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Daniel Nolan The University of Minnesota Duluth Department of Foreign Languages and Literatures Fall 2008, Course # 52486 Tuesdays and Thursdays, 10:00 A.M. - 11:50 A.M Engineering 177

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Daniel Nolan

The University of Minnesota Duluth Department of Foreign Languages and Literatures Fall 2008, Course # 52486 Tuesdays and Thursdays, 10:00 A.M. - 11:50 A.M Engineering 177

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Deutsche Kriminalliteratur und die Deutsche Novelle Inhalt:

1. Zur Einführung 3 2. Der Verbrecher von verlorener Ehre – Friedrich Schiller 6 3. Die Zundelfrieder Geschichten – Johan Peter Hebel 36 4. Michael Kohlhaas – Heinrich von Kleist 50 5. Die Marquise von O… – Heinrich von Kleist 130 6. Das Fräulein von Scuderi – ETA Hoffmann 161

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1. Zur Einführung

In diesem Kurs behandeln wir die Deutsche Kriminalliteratur zusammen mit und als eine

besondere Form von der Deutschen Novelle. Wir werden im Laufe des Kurses Gelegenheit zu

fragen haben ob die Kriminalliteratur aus der Deutschen Novelle entspungen ist oder ob

diese beiden Formen einen gemeinsamen Ursprung haben. Bevor wir uns aber diesen Fragen

widmen, sollen wir erstmal die folgende klären: Warum beschäftigen wir uns mit der

Kriminalliteratur überhaupt?

Lange könnte man auf diese Frage kurz erwidert1 haben: man soll es nicht! Kriminalliteratur

gibt es nur erst seit den letzten zwei Jahrhunderten, und der Grund für den relativ späten

Anfang dieser Gattung2 ist leicht zu finden: in der frühen Moderne sah man den

eigentümlichen Zweck der Literatur darin, das Schöne im menschlichen Leben

hervorzuheben, und den Mensch dadurch zu unterhalten, zu erbauen3 und zu belehren. Da

Kriminalität an sich als weder erbaulich noch schön galt, gewann es dementsprechend wenig

Aufmerksamkeit im literarischen Kulturleben.

Heute verstehen wir die Literatur in einem erweiterten Sinne. Und es mag uns heute seltsam

erscheinen, daß die europäischen Kulturen der frühen Moderne sich nicht besonders für das

kriminelle Element iherer Gesellschaft interessierten. Heute kann man sich einen schönen

Fernsehabend ohne einen guten Krimi kaum vorstellen. Kriminalität ist ohne Zweifel eine der

größten Themen unserer kulturellen Welt. Und hierin besteht vielleicht schon eine erste

Antwort auf die oben angegebene Frage: wir beschäftigen uns mit der Kriminalliteratur weil

es gemeinhin ein wichtiges Thema in unserem kulturellen Leben geworden ist.

Daß wir zusammen mit unserern Mitmenschen gemeinsam von den kriminellen Elementen

unserer Kultur fasziniert sind, sagt schon vieles über den seltsamen Charakter dieser Literatur.

Die Lebensgeschichte des Verbrechers wird als spannungsvoll, abenteuerlich und

geheimnisvoll empfunden. Der Verbrecher kann als Held oder als böse Kraft auftreten, aber in

1 to reply, retort 2 genre 3 to edify, educate

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beiden Fällen hat er einen starken Charakter und gilt immer als eine Persönlichkeit. Daß die

Person des Verbrechers ein so hohes Interesse in uns erweckt, sagt aber wiederum nicht daß

wir selbst böse Menschen sind. Und hierin unterscheiden wir uns von der Kultur der frühen

Moderne.

Wie wir uns so geändert haben hat viel mit dem langen Werdegang4 der Aufklärung5 zu tun.

In diesem Kurs werden wir nur einige Kapiteln aus dieser langen Geschichte zu betrachten

versuchen. Es ist nämlich erst mit der Aufklärung daß wir den Mensch als vernünftig,

selbstständig und als mit seinen Mitmenschen mehr oder weniger gleich verstehen.

Die offene Form der Gesellschaft der Aufklärung bringt mit sich ein weitgehendes Verständnis

für gesellschaftliche Probleme in einem Grade wie man bis dahin nicht für möglich gehalten

hatte. Man versuchte alles in der Gesellschaft zu verstehen, eben als Folge des neuen Begriffes

vom Menschen als vernünftig und mit seinen Mitmenschen gleich. Auch um diese Zeit sehen

wir die Entstehung eines weit verbreiteten Lesepublikums. Und hier sehen wir das erste

Anzeichen von einem allgemeinen Interesse am Verbrechen.

Schon bei den Anfängen der Kriminalliteratur war das Verständnis für den Verbrecher ein

zentrales Thema. Können wir in das Gehirn des Verbrechers hinein blicken? Können wir die

Lebensgeschichte des Verbrechers, wie er zum Verbrecher wurde, verstehen? Die Literatur

nahm diese Fragen auf und schon bei den Anfängen war die Sprache selbst ein wichtiger

Anhaltspunkt6 im Versuch den Verbrecher zu verstehen. In diesem Kurs wollen wir uns nicht

nur mit der Literatur beschäftigen, wir wollen auch unser Deutsch verbessern. Wir werden

sehen daß die Kriminalliteratur für diese Aufgabe ein besonders gut geeignetes Gebiet sein

kann.

In diesem Kurs beschäftigen wir uns mit fünf exemplarischen Geschichten aus der frühen

Kriminalliteratur. Bei jeder dieser fünf Geschichten werden wir die Kriminalliteratur

hauptsächlich als ein Spezialfall der Deutschen Novelle betrachten. Bei jeder von diesen fünf

4 development 5 the Enlightenment 6 clue, piece of evidence, point to consider

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Geschichten handelt es sich jeweils um eine kurze Erzählung, in deren Kern sich eine

unerhörte Begebenheit 7verbirgt. Es wird nicht verwundern daß die Kriminalliteratur sich

schon immer mit dem Unerhörten auseinandersetzte. Ihr zentrales Thema schon, das

Verbrechen, macht etwas Unerwartetes und Unerhörtes zum Schauplatz der erzählten

Handlung. Wenn wir die Novelle als “eine sich ereignete unerhörte Begebenheit”8

definieren, wie Goethe das 1827 in seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann tat, dann

können wir schon jetzt etwas von dem besonderen Verhältnis zwischen Novelle und

Kriminalliteratur erkennen.

Wir werden mehrmals in diesem Kurs dieses Verhältnis und diese Definition zu hinterfragen

versuchen. Wir werden aber erst lernen die konkreten Fakten dieser Geschichten auszulegen.

Als Teil dieser Aufgabe werden wir die Worte des Verbrechers selbst zu Hilfe nehmen. Und

wir werden vor der Frage gestellt werden, ob der Verbrecher seine eigene Geschichte in

Worten ausdrücken kann, oder ob er dem Unverständnis seiner Mitmenschen unterliegen

muss. Und hierfür kann kein Text uns besser als Einführung dienen als der von Friedrich

Schiller1786 veröffentlichte Verbrecher von verlorener Ehre, den wir zunächst lesen.

7 eine unerhörte Begebenheit an unheard of event 8 “eine sich ereignete unerhörte Begebenheit” an unheard-of event that has come to occur

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2.

Friedrich Schiller

Der Verbrecher aus verlorener Ehre

Eine wahre Geschichte

In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender9 für Herz und Geist

als die Annalen seiner Verirrungen10. Bei jedem großen Verbrechen war eine

verhältnismäßig11 große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime12 Spiel der

Begehrungskraft13 bei dem matteren14 Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im

Zustand gewaltsamer15 Leidenschaft desto hervorspringender16, kolossalischer, lauter; der

feinere Menschenforscher17, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen

Willensfreiheit eigentlich rechnen darf und wie weit es erlaubt ist, analogisch zu schließen,

wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre18 herübertragen und für das

sittliche Leben verarbeiten.

Es ist etwas so Einförmiges19 und doch wieder so Zusammengesetztes20, das menschliche Herz.

Eine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde21 kann in tausenderlei Formen und

Richtungen spielen, kann tausend widersprechende22 Phänomene bewirken, kann in tausend

Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen

können wieder aus einerlei Neigung23 gesponnen24 sein, wenn auch der Mensch, von

welchem die Rede ist, nichts weniger denn25 eine solche Verwandtschaft26 ahndet.27 Stünde

9 more edifying 10 the records of its errors 11 relatively 12 secret 13 the powers of desire 14 more languid 15 powerful 16 to that degree more noticeable 17 researcher of humankind 18 doctrine of the soul; Anmerkung – vgl. Platons Seelenlehre 19 monotonous, one sided 20 composed of many parts 21 desire 22 contradictory 23 inclination 24 woven 25 als

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einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht ein Linnäus28

aufstellte. auf, welcher nach Trieben und Neigungen29 klassifizierte, wie sehr würde man

erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster30 in einer engen bürgerlichen Sphäre und in

der schmalen Umzäunung31 der Gesetze jetzt ersticken32 muß, mit dem Ungeheuer Borgia33,

berüchtigt durch seine Verbrechen, in einer Ordnung beisammen34 fände.

Von dieser Seite betrachtet, läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der

Geschichte einwenden35, und hier, vermute ich, liegt auch die Schwierigkeit, warum das

Studium derselben für das bürgerliche Leben noch immer so fruchtlos36 geblieben. Zwischen

der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des

Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt37 wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein

so breiter Zwischenraum, daß es dem letztern schwer, ja unmöglich wird, einen

Zusammenhang nur zu ahnden38. Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und

dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung39 oder Anwendung abschneidet und statt

jenes heilsamen40 Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der

Befremdung erweckt41. Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die

Tat beging42, so wie in der, wo er dafür büßet43, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf44

26 relationship, relation 27 to be punished for 28 Anmerkung – ein “Linnäus,” also einer wie Karl von Linné, bzw. Carl Linneaus, (1707-1778), berühmt für das nach ihm benannten Pflanzensystem und bes. seine Taxonomie 29 drives and inclinations 30 vices 31 enclosure 32 suffocate 33 Anmerkung – ein “Borgia”, also Cesare Borgia (1475 – 1507), Sohn vom Papst Alexander VI, blutgieriger Tyrann 34 together 35 to object, to bring as an objection 36 fruitless 37 presented, laid before 38 NB “ahnden” hier im Sinne von “ahnen” verwendet; ahnen to gain a sense for something, to have prescience of something; vgl. ahnden to receive punishment for something 39 comparison 40 healing 41 [lit.] awakens a headshaking of alienation 42 begehen to commit 43 receives retribution, is punished 44 creature

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fremder Gattung45 an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Wille andern Regeln

gehorcht46 als der unsrige; seine Schicksale47 rühren uns wenig, denn Rührung gründet sich ja

nur auf ein dunkles Bewußtsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche

Ähnlichkeit auch nur zu träumen. Die Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die

Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen48

Verdienste um unsre Neugier begnügen. Soll sie uns mehr sein und ihren großen Endzweck

erreichen, so muß sie notwendig unter diesen beiden Methoden wählen — Entweder der

Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.

Ich weiß, daß von den besten Geschichtschreibern neuerer Zeit und des Altertums49 manche

sich an die erste Methode gehalten und das Herz ihres Lesers durch hinreißenden50 Vortrag

bestochen51 haben. Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die

republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt52, selbst zu Gericht zu

sitzen; sie ist zugleich eine Verletzung53 der Grenzengerechtigkeit54, denn diese Methode

gehört ausschließend55 und eigentümlich dem Redner und Dichter. Dem Geschichtschreiber

bleibt nur die letztere übrig.

Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm

bekannt werden, eh’56 er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen

sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen

Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.

Man hat das Erdreich des Vesuvs57 untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären;

warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit58 als einer 45 species 46 obeys, follows 47 destiny 48 poor, deprived 49 antiquity 50 captivating, compelling 51 to be stung, to be touched by 52 zukommen +Dat. to apply to or be appropriate for someone or something 53 injury, violation 54 [Compositum] Gerechtigkeit justice der Grenze border 55 exclusively 56 [colloq.] before 57 Mount Vesuvius 58 attention

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physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit59 und

Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder60

in seinem Inwendigen Feuer fing? Den Träumer, der das Wunderbare liebt, reizt eben das

Seltsame und Abenteuerliche einer solchen Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine

Mutter zu diesen verlorenen Kindern. Er sucht sie in der unveränderlichen61 Struktur der

menschlichen Seele und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen

bestimmten, und in diesen beiden findet er sie gewiß. Ihn überrascht es nun nicht mehr, in

dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch den giftigen Schierling

gedeihen zu sehen, Weisheit und Torheit, Laster und Tugend in einer Wiege62 beisammen zu

finden.

Wenn ich auch keinen der Vorteile hier in Anschlag63 bringe, welche die Seelenkunde aus

einer solchen Behandlungsart der Geschichte zieht, so behält sie schon allein darum den

Vorzug, weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet64, womit

gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend65 auf die gefallne66 herunterblickt67;

weil sie den sanften Geist der Duldung68 verbreitet, ohne welchen kein Flüchtling69

zurückkehrt, keine Aussöhnung70 des Gesetzes mit seinem Beleidiger stattfindet, kein

angestecktes71 Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird.

Ob der Verbrecher, von dem ich jetzt sprechen werde, auch noch ein Recht gehabt hätte, an

jenen Geist der Duldung zu appellieren? ob er wirklich ohne Rettung für den Körper des

Staats verloren war? — Ich will dem Ausspruch72 des Lesers nicht vorgreifen. Unsre

59 manner in which something was created – s. schaffen to create 60 ignition, something that ignites 61 unchanging 62 cradle 63 in Anschlag bringen to move against, to object to 64 rot out, [fig.] to undermine 65 die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend the untested upright virtue 66 die gefallne [Tugend] fallen virtue 67 looks down on 68 toleration, sympathetic treatment 69 refugee 70 reconciliation 71 infected 72 judgment, sentence

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Gelindigkeit73 fruchtet74 ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers75 Hand — aber die

Leichenöffnung76 seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und — es ist möglich,

auch die Gerechtigkeit.

Christian Wolf war der Sohn eines Gastwirts in einer …schen Landstadt (deren Namen man aus

Gründen, die sich in der Folge aufklären, verschweigen muß) und half seiner Mutter, denn der

Vater war tot, bis in sein zwanzigstes Jahr die Wirtschaft besorgen. Die Wirtschaft war schlecht,

und Wolf hatte müßige Stunden. Schon von der Schule her war er für einen losen Buben

bekannt. Erwachsene Mädchen führten Klagen77 über seine Frechheit, und die Jungen des

Städtchens huldigten78 seinem erfinderischem Kopfe. Die Natur hatte seinen Körper

verabsäumt.79 Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen

Schwärze, eine plattgedrückte80 Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch

überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gab seinem

Anblick eine Widrigkeit81, welche alle Weiber von ihm zurückscheuchte82 und dem Witz

seiner Kameraden eine reichliche Nahrung darbot83.

Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert84 war; weil er mißfiel85, setzte er sich vor zu gefallen.

Er war sinnlich und beredete86 sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, mißhandelte ihn;

er hatte Ursache, zu fürchten, daß seine Nebenbuhler87 glücklicher wären; doch das Mädchen

war arm. Ein Herz, daß seinen Beteurungen88 verschlossen blieb, öffnete sich vielleicht seinen

Geschenken, aber ihn selbst drückte Mangel89, und der eitle Versuch, seine Außenseite

73 kindness 74 to produce fruit, to give an advantage 75 hangman 76 autopsy 77 complaints 78 revered 79 neglected 80 pressed flat 81 offensiveness 82 scared away 83 darbieten to offer up 84 denied 85 misfallen to displease 86 convinced himself 87 competitors 88 pleadings 89 lack, need

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geltend zu machen, verschlang noch das Wenige, was er durch eine schlechte Wirtschaft

erwarb90. Zu bequem und zu unwissend, einem zerrütteten Hauswesen durch Spekulation

aufzuhelfen, zu stolz, auch zu weichlich, den Herrn, der er bisher gewesen war, mit dem

Bauern zu vertauschen und seiner angebeteten Freiheit zu entsagen, sah er nur einen

Ausweg vor sich — den Tausende vor ihm und nach ihm mit besserem Glücke ergriffen haben

— den Ausweg, honettzustehlen91. Seine Vaterstadt grenzte an eine landesherrliche

Waldung, er wurde Wilddieb, und der Ertrag92 seines Raubes wanderte treulich in die Hände

seiner Geliebten.

Unter den Liebhabern Hannchens war Robert, ein Jägerbursche des Försters. Frühzeitig

merkte dieser den Vorteil, den die Freigebigkeit93 seines Nebenbuhlers über ihn gewonnen

hatte, und mit Scheelsucht94 forschte er nach den Quellen dieser Veränderung. Er zeigte sich

fleißiger in der "Sonne" — dies war das Schild zu dem Wirtshaus —, sein laurendes Auge, von

Eifersucht95 und Neide geschärft, entdeckte ihm bald, woher dieses Geld floß. Nicht lange

vorher war ein strenges96 Edikt gegen die Wildschützen erneuert worden, welches den

Übertreter97 zum Zuchthaus verdammte. Robert war unermüdet, die geheimen Gänge seines

Feindes zu beschleichen98; endlich gelang es ihm auch, den Unbesonnenen99 über der Tat zu

ergreifen. Wolf wurde eingezogen100 , und nur mit Aufopferung101 seines ganzen kleinen

Vermögens brachte er es mühsam dahin, die zuerkannte Strafe durch eine Geldbuße

abzuwenden.

