick auf spezifische Adressenprofile konstitutiert, also unter dem Gesichtspunkt geschaffen, daß die durch System-konstitution entstehenden kontextspezifischen Beobachtungsmöglich-keiten und Zugänge (z.B. hohe Innovationsfähigkeit/geringe Kapital-kraft) sodann im reflexiven Bezug auf die eigenen Möglichkeiten (z.B. große Kapitalkraft/geringes Innovationspotential) zu einem spezifischen Netzwerkpotential verknüpft werden können. Auf der Basis der Ent-scheidungsfähigkeit über Grenzen sind dann auch komplexere Konstruktionen bekannt, etwa “Joint Ventures”, die aus bestehenden “strategischen Allianzen”, also den Möglichkeiten mehrerer Organisationen hervorgehen.

Von einer organisatorischen Netzwerkrevolution (Teubner 2000) mag man mit Bezug auf die empirische Beobachtung sprechen, daß es im Zuge struktureller Verschiebungen in den Abnahmebedingungen von Leistungen in den vergangenen zwei Dekaden zu einer deutlichen Zu- 33 Daß ich der in der Netzwerkdiskussion häufig anzutreffenden Vorstellung einer

“Auflösung von Organisationsgrenzen” nicht folge, dürfte deutlich sein: An-sprechbare Adressen können Organisationen nur auf der Grundlage ihrer Systemkonstitution und entsprechende Grenzziehung sein.

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nahme organisatorischer Vernetzungen und Vernetzungsformen ge-kommen ist, deren Schwerpunkt im Kontext wirtschaftlicher und politischer Organisationen ausgemacht wird und dabei ersichtlich mit Globalisierungstendenzen korreliert. Jenseits der strukturellen Be-dingungen des Relevanzgewinns der Vernetzung, beruht die organisatorische “Netzwerkrevolution” zugleich allerdings darauf, daß die reflexive Kombinatorik organisatorischer Adressen heute deutlich aus der “darkness of informality” (Teubner 1996) heraustritt und zur auch offiziell annoncierten Formel sowohl organisatorischer Selbst-beschreibungen wie auch funktionssystemspezifischer Reflexionen ge-worden ist34. In diesem Sinne erfolgt die Etablierung und Durchsetzung adressenbezogener “Beobachtungskulturen” (Fuchs 1992) auf struktureller und semantischer Ebene. In beiden Hinsichten betrifft dies nicht nur zwischen-, sondern auch innerorganisatorische Beobachtungs-verhältnisse, wie die Organisationsforschung unter Stichworten der “De-zentralisierung” oder “Enthierachisierung” von Strukturen umfangreich dokumentiert. Die Möglichkeiten und Potentiale organisatorischer Ein-heiten, Abteilungen und Stellen werden nicht mehr vorrangig im Modus der Serialität, sondern der Reziprozität35 aufeinander bezogen. Man stattet sie als organisationsintern ansprechbare Adressen aus, von denen erwartet wird, daß sie ihre Möglichkeiten im Modus reflexiver Be-obachtungsweisen aufeinander beziehen und steigern.

Wenn die Organisationsforschung die interorganisatorische Netz-werkrevolution im Duktus der Überraschung zur Kenntnis genommen hat, beruht diese einerseits auf Annahmen funktionaler Differenzierung, zugleich aber auf einem Mißverständnis der damit bezeichneten Differenzierungsform. Die Überraschung über das Aufkommen von Netzwerken beruht auf der Erwartung, daß Organisationen ihre Programme und Entscheidungen primär und strikt an der Beobachtung von Funktionssystemen ausrichten und sich – im doppelten Wortsinne: allein – durch deren Bedingungen konditionieren lassen. Unterstellt wird in diesem Sinne eine Inklusionshierarchie von Funktionssystemen und Organisationen. Als Systeme entscheidungsmäßiger Selbststeuerung sind Organisationen aber “systematisch in der Lage, ihre eigenen Überlebens-bedingungen unabhängig von dem einzuschätzen, was das freie Spiel der Wirtschaft oder der Politik ihnen anderenfalls in Aussicht stellen würde”. Wenn sie Netzwerke bilden, wird sichtbar, was generell für sie gilt: sie “beziehen sich (...) auf die Gesellschaft insgesamt und nicht nur auf eine partielle Systemlogik. Allerdings tun sie das aus ihrem jeweils partiellen Blickwinkel heraus” (Baecker 2000, 14). Damit ist nicht gesagt, daß Organisationen, wenn sie Netzwerke bilden, ihre Problemstellungen den geschlossenen Bezugshorizonten der Funktionssysteme entziehen, an denen sie sich zum einen als Wirtschaftsorganisationen, als politische 34 Siehe zur politischen Formel des “Netzwerk-Staates”: Teubner 2000 sowie zum

“Netzwerkparadigma der Industrieentwicklung”: Hessinger et al. 2000. 35 Vgl. zur Unterscheidung serieller und reziproker Interdependenz: Thompson

1967.

