the girl from ipanema

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The Girl From Ipanema 1 The Girl From Ipanema I ch habe mich schon oft gefragt, warum nur wenige Musiker diese schöne Komposition von Antonio Carlos Jobim spielen wollen. Die Reaktion ist fast immer dieselbe: „Oh Gott, nicht schon wieder dieses abgedroschene Stück!“. Wenn man allerdings die

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Page 1: The Girl From Ipanema

The Girl From Ipanema

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The Girl From Ipanema

Ich habe mich schon oft gefragt, warum nur wenige Musiker diese schöne Komposition von Antonio Carlos Jobim spielen wollen. Die Reaktion ist fast immer dieselbe: „Oh Gott, nicht schon wieder dieses abgedroschene Stück!“. Wenn man allerdings die

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Die neue Jazzharmonielehre

Improvisationen hört, wird schnell klar, wo das eigentliche Problem liegt. Während Soli über den A-Teil mit seinen elementaren Akkordfunktionen meist souverän klingen, wirken die Linien über den B-Teil häufi g etwas hilfl os und unsicher. Tatsache ist: Die wenigsten Musiker können über die relativ ungewohnten Changes spielen. Selbst ein so versierter Solist wie Stan Getz – der als Mitbegründer des Bossa Nova und langjähriger Weggefährte von Jobim dieses Stück bestens kannte – macht kaum mehr, als das Thema minimalistisch zu verzieren. Versuchen wir also ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Die Gesamtform der Komposition ist AABA. Über den A-Teil muss man – glaube ich – nichts sagen. Ich gehe davon aus, dass ihr inzwischen selbst in der Lage seid, solche Klang folgen zu analysieren. Wenden wir uns also gleich dem 16-taktigen B-Teil zu. Hier ist anfänglich eine viertaktige Unterteilung zu spüren, die nach dem Höhepunkt – quasi als Beschleunigungseffekt – in zweitaktige Phrasen übergeht (so wird durch ein formales Gestaltungsmittel die Rückführung in den A-Teil verstärkt). Der Aufbau des B-Teils sieht also folgendermaßen aus:

Aus melodischer Sicht ist eine motivische Sequenz erkennbar, die auch durch die Har-monik bestätigt wird. In den ersten beiden Akkorden (Gbmaj7/Cb7) stoßen wir auf das harmonische Pattern Imaj7/IV7. Deutet man F#-7 und G-7 in ihre jeweiligen Dur paral le-len um (F#-7 = Amaj7, G-7 = Bbmaj7), dann wird klar, dass dieses Pattern – wenn auch versteckt – weitergeführt wird (Imaj7/IV7 = I-7/bVI7). Wir haben es also mit frei modu-lie ren den viertaktigen Abschnitten zu tun (direkte Modulationen), die nur durch den Sequenz ge dan ken zusammengehalten werden:

Auch die letzten vier Takte sind als zweitaktige melodisch-harmonische Sequenz ana-lysierbar, wobei die Akkordfolge sicherlich wieder in F-Dur gedeutet werden muss (Rück-modulation):

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Nun kommen wir aber zum eigentlichen Problem – dem Improvisationsmaterial. Es leuchtet ein, dass auch die Skalenwahl den Sequenzgedanken aufgreifen sollte. Geht man davon aus, dass die Komposition im B-Teil moduliert und sowohl Gbmaj7 als auch F#-7/Amaj7 bzw. G-7/Bbmaj7 als neue tonale Zentren empfunden werden, dann wäre folgende Skalenzuordnung denkbar: Die Maj7- bzw. Moll7-Akkorde sind in ihrer Funktion als Tonikaklänge Ionisch bzw. Äolisch, die Septakkorde als Mixo(#11) – die #11 ist die „Verlängerung“ der maj7:

Wenn man den einzelnen Akkord und den jeweils dazugehörigen Themenabschnitt isoliert betrachtet, ist das die wohl logischste und einfachste Lösung. Und dennoch wäre das – wieder einmal – eine Papieranalyse, die vollkommen außer Acht lässt, dass jeder Klang mehr ist als eine bloße Momentaufnahme, dass er durch das vorausgegangene Tonmaterial beeinfl usst wird und selbst in die nachfolgenden Passagen hineinwirkt. Macht also nicht den Fehler, nur die unmittelbare Situation zu betrachten, sondern sucht vielmehr nach größeren Bögen und Zusammenhängen.

Lenkt euer Augenmerk auf die wichtigen Melodietöne (Noten, die lange ausgehalten werden oder auf einen Taktanfang fallen und damit eine gewisse Betonung erhalten). Sie bleiben in unserer Erinnerung besonders stark haften, klingen innerlich weiter und werden so den Charakter des nächsten Sounds mitbestimmen. Eine geraffte Darstellung des B-Teils veranschaulicht diesen Gedanken:

Kompositorisch ist dieser Abschnitt genial konzipiert. Jeder Akkord ist durch gemein same Töne mit den benachbarten Klängen verbunden. Auch wenn die Tonartwechsel vor der-gründig wie einfache Rückungen aussehen, so wird die Abruptheit dieses Modulationstyps durch diese melodischen Klammern deutlich gemildert. Nun dürfte klar sein, warum sich die meisten Improvisationen im B-Teil so stark am Thema orientieren – es ist schlicht und einfach der eleganteste Weg durch diese schwierige Passage.

Berücksichtigt man die Intervallbeziehungen der melodischen Haupttöne zum jeweils nachfolgenden Akkord (siehe vorausgehendes Schaubild), dann ergeben sich etwas andere Skalenbeziehungen:

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Die neue Jazzharmonielehre

Es ist interessant, dass D7 als Teil des harmonischen Patterns und nicht als Dominante von G-7 gehört wird. In diesem Fall wäre die dazugehörige Skala eher HM5 oder Alteriert (versucht es einmal – ihr werdet feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, gegen den Sequenzgedanken anzuspielen).

Jetzt zeigt sich auch, wie raffi niert die Verbindung von A- und B-Teil gemacht ist. Aufgrund ihres Improvisationsmaterials können Gbmaj7 (Lydisch) und G-7 (Dorisch) nicht nur als frei eintretende Tonikaklänge, sondern auch funktional in F-Dur und somit als geschickt platzierte Modulationsdrehpunkte interpretiert werden:

Das Ohr nimmt zwar neue tonale Zentren wahr, empfi ndet aber dennoch eine starke Anbindung an die Haupttonart F-Dur. F#-7 ist der einzig wirkliche Fremdkörper (der aller-dings durch die Sequenz aufgefangen wird).

Der Schlussabschnitt des B-Teils ist schnell analysiert. Das Thema spielt dabei die entscheidende Rolle:

Jetzt ist D7 natürlich V7/II und somit entweder HM5 oder Alteriert. Die #11 deutet auf Letzteres (das A auf dem vierten Schlag muss als Auftakt von G-7 angesehen werden und bezieht sich folglich nicht auf D7). C7 kann zwar grundsätzlich jede Septimskala erhalten, jedoch machen sowohl die #11 in der Melodie als auch die Weiterführung der zweitaktigen Sequenz Alteriert zur klanglich überzeugendsten Wahl.

Ich möchte mit „The Girl From Ipanema“ zeigen, wie wichtig es ist, bei der Analyse einer bestimmten Stelle auch das melodisch-harmonische Umfeld, das Vorher und Nachher, eventuell sogar das übergeordnete kompositorische Prinzip zu berücksichtigen. Betrachtet einen Klang nie als isoliertes Ereignis, sondern immer als Teil eines größeren Ganzen.