Robert triumphierte. Sein Nebenbuhler war aus dem Felde geschlagen und Hannchens

Gunst102 für den Bettler verloren. Wolf kannte seinen Feind, und dieser Feind war der

90 erwerben to earn, to acquire 91 [lit.] to steal honorably; [here] to steal from the forest, from land officially owned by the state 92 profit 93 magnanimity 94 resentment, enviousness 95 jealousy 96 strict 97 offender 98 to sneak up on, sneak after 99 the unenlightened one, cf. besonnen sein, Besonnenheit enlightenment 100 taken in 101 sacrifice 102 favor

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glückliche Besitzer seiner Johanne. Drückendes Gefühl des Mangels gesellte sich zu

beleidigtem Stolze, Not und Eifersucht stürmen vereinigt auf seine Empfindlichkeit ein, der

Hunger treibt ihn hinaus in die weite Welt, Rache und Leidenschaft halten ihn fest. Er wird

zum zweitenmal Wilddieb; aber Roberts verdoppelte Wachsamkeit103 überlistet104 ihn zum

zweitenmal wieder. Jetzt erfährt er die ganze Schärfe des Gesetzes: denn er hat nichts mehr

zu geben, und in wenigen Wochen wird er in das Zuchthaus der Residenz abgeliefert.

Das Strafjahr war überstanden105 , seine Leidenschaft durch die Entfernung gewachsen und

sein Trotz unter dem Gewicht des Unglücks gestiegen. Kaum erlangt er die Freiheit, so eilt er

nach seinem Geburtsort, sich seiner Johanne zu zeigen. Er erscheint: man flieht ihn. Die

dringende Not hat endlich seinen Hochmut gebeugt106 und seine Weichlichkeit überwunden

— er bietet sich den Reichen des Orts an und will für den Taglohn dienen. Der Bauer zuckt

über den schwachen Zärtling die Achsel107 ; der derbe Knochenbau seines handfesten

Mitbewerbers sticht ihn bei diesem fühllosen Gönner aus. Er wagt einen letzten Versuch. Ein

Amt ist noch ledig108 , der äußerste verlorne Posten des ehrlichen Namens — er meldet sich

zum Hirten des Städtchens, aber der Bauer will seine Schweine keinem Taugenichts109

anvertrauen. In allen Entwürfen getäuscht, an allen Orten zurückgewiesen, wird er zum

drittenmal Wilddieb, und zum drittenmal trifft ihn das Unglück, seinem wachsamen Feind in

die Hände zu fallen.

Der doppelte Rückfall hat seine Verschuldung erschwert. Die Richter sahen in das Buch der

Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung110 des Beklagten. Das Mandat gegen die

Wilddiebe bedurfte einer solennen und exemplarischen Genugtuung111 , und Wolf ward

verurteilt, das Zeichen des Galgens auf den Rücken gebrannt, drei Jahre auf der Festung zu

arbeiten.

103 alertness 104 überlisten to outwit 105 endured 106 beugen to bend, to bow 107 die Achsel zucken to shrug ones shoulders 108 available 109 ein Taugenichts, d.h. jemand der zu nichts taugt a good for nothing 110 [Compositum] die Verfassung constitution des Gemüts mind 111 recompense, satisfaction

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Auch diese Periode verlief, und er ging von der Festung — aber ganz anders, als er dahin

gekommen war. Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er

nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat. "Ich betrat die

Festung," sagte er, "als ein verirrter und verließ sie als ein Lotterbube112 . Ich hatte noch etwas

in der Welt gehabt, das mir teuer war, und mein Stolz krümmte113 sich unter der Schande114 .

Wie ich auf die Festung gebracht war, sperrte man mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein,

unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren.

Man verhöhnte115 mich, wenn ich von Gott sprach, und setzte mir zu116 , schändliche

Lästerungen117 gegen den Erlöser118 zu sagen. Man sang mir Hurenlieder119 vor, die ich, ein

lüderlicher Bube, nicht ohne Ekel und Entsetzen120 hörte; aber was ich ausüben sah, empörte

meine Schamhaftigkeit noch mehr. Kein Tag verging121 , wo nicht irgendein schändlicher

Lebenslauf wiederholt, irgendein schlimmer Anschlag geschmiedet ward. Anfangs floh122 ich

dieses Volk und verkroch mich vor ihren Gesprächen, so gut mir’s möglich war; aber ich

brauchte ein Geschöpf, und die Barbarei meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund

abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich; ich brauchte

Beistand, und wenn ich’s aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedauerung123 , und diese mußte

ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an

das Abscheulichste124 , und im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen.

"Von jetzt an lechzte125 ich nach dem Tag meiner Freiheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle

Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich

betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der

112 a rake, a rascal 113 bent 114 disgrace 115 verhöhnen to deride 116 jmdm. zusetzen to pressure someone to do something 117 sacrilege 118 the redeemer, [here] Jesus Christ 119 whore songs 120 disgust 121 vergehen to transpire 122 fliehen to flee 123 pity 124 abscheulich disgusting 125 yearned, lusted for

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Gesetze. Zähneknirschend126 rieb127 ich meine Ketten, wenn die Sonne hinter meinem

Festungsberg heraufkam; eine weite Aussicht ist zwiefache Hölle für einen Gefangenen. Der

freie Zugwind128 , der durch die Luftlöcher meines Turmes pfeifte, und die Schwalbe129 , die

sich auf dem eisernen Stab meines Gitters niederließ130 , schienen mich mit ihrer Freiheit zu

necken und machten mir meine Gefangenschaft desto gräßlicher131 . Damals gelobte132 ich

unversöhnlichen, glühenden Haß allem, was dem Menschen gleicht, und was ich gelobte, hab’

ich redlich gehalten.

"Mein erster Gedanke, sobald ich mich frei sah, war meine Vaterstadt. So wenig auch für

meinen künftigen Unterhalt da zu hoffen war, so viel versprach sich mein Hunger nach Rache.

Mein Herz klopfte wilder, als der Kirchturm von weitem aus dem Gehölze133 stieg. Es war nicht

mehr das herzliche Wohlbehagen134 , wie ich’s bei meiner ersten Wallfahrt135 empfunden

hatte. — Das Andenken alles Ungemachs136 , aller Verfolgungen, die ich dort einst erlitten137

hatte, erwachte mit einemmal aus einem schrecklichen Todesschlaf, alle Wunden bluteten

wieder, alle Narben138 gingen auf. Ich verdoppelte meine Schritte, denn es erquickte139 mich

im voraus, meine Feinde durch meinen plötzlichen Anblick in Schrecken zu setzen, und ich

dürstete jetzt ebenso sehr nach neuer Erniedrigung140 , als ich ehemals davor gezittert141

hatte.

"Die Glocken läuteten zur Vesper, als ich mitten auf dem Markte stand. Die Gemeinde142

wimmelte zur Kirche. Man erkannte mich schnell, jedermann, der mir aufstieß, trat scheu

126 grinding the teeth 127 reiben to rub, to grind 128 draft breeze 129 dove 130 niederlassen to set down, to settle 131 damnable, terrible 132 pledged 133 woods 134 satisfaction 135 pilgrimage 136 ill, adversity 137 erleiden to suffer 138 scars 139 refreshed 140 humiliation 141 zittern to tremble 142 community

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zurück. Ich hatte von jeher die kleinen Kinder sehr lieb gehabt, und auch jetzt übermannte

mich’s unwillkürlich, daß ich einem Knaben, der neben mir vorbeihüpfte143 , einen Groschen

bot. Der Knabe sah mich einen Augenblick starr an und warf mir den Groschen ins Gesicht.

Wäre mein Blut nur etwas ruhiger gewesen, so hätte ich mich erinnert, daß der Bart, den ich

noch von der Festung mitbrachte, meine Gesichtszüge144 bis zum Gräßlichen entstellte —

aber mein böses Herz hatte meine Vernunft angesteckt. Tränen, wie ich sie nie geweint hatte,

liefen über meine Backen.

"’Der Knabe weiß nicht, wer ich bin, noch woher ich komme,‘ sagte ich halblaut zu mir selbst,

‘und doch meidet145 er mich wie ein schändliches Tier. Bin ich denn irgendwo auf der Stirne

gezeichnet, oder habe ich aufgehört, einem Menschen ähnlich zu sehen, weil ich fühle, daß

ich keinen mehr lieben kann?‘ — Die Verachtung dieses Knaben schmerzte mich bitterer als

dreijähriger Galliotendienst146 , denn ich hatte ihm Gutes getan und konnte ihn keines

persönlichen Hasses beschuldigen.

"Ich setzte mich auf einen Zimmerplatz, der Kirche gegenüber; was ich eigentlich wollte,

weiß ich nicht; doch ich weiß noch, daß ich mit Erbitterung147 aufstand, als von allen meinen

vorübergehenden Bekannten keiner mich nur eines Grußes gewürdigt hatte, auch nicht

einer. Unwillig verließ ich meinen Standort, eine Herberge aufzusuchen; als ich an der Ecke

einer Gase umlenkte148 , rannte ich gegen meine Johanne. ,Sonnenwirt!149 ‘ schrie sie laut auf

und machte eine Bewegung, mich zu umarmen. ‘Du wieder da, lieber Sonnenwirt! Gott sei

Dank, daß du wiederkömmst!‘ Hunger und Elend sprach aus ihrer Bedeckung, eine schändliche

Krankheit aus ihrem Gesichte; ihr Anblick verkündigte die verworfenste150 Kreatur, zu der sie

erniedrigt war. Ich ahndete schnell, was hier geschehen sein möchte; einige fürstliche

Dragoner, die mir eben begegnet waren, ließen mich erraten, daß Garnison in dem Städtchen

143 skipped past 144 [Compositum] Züge lines des Gesichts face 145 meiden to avoid 146 Zwangsarbeit auf der Galliote 147 exasperation 148 turned [a corner] 149 [lit.] host of “The Sun,” the inn mentioned earlier 150 most dejected

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lag. ’Soldatendirne151 !‘ rief ich und drehte ihr lachend den Rücken zu. Es tat mir wohl, daß noch

ein Geschöpf unter mir war im Rang der Lebendigen. Ich hatte sie niemals geliebt.

"Meine Mutter war tot. Mit meinem kleinen Hause hatten sich meine Kreditoren bezahlt

gemacht. Ich hatte niemand und nichts mehr. Alle Welt floh mich wie einen Giftigen, aber ich

hatte endlich verlernt, mich zu schämen. Vorher hatte ich mich dem Anblick der Menschen

entzogen152 , weil Verachtung mir unerträglich153 war. Jetzt drang ich mich auf und

ergötzte154 mich, sie zu verscheuchen155 . Es war mir wohl, weil ich nichts mehr zu verlieren

und nichts mehr zu hüten156 hatte. Ich brauchte keine gute Eigenschaft mehr, weil man keine

mehr bei mir vermutete.

"Die ganze Welt stand mir offen, ich hätte vielleicht in einer fremden Provinz für einen

ehrlichen Mann gegolten, aber ich hatte den Mut verloren, es auch nur zu scheinen.

Verzweiflung und Schande hatten mir endlich diese Sinnesart aufgezwungen157 . Es war die

letzte Ausflucht, die mir übrig war, die Ehre entbehren158 zu lernen, weil ich an keine mehr

Anspruch machen durfte. Hätten meine Eitelkeit159 und mein Stolz meine Erniedrigung

erlebt, so hätte ich mich selber entleiben160 müssen.

"Was ich nunmehr eigentlich beschlossen hatte, war mir selber noch unbekannt. Ich wollte

Böses tun, soviel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die

Gesetze, meinte ich, wären Wohltaten für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen;

ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt tat ich’s aus freier Wahl

zu meinem Vergnügen.

151 soldier’s whore 152 entziehen to remove 153 insufferable 154 sich an etwas ergötzen to gloat over something 155 to scare away 156 to protect, to be wary of something 157 aufzwingen to impose, to force upon 158 to do without 159 vanity 160 to disembody oneself, commit suicide

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"Mein Erstes war, daß ich mein Wildschießen fortsetzte. Die Jagd überhaupt war mir nach und

nach zur Leidenschaft geworden, und außerdem mußte ich ja leben. Aber dies war es nicht

allein; es kitzelte161 mich, das fürstliche Edikt zu verhöhnen und meinem Landesherrn nach

allen Kräften zu schaden. Ergriffen zu werden, besorgte ich nicht mehr, denn jetzt hatte ich

eine Kugel für meinen Entdecker bereit, und das wußte ich, daß mein Schuß seinen Mann

nicht fehlte. Ich erlegte alles Wild, das mir aufstieß, nur weniges machte ich auf der Grenze zu

Gelde, das meiste ließ ich verwesen. Ich lebte kümmerlich, um nur den Aufwand an Blei und

Pulver162 zu bestreiten163 . Meine Verheerungen in der großen Jagd wurden ruchbar164 , aber

mich drückte kein Verdacht mehr. Mein Anblick löschte ihn aus. Mein Name war vergessen.

"Diese Lebensart trieb ich mehrere Monate. Eines Morgens hatte ich nach meiner

Gewohnheit das Holz durchstrichen, die Fährte165 eines Hirsches zu verfolgen. Zwei Stunden

hatte ich mich vergeblich166 ermüdet, und schon fing ich an, meine Beute verloren zu geben,

als ich sie auf einmal in schußgerechter Entfernung entdecke. Ich will anschlagen und

abdrücken — aber plötzlich erschreckt mich der Anblick eines Hutes, der wenige Schritte vor

mir auf der Erde liegt. Ich forsche genauer und erkenne den Jäger Robert, der hinter dem

dicken Stamm einer Eiche167 auf eben das Wild anschlägt, dem ich den Schuß bestimmt hatte.

Eine tödliche Kälte fährt bei diesem Anblick durch meine Gebeine. Just das war der Mensch,

den ich unter allen lebendigen Dingen am gräßlichsten haßte, und dieser Mensch war in die

Gewalt meiner Kugel gegeben. In diesem Augenblick dünkte mich’s, als ob die ganze Welt in

meinem Flintenschuß168 läge und der Haß meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze

sich zusammendrängte, womit ich den mörderischen Druck tun sollte. Eine unsichtbare

fürchterliche Hand schwebte169 über mir, der Stundenweiser170 meines Schicksals zeigte

unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die

schreckliche Wahl erlaubte — meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost171 , und 161 tickled; [fig.] pleased 162 Blei und Pulver [lit.] lead and powder, [here] bullets and gunpowder 163 to cover the cost 164 [lit.] smell-able, i.e. noticeable 165 track, scent 166 in vain 167 oak tree 168 gunshot 169 schweben to sway, hover 170 hour hand 171 the chill of a fever

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der Odem172 sperrte sich erstickend in meiner Lunge. Eine Minute lang blieb der Lauf meiner

Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken — eine

Minute — und noch eine — und wieder eine. Rache und Gewissen173 rangen174 hartnäckig

und zweifelhaft, aber die Rache gewann’s, und der Jäger lag tot am Boden.

"Mein Gewehr fiel mit dem Schusse…’Mörder‘…stammelte ich langsam — der Wald war still

wie ein Kirchhof — ich hörte deutlich, daß ich ‘Mörder‘ sagte. Als ich näher schlich, starb der

Mann. Lange stand ich sprachlos vor dem Toten, ein helles Gelächter175 endlich machte mir

Luft. ‘Wirst du jetzt reinen Mund halten, guter Freund!‘ sagte ich und trat keck176 hin, indem

ich zugleich das Gesicht des Ermordeten auswärts kehrte. Die Augen standen ihm weit auf. Ich

wurde ernsthaft und schwieg plötzlich wieder stille. Es fing mir an, seltsam zu werden.

"Bis hieher hatte ich auf Rechnung meiner Schande177 gefrevelt178 ; jetzt war etwas

geschehen, wofür ich noch nicht gebüßt hatte. Eine Stunde vorher, glaube ich, hätte mich kein

Mensch überredet, daß es noch etwas Schlechteres als mich unter dem Himmel gebe; jetzt

fing ich an zu mutmaßen, daß ich vor einer Stunde wohl gar zu beneiden war.

"Gottes Gerichte fielen mir nicht ein — wohl aber eine, ich weiß nicht welche? verwirrte

Erinnerung an Strang und Schwert und die Exekution einer Kindermörderin, die ich als

Schuljunge mit angesehen hatte. Etwas ganz besonders Schreckbares lag für mich in dem

Gedanken, daß von jetzt an mein Leben verwirkt179 sei. Auf mehreres besinne ich mich nicht

mehr. Ich wünschte gleich darauf, daß er noch lebte. Ich tat mir Gewalt an, mich lebhaft an

alles Böse zu erinnern, das mir der Tote im Leben zugefügt hatte, aber sonderbar! mein

Gedächtnis war wie ausgestorben. Ich konnte nichts mehr von alle dem hervorrufen, was mich

vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser

Mordtat gekommen war.

172 altes Wort für Atem 173 conscience 174 mit etwas ringen to be in struggle with something 175 laughter 176 bold, brash 177 disgrace, but also dishonor; hier im Sinne vom “Verbrecher aus verlorener Ehre” 178 freveln to commit an outrage, crime; but also in general to act without order 179 lost, forfeited

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"Noch stand ich vor der Leiche, noch immer. Das Knallen180 einiger Peitschen181 und das

Geknarre182 von Frachtwagen, die durchs Holz fuhren, brachte mich zu mir selbst. Es war kaum

eine Viertelmeile abseits der Heerstraße, wo die Tat geschehen war. Ich mußte auf meine

Sicherheit denken.

"Unwillkürlich verlor ich mich tiefer in den Wald. Auf dem Wege fiel mir ein, daß der Entleibte

sonst eine Taschenuhr besessen hätte. Ich brauchte Geld, um die Grenze zu erreichen — und

doch fehlte mir der Mut, nach dem Platz umzuwenden, wo der Tote lag. Hier erschreckte mich

ein Gedanke an den Teufel und eine Allgegenwart Gottes. Ich raffte183 meine ganze Kühnheit

zusammen; entschlossen, es mit der ganzen Hölle aufzunehmen, ging ich nach der Stelle

zurück. Ich fand, was ich erwartet hatte, und in einer grünen Börse noch etwas weniges über

einen Taler an Gelde. Eben da ich beides zu mir stecken wollte, hielt ich plötzlich ein und

überlegte. Es war keine Anwandlung184 von Scham, auch nicht Furcht, mein Verbrechen durch

Plünderung zu vergrößern — Trotz, glaube ich, war es, daß ich die Uhr wieder von mir warf

und von dem Gelde nur die Hälfte behielt. Ich wollte für einen persönlichen Feind des

Erschossenen, aber nicht für seinen Räuber gehalten sein.