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Organisationen, als Wissenschaftsorganisationen etc. orientieren und in die sie zum anderen als multireferentielle Systeme (Wehrsig/Tacke 1992) stets polykontextural inkludiert sind. Vielmehr wird erkennbar, daß die Beobachtung von Funktionssystemen unter Bedingungen hoher Un-sicherheit über Netzwerkadressen umdirigiert wird. Organisationen nutzen Netzwerke, um Problemlösungen und Problemstellungen zu generieren, die sie sodann in die Beobachtungshorizonte “ihrer” Funktionssysteme einrücken können (vgl. Brosziewski 1997; Ladeur 1993). Mit Bezug auf die Kontingenzräume, die die funktionsspezifischen Codes durch Einschränkungen jeweils eröffnen, könnten Netzwerke vor diesem Hintergrund als ein Spezifikationsmechanismus für funktions-systemspezifische Problemstellungen verstanden werden, der neben Professionen und Organisationen tritt und der, wie zuvor gesehen, auch dort häufig auf Möglichkeiten von Organisationen beruht, wo die Netz-werkadressen keine organisatorischen, sondern personale Adressen sind.

Schluß

Der vorliegende Beitrag beansprucht nicht, all jene Fragen beantwortet zu haben, die die umfangreiche und ausgesprochen heterogen sich dar-stellende sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung aufgeworfen hat. Den Ausgangspunkt bildeten grundlegende theoretische Schwierigkeiten der soziologischen Beschreibung von Netzwerken als einer Form sozialer Ordnung, vor die sich sozialtheoretisch argumentierende Netzwerk-ansätze gestellt sehen – nicht zuletzt in der Konfrontation mit empirisch heterogenen Phänomenen. Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Beitrag einen Vorschlag gemacht, der das Potential der Theorie funktionaler Differenzierung für eine durch gesellschaftstheoretische Annahmen kontrollierte Beschreibung des Netzwerkproblems nutzt und sich zugleich der Herausforderung stellt, die dieses Problem für die Systemtheorie als einer Theorie mit Universalismusanspruch nach wie vor bereit hält.

Im Mittelpunkt stand dabei das Interesse an der Entwicklung eines theoretisch allgemeinen Konzepts, das die empirische Varianz sozialer Netzwerkerscheinungen in der Gesellschaft vom persönlichen Be-ziehungsnetzwerk unter Nachbarn bis zum strategischen Organisations-netzwerk zulassen kann und sie zugleich mit einem Begriff einheitlich zu erfassen erlaubt, der sich paßgenau in den Bezugsrahmen der System-theorie einfügen läßt. Dem Anspruch dieser Theorie folgend, konnte das Netzwerkproblem über das Konzept der Adresse dabei so präzisiert werden, daß ein theoretisch distinkter und empirisch tragfähiger Netz-werkbegriff gewonnen werden konnte, der sich von anderen, bereits ein-geführten theoretischen Konzepten (wie dem der strukturellen Kopplung) abgrenzen und von allzu lockeren Verwendungsweisen der Netzwerkformel (z.B. in der Small-World-Forschung) abheben läßt.

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Folgt man diesem Begriffsvorschlag, dann sind Netzwerke nicht als soziale Systeme zu verstehen, sondern als parasitäre Formen der Strukturbildung, die auf funktionaler Differenzierung beruhen und diese als gesellschaftliche Primärstruktur voraussetzen. Erkennbar geworden ist diesbezüglich, daß die Differenzierungsform der modernen Gesell-schaft mit ihrer spezifischen Offenheit für Strukturreichtum sekundäre Formen der Ordnungsbildung grundsätzlich nicht ausschließt, sondern diese sogar vorsieht36. Und sie kann mit ihrem universalistischen Modus der Inklusion ebenso wenig ausschließen, daß es zu partikularistischen Formen der ‚Adressenberücksichtigung‘ in der Gesellschaft kommt. Netzwerkbildungen scheinen mit Strukturen funktionaler Differenzierung darüber hinaus sogar insofern 'wahlverwandt' zu sein, als das treibende Moment der Vernetzung in Optionssteigerungen liegt. Diese entstehen im Fall von Netzwerken nicht durch System-differenzierung, sondern auf ihrer Grundlage. Der Steigerungseffekt be-ruht auf der Nutzung der Polykontexturalität von Adressen und besteht in der reflexiven Verknüpfung der heterogenen Möglichkeiten, die sie in der Kommunikation repräsentieren. Insofern diese Möglichkeiten in unterschiedlichen Kontexten von Sinn konstitutiert werden, kann man vermuten, daß der Clou von Netzwerken nicht in der Systembildung liegt, sondern in ihrer Vermeidung.

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36 Dies besagt es, wenn in der Systemtheorie von einem Primat der

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Dr. Veronika Tacke, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld

Postfach 100 131, D-33501 Bielefeld [email protected]