"Jetzt floh ich waldeinwärts. Ich wußte, daß das Holz sich vier deutsche Meilen nordwärts

erstreckte und dort an die Grenzen des Landes stieß. Bis zum hohen Mittage lief ich atemlos.

Die Eilfertigkeit185 meiner Flucht hatte meine Gewissensangst zerstreut, aber sie kam

schrecklicher zurück, wie meine Kräfte mehr und mehr ermatteten. Tausend gräßliche

Gestalten gingen an mir vorüber und schlugen wie schneidende Messer in meine Brust.

Zwischen einem Leben voll rastloser Todesfurcht und einer gewaltsamen Entleibung war mir

jetzt eine schreckliche Wahl gelassen, und ich mußte wählen. Ich hatte das Herz nicht, durch

Selbstmord aus der Welt zu gehen, und entsetzte mich vor der Aussicht, darin zu bleiben.

Geklemmt186 zwischen die gewissen Qualen des Lebens und die ungewissen Schrecken der

180 crack 181 whips 182 creaking 183 zusammenraffen to gather up, to pull together; [refl.] to regain ones wit 184 mood, mood change 185 hastiness 186 stuck

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Ewigkeit, gleich unfähig zu leben und zu sterben, brachte ich die sechste Stunde meiner

Flucht dahin, eine Stunde, vollgepreßt von Qualen, wovon noch kein lebendiger Mensch zu

erzählen weiß.

"In mich gekehrt und langsam, ohne mein Wissen den Hut tief ins Gesichte gedrückt, als ob

mich dies vor dem Auge der leblosen Natur hätte unkenntlich machen können, hatte ich

unvermerkt einen schmalen Fußsteig verfolgt, der mich durch das dunkelste Dickicht führte

— als plötzlich eine rauhe befehlende Stimme vor mir her: ,Halt!‘ rufte. Die Stimme war ganz

nahe, meine Zerstreuung und der heruntergedrückte Hut hatten mich verhindert, um mich

herum zu schauen. Ich schlug die Augen auf und sah einen wilden Mann auf mich zukommen,

der eine große knotigte Keule187 trug. Seine Figur ging ins Riesenmäßige — meine erste

Bestürzung188 wenigstens hatte mich dies glauben gemacht — und die Farbe seine Haut war

von einer gelben Mulattenschwärze, woraus das Weiße eines schielenden Auges bis zum

Grausen hervortrat. Er hatte statt eines Gurts ein dickes Seil189 zwiefach um einen grünen

wollenen Rock geschlagen, worin ein breites Schlachtmesser bei einer Pistole stak. Der Ruf

wurde wiederholt, und ein kräftiger Arm hielt mich fest. Der Laut eines Menschen hatte mich

in Schrecken gejagt, aber der Anblick eines Bösewichts190 gab mir Herz. In der Lage, worin ich

jetzt war, hatte ich Ursache, vor jedem redlichen Mann, aber keine mehr, vor einem Räuber zu

zittern.

" ‘Wer da?‘ sagte diese Erscheinung.

" ‘Deinesgleichen,‘ war meine Antwort, ‘wenn du der wirklich bist, dem du gleich siehst!‘

" ‘Dahinaus geht der Weg nicht. Was hast du hier zu suchen?‘

" ‘Was hast du hier zu fragen?‘ versetzte ich trotzig.

187 club 188 schock 189 cord 190 miscreant

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"Der Mann betrachtete mich zweimal vom Fuß bis zum Wirbel. Es schien, als ob er meine Figur

gegen die seinige und meine Antwort gegen meine Figur halten wollte — ‘Du sprichst brutal

wie ein Bettler,‘ sagte er endlich.

" ‘Das mag sein. Ich bin’s noch gestern gewesen.‘

"Der Mann lachte. ‘Man sollte darauf schwören,‘ rief er, ‘du wolltest auch noch jetzt für nichts

Bessers gelten.‘

" ‘Für etwas Schlechteres also‘ — Ich wollte weiter.

" ‘Sachte191 Freund! Was jagt dich denn so? Was hast du für Zeit zu verlieren?‘

"Ich besann192 mich einen Augenblick. Ich weiß nicht, wie mir das Wort auf die Zunge kam: ‘Das

Leben ist kurz,‘ sagte ich langsam, ‘und die Hölle währt ewig.‘

"Er sah mich stier an. ‘Ich will verdammt sein,‘ sagte er endlich, ‘oder du bist irgend an einem

Galgen193 hart vorbeigestreift194 .‘

" ‘Das mag wohl noch kommen. Also auf Wiedersehen, Kamerad!‘

" ‘Topp, Kamerade!‘ — schrie er, indem er eine zinnerne195 Flasche aus seiner Jagdtasche

hervorlangte, einen kräftigen Schluck daraus tat und mir sie reichte. Flucht und Beängstigung

hatten meine Kräfte aufgezehrt196 , und diesen ganzen entsetzlichen Tag war noch nichts über

meine Lippen gekommen. Schon fürchtete ich, in dieser Waldgegend zu verschmachten, wo

auf drei Meilen in der Runde kein Labsal für mich zu hoffen war. Man urteile, wie froh ich auf

diese angebotne Gesundheit Bescheid tat. Neue Kraft floß mit diesem Erquicktrunk in meine

Gebeine und frischer Mut in mein Herz, und Hoffnung und Liebe zum Leben. Ich fing an, zu

191 gently 192 besinnen to rethink, to recollect something, or oneself 193 gallows 194 vorbeistreifen to graze past, to slip past 195 tinny 196 aufzehren to consume

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glauben, daß ich doch wohl nicht ganz elend wäre; so viel konnte dieser willkommene Trank.

Ja, ich bekenne197 es, mein Zustand grenzte wieder an einen glücklichen, denn endlich, nach

tausend fehlgeschlagenen Hoffnungen, hatte ich eine Kreatur gefunden, die mir ähnlich

schien. In dem Zustande, worein ich versunken war, hätte ich mit dem höllischen Geiste

Kameradschaft getrunken, um einen Vertrauten zu haben.

"Der Mann hatte sich aufs Gras hingestreckt, ich tat ein gleiches.

" ‘Dein Trunk hat mir wohlgetan!‘ sagte ich. ‘Wir müssen bekannter werden.‘

"Er schlug Feuer, seine Pfeife zu zünden.

" ‘Treibst du das Handwerk schon lange?‘

"Er sah mich fest an. ‘Was willst du damit sagen?‘

" ‘War das schon oft blutig?‘ Ich zog das Messer aus seinem Gürtel.

" ‘Wer bist du?‘ sagte er schrecklich und legte die Pfeife von sich.

" ‘Ein Mörder wie du — aber nur erst ein Anfänger.‘

"Der Mensch sah mich steif an und nahm seine Pfeife wieder.

" ‘Du bist nicht hier zu Hause?‘ sagte er endlich.

" ‘Drei Meilen von hier. Der Sonnenwirt in L…, wenn du von mir gehöret hast.‘

"Der Mann sprang auf wie ein Beseßner198 . ‘Der Wildschütze Wolf?‘ schrie er hastig.

" ‘Der nämliche.‘

197 confess 198 one who is possessed

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" ‘Willkommen, Kamerad! Willkommen!‘ rief er und schüttelte mir kräftig die Hände. ‘Das ist

brav, daß ich dich endlich habe, Sonnenwirt. Jahr und Tag schon sinn’ ich darauf, dich zu

kriegen. Ich kenne dich recht gut. Ich weiß um alles. Ich habe lange auf dich gerechnet.‘

" ‘Auf mich gerechnet? Wozu denn?‘

" ‘Die ganze Gegend ist voll von dir. Du hast Feinde, ein Amtmann hat dich gedrückt, Wolf. Man

hat dich zu Grund gerichtet, himmelschreiend199 ist man mit dir umgegangen.‘

"Der Mann wurde hitzig200 — ‘Weil du ein paar Schweine geschossen hast, die der Fürst auf

unsern Äckern und Feldern füttert, haben sie dich Jahre lang im Zuchthaus und auf der

Festung herumgezogen, haben sie dich um Haus und Wirtschaft bestohlen, haben sie dich zum

Bettler gemacht. Ist es dahin gekommen, Bruder, daß der Mensch nicht mehr gelten soll als

ein Hase? Sind wir nicht besser als das Vieh auf dem Felde? — Und ein Kerl wie du konnte das

dulden?‘

" ‘Konnt’ ich’s ändern?‘

" ‘Das werden wir ja wohl sehen. Aber sage mir doch, woher kömmst du denn jetzt, und was

führst du im Schilde201 ?‘

"Ich erzählte ihm meine ganze Geschichte. Der Mann, ohne abzuwarten, bis ich zu Ende war,

sprang mit froher Ungeduld auf, und mich zog er nach. ‘Komm, Bruder Sonnenwirt,‘ sagte er,

‘jetzt bist du reif, jetzt hab’ ich dich, wo ich dich brauchte. Ich werde Ehre mit dir einlegen.

Folge mir.‘

" ‘Wo willst du mich hinführen?‘

199 scandalously 200 fervid, heated 201 etwas im Schilde führen to be up to something, to have something up ones sleeves

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" ‘Frage nicht lange. Folge!‘ — Er schleppte mich mit Gewalt fort.

"Wir waren eine kleine Viertelmeile gegangen. Der Wald wurde immer abschüssiger202 ,

unwegsamer und wilder, keiner von uns sprach ein Wort, bis mich endlich die Pfeife meines

Führers aus meinen Betrachtungen aufschreckte. Ich schlug die Augen auf, wir standen am

schroffen Absturz203 eines Felsen204 , der sich in eine tiefe Kluft205 hinunterbückte. Eine zwote

Pfeife antwortete aus dem innersten Bauche des Felsen, und eine Leiter kam, wie von sich

selbst, langsam aus der Tiefe gestiegen. Mein Führer kletterte zuerst hinunter, mich hieß er

warten, bis er wiederkäme. ‘Erst muß ich den Hund an Ketten legen lassen,‘ setzte er hinzu, ‘du

bist hier fremd, die Bestie würde dich zerreißen.‘ Damit ging er.

"Jetzt stand ich allein vor dem Abgrund, und ich wußte recht gut, daß ich allein war. Die

Unvorsichtigkeit206 meines Führers entging meiner Aufmerksamkeit nicht. Es hätte mich nur

einen beherzten Entschluß gekostet, die Leiter heraufzuziehen, so war ich frei, und meine

Flucht war gesichert. Ich gestehe, daß ich das einsah. Ich sah in den Schlund hinab, der mich

jetzt aufnehmen sollte; es erinnerte mich dunkel an den Abgrund der Hölle, woraus keine

Erlösung mehr ist. Mir fing an, vor der Laufbahn zu schaudern, die ich nunmehr betreten

wollte; nur eine schnelle Flucht konnte mich retten. Ich beschließe diese Flucht — schon

strecke ich den Arm nach der Leiter aus — aber auf einmal donnert’s in meinen Ohren, es

umhallt mich wie Hohngelächter207 der Hölle: ‘Was hat ein Mörder zu wagen?‘ — und mein

Arm fällt gelähmt208 zurück. Meine Rechnung war völlig, die Zeit der Reue war dahin, mein

begangener Mord lag hinter mir aufgetürmt wie ein Fels und sperrte meine Rückkehr auf

ewig. Zugleich erschien auch mein Führer wieder und kündigte mir an, daß ich kommen solle.

Jetzt war ohnehin keine Wahl mehr. Ich kletterte209 hinunter.

202 sloping, steep 203 edge 204 cliff 205 abyss 206 incautiousness 207 scornful laughter 208 debilitated, benumbed 209 climbed

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"Wir waren wenige Schritte unter der Felsmauer weggegangen, so erweiterte sich der Grund,

und einige Hütten wurden sichtbar. Mitten zwischen diesen öffnete sich ein runder

Rasenplatz210 , auf welchem sich eine Anzahl von achtzehn bis zwanzig Menschen um ein

Kohlfeuer gelagert hatte. ‘Hier, Kameraden,‘ sagte mein Führer und stellte mich mitten in den

Kreis; ‘unser Sonnenwirt! heißt ihn willkommen!‘

" ‘Sonnenwirt!‘ schrie alles zugleich, und alles fuhr auf und drängte sich um mich her, Männer

und Weiber. Soll ich’s gestehn? Die Freude war ungeheuchelt211 und herzlich, Vertrauen,

Achtung sogar erschien auf jedem Gesichte, dieser drückte mir die Hand, jener schüttelte

mich vertraulich am Kleide, der ganze Auftritt war wie das Wiedersehen eines alten

Bekannten, der einem wert ist. Meine Ankunft hatte den Schmaus212 unterbrochen, der eben

anfangen sollte. Man setzte ihn sogleich fort und nötigte mich, den Willkomm zu trinken.

Wildpret213 aller Art war die Mahlzeit, und die Weinflasche wanderte unermüdet von Nachbar

zu Nachbar. Wohlleben und Einigkeit schien die ganze Bande zu beseelen, und alles

wetteiferte, seine Freude über mich zügelloser an den Tag zu legen.

"Man hatte mich zwischen zwo214 Weibspersonen sitzen lassen, welches der Ehrenplatz an der

Tafel war. Ich erwartete den Auswurf ihres Geschlechts215 , aber wie groß war meine

Verwunderung, als ich unter dieser schändlichen Rotte die schönsten weiblichen Gestalten

entdeckte, die mir jemals vor Augen gekommen. Margarete, die älteste und schönste von

beiden, ließ sich Jungfer nennen und konnte kaum fünfundzwanzig sein. Sie sprach sehr

frech216 , und ihre Gebärden sagten noch mehr. Marie, die jüngere, war verheuratet, aber

einem Manne entlaufen, der sie mißhandelt hatte. Sie war feiner gebildet, sah aber blaß217 aus

und schmächtig218 und fiel weniger ins Auge als ihre feurige Nachbarin. Beide Weiber eiferten

auf einander, meine Begierden zu entzünden; die schöne Margarete kam meiner Blödigkeit

210 lawn 211 unfeigned 212 feast 213 game, wild animals 214 zwei 215 the “throw-off” or refuse of the female gender 216 fresh, impertinent 217 pale 218 lanky, weak

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durch freche Scherze zuvor, aber das ganze Weib war mir zuwider, und mein Herz hatte die

schüchterne Marie auf immer gefangen.

" ‘Du siehst, Bruder Sonnenwirt,‘ fing der Mann jetzt an, der mich hergebracht hatte, ‘du siehst,

wie wir untereinander leben, und jeder Tag ist dem heutigen gleich. Nicht wahr, Kameraden?‘

" ‘Jeder Tag ist wie der heutige!‘ wiederholte die ganze Bande.

" ‘Kannst du dich also entschließen, an unserer Lebensart Gefallen zu finden, so schlag ein und

sei unser Anführer. Bis jetzt bin ich es gewesen, aber dir will ich weichen. Seid ihr’s zufrieden,

Kameraden?‘

"Ein fröhliches ‘Ja!‘ antwortete aus allen Kehlen219 .

"Mein Kopf glühte, mein Gehirne war betäubt, von Wein und Begierden siedete220 mein Blut.

Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen Verpesteten — hier fand ich brüderliche

Aufnahme, Wohlleben und Ehre. Welche Wahl ich auch treffen wollte, so erwartete mich Tod;

hier aber konnte ich wenigstens mein Leben für einen höheren Preis verkaufen. Wollust221

war meine wütendste Neigung; das andere Geschlecht hatte mir bis jetzt nur Verachtung

bewiesen, hier erwartete mich Gunst und zügellose222 Vergnügungen. Mein Entschluß

kostete mich wenig. ‘Ich bleibe bei euch, Kameraden,‘ rief ich laut mit Entschlossenheit und

trat mitten unter die Bande; ‘ich bleibe bei euch,‘ rief ich nochmals, ‘wenn ihr mir meine

schöne Nachbarin abtretet!‘ — Alle kamen überein, mein Verlangen zu bewilligen, ich war

erklärter Eigentümer einer H*** und das Haupt einer Diebesbande."

Den folgenden Teil der Geschichte übergehe ich ganz; das bloß Abscheuliche223 hat nichts

Unterrichtendes für den Leser. Ein Unglücklicher, der bis zu dieser Tiefe herunter sank, mußte

219 throats 220 boiled 221 salaciousness, lust 222 unrestrained 223 the merely abhorrent

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sich endlich alles erlauben, was die Menschheit empört — aber einen zweiten Mord beging

er nicht mehr, wie er selbst auf der Folter bezeugte.

Der Ruf dieses Menschen verbreitete sich in kurzem durch die ganze Provinz. Die Landstraßen

wurden unsicher, nächtliche Einbrüche beunruhigten den Bürger, der Name des Sonnenwirts

wurde der Schrecken des Landvolks, die Gerechtigkeit suchte ihn auf, und eine Prämie224

wurde auf seinen Kopf gesetzt. Er war so glücklich, jeden Anschlag auf seine Freiheit zu

vereiteln225 , und verschlagen genug, den Aberglauben des wundersüchtigen Bauren zu

seiner Sicherheit zu benutzen. Seine Gehülfen mußten aussprengen226 , er habe einen Bund

mit dem Teufel gemacht und könne hexen. Der Distrikt, auf welchem er seine Rolle spielte,

gehörte damals noch weniger als jetzt zu den aufgeklärten Deutschlands; man glaubte diesem

Gerüchte, und seine Person war gesichert. Niemand zeigte Lust, mit dem gefährlichen Kerl

anzubinden, dem der Teufel zu Diensten stünde.

Ein Jahr schon hatte er das traurige Handwerk getrieben, als es anfinge, ihm unerträglich zu

werden. Die Rotte, an deren Spitze er sich gestellt hatte, erfüllte seine glänzenden

Erwartungen nicht. Eine verführerische Außenseite hatte ihn damals im Taumel des Weines

geblendet; jetzt wurde er mit Schrecken gewahr, wie abscheulich er hintergangen worden.

Hunger und Mangel traten an die Stelle des Überflusses, womit man ihn eingeweiht hatte;

sehr oft mußte er sein Leben an eine Mahlzeit wagen, die kaum hinreichte, ihn vor dem

Verhungern zu schützen. Das Schattenbild jener brüderlichen Eintracht227 verschwand; Neid,

Argwohn228 und Eifersucht wüteten im Innern dieser verworfenen Bande. Die Gerechtigkeit

hatte demjenigen, der ihn lebendig ausliefern würde, Belohnung und, wenn es ein

Mitschuldiger wäre, noch eine feierliche Begnadigung zugesagt — eine mächtige

Versuchung für den Auswurf der Erde! Der Unglückliche kannte seine Gefahr. Die Redlichkeit

derjenigen, die Menschen und Gott verrieten229 , war ein schlechtes Unterpfand230 seines

224 award 225 confound 226 disseminate, spread the word 227 harmony 228 distrust 229 verraten to betray 230 pledge

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Lebens. Sein Schlaf war von jetzt an dahin, ewige Todesangst zerfraß231 seine Ruhe, das

gräßliche Gespenst des Argwohns rasselte232 hinter ihm, wo er hinfloh, peinigte ihn, wenn er

wachte, bettete sich neben ihm, wenn er schlafen ging, und schreckte ihn in entsetzlichen

Träumen. Das verstummte Gewissen gewann zugleich seine Sprache wieder, und die

schlafende Natter der Reue233 wachte bei diesem allgemeinen Sturm seines Busens auf. Sein

ganzer Haß wandte sich jetzt von der Menschheit und kehrte seine schreckliche Schneide234

gegen ihn selber. Er vergab jetzt der ganzen Natur und fand niemand, als sich allein zu

verfluchen.

Das Laster hatte seinen Unterricht an dem Unglücklichen vollendet, sein natürlich guter

Verstand siegte endlich über die traurige Täuschung. Jetzt fühlte er, wie tief er gefallen war,

ruhigere Schwermut trat an die Stelle knirschender Verzweiflung. Er wünschte mit Tränen die

Vergangenheit zurück; jetzt wußte er gewiß, daß er sie ganz anders wiederholen würde. Er

fing an zu hoffen, daß er noch rechtschaffen werden dürfe, weil er bei sich empfand, daß er es

könne. Auf dem höchsten Gipfel seiner Verschlimmerung war er dem Guten näher, als er

vielleicht vor seinem ersten Fehltritt gewesen war.

Um eben diese Zeit war der siebenjährige Krieg ausgebrochen, und die Werbungen gingen

stark. Der Unglückliche schöpfte Hoffnung von diesem Umstand und schrieb einen Brief an

seinen Landesherrn, den ich auszugsweise hier einrücke:

"Wenn Ihre fürstliche Huld sich nicht ekelt, bis zu mir herunter zu steigen, wenn Verbrecher

meiner Art nicht außerhalb Ihrer Erbarmung liegen, so gönnen Sie mir Gehör,

durchlauchtigster235 Oberherr. Ich bin Mörder und Dieb, das Gesetz verdammt mich zum

Tode, die Gerichte suchen mich auf — und ich biete mich an, mich freiwillig zu stellen. Aber

ich bringe zugleich eine seltsame Bitte vor Ihren Thron. Ich verabscheue mein Leben und

fürchte den Tod nicht, aber schrecklich ist mir’s zu sterben, ohne gelebt zu haben. Ich möchte

leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu

231 zerfressen to eat away, to eat up 232 rasseln to rattle 233 regret 234 blade 235 your highness

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versöhnen, den ich beleidigt habe. Meine Hinrichtung236 wird ein Beispiel sein für die Welt,

aber kein Ersatz meiner Taten. Ich hasse das Laster und sehne mich feurig nach

Rechtschaffenheit und Tugend. Ich habe Fähigkeiten gezeigt, meinem Vaterlande furchtbar

zu werden; ich hoffe, daß mir noch einige übriggeblieben sind, ihm zu nützen.

"Ich weiß, daß ich etwas Unerhörtes237 begehre. Mein Leben ist verwirkt, mir steht es nicht an,

mit der Gerechtigkeit Unterhandlung zu pflegen. Aber ich erscheine nicht in Ketten und

Banden vor Ihnen — noch bin ich frei — und meine Furcht hat den kleinsten Anteil an meiner

Bitte.

"Es ist Gnade, um was ich flehe238 . Einen Anspruch auf Gerechtigkeit, wenn ich auch einen

hätte, wage ich nicht mehr geltend zu machen. — Doch an etwas darf ich meinen Richter

erinnern. Die Zeitrechnung meiner Verbrechen fängt mit dem Urteilspruch an, der mich auf

immer um meine Ehre brachte. Wäre mir damals die Billigkeit minder versagt worden, so

würde ich jetzt vielleicht keiner Gnade bedürfen.

"Lassen Sie Gnade für Recht ergehen, mein Fürst! Wenn es in Ihrer fürstlichen Macht steht, das

Gesetz für mich zu erbitten, so schenken Sie mir das Leben. Es soll Ihrem Dienste von nun an

gewidmet sein. Wenn Sie es können, so lassen Sie mich Ihren gnädigsten Willen aus

öffentlichen Blättern vernehmen, und ich werde mich auf Ihr fürstliches Wort in der

Hauptstadt stellen. Haben Sie es anders mit mir beschlossen, so tue die Gerechtigkeit denn

das Ihrige, ich muß das Meinige tun."

Diese Bittschrift239 blieb ohne Antwort, wie auch eine zwote und dritte, worin der Supplikant

um eine Reuterstelle240 im Dienste des Fürsten bat. Seine Hoffnung zu einem Pardon

erlosch241 gänzlich, er faßte also den Entschluß, aus dem Land zu fliehen und im Dienste des

Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben.

236 execution 237 something unheard-of 238 plead for 239 petition 240 d.h. Ritterstelle 241 erlöschen to extinguish

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Er entwischte glücklich seiner Bande und trat diese Reise an. Der Weg führte ihn durch eine

kleine Landstadt, wo er übernachten wollte. Kurze Zeit vorher waren durch das ganze Land

geschärftere Mandate zu strenger Untersuchung der Reisenden ergangen, weil der

Landesherr, ein Reichsfürst, im Kriege Partei genommen hatte. Einen solchen Befehl hatte

auch der Torschreiber dieses Städtchens, der auf einer Bank vor dem Schlage242 saß, als der

Sonnenwirt geritten kam. Der Aufzug dieses Mannes hatte etwas Possierliches243 und

zugleich etwas Schreckliches und Wildes. Der hagre Klepper244 , den er ritt, und die burleske

Wahl seiner Kleidungsstücke, wobei wahrscheinlich weniger sein Geschmack als die

Chronologie seiner Entwendungen245 zu Rat gezogen war, kontrastierte seltsam genug mit

einem Gesicht, worauf so viele wütende Affekte, gleich den verstümmelten Leichen auf

einem Walplatz, verbreitet lagen. Der Torschreiber246 stutzte beim Anblick dieses seltsamen

Wanderers. Er war am Schlagbaum grau geworden, und eine vierzigjährige Amtsführung hatte

in ihm einen unfehlbaren247 Physiognomen248 aller Landstreicher249 erzogen. Der

Falkenblick250 dieses Spürers verfehlte auch hier seinen Mann nicht. Er sperrte sogleich das

Stadttor und forderte dem Reuter251 den Paß ab, indem er sich seines Zügels versicherte. Wolf

war auf Fälle dieser Art vorbereitet und führte auch wirklich einen Paß bei sich, den er

ohnlängst252 von einem geplünderten Kaufmann erbeutet hatte. Aber dieses einzelne

Zeugnis war nicht genug, eine vierzigjährige Observanz umzustoßen und das Orakel am

Schlagbaum zu einem Widerruf zu bewegen. Der Torschreiber glaubte seinen Augen mehr als

diesem Papiere, und Wolf war genötigt, ihm nach dem Amtshaus zu folgen.

Der Oberamtmann des Orts untersuchte den Paß und erklärte ihn für richtig. Er war ein starker

Anbeter der Neuigkeit und liebte besonders, bei einer Bouteille253 über die Zeitung zu

242 tollgate 243 comical; in the sense of Posse, farcical 244 a worn out horse 245 thefts 246 toll gate keeper 247 unmistakable 248 s. Physiognomie, die Wissenschaft des menschlichen Aussehens, ein wichtiger Begriff für die frühe Anfänge der Kriminalistik 249 vagabonds 250 eagle-like sight 251 alte Schreibweise für Ritter 252 längst, seit langem 253 franz. für Flasche

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plaudern. Der Paß sagte ihm, daß der Besitzer geradeswegs aus den feindlichen Ländern käme,

wo der Schauplatz des Krieges war. Er hoffte, Privatnachrichten254 aus dem Fremden

herauszulocken, und schickte einen Sekretär mit dem Paß zurück, ihn auf eine Flasche Wein

einzuladen.

Unterdessen hält der Sonnenwirt vor dem Amtshaus; das lächerliche Schauspiel hat den

Janhagel255 scharenweise um ihn her versammelt. Man murmelt sich in die Ohren, deutet

wechselweise auf das Roß256 und den Reuter; der Mutwille des Pöbels steigt endlich bis zu

einem lauten Tumult. Unglücklicherweise war das Pferd, worauf jetzt alles mit den Fingern

wies, ein geraubtes; er bildet sich ein, das Pferd sei in Steckbriefen beschrieben und erkannt.

Die unerwartete Gastfreundlichkeit des Oberamtmanns vollendet seinen Verdacht. Jetzt hält

er’s für ausgemacht, daß die Betrügerei257 seines Passes verraten und die Einladung nur die

Schlinge258 sei, ihn lebendig und ohne Widersetzung zu fangen. Böses Gewissen macht ihn

zum Dummkopf, er gibt seinem Pferde die Sporen und rennt davon, ohne Antwort zu geben.

Diese plötzliche Flucht ist die Lösung259 zum Aufstand260 .

"Ein Spitzbube!" ruft alles, und alles stürzt hinter ihm her. Dem Reuter gilt es um Leben und

Tod, er hat schon den Vorsprung, seine Verfolger keuchen atemlos nach, er ist seiner Rettung

nahe — aber eine schwere Hand drückt unsichtbar gegen ihn, die Uhr seines Schicksals ist

abgelaufen, die unerbittliche Nemesis hält ihren Schuldner an. Die Gasse, der er sich

anvertraute, endigt in einem Sack261 , er muß rückwärts gegen seine Verfolger umwenden.

Der Lärm dieser Begebenheit262 hat unterdessen das ganze Städtchen in Aufruhr gebracht,

Haufen sammeln sich zu Haufen, alle Gassen sind gesperrt, ein Heer von Feinden kömmt im

254 private news; in Schillers Zeiten gab es noch keine zuverlässige Nachrichtendienste 255 d.h. der Pöbel des Städtchens 256 das Pferd 257 deception 258 snare 259 denouement 260 revolt 261 dead end 262 event

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Anmarsch263 gegen ihn her. Er zeigt eine Pistole, das Volk weicht, er will sich mit Macht einen

Weg durchs Gedränge264 bahnen. "Dieser Schuß," ruft er, "soll dem Tollkühnen265 , der mich

halten will" — Die Furcht gebietet eine allgemeine Pause — ein beherzter266

Schlossergeselle267 endlich fällt ihm von hinten her in den Arm und faßt den Finger, womit

der Rasende eben losdrücken will, und drückt ihn aus dem Gelenke268 . Die Pistole fällt, der

wehrlose Mann wird vom Pferde herabgerissen und im Triumphe nach dem Amthaus

zurückgeschleppt.

"Wer seid Ihr?" frägt der Richter mit ziemlich brutalem Ton.

"Ein Mann, der entschlossen ist, auf keine Frage zu antworten, bis man sie höflicher

einrichtet269 ."

"Wer sind Sie?"

"Für was ich mich ausgab. Ich habe ganz Deutschland durchreist und die Unverschämtheit

nirgends als hier zu Hause gefunden."

"Ihre schnelle Flucht macht Sie sehr verdächtig270 . Warum flohen Sie?"

"Weil ich’s müde war, der Spott271 Ihres Pöbels zu sein."

"Sie drohten, Feuer zu geben."

"Meine Pistole war nicht geladen." Man untersuchte das Gewehr, es war keine Kugel darin.

263 forward march, an advance 264 crowd 265 daredevil 266 dauntless 267 locksmith 268 joint [here: finger or hand] 269 arrange, setup 270 suspicious 271 derision, mockery

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"Warum führen Sie heimliche Waffen bei sich?"

"Weil ich Sachen von Wert bei mir trage, und weil man mich vor einem gewissen Sonnenwirt

gewarnt hat, der in diesen Gegenden streifen soll."

"Ihre Antworten beweisen sehr viel für Ihre Dreistigkeit272 , aber nichts für Ihre gute Sache. Ich

gebe Ihnen Zeit bis morgen, ob Sie mir die Wahrheit entdecken wollen."

"Ich werde bei meiner Aussage bleiben."

"Man führe ihn nach dem Turm."

"Nach dem Turm? — Herr Oberamtmann, ich hoffe, es gibt noch Gerechtigkeit in diesem

Lande. Ich werde Genugtuung fordern."

"Ich werde sie Ihnen geben, sobald Sie gerechtfertigt sind."

Den Morgen darauf überlegte der Oberamtmann, der Fremde möchte doch wohl unschuldig

sein; die befehlshaberische273 Sprache würde nichts über seinen Starrsinn274 vermögen, es

wäre vielleicht besser getan, ihm mit Anstand und Mäßigung275 zu begegnen. Er versammelte

die Geschwornen276 des Orts und ließ den Gefangenen vorführen.

"Verzeihen Sie es der ersten Aufwallung277 , mein Herr, wenn ich Sie gestern etwas hart

anließ."

"Sehr gern, wenn Sie mich so fassen."

272 audacity 273 imperious 274 obstinacy 275 moderation 276 jurors 277 upsurge

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"Unsre Gesetze sind strenge, und Ihre Begebenheit machte Lärm. Ich kann Sie nicht

freigeben278 , ohne meine Pflicht zu verletzen. Der Schein ist gegen Sie. Ich wünschte, Sie

sagten mir etwas, wodurch er widerlegt werden könnte."

"Wenn ich nun nichts wüßte?"

"So muß ich den Vorfall an die Regierung berichten, und Sie bleiben so lang’ in fester

Verwahrung."

"Und dann?"

"Dann laufen Sie Gefahr, als ein Landstreicher über die Grenze gepeitscht zu werden oder,

wenn’s gnädig geht, unter die Werber zu fallen."

Er schwieg einige Minuten und schien einen heftigen Kampf zu kämpfen; dann drehte er sich

rasch zu dem Richter.

"Kann ich auf eine Viertelstunde mit Ihnen allein sein?"

Die Geschwornen sahen sich zweideutig an, entfernten sich aber auf einen gebietenden Wink

ihres Herrn.

"Nun, was verlangen Sie?"

"Ihr gestriges Betragen, Herr Oberamtmann, hätte mich nimmermehr zu einem Geständnis279

gebracht, denn ich trotze der Gewalt. Die Bescheidenheit, womit Sie mich heute behandeln,

hat mir Vertrauen und Achtung gegen Sie gegeben. Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind."

"Was haben Sie mir zu sagen?"

278 set free 279 avowal, confession

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"Ich sehe, daß Sie ein edler Mann sind. Ich habe mir längst einen Mann gewünscht wie Sie.

Erlauben Sie mir Ihre rechte Hand."

"Wo will das hinaus?"

"Dieser Kopf ist grau und ehrwürdig. Sie sind lang’ in der Welt gewesen — haben der Leiden

wohl viele gehabt — Nicht wahr? und sind menschlicher geworden?"

"Mein Herr — wozu soll das?"

"Sie stehen noch einen Schritt von der Ewigkeit, bald — bald brauchen Sie Barmherzigkeit280

bei Gott. Sie werden sie Menschen nicht versagen — — Ahnden Sie nichts? Mit wem glauben

Sie, daß Sie reden?"

"Was ist das? Sie erschrecken mich."

"Ahnden Sie noch nicht? — Schreiben Sie es Ihrem Fürsten, wie Sie mich fanden und daß ich

selbst aus freier Wahl mein Verräter war — daß ihm Gott einmal gnädig sein werde, wie er

jetzt mir es sein wird — bitten Sie für mich, alter Mann, und lassen Sie dann auf Ihren Bericht

eine Träne fallen: Ich bin der Sonnenwirt."

280 mercifulness

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3. Johann Peter Hebel Die Zundelfrieder Geschichten A. Der Heiner und der Brassenheimer Müller (1810)

Eines Tages saß der Heiner ganz betrübt in einem Wirtshaus, und dachte daran, wie ihn zuerst

der rote Dieter und darnach sein eigener Bruder verlassen haben, und wie er jetzt allein ist.

„Nein", dachte er, „es ist bald keinem Menschen mehr zu trauen, und wenn man meint, es sei

einer noch so ehrlich, so ist er ein Spitzbub281 ." Unterdessen282 kommen mehrere Gäste in das

Wirtshaus, und trinken Neuen, und „wißt Ihr auch", sagte einer, „daß der Zundelheiner im Land

ist, und wird morgen im ganzen Amt ein Treibjagen283 auf ihn angestellt, und der Amtmann

und die Schreiber stehen auf dem Anstand?" Als das der Heiner hörte, wurde es ihm grün und

gelb vor den Augen, denn er dachte, es kenne ihn einer, und jetzt sei er verraten284 . Ein

anderer aber sagte: „Es ist wieder einmal ein blinder Lärm. Sitzt nicht der Heiner und sein

Bruder zu Wollenstein im Zuchthaus?" Drüber kommt auf einem wohlgenährten285

Schimmel286 der Brassenheimer Müller mit roten Pausbacken287 und kleinen freundlichen

Augen dahergeritten288 . Und als er in die Stube kam, und tut den Kameraden, die bei dem

Neuen sitzen, Bescheid, und hört, daß sie von dem Zundelheiner sprechen, sagt er: „Ich hab

schon so viel von dem Zundelheiner erzählen gehört. Ich möcht ihn doch auch einmal sehen."

Da sagte ein anderer: „Nehmt Euch in acht, daß Ihr ihn nicht zu früh zu sehen bekommt. Es geht

die Rede, er sei wieder im Land." Aber der Müller mit seinen Pausbacken sagte: „Pah! ich

komm noch bei guter Tagszeit durch den Fridstädter Wald, dann bin ich auf der Landstraße,

und wenn's fehlen will, geb ich dem Schimmel die Sporen." Als das der Heiner hörte, fragt er

die Wirtin: „Was bin ich schuldig", und geht fort in den Fridstädter Wald. Unterwegs begegnet

ihm auf der Bettelfuhr289 ein lahmer290 Mensch. „Gebt mir für ein Käsperlein Eure Krücke291 ",

sagte er zu dem lahmen Soldaten. „Ich habe das linke Bein übertreten292 , daß ich laut schreien 281 rascal 282 meanwhile 283 a hunt, a drive during a hunt 284 betrayed 285 well-fed 286 a gray horse 287 chubby cheeks 288 riding in from there 289 - Anmerkung “auf der Bettelfuhr” - an old practice of forced migration of beggars 290 disabled 291 crutch 292 to breach, but also to disobey

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möchte, wenn ich drauf treten muß. Im nächsten Dorf, wo Ihr abgeladen293 werdet, macht

Euch der Wagner eine neue." Also gab ihm der Bettler die Krücke. Bald darauf gehen zwei

betrunkene Soldaten an ihm vorbei, und singen das Reuterlied. Wie er in den Fridstädter Wald

kommt, hängt er die Krücke an einen hohen Ast294 , setzt sich ungefähr sechs Schritte davon

weg an die Straße, und zieht das linke Bein zusammen, als wenn er lahm wäre. Drüber kommt

auf stattlichem Schimmel der Müller dahertrottiert, und macht ein Gesicht, als wenn er sagen

wollte: „Bin ich nicht der reiche Müller, und bin ich nicht der schöne Müller, und bin ich nicht

der witzige Müller?" Als aber der witzige Müller zu dem Heiner kam, sagt der Heiner mit

kläglicher Stimme: „Wolltet Ihr nicht ein Werk der Barmherzigkeit tun an einem armen

lahmen Mann. Zwei betrunkene Soldaten, sie werden Euch wohl begegnet sein, haben mir all

mein Almosengeld abgenommen, und haben mir aus Bosheit, daß es so wenig war, die Krücke

auf jenen Baum geschleudert, und ist in den Ästen hängenblieben, daß ich nun nimmer weiter

kann. Wolltet Ihr nicht so gut sein, und sie mit Eurer Peitsche295 herabzwicken296 ?" Der Müller

sagte: „Ja sie sind mir begegnet an der Waldspitze. Sie haben gesungen: So herzig, wie mein

Lisel, ist halt nichts auf der Welt." Weil aber der Müller auf einem schmalen Steg über einen

Graben zu dem Baum mußte, so stieg er von dem Roß ab, um die Krücke herabzuzwicken. Als

er aber an dem Baum war, und schaut hinauf, schwingt sich der Heiner schnell wie ein Adler297

auf den stattlichen298 Schimmel, gibt ihm mit dem Absatz299 die Sporen, und reitet davon.

„Laßt Euch das Gehen nicht verdrießen300 ", rief er dem Müller zurück, „und wenn Ihr

heimkommt, so richtet Eurer Frau einen Gruß aus von dem Zundelheiner!" Als er aber eine

Viertelstunde nach Betzeit nach Brassenheim und an die Mühle kam, und alle Räder

klapperten, daß ihn niemand hörte, stieg er vor der Mühle ab, band dem Müller den Schimmel

wieder an der Haustüre an, und setzte seinen Weg zu Fuß fort.

293 unload, discharge 294 branch 295 whip 296 nick or knock down 297 eagle 298 handsome 299 mounting 300 to become annoyed

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B. Wie der Zundelfrieder und sein Bruder dem roten Dieter abermal einen Streich301 spielen (1810) Als der Zundelheiner und der Zundelfrieder wieder aus dem Turn302 kamen, sprach der Heiner

zum Frieder: "Bruder, wir wollen doch den roten Dieter besuchen, sonst meint er, wir sitzen

ewig in dem kalten Hundsstall beim Herr Vater auf der Herberge." - "Wir wollen ihm einen

Streich spielen", sagte der Frieder zum Heiner, "ob er's merkt, dass wir es sind." Also empfing

der Dieter ein Brieflein ohne Unterschrift: "Roter Dieter, seid heute nacht auf Eurer Hut303 ,

denn es haben zwei Diebsgesellen eine Wette getan: einer will Eurer Frau das Leintuch304

unter dem Leibe weg holen, und Ihr sollt es nicht hindern können." Der Dieter sagte: "Das sind

zwei rechte Spitzbuben aneinander. Der eine wettet, er wolle das Leintuch holen, und der

andere macht einen Bericht, damit sein Kamerad die Wette nicht gewinnt. Wenn ich nicht

gewiss wüsste, dass der Heiner und der Frieder im Zuchthaus sitzen, so wollt' ich glauben, sie

seien's." In der Nacht schlichen305 die Schelmen durch das Hanffeld heran. Der Heiner stellte

eine Leiter ans Fenster, also, dass der rote Dieter es wohl hören konnte, und steigt hinauf,

schiebt aber einen ausgestopften Strohmann306 vor sich her, der aussah wie ein Mensch. Als

inwendig der rote Dieter die Leiter anstellen hörte, stand er leise auf und stellte sich mit

einem dicken Bengel307 neben das Fenster, "denn das sind die besten Pistolen", sagte er zu

seiner Frau, "sie sind immer geladen"; und als er den Kopf des Strohmanns heraufwackeln sah,

und meinte, der sei es, riss er schnell das Fenster auf und gab ihm eins auf den Kopf aus aller

Kraft, also, dass der Heiner den Strohmann fallen liess und einen lauten Schrei tat. Der Frieder

aber stand unterdessen mausstill hinter einem Pfosten308 vor der Haustüre. Als aber der rote

Dieter den Schrei hörte, und es war alles auf einmal still, sagte er: "Frau, es ist mir, die Sache sei

nicht gut; ich will doch hinuntergehen und schauen, wie es aussieht." Indem er zur Haustür

hinausgeht, schleicht der Frieder, der hinter dem Pfosten war, hinein, kommt bis vor das Bett,

nimmt wieder, wie im vormjährigen Kalender, des roten Dieters Stimme an, und es ist wieder

ebenso wahr. "Frau", sagte er mit ängstlicher Stimme, "der Kerl ist maustot, und denk' nur, es

ist des Schultheissen Sohn. Jetzt gib mir geschwind das Leintuch, so will ich ihn darin

forttragen in den Wald und will ihn dort einscharren309 , sonst geht's zu bösen Häusern." Die

301 prank 302 Thurm, hier also Zuchthaus 303 auf der Hut sein to be on guard 304 linen 305 sneak 306 scarecrow filled with hay 307 a club, but also an uncivilized young man 308 pillar 309 to bury

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Frau erschrickt, richtet sich auf und gibt ihm das Leintuch. Kaum war er fort, so kommt der

rechte Dieter wieder und sagt ganz getröstet: "Frau, es ist nur ein dummer Bubenstreich

gewesen, und der Dieb ist von Stroh." Als aber die Frau ihn fragte: "Wo hast du denn das

Leintuch?" und lag auf dem blossen Spreuersack310 , da gingen dem Dieter erst die Augen auf,

und sagte: "O ihr vermaledeiten311 Spitzbuben! Jetzt ist's doch der Frieder gewesen und der

Heiner, und kein anderer."

Aber auf dem Heimweg sagte der Frieder zum Heiner: "Aber jetzt, Bruder, wollen wir's

bleiben lassen. Denn im Zuchthaus ist doch auch alles schlecht, was man bekommt,

ausgenommen die Prügel, und zum Fensterlein hinaus auf der Landstrasse hat man etwas vor

den Augen, das auch nicht aussieht, als wenn man gern dran hängen möchte." Also wurde auch

der Frieder wieder ehrlich. Aber der Heiner sagte: "Ich geb's noch nicht auf.

310 sack of chaff 311 accursed

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C. Wie der Zundelfrieder eines Tages aus dem Zuchthaus entwich312 und glücklich über die Grenzen kam (1811) Eines Tages, als der Frieder den Weg aus dem Zuchthaus allein gefunden hatte, und dachte:

"Ich will so spät den Zuchtmeister313 nimmer wecken", und als schon auf allen Strassen

Steckbriefe314 voranflogen, gelangte er abends noch unbeschrien315 an ein Städtlein an der

Grenze. Als ihn hier die Schildwache316 anhalten wollte, wer er sei und wie er hiesse und was

er im Schilde führe: "Könnt Ihr polnisch?" fragte herzhaft der Frieder die Schildwache. Die

Schildwache sagt: "Ausländisch kann ich ein wenig, ja! Aber Polnisches bin ich noch nicht

darunter gewahr317 worden." - "Wenn das ist," sagte der Frieder, "so werden wir uns schlecht

gegeneinander explizieren können." Ob kein Offizier oder Wachtmeister am Tor sei? Die

Schildwache holt den Torwächter, es sei ein Polack an dem Schlagbaum318 , gegen den sie sich

schlecht explizieren könne. Der Torwächter kam zwar, entschuldigte sich aber zum voraus,

viel Polnisch verstehe er auch nicht. "Es geht hiezuland nicht stark ab," sagte er, "und es wird

im ganzen Städtel schwerlich jemand sein, der kapabel wäre, es zu dolmetschen319 ." - "Wenn

ich das wüsste," sagte der Frieder und schaute auf die Uhr, die er unterwegs noch an einem

Nagel gefunden hatte, "so wollte ich ja lieber noch ein paar Stunden zustrecken bis in die

nächste Stadt. Um neun Uhr kömmt der Mond." Der Torhüter sagte: " Es wäre unter diesen

Umständen fast am besten, wenn Ihr gerade durchpassiertet, ohne Euch aufzuhalten; das

Städtel ist ja nicht gross", und war froh, dass er seiner los ward. Also kam der Frieder glücklich

durch das Tor hinein. Im Städtlein hielt er sich nicht länger auf, als nötig war, einer Gans, die

sich auf der Gasse verspätet hatte, ein paar gute Lehren zu geben. "In euch Gänse", sagte er,

"ist keine Zucht320 zu bringen. Ihr gehört, wenn's Abend ist, ins Haus oder unter gute Aufsicht."

Und so packte er sie mit sicherm Griff am Hals und, mir nichts, dir nichts, unter den Mantel, den

er ebenfalls unterwegs von einem Unbekannten geliehen hatte. Als er aber an das andere Tor

gelangte und auch hier dem Landfrieden nicht traute, drei Schritte von dem Schilderhaus, als

sich inwendig der Söldner321 rührte, schrie der Frieder mit herzhafter Stimme: "Wer da!" der

Söldner antwortete in aller Gutmütigkeit: "Gut Freund!" Also kam der Frieder glücklich

wieder zum Städtlein hinaus und über die Grenzen.

312 disappeared, leaked off, discharged, NB Anspielung auf entwischen to escape 313 warden of the house of correction 314 warrants, wanted posters 315 ungesehen 316 watch, guard 317 aware 318 toll gate 319 translate 320 breeding, culture, here also a play on the word for house of correction Zuchthaus 321 mercenary

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D. Schreckliche Mordtat (1812)

In Biozat in Frankreich im Departement der Allier hat sich am 13. Jänner 1811 folgende

unmenschliche Tat ereignet322 .

Ein ehrlicher Bürger, namens Albert, war genötigt, etwas von seinen Habseligkeiten323 zu

verkaufen, weil er Geldes bedürftig324 war. Abends sitzt er mit seiner Frau und drei Töchtern

am Feuer und wärmten sich; das Büblein war nicht dabei. Die älteste Tochter von 23 Jahren

fängt an, gottlose Reden gegen den Vater auszustoßen325 und verlangt von ihm etwas von

dem erlösten326 Geld. Als sie die gottlosen Reden ausstieß, dachte der böse Feind: „Dich hab

ich!" wie es denn auch war, und nicht anders sein kann, wenn ein Kind einmal so verstockt327

ist, daß es Schimpf- und Scheltworte328 gegen seine Eltern gebrauchen und über sie fluchen

kann. Der Vater hatte lange Geduld. Endlich gab er ihr Red und Antwort, aber wie? Mit einem

Stecken nach Gebühr329 und Recht, und befahl ihr jetzt, den Augenblick still zu sein. Das tat sie

für eine Zeitlang. Aber nach einer Viertelstunde sprang sie wieder auf, ergreift schnell eine

Axt, spaltet mit einem Hieb dem Vater die Hirnschale, darauf schlägt sie mit der nämlichen Axt

auch die Mutter tot, drauf auch denn eine Schwester ein Mägdlein von 10 Jahren. Die andere,

ein Kind von 3 Jahren warf sie lebendig in den Sodbrunnen330 . Der einzige Bruder, das Büblein,

entkam und sprang ins Dorf. Zwar rief sie ihm mit freundlichen Worten und Versprechungen

zu, er soll dableiben, sie wolle ihm nichts zuleide tun. Aber das Büblein gab ihr kein Gehör331 ,

sondern machte Lärmen im Dorfe. Als die Nachbarn herzukamen, hatte sie ein langes Messer

in der Hand, ging mit großen Schritten auf und ab, und drohte jeden niederzustechen, der sie

anrühren würde. Aber der Schrecken über die greuliche Untat, und das Entsetzen bei dem

Anblick der mißhandelten Leichname332 lahmte den herzhaftesten Männern die Glieder, daß

sie keiner anrühren konnte; sondern sie öffnete in ihrer Gegenwart das Kästlein ihrer

ermordeten Eltern, nahm das Geld heraus, und ging ohne Furcht und Zagen mitten zwischen

den Leuten fort ins Freie.

322 occurred, happened 323 prized possessions 324 des Geldes bedürftig in need of money 325 to pour out 326 delivered 327 obdurate 328 abusive language 329 nach Gebühr appropriately 330 eine Art von Brunnen 331 didn’t listen 332 corpse

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Der Hausfreund333 wollte nicht viel dawider haben, wenn man sie nicht mehr bekommen

hätte. Es gibt Verbrechen, welche die göttliche Vorsehung334 nicht läßt vor den menschlichen

Richter kommen, weil sie vor ein anderes Gericht gehören, wie zum Exempel die Mordtat in

Ordenbach im Jahr 1786. Solches ist auch noch nicht vergessen. Wann nun ein solcher

Übeltäter dem weltlichen Arm entgangen ist, so meint er, jetzt habe es nichts mehr zu sagen.

Doch! Es hat zu sagen. Mancher muß sich sein Recht selber antun. Manchem kommt noch eine

Zeit daß er bisweilen froh wäre, wenn jemand die Barmherzigkeit335 an ihm ausübte und ihn

erhenkte336 oder köpfte337 . Mancher kommt noch und meldet sich selber drum.

Allein diese Mörderin, von welcher wir reden, ist doch wieder eingebracht und vor das

Gericht gestellt worden und die Gerechtigkeit hat sich ihrer angenommen und hat sie vom

Leben zum Tod bringen lassen durch des Henkers Hand am 20. März in Moulins.

333 Anmerkung - the fictional narrator of Hebel’s Kalendar 334 providence 335 mercifulness 336 hung 337 beheaded

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E. Wie sich der Zundelfrieder hat beritten gemacht (1813)

Als der Zundelfrieder bald alle listigen338 Diebsstreiche339 durchgemacht und fast ein

Überleid daran bekommen hatte, denn der Zundelfrieder stiehlt nie aus Not oder aus

Gewinnsucht oder aus Liederlichkeit340 , sondern aus Liebe zur Kunst und zur Schärfung des

Verstandes; hat er nicht dem Brassenheimer Müller den Schimmel selber wieder an die Türe

gebunden? Was will der geneigte Leser oder des Hausfreunds Reisegefährte nach Lenzkirch

mehr verlangen? Eines Abends, als er, wie gesagt, fast alles durchgemacht hatte, dachte er:

"Jetzt will ich doch auch einmal probieren, wie weit man mit der Ehrlichkeit kommt." Also

stahl er in selbiger Nacht eine Geiss341 , drei Schritte von der Scharwache, und liess sich

attrapieren342 . Den andern Tag im Verhör343 gestand er alles. Wie er aber bald merkte, dass

ihm der Richter etwas zum Andenken wollte mitgeben lassen, dachte er: Ich bin noch nicht

ehrlich genug. Deswegen verschnappte er sich noch ein wenig in den Redensarten und

gestand bei der weitern Untersuchung nach kurzem Widerstand, wie er von jeher ein halber

Kakerlak344 gewesen sei, das heisst, ein Mensch, der bei Nacht fast besser sieht als am Tag, und

als ihn der Richter aufs Eis führen345 wollte, ob er nicht noch von ein paar andern Diebstählen

wisse, die kürzlich begangen worden, sagte er, allerdings wisse er davon, und er sei derjenige.

Als ihm den andern Morgen der Spruch publiziert wurde, er müsse ins Zuchthaus, und der

Stadtsoldat, der ihn begleiten sollte, stand schon vor der Tür, denn es war zwanzig Stunden

weit, sagte er ganz reumütig346 : "Recht findet seinen Knecht. Was ich verdient habe, wird mir

werden." Unterwegs erzählte er dem Stadtsoldaten, er sei auch schon Militär gewesen. "Bin

ich nicht sechs Jahre bei Klebeck Infanterie in Dienst gewesen? Könnt' ich Euch nicht sieben

Wunden zeigen aus dem Scheldekrieg, den der Kaiser Joseph mit den Holländern führen

wollte?" Der treuherzige Begleiter sagte: "Ich hab's nie weiter bringen können als zum

Stadtsoldaten. Eigentlich wär' ich ein Nagelschmied347 . Aber die Zeiten sind schlimm." - "Im

Gegenteil", sagte der Frieder, "ein Stadtsoldat ist mir respektabler als ein Feldsoldat. Denn

Stadt ist mehr als Feld, deswegen avanciert der Feldsoldat in seinem Alter noch zum

Stadtsoldaten. Zudem, der Stadtsoldat wacht für seiner Mitbürger Leben und Eigentum, für

eigen Weib und Kind. Der Kriegssoldat zieht hinaus ins Feld und kämpft, er weiss nicht für wen 338 artful, deceptive 339 illegal prank, theft 340 libertinism 341 goat 342 get caught 343 interrogation 344 cockroach 345 aufs Eis führen to lead someone up the garden path 346 regretfully, ruefully 347 nailer, nail smith

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und nicht für was. Zudem", sagte er, "kann ein Stadtsoldat, wenn er nichts Ungeschicktes348

begangen hat, mit Ehren sterben, wann er will. Unsereiner muss sich schon drum totstechen

lassen. Ich versichere Euch", fuhr er fort, "ich und meine Feinde (er meinte die Strickreiter349 )

wir haben wenig Ehre davon, dass ich noch lebe." Der Nagelschmied wurde über diese

ehrenvolle Vergleichung so gerührt, dass er bei sich selbst dachte, einen so gütigen und

herablassenden Arrestanten habe er noch nicht leicht transportiert350 , und der Frieder ging

immer mit grossen Schritten voraus, um den Nagelschmied recht müde und trocken zu

machen in der Sonnenhitze. "Darin unterscheiden sich die Feldsoldaten von den

Stadtsoldaten", sagte er, "dass sie an einen weiten Schritt gewöhnt sind von dem Marsch."

Abends um 4. Uhr, als sie in ein Dörflein kamen und an ein Wirtshaus, "Kamerad", sagte der

Frieder, "wollen wir nicht einen Schoppen trinken?" - "Herr Kamerad", erwiderte der

Nagelschmied, "was Ihm recht ist, ist mir auch recht." Also tranken sie miteinander einen

Schoppen, auch eine halbe Mass, auch eine Mass, auch zwei, und Brüderschaft ohnehin, und

der Frieder erzählte immerfort von seinen Kriegsaffären, bis der Nagelschmied vor Schwere

des Weins und Müdigkeit einschlief.

Anonymer Holzstich vom Kalendar auf das Jahr 1813, von Hebel, Sämtliche Schriften. Diese Kopie aus Arresting Language von Peter Fenves entnommen.

348 something done clumsily 349 [antiquated, colloq.] - someone who is bound to die on the Strick, i.e. the rope of a noose 350 [here] to come across

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Als er nach einigen Stunden wieder aufwachte und den Frieder nimmer sah, war sein erster

Gedanke: "Was gilt's, der Herr Bruder ist alsgemach vorausgegangen." Nein, er stand nur ein

wenig draussen vor der Türe, denn der Frieder geht nicht leicht leer fort. Als er wieder

hereinkam, sagte er: "Herr Bruder, der Mond will bald aufgehen. Wenn es dir recht ist, so

bleiben wir lieber hier über Nacht." Der Nagelschmied, schläfrig und träge, sagte: "Wie der

Herr Bruder meint." In der Nacht, als der Nagelschmied fest schlief und alle Töne aus dem Bass

in den Diskant und wieder in den Bass durchschnarchte, der Frieder aber nicht schlafen

konnte, stand der Frieder auf, visitierte für Zeitvertreib351 des Herrn Bruders Taschen und fand

unter andern das Schreiben, das wegen seiner dem Stadtsoldaten an den

Zuchthausverwalter352 war mitgegeben worden. Hierauf probierte er für Zeitvertreib des

Herrn Bruders neue Monturstiefeln an. Sie waren ihm recht. Hierauf liess er sich für

Zeitvertreib durch das Fenster auf die Gasse herab und ging des geraden Wegs fort, so weit

ihm der Mond leuchtete. Als der Nagelschmied früh erwachte und den Herr Bruder nimmer

gewahr wurde, dachte er: "Er wird wieder ein wenig draussen sein." Freilich war er wieder ein

wenig draussen, und als er den Tag erlaufen hatte, im ersten Dorf, das ihm am Weg war, weckte

er den Schulzen. "Herr Schulz, es ist mir ein Unglück passiert. Ich bin ein Arrestant, und der

Stadtsoldat von da und da, der mich transportieren sollte, ist mir abhanden gekommen. Geld

hab' ich keins. Weg und Steg kenn' ich nicht, also lasst mir auf Gemeindekosten eine Suppe

kochen und verschafft mir einen Wegweiser in die Stadt ins Zuchthaus." Der Schulz gab ihm

eine Bollete an den Gemeindswirt auf eine Mehlsuppe und einen Schoppen Wein und

schickte nach einem armen Mädchen. "Geh ins Wirtshaus und zeige dem Mann, der dort

frühstückt, wenn er fertig ist, den Weg und die Stadt; er will ins Zuchthaus." Als der Frieder mit

dem Mädchen aus dem Wald und über die letzten Hügel gekommen war und in der Ebene von

weitem die Türme der Stadt erblickt hatte, sagte er zu dem Mädchen: "Geh jetzt nur nach

Haus, mein Kind, jetzt kann ich nimmer verirren." In der Stadt bei den ersten Häusern fragte er

ein Büblein auf der Gasse: "Büblein, wo ist das Zuchthaus?" und als er es gefunden und vor den

Zuchthausverwalter gekommen war, übergab er ihm das Schreiben, das er dem Nagelschmied

aus der Tasche genommen hatte. Der Verwalter las und las und schaute zuletzt den Frieder

mit grossen Augen an. "Guter Freund", sagte er, "das ist schon recht. Aber wo habt Ihr dann

den Arrestanten? Ihr sollt ja einen Arrestanten abliefern." Der Frieder antwortete ganz

verwundert: "Ei, der Arrestant, der bin ich selber." Der Verwalter sagte: "Guter Freund, es

scheint, Ihr wollt Spass machen. Hier spasst man nicht. Gesteht's, Ihr habt den Arrestanten

351 pastime, amusement 352 house of correction administrator

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entwischen353 , lassen! Ich seh’ es aus allem." Der Frieder sagte: "Wenn Sie es aus allem sehen,

so will ich's nicht leugnen. Wenn mir aber Ihro Exzellenz", sagte er zu dem Verwalter, "einen

Brittenen354 mitgeben wollen, so getrau' ich mir, den Vagabunden noch einzufangen355 . Denn

es ist kaum eine Viertelstunde, dass. er mir aus den Augen gekommen ist." - "Einfältiger

Tropf356 ", sagte der Verwalter, "was nützt dem Berittenen die Geschwindigkeit des Rosses,

wenn er mit einem Unberittenen reiten soll? Könnt Ihr reiten?" Der Frieder sagte: "Bin ich

nicht sechs Jahre Württemberger Dragoner gewesen?" - "Gut", erwiderte der Verwalter, "man

wird für Euch ebenfalls ein Ross satteln lassen, und zwar für Euer eigen gutes Geld; ein ander

Mal gebt Achtung", und verschaffte ihm in der Eile ein offenes Ausschreiben357 an alle

Ortsvorgesetzte358 , auf dass, wenn er Mannschaft nötig habe zum Streif. Also ritten der

Strickreiter und der Zundelfrieder miteinander dahin, um den Zundelfrieder aufzusuchen, bis

an einen Scheideweg359 . An dem Scheideweg sagte der Frieder dem Strickreiter, auf welchem

Weg der Strickreiter reiten soll, und auf welchem er selber reiten wolle. "Am Rhein an der

Fahrt kommen wir wieder zusammen." Als sie aber einander aus den Augen verloren hatten,

wendete sich der Frieder wieder rechts und machte mit seinem Ausschreiben in allen Dörfern

Lärm und liess die Sturmglocken anziehen, der Zundelfrieder sei im Revier, bis er an der

Grenze war. An der Grenze aber gab er dem Rösslein einen Fitzer und ritt hinüber.

So etwas könnte hierzuland nicht passieren.

353 to escape 354 mounted police 355 to capture 356 simpleminded fool 357 announcement 358 regional officers 359 intersection, [lit.] parting of the ways

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F. List gegen List (1815)

Einem namhaften Goldschmied hatten zwei vornehm gekleidete Personen für 3000 Taler

kostbare Kleinode360 abgekauft für auf die Krönung in Ungarn. Hernach361 bezahlten sie ihm

tausend Taler bar, legten alles was sie ausgesucht hatten, in ein Schächtelein zusammen,

siegelten362 das Schächtelein zu und gaben es dem Goldschmied gleichsam als Unterpfand für

die noch fehlende Summe wieder in Verwahrung, wenigstens kam es dem Goldschmied so

vor, als wenn es das nämliche wäre. „In 14 Tagen", sagten sie, „bringen wir Euch die fehlende

Summe, und nehmen alsdann das Schächtelein in Empfang." Alles wurde schriftlich gemacht.

Allein es vergehen drei Wochen, niemand meldet sich. Der Krönungstag geht vorüber, es

gehen noch vier Wochen vorüber. Niemand will mehr nach dem Schächtelein fragen. Endlich

dachte der Goldschmied: „Was soll ich euch euer Eigentum hüten auf meine Gefahr, und mein

Kapital tot drinnen liegen haben?" Also wollte er das Schächtelein in Beisein einer

obrigkeitlichen363 Person eröffnen, und die bereits empfangenen 1000 Taler hinterlegen. Als

es aber geöffnet ward, „lieber guter Goldschmied", sagte der Aktuarius, „wie seid Ihr von den

zwei Spitzbuben angeschmiert364 ." Nämlich in dem Schächtelein lagen statt Edelgestein

Kieselstein, und Fensterblei statt Goldes. Die zwei Kaufleute waren spitzbübische

Taschenspieler, böhmische Juden, brachten das wahre Schächtelein unvermerkt auf die Seite

und gaben dem Goldschmied ein anderes zurück, welches ebenso aussah. „Goldschmied",

sagte der Aktuarius, „hier ist guter Rat teuer. Ihr seid ein unglücklicher Mann." Indem trat

wohlgekleidet und ehrbar ein Fremder zur Türe herein und wollte dem Goldschmied allerlei

krummgebogenes365 Silbergeschirr und einsechtige366 Schnallen367 verkaufen, und sah den

Spektakel. „Goldschmied", sagte er, als der Aktuarius fort war, „Euer Lebelang müßt Ihr Euch

nicht mit den Schreibern einlassen. Haltet Euch an praktische Männer. Habt Ihr das Herz eine

Wurst an eine Speckseite zu setzen, Euch ist zu helfen. Wenn Euer Schächtelein oder der Wert

dafür noch in der Welt ist; ich schaff Euch die Spitzbuben wieder ins Haus." - „Wer seid Ihr, um

Vergebung", fragte der Goldschmied. - „Ich bin der Zundelfrieder", erwiderte der Fremde mit

Vertrauen und mit einem recht liebenswürdig freundlichen Spitzbubengesicht. Wer den

Frieder nicht persönlich kennt, wie der Hausfreund, der kann sich keine Vorstellung davon

360 nugget, treasure 361 hereafter 362 sealed 363 authoritative 364 to smear over, [here] to con someone 365 bent and twisted 366 einzelne 367 buckles

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machen, wie ehrlich und gutmütig368 er sich anstellen, und dem vorsichtigsten Menschen so

unwiderstehlich das Herz und das Vertrauen abstehlen kann, wie das Geld. Auch ist er in der

Tat so schlimm nicht, als man ihn zwischen Bühl und Achern369 dafür hält. Ob nun der

Goldschmied noch überdies an das Sprichwort dachte, daß man Spitzbuben am besten mit

Spitzbuben fangen könne, oder ob er an ein anderes Sprichwort dachte, daß wer das Roß

geholt hat, der hole auch den Zaum, (wegen einer guten Freundin will ihn der Hausfreund

nicht mit Namen nennen) kurz der Goldschmied vertraut sich dem Frieder an. „Aber ich bitte

Euch", sagte er, „betrügt mich nicht." „Verlaßt Euch auf mich", sagte der Frieder, „und

erschreckt nicht allzusehr, wenn Ihr morgen früh wieder um etwas klüger geworden seid!"

Vielleicht ist der Frieder auf einer Spur? Nein, er ist noch auf keiner. Aber wer in selbiger

Nacht dem Goldschmied auch noch 4 Dutzend silberne Löffel, 6 silberne Salzbüchslein370 , 6

goldene Ringe mit kostbaren Steinen holte, das war der Frieder. Manch geneigter Leser, der

auf ihn nicht viel halten will, wird denken: „Das geschah dir recht." Desto besser. Denn dem

Goldschmied war es auch recht. Nämlich auf dem Tisch fand er von dem Zundelfrieder einen

eigenhändigen Empfangschein, daß er obige Artikel richtig erhalten habe, und ein Schreiben,

wie sich der Goldschmied nun weiter zu verhalten habe. Nämlich er zeigt jetzt nach des

Frieders Anleitung den Diebstahl bei Amt an, und bat um einen Augenschein. Hernach bat er

den Amtmann die verlorenen Artikel in allen Zeitungen bekanntzumachen. Hernach bat er,

auch das versiegelte Schächtelein mit seiner ganzen Beschreibung mit in das Verzeichnis zu

setzen, um etwas. Der Amtmann sah ins Klare und verwilligte ihm den Wunsch. „Einem

honetten Goldschmied", dachte er, „kann ein Mann, der eine Haushaltung führt, etwas zum

Gefallen tun." Also verlauft es sich in alle Zeitungen, dem Goldschmied sei gestohlen worden

das und das, unter andern ein Schächtelein so und so, mit vielen kostbaren Edelgesteinen, die

alle benannt wurden. Die Nachricht kam bis nach Augsburg. „Löb", schmunzelte371 dort ein

böhmischer Jud dem andern zu, „der Goldschmied wird nie erfahren, was in dem Schächtelein

war. Weißt du, daß es ihm gestohlen ist?" - „Desto besser", sagte der Löb, „so muß er uns auch

unser Geld zurückgeben, und hat gar nichts." Kurz die Betrüger gehn dem Frieder in die Falle,

und kommen wieder zu dem Goldschmied. „Seid so gut und gebt uns itzt das Schächtelein!

Nicht wahr, wir haben Euch ein wenig lange warten lassen." - „Liebe Herrn", erwiderte der

Goldschmied, „euch ist unterdessen ein großes Unglück geschehen, das Schächtelein ist euch

gestohlen. Habt ihr's noch in keiner Zeitung gelesen?" Der Löb erwiderte mit ruhiger Stimme:

„Das wäre uns leid, aber das Unglück wird wohl auf Eurer Seite sein. Ihr liefert uns das

368 good-natured 369 Bühl und Achern sind Namen von zwei Städten 370 Elsässisch für Salzfass 371 smirked

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Schächtelein ab, wie wir's Euch in die Hände gegeben haben, oder Ihr gebt uns unser

vorausbezahltes Geld zurück. Die Krönung ist ohnehin vorüber." - Man sprach hin, man sprach

her, „und das Unglück wird eben doch auf Euerer Seite sein", nahm wieder der Goldschmied

das Wort. Denn im nämlichen Augenblick traten jetzt mit seiner Frau vier Hatschiere372 in die

Stube, handfeste Männer, wie sie sind, und faßten die Spitzbuben. Das Schächtelein war

nimmer aufzutreiben, aber das Zuchthaus und so viel Geld und Geldeswert, als nötig war den

Goldschmied zu bezahlen. Aus Dankbarkeit zerriß der Goldschmied hernach den

Empfangschein des Frieders. Aber der Frieder brachte ihm alles wieder, und verlangte nichts

für seinen guten Rat. „Wenn ich einmal etwa von Euerer Ware benötiget bin", sagte er, „so

weiß ich ja jetzt den Weg in Euern Laden und zu Euerm Kästlein. Wenn ich nur alle Spitzbuben

zugrunde richten könnte", sagte er, „daß ich der einzige wäre."

Denn eifersüchtig ist er.

372 former soldiers operating in an experimental capacity as rural police in Baden Württemburg during the late 18th century; the Hatschiere served as a kind of mounted police / Landjäger and were not particularly well disciplined

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4.

Heinrich von Kleist

Michael Kohlhaas

Aus einer alten Chronik

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler,

namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich

und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. - Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein

dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in

einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch

sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht

Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht

seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein

Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das

Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.

Er ritt einst, mit einer Koppel junger Pferde, wohlgenährt alle und glänzend, ins Ausland, und

überschlug eben, wie er den Gewinst, den er auf den Märkten damit zu machen hoffte,

anlegen wolle: teils, nach Art guter Wirte, auf neuen Gewinst, teils aber auch auf den Genuß

der Gegenwart: als er an die Elbe kam, und bei einer stattlichen Ritterburg, auf sächsischem

Gebiete, einen Schlagbaum traf, den er sonst auf diesem Wege nicht gefunden hatte. Er hielt,

in einem Augenblick, da eben der Regen heftig stürmte, mit den Pferden still, und rief den

Schlagwärter, der auch bald darauf, mit einem grämlichen Gesicht, aus dem Fenster sah. Der

Roßhändler sagte, daß er ihm öffnen solle. Was gibts hier Neues? fragte er, da der Zöllner, nach

einer geraumen Zeit, aus dem Hause trat. Landesherrliches Privilegium, antwortete dieser,

indem er aufschloß: dem Junker Wenzel von Tronka verliehen. - So, sagte Kohlhaas. Wenzel

heißt der Junker? und sah sich das Schloß an, das mit glänzenden Zinnen über das Feld blickte.

Ist der alte Herr tot? - Am Schlagfluß gestorben, erwiderte der Zöllner, indem er den Baum in

die Höhe ließ. - Hm! Schade! versetzte Kohlhaas. Ein würdiger alter Herr, der seine Freude am

Verkehr der Menschen hatte, Handel und Wandel, wo er nur vermochte, forthalf, und einen

Steindamm einst bauen ließ, weil mir eine Stute, draußen, wo der Weg ins Dorf geht, das Bein

gebrochen. Nun! Was bin ich schuldig? - fragte er; und holte die Groschen, die der Zollwärter

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verlangte, mühselig unter dem im Winde flatternden Mantel hervor. »Ja, Alter«, setzte er

noch hinzu, da dieser: hurtig! hurtig! murmelte, und über die Witterung fluchte: »wenn der

Baum im Walde stehen geblieben wäre, wärs besser gewesen, für mich und Euch«; und damit

gab er ihm das Geld und wollte reiten. Er war aber noch kaum unter den Schlagbaum

gekommen, als eine neue Stimme schon: halt dort, der Roßkamm! hinter ihm vom Turm

erscholl, und er den Burgvogt ein Fenster zuwerfen und zu ihm herabeilen sah. Nun, was gibts

Neues? fragte Kohlhaas bei sich selbst, und hielt mit den Pferden an. Der Burgvogt, indem er

sich noch eine Weste über seinen weitläufigen Leib zuknüpfte, kam, und fragte, schief gegen

die Witterung gestellt, nach dem Paßschein. - Kohlhaas fragte: der Paßschein? Er sagte ein

wenig betreten, daß er, soviel er wisse, keinen habe; daß man ihm aber nur beschreiben

möchte, was dies für ein Ding des Herrn sei: so werde er vielleicht zufälligerweise damit

versehen sein. Der Schloßvogt, indem er ihn von der Seite ansah, versetzte, daß ohne einen

landesherrlichen Erlaubnisschein, kein Roßkamm mit Pferden über die Grenze gelassen

würde. Der Roßkamm versicherte, daß er siebzehn Mal in seinem Leben, ohne einen solchen

Schein, über die Grenze gezogen sei; daß er alle landesherrlichen Verfügungen, die sein

Gewerbe angingen, genau kennte; daß dies wohl nur ein Irrtum sein würde, wegen dessen er

sich zu bedenken bitte, und daß man ihn, da seine Tagereise lang sei, nicht länger unnützer

Weise hier aufhalten möge. Doch der Vogt erwiderte, daß er das achtzehnte Mal nicht

durchschlüpfen würde, daß die Verordnung deshalb erst neuerlich erschienen wäre, und daß

er entweder den Paßschein noch hier lösen, oder zurückkehren müsse, wo er hergekommen

sei. Der Roßhändler, den diese ungesetzlichen Erpressungen zu erbittern anfingen, stieg, nach

einer kurzen Besinnung, vom Pferde, gab es einem Knecht, und sagte, daß er den Junker von

Tronka selbst darüber sprechen würde. Er ging auch auf die Burg; der Vogt folgte ihm, indem

er von filzigen Geldraffern und nützlichen Aderlässen derselben murmelte; und beide traten,

mit ihren Blicken einander messend, in den Saal. Es traf sich, daß der Junker eben, mit einigen

muntern Freunden, beim Becher saß, und, um eines Schwanks willen, ein unendliches

Gelächter unter ihnen erscholl, als Kohlhaas, um seine Beschwerde anzubringen, sich ihm

näherte. Der Junker fragte, was er wolle; die Ritter, als sie den fremden Mann erblickten,

wurden still; doch kaum hatte dieser sein Gesuch, die Pferde betreffend, angefangen, als der

ganze Troß schon: Pferde? Wo sind sie? ausrief, und an die Fenster eilte, um sie zu betrachten.

Sie flogen, da sie die glänzende Koppel sahen, auf den Vorschlag des Junkers, in den Hof hinab;

der Regen hatte aufgehört; Schloßvogt und Verwalter und Knechte versammelten sich um sie,

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und alle musterten die Tiere. Der eine lobte den Schweißfuchs mit der Blesse, dem andern

gefiel der Kastanienbraune, der dritte streichelte den Schecken mit schwarzgelben Flecken;

und alle meinten, daß die Pferde wie Hirsche wären, und im Lande keine bessern gezogen

würden. Kohlhaas erwiderte munter, daß die Pferde nicht besser wären, als die Ritter, die sie

reiten sollten; und forderte sie auf, zu kaufen. Der Junker, den der mächtige Schweißhengst

sehr reizte, befragte ihn auch um den Preis; der Verwalter lag ihm an, ein Paar Rappen zu

kaufen, die er, wegen Pferdemangels, in der Wirtschaft gebrauchen zu können glaubte; doch

als der Roßkamm sich erklärt hatte, fanden die Ritter ihn zu teuer, und der Junker sagte, daß er

nach der Tafelrunde reiten und sich den König Arthur aufsuchen müsse, wenn er die Pferde so

anschlage. Kohlhaas, der den Schloßvogt und den Verwalter, indem sie sprechende Blicke auf

die Rappen warfen, mit einander flüstern sah, ließ es, aus einer dunkeln Vorahndung, an nichts

fehlen, die Pferde an sie los zu werden. Er sagte zum Junker: »Herr, die Rappen habe ich vor

sechs Monaten für 25 Goldgülden gekauft; gebt mir 30, so sollt Ihr sie haben.« Zwei Ritter, die

neben dem Junker standen, äußerten nicht undeutlich, daß die Pferde wohl so viel wert

wären; doch der Junker meinte, daß er für den Schweißfuchs wohl, aber nicht eben für die

Rappen, Geld ausgeben möchte, und machte Anstalten, aufzubrechen; worauf Kohlhaas sagte,

er würde vielleicht das nächste Mal, wenn er wieder mit seinen Gaulen durchzöge, einen

Handel mit ihm machen; sich dem Junker empfahl, und die Zügel seines Pferdes ergriff, um

abzureisen. In diesem Augenblick trat der Schloßvogt aus dem Haufen vor, und sagte, er höre,

daß er ohne einen Paßschein nicht reisen dürfe. Kohlhaas wandte sich und fragte den Junker,

ob es denn mit diesem Umstand, der sein ganzes Gewerbe zerstöre, in der Tat seine

Richtigkeit habe? Der Junker antwortete, mit einem verlegnen Gesicht, indem er abging: ja,

Kohlhaas, den Paß mußt du lösen. Sprich mit dem Schloßvogt, und zieh deiner Wege. Kohlhaas

versicherte ihn, daß es gar nicht seine Absicht sei, die Verordnungen, die wegen Ausführung

der Pferde bestehen möchten, zu umgehen; versprach, bei seinem Durchzug durch Dresden,

den Paß in der Geheimschreiberei zu lösen, und bat, ihn nur diesmal, da er von dieser

Forderung durchaus nichts gewußt, ziehen zu lassen. Nun! sprach der Junker, da eben das

Wetter wieder zu stürmen anfing, und seine dürren Glieder durchsauste: laßt den Schlucker

laufen. Kommt! sagte er zu den Rittern, kehrte sich um, und wollte nach dem Schlosse gehen.

Der Schloßvogt sagte, zum Junker gewandt, daß er wenigstens ein Pfand, zur Sicherheit, daß

er den Schein lösen würde, zurücklassen müsse. Der Junker blieb wieder unter dem Schloßtor

stehen. Kohlhaas fragte, welchen Wert er denn, an Geld oder an Sachen, zum Pfande, wegen

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der Rappen, zurücklassen solle? Der Verwalter meinte, in den Bart murmelnd, er könne ja die

Rappen selbst zurücklassen. Allerdings, sagte der Schloßvogt, das ist das Zweckmäßigste; ist

der Paß gelöst, so kann er sie zu jeder Zeit wieder abholen. Kohlhaas, über eine so

unverschämte Forderung betreten, sagte dem Junker, der sich die Wamsschöße frierend vor

den Leib hielt, daß er die Rappen ja verkaufen wolle; doch dieser, da in demselben Augenblick

ein Windstoß eine ganze Last von Regen und Hagel durchs Tor jagte, rief, um der Sache ein

Ende zu machen: wenn er die Pferde nicht loslassen will, so schmeißt ihn wieder über den

Schlagbaum zurück; und ging ab. Der Roßkamm, der wohl sah, daß er hier der Gewalttätigkeit

weichen mußte, entschloß sich, die Forderung, weil doch nichts anders übrig blieb, zu

erfüllen; spannte die Rappen aus, und führte sie in einen Stall, den ihm der Schloßvogt anwies.

Er ließ einen Knecht bei ihnen zurück, versah ihn mit Geld, ermahnte ihn, die Pferde, bis zu

seiner Zurückkunft, wohl in acht zu nehmen, und setzte seine Reise, mit dem Rest der Koppel,

halb und halb ungewiß, ob nicht doch wohl, wegen aufkeimender Pferdezucht, ein solches

Gebot, im Sächsischen, erschienen sein könne nach Leipzig, wo er auf die Messe wollte, fort.

In Dresden, wo er, in einer der Vorstädte der Stadt, ein Haus mit einigen Ställen besaß, weil er

von hier aus seinen Handel auf den kleineren Märkten des Landes zu bestreiten pflegte, begab

er sich, gleich nach seiner Ankunft, auf die Geheimschreiberei, wo er von den Räten, deren er

einige kannte, erfuhr, was ihm allerdings sein erster Glaube schon gesagt hatte, daß die

Geschichte von dem Paßschein ein Märchen sei. Kohlhaas, dem die mißvergnügten Räte, auf

sein Ansuchen, einen schriftlichen Schein über den Ungrund derselben gaben, lächelte über

den Witz des dürren Junkers, obschon er noch nicht recht einsah, was er damit bezwecken

mochte; und die Koppel der Pferde, die er bei sich führte, einige Wochen darauf, zu seiner

Zufriedenheit, verkauft, kehrte er, ohne irgend weiter ein bitteres Gefühl, als das der

allgemeinen Not der Welt, zur Tronkenburg zurück. Der Schloßvogt, dem er den Schein

zeigte, ließ sich nicht weiter darüber aus, und sagte, auf die Frage des Roßkamms, ob er die

Pferde jetzt wieder bekommen könne: er möchte nur hinunter gehen und sie holen. Kohlhaas

hatte aber schon, da er über den Hof ging, den unangenehmen Auftritt, zu erfahren, daß sein

Knecht, ungebührlichen Betragens halber, wie es hieß, wenige Tage nach dessen

Zurücklassung in der Tronkenburg, zerprügelt und weggejagt worden sei. Er fragte den

Jungen, der ihm diese Nachricht gab, was denn derselbe getan? und wer während dessen die

Pferde besorgt hätte? worauf dieser aber erwiderte, er wisse es nicht, und darauf dem

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Roßkamm, dem das Herz schon von Ahnungen schwoll, den Stall, in welchem sie standen,

öffnete. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er, statt seiner zwei glatten und wohlgenährten

Rappen, ein Paar dürre, abgehärmte Mähren erblickte; Knochen, denen man, wie Riegeln,

hätte Sachen aufhängen können; Mähnen und Haare, ohne Wartung und Pflege,

zusammengeknetet: das wahre Bild des Elends im Tierreiche! Kohlhaas, den die Pferde, mit

einer schwachen Bewegung, anwieherten, war auf das äußerste entrüstet, und fragte, was

seinen Gaulen widerfahren wäre? Der Junge, der bei ihm stand, antwortete, daß ihnen weiter

kein Unglück zugestoßen wäre, daß sie auch das gehörige Futter bekommen hätten, daß sie

aber, da gerade Ernte gewesen sei, wegen Mangels an Zugvieh, ein wenig auf den Feldern

gebraucht worden wären. Kohlhaas fluchte über diese schändliche und abgekartete

Gewalttätigkeit, verbiß jedoch, im Gefühl seiner Ohnmacht, seinen Ingrimm, und machte

schon, da doch nichts anders übrig blieb, Anstalten, das Raubnest mit den Pferden nur wieder

zu verlassen, als der Schloßvogt, von dem Wortwechsel herbeigerufen, erschien, und fragte,

was es hier gäbe? Was es gibt? antwortete Kohlhaas. Wer hat dem Junker von Tronka und

dessen Leuten die Erlaubnis gegeben, sich meiner bei ihm zurückgelassenen Rappen zur

Feldarbeit zu bedienen? Er setzte hinzu, ob das wohl menschlich wäre? versuchte, die

erschöpften Gaule durch einen Gertenstreich zu erregen, und zeigte ihm, daß sie sich nicht

rührten. Der Schloßvogt, nachdem er ihn eine Weile trotzig angesehen hatte, versetzte: seht

den Grobian! Ob der Flegel nicht Gott danken sollte, daß die Mähren überhaupt noch leben?

Er fragte, wer sie, da der Knecht weggelaufen, hätte pflegen sollen? Ob es nicht billig gewesen

wäre, daß die Pferde das Futter, das man ihnen gereicht habe, auf den Feldern abverdient

hätten? Er schloß, daß er hier keine Flausen machen möchte, oder daß er die Hunde rufen, und

sich durch sie Ruhe im Hofe zu verschaffen wissen würde. - Dem Roßhändler schlug das Herz

gegen den Wams. Es drängte ihn, den nichtswürdigen Dickwanst in den Kot zu werfen, und

den Fuß auf sein kupfernes Antlitz zu setzen. Doch sein Rechtgefühl, das einer Goldwaage

glich, wankte noch; er war, vor der Schranke seiner eigenen Brust, noch nicht gewiß, ob eine

Schuld seinen Gegner drücke; und während er, die Schimpfreden niederschluckend, zu den

Pferden trat, und ihnen, in stiller Erwägung der Umstände, die Mähnen zurecht legte, fragte er

mit gesenkter Stimme: um welchen Versehens halber der Knecht denn aus der Burg entfernt

worden sei? Der Schloßvogt erwiderte: weil der Schlingel trotzig im Hofe gewesen ist! Weil er

sich gegen einen notwendigen Stallwechsel gesträubt, und verlangt hat, daß die Pferde

zweier Jungherren, die auf die Tronkenburg kamen, um seiner Mähren willen, auf der freien

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Straße übernachten sollten! - Kohlhaas hätte den Wert der Pferde darum gegeben, wenn er

den Knecht zur Hand gehabt, und dessen Aussage mit der Aussage dieses dickmäuligen

Burgvogts hätte vergleichen können. Er stand noch, und streifte den Rappen die Zoddeln aus,

und sann, was in seiner Lage zu tun sei, als sich die Szene plötzlich änderte, und der Junker

Wenzel von Tronka, mit einem Schwarm von Rittern, Knechten und Hunden, von der

Hasenhetze kommend, in den Schloßplatz sprengte. Der Schloßvogt, als er fragte, was

vorgefallen sei, nahm sogleich das Wort, und während die Hunde, beim Anblick des Fremden,

von der einen Seite, ein Mordgeheul gegen ihn anstimmten, und die Ritter ihnen, von der

andern, zu schweigen geboten, zeigte er ihm, unter der gehässigsten Entstellung der Sache,

an, was dieser Roßkamm, weil seine Rappen ein wenig gebraucht worden wären, für eine

Rebellion verführe. Er sagte, mit Hohngelächter, daß er sich weigere, die Pferde als die

seinigen anzuerkennen. Kohlhaas rief: »das sind nicht meine Pferde, gestrenger Herr! Das sind

die Pferde nicht, die dreißig Goldgülden wert waren! Ich will meine wohlgenährten und

gesunden Pferde wieder haben!« - Der Junker, indem ihm eine flüchtige Blässe ins Gesicht

trat, stieg vom Pferde, und sagte: wenn der H... A... die Pferde nicht wiedernehmen will, so mag

er es bleiben lassen. Komm, Günther! rief er - Hans! Kommt! indem er sich den Staub mit der

Hand von den Beinkleidern schüttelte; und: schafft Wein! rief er noch, da er mit den Rittern

unter der Tür war; und ging ins Haus. Kohlhaas sagte, daß er eher den Abdecker rufen, und die

Pferde auf den Schindanger schmeißen lassen, als sie so, wie sie wären, in seinen Stall zu

Kohlhaasenbrück führen wolle. Er ließ die Gaule, ohne sich um sie zu bekümmern, auf dem

Platz stehen, schwang sich, indem er versicherte, daß er sich Recht zu verschaffen wissen

würde, auf seinen Braunen, und ritt davon.

Spornstreichs auf dem Wege nach Dresden war er schon, als er, bei dem Gedanken an den

Knecht, und an die Klage, die man auf der Burg gegen ihn führte, schrittweis zu reiten anfing,

sein Pferd, ehe er noch tausend Schritt gemacht hatte, wieder wandte, und zur vorgängigen

Vernehmung des Knechts, wie es ihm klug und gerecht schien, nach Kohlhaasenbrück einbog.

Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl

machte ihn, trotz der erlittenen Beleidigungen, geneigt, falls nur wirklich dem Knecht, wie

der Schloßvogt behauptete, eine Art von Schuld beizumessen sei, den Verlust der Pferde, als

eine gerechte Folge davon, zu verschmerzen. Dagegen sagte ihm ein ebenso vertreffliches

Gefühl, und dies Gefühl faßte tiefere und tiefere Wurzeln, in dem Maße, als er weiter ritt, und

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überall, wo er einkehrte, von den Ungerechtigkeiten hörte, die täglich auf der Tronkenburg

gegen die Reisenden verübt wurden: daß wenn der ganze Vorfall, wie es allen Anschein habe,

bloß abgekartet sein sollte, er mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sei, sich

Genugtuung für die erlittene Kränkung, und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu

verschaffen.

Sobald er, bei seiner Ankunft in Kohlhaasenbrück, Lisbeth, sein treues Weib, umarmt, und

seine Kinder, die um seine Kniee frohlockten, geküßt hatte, fragte er gleich nach Herse, dem

Großknecht: und ob man nichts von ihm gehört habe? Lisbeth sagte: ja liebster Michael, dieser

Herse! Denke dir, daß dieser unselige Mensch, vor etwa vierzehn Tagen, auf das jämmerlichste

zerschlagen, hier eintrifft; nein, so zerschlagen, daß er auch nicht frei atmen kann. Wir bringen

ihn zu Bett, wo er heftig Blut speit, und vernehmen, auf unsre wiederholten Fragen, eine

Geschichte, die keiner versteht. Wie er von dir mit Pferden, denen man den Durchgang nicht

verstattet, auf der Tronkenburg zurückgelassen worden sei, wie man ihn, durch die

schändlichsten Mißhandlungen, gezwungen habe, die Burg zu verlassen, und wie es ihm

unmöglich gewesen wäre, die Pferde mitzunehmen. So? sagte Kohlhaas, indem er den Mantel

ablegte. Ist er denn schon wieder hergestellt? - Bis auf das Blutspeien, antwortete sie, halb und

halb. Ich wollte sogleich einen Knecht nach der Tronkenburg schicken, um die Pflege der

Rosse, bis zu deiner Ankunft daselbst, besorgen zu lassen. Denn da sich der Herse immer

wahrhaftig gezeigt hat, und so getreu uns, in der Tat wie kein anderer, so kam es mir nicht zu,

in seine Aussage, von so viel Merkmalen unterstützt, einen Zweifel zu setzen, und etwa zu

glauben, daß er der Pferde auf eine andere Art verlustig gegangen wäre. Doch er beschwört

mich, niemandem zuzumuten, sich in diesem Raubneste zu zeigen, und die Tiere aufzugeben,

wenn ich keinen Menschen dafür aufopfern wolle. - Liegt er denn noch im Bette? fragte

Kohlhaas, indem er sich von der Halsbinde befreite. - Er geht, erwiderte sie, seit einigen Tagen

schon wieder im Hofe umher. Kurz, du wirst sehen, fuhr sie fort, daß alles seine Richtigkeit hat,

und daß diese Begebenheit einer von den Freveln ist, die man sich seit kurzem auf der

Tronkenburg gegen die Fremden erlaubt. - Das muß ich doch erst untersuchen, erwiderte

Kohlhaas. Ruf ihn mir, Lisbeth, wenn er auf ist, doch her! Mit diesen Worten setzte er sich in

den Lehnstuhl; und die Hausfrau, die sich über seine Gelassenheit sehr freute, ging, und holte

den Knecht.

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Was hast du in der Tronkenburg gemacht? fragte Kohlhaas, da Lisbeth mit ihm in das Zimmer

trat. Ich bin nicht eben wohl mit dir zufrieden. - Der Knecht, auf dessen blassem Gesicht sich,

bei diesen Worten, eine Röte fleckig zeigte, schwieg eine Weile; und: da habt Ihr recht, Herr!

antwortete er; denn einen Schwefelfaden, den ich durch Gottes Fügung bei mir trug, um das

Raubnest, aus dem ich verjagt worden war, in Brand zu stecken, warf ich, als ich ein Kind darin

jammern hörte, in das Elbwasser, und dachte: mag es Gottes Blitz einäschern; ich wills nicht! -

Kohlhaas sagte betroffen: wodurch aber hast du dir die Verjagung aus der Tronkenburg

zugezogen? Drauf Herse: durch einen schlechten Streich, Herr; und trocknete sich den

Schweiß von der Stirn: Geschehenes ist aber nicht zu ändern. Ich wollte die Pferde nicht auf

der Feldarbeit zu Grunde richten lassen, und sagte, daß sie noch jung wären und nicht

gezogen hätten. - Kohlhaas erwiderte, indem er seine Verwirrung zu verbergen suchte, daß er

hierin nicht ganz die Wahrheit gesagt, indem die Pferde schon zu Anfange des verflossenen

Frühjahrs ein wenig im Geschirr gewesen wären. Du hättest dich auf der Burg, fuhr er fort, wo

du doch eine Art von Gast warest, schon ein oder etliche Mal, wenn gerade, wegen

schleunigst Einführung der Ernte Not war, gefällig zeigen können. - Das habe ich auch getan,

Herr, sprach Herse. Ich dachte, da sie mir grämliche Gesichter machten, es wird doch die

Rappen just nicht kosten. Am dritten Vormittag spannt ich sie vor, und drei Fuhren Getreide

führt ich ein. Kohlhaas, dem das Herz emporquoll, schlug die Augen zu Boden, und versetzte:

davon hat man mir nichts gesagt, Herse! - Herse versicherte ihn, daß es so sei. Meine

Ungefälligkeit, sprach er, bestand darin, daß ich die Pferde, als sie zu Mittag kaum ausgefressen

hatten, nicht wieder ins Joch spannen wollte; und daß ich dem Schloßvogt und dem Verwalter,

als sie mir vorschlugen frei Futter dafür anzunehmen, und das Geld, das Ihr mir für

Futterkosten zurückgelassen hattet, in den Sack zu stecken, antwortete - ich würde ihnen

sonst was tun; mich umkehrte und wegging. - Um dieser Ungefälligkeit aber, sagte Kohlhaas,

bist du von der Tronkenburg nicht weggejagt worden. - Behüte Gott, rief der Knecht, um eine

gottvergessene Missetat! Denn auf den Abend wurden die Pferde zweier Ritter, welche auf

die Tronkenburg kamen, in den Stall geführt, und meine an die Stalltür angebunden. Und da

ich dem Schloßvogt, der sie daselbst einquartierte, die Rappen aus der Hand nahm, und fragte,

wo die Tiere jetzo bleiben sollten, so zeigte er mir einen Schweinekoben an, der von Latten

und Brettern an der Schloßmauer auferbaut war. - Du meinst, unterbrach ihn Kohlhaas, es war

ein so schlechtes Behältnis für Pferde, daß es einem Schweinekoben ähnlicher war, als einem

Stall. - Es war ein Schweinekoben, Herr, antwortete Herse; wirklich und wahrhaftig ein

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Schweinekoben, in welchem die Schweine aus- und einliefen, und ich nicht aufrecht stehen

konnte. - Vielleicht war sonst kein Unterkommen für die Rappen aufzufinden, versetzte

Kohlhaas; die Pferde der Ritter gingen, auf eine gewisse Art, vor. - Der Platz, erwiderte der

Knecht, indem er die Stimme fallen ließ, war eng. Es hauseten jetzt in allem sieben Ritter auf

der Burg. Wenn Ihr es gewesen wäret, Ihr hättet die Pferde ein wenig zusammenrücken

lassen. Ich sagte, ich wolle mir im Dorf einen Stall zu mieten suchen; doch der Schloßvogt

versetzte, daß er die Pferde unter seinen Augen behalten müsse, und daß ich mich nicht

unterstehen solle, sie vom Hofe wegzuführen. - Hm! sagte Kohlhaas. Was gabst du darauf an? -

Weil der Verwalter sprach, die beiden Gäste würden bloß übernachten, und am andern

Morgen weiter reiten, so führte ich die Pferde in den Schweinekoben hinein. Aber der

folgende Tag verfloß, ohne daß es geschah; und als der dritte anbrach, hieß es, die Herren

würden noch einige Wochen auf der Burg verweilen. - Am Ende wars nicht so schlimm, Herse,

im Schweinekoben, sagte Kohlhaas, als es dir, da du zuerst die Nase hineinstecktest, vorkam. - 's

ist wahr, erwiderte jener. Da ich den Ort ein bissel ausfegte, gings an. Ich gab der Magd einen

Groschen, daß sie die Schweine woanders einstecke. Und den Tag über bewerkstelligte ich

auch, daß die Pferde aufrecht stehen konnten, indem ich die Bretter oben, wenn der Morgen

dämmerte, von den Latten abnahm, und abends wieder auflegte. Sie guckten nun, wie Gänse,

aus dem Dach vor, und sahen sich nach Kohlhaasenbrück, oder sonst, wo es besser ist, um. - Nun

denn, fragte Kohlhaas, warum also, in aller Welt, jagte man dich fort? - Herr, ich sags Euch,

versetzte der Knecht, weil man meiner los sein wollte. Weil sie die Pferde, so lange ich dabei

war, nicht zu Grunde richten konnten. überall schnitten sie mir, im Hofe und in der

Gesindestube, widerwärtige Gesichter; und weil ich dachte, zieht ihr die Mäuler, daß sie

verrenken, so brachen sie die Gelegenheit vom Zaune, und warfen mich vom Hofe herunter. -

Aber die Veranlassung! rief Kohlhaas. Sie werden doch irgend eine Veranlassung gehabt

haben! - O allerdings, antwortete Herse, und die allergerechteste. Ich nahm, am Abend des

zweiten Tages, den ich im Schweinekoben zugebracht, die Pferde, die sich darin doch

zugesudelt hatten, und wollte sie zur Schwemme reiten. Und da ich eben unter dem

Schloßtore bin, und mich wenden will, hör ich den Vogt und den Verwalter, mit Knechten,

Hunden und Prügeln, aus der Gesindestube hinter mir herstürzen, und: halt, den Spitzbuben!

rufen: halt, den Galgenstrick! als ob sie besessen wären. Der Torwächter tritt mir in den Weg;

und da ich ihn und den rasenden Haufen, der auf mich anläuft, frage: was auch gibts? was es

gibt? antwortete der Schloßvogt; und greift meinen beiden Rappen in den Zügel. Wo will Er

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hin mit den Pferden? fragt er, und packt mich an die Brust. Ich sage, wo ich hin will?

Himmeldonner! Zur Schwemme will ich reiten. Denkt Er, daß ich -? Zur Schwemme? ruft der

Schloßvogt. Ich will dich, Gauner, auf der Heerstraße, nach Kohlhaasenbrück schwimmen

lehren! und schmeißt mich, mit einem hämischen Mordzug, er und der Verwalter, der mir das

Bein gefaßt hat, vom Pferd herunter, daß ich mich, lang wie ich bin, in den Kot messe. Mord!

Hagel! ruf ich, Sielzeug und Decken liegen, und ein Bündel Wäsche von mir, im Stall; doch er

und die Knechte, indessen der Verwalter die Pferde wegführt, mit Füßen und Peitschen und

Prügeln über mich her, daß ich halbtot hinter dem Schloßtor niedersinke. Und da ich sage: die

Raubhunde! Wo führen sie mir die Pferde hin? und mich erhebe: heraus aus dem Schloßhof!

schreit der Vogt, und: hetz, Kaiser! hetz, Jäger! erschallt es, und: hetz, Spitz! und eine Koppel

von mehr denn zwölf Hunden fällt über mich her. Drauf brech ich, war es eine Latte, ich weiß

nicht was, vom Zaune, und drei Hunde tot streck ich neben mir nieder; doch da ich, von

jämmerlichen Zerfleischungen gequält, weichen muß: Flüt! gellt eine Pfeife; die Hunde in den

Hof, die Torflügel zusammen, der Riegel vor: und auf der Straße ohnmächtig sink ich nieder. -

Kohlhaas sagte, bleich im Gesicht, mit erzwungener Schelmerei: hast du auch nicht

entweichen wollen, Herse? Und da dieser, mit dunkler Röte, vor sich niedersah: gesteh mirs,

sagte er; es gefiel dir im Schweinekoben nicht; du dachtest, im Stall zu Kohlhaasenbrück ists

doch besser. - Himmelschlag! rief Herse: Sielzeug und Decken ließ ich ja, und einen Bündel

Wäsche, im Schweinekoben zurück. Würd ich drei Reichsgülden nicht zu mir gesteckt haben,

die ich, im rotseidnen Halstuch, hinter der Krippe versteckt hatte? Blitz, Höll und Teufel! Wenn

Ihr so sprecht, so möcht ich nur gleich den Schwefelfaden, den ich wegwarf, wieder anzünden!

Nun, nun! sagte der Roßhändler; es war eben nicht böse gemeint! Was du gesagt hast, schau,

Wort für Wort, ich glaub es dir; und das Abendmahl, wenn es zur Sprache kommt, will ich selbst

nun darauf nehmen. Es tut mir leid, daß es dir in meinen Diensten nicht besser ergangen ist;

geh, Herse, geh zu Bett, laß dir eine Flasche Wein geben, und tröste dich: dir soll Gerechtigkeit

widerfahren! Und damit stand er auf, fertigte ein Verzeichnis der Sachen an, die der

Großknecht im Schweinekoben zurückgelassen; spezifizierte den Wert derselben, fragte ihn

auch, wie hoch er die Kurkosten anschlage; und ließ ihn, nachdem er ihm noch einmal die

Hand gereicht, abtreten.

Hierauf erzählte er Lisbeth, seiner Frau, den ganzen Verlauf und inneren Zusammenhang der

Geschichte, erklärte ihr, wie er entschlossen sei, die öffentliche Gerechtigkeit für sich

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aufzufordern, und hatte die Freude, zu sehen, daß sie ihn, in diesem Vorsatz, aus voller Seele

bestärkte. Denn sie sagte, daß noch mancher andre Reisende, vielleicht minder duldsam, als

er, über jene Burg ziehen würde; daß es ein Werk Gottes wäre, Unordnungen, gleich diesen,

Einhalt zu tun; und daß sie die Kosten, die ihm die Führung des Prozesses verursachen würde,

schon beitreiben wolle. Kohlhaas nannte sie ein wackeres Weib, erfreute sich diesen und den

folgenden Tag in ihrer und seiner Kinder Mitte, und brach sobald es seine Geschäfte irgend

zuließen, nach Dresden auf, um seine Klage vor Gericht zu bringen.

Hier verfaßte er, mit Hülfe eines Rechtsgelehrten, den er kannte, eine Beschwerde, in welcher

er, nach einer umständlichen Schilderung des Frevels, den der Junker Wenzel von Tronka, an

ihm sowohl, als an seinem Knecht Herse, verübt hatte, auf gesetzmäßige Bestrafung

desselben, Wiederherstellung der Pferde in den vorigen Stand, und auf Ersatz des Schadens

antrug, den er sowohl, als sein Knecht, dadurch erlitten hatten. Die Rechtssache war in der Tat

klar. Der Umstand, daß die Pferde gesetzwidriger Weise festgehalten worden waren, warf ein

entscheidendes Licht auf alles übrige; und selbst wenn man hätte annehmen wollen, daß die

Pferde durch einen bloßen Zufall erkrankt wären, so würde die Forderung des Roßkamms, sie

ihm gesund wieder zuzustellen, noch gerecht gewesen sein. Es fehlte Kohlhaas auch, während

er sich in der Residenz umsah, keineswegs an Freunden, die seine Sache lebhaft zu

unterstützen versprachen; der ausgebreitete Handel, den er mit Pferden trieb, hatte ihm die

Bekanntschaft, und die Redlichkeit, mit welcher er dabei zu Werke ging, ihm das Wohlwollen

der bedeutendsten Männer des Landes verschafft. Er speisete bei seinem Advokaten, der

selbst ein ansehnlicher Mann war, mehrere Mal heiter zu Tisch; legte eine Summe Geldes, zur

Bestreitung der Prozeßkosten, bei ihm nieder; und kehrte, nach Verlauf einiger Wochen,

völlig von demselben über den Ausgang seiner Rechtssache beruhigt, zu Lisbeth, seinem

Weibe, nach Kohlhaasenbrück zurück. Gleichwohl vergingen Monate, und das Jahr war daran,

abzuschließen, bevor er, von Sachsen aus, auch nur eine Erklärung über die Klage, die er

daselbst anhängig gemacht hatte, geschweige denn die Resolution selbst, erhielt. Er fragte,

nachdem er mehrere Male von neuem bei dem Tribunal eingekommen war, seinen

Rechtsgehülfen, in einem vertrauten Briefe, was eine so übergroße Verzögerung verursache;

und erfuhr, daß die Klage, auf eine höhere Insinuation, bei dem Dresdner Gerichtshofe,

gänzlich niedergeschlagen worden sei. - Auf die befremdete Rückschrift des Roßkamms, worin

dies seinen Grund habe, meldete ihm jener: daß der Junker Wenzel von Tronka mit zwei

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Jungherren, Hinz und Kunz von Tronka, verwandt sei, deren einer, bei der Person des Herrn,

Mundschenk, der andre gar Kämmerer sei. - Er riet ihm noch, er möchte, ohne weitere

Bemühungen bei der Rechtsinstanz, seiner, auf der Tronkenburg befindlichen, Pferde wieder

habhaft zu werden suchen; gab ihm zu verstehen, daß der Junker, der sich jetzt in der

Hauptstadt aufhalte, seine Leute angewiesen zu haben scheine, sie ihm auszuliefern; und

schloß mit dem Gesuch, ihn wenigstens, falls er sich hiermit nicht beruhigen wolle, mit

ferneren Aufträgen in dieser Sache zu verschonen.

Kohlhaas befand sich um diese Zeit gerade in Brandenburg, wo der Stadthauptmann, Heinrich

von Geusau, unter dessen Regierungsbezirk Kohlhaasenbrück gehörte, eben beschäftigt war,

aus einem beträchtlichen Fonds, der der Stadt zugefallen war, mehrere wohltätige Anstalten,

für Kranke und Arme, einzurichten. Besonders war er bemüht, einen mineralischen Quell, der

auf einem Dorf in der Gegend sprang, und von dessen Heilkräften man sich mehr, als die

Zukunft nachher bewährte, versprach, für den Gebrauch der Preßhaften einzurichten; und da

Kohlhaas ihm, wegen manchen Verkehrs, in dem er, zur Zeit seines Aufenthalts am Hofe, mit

demselben gestanden hatte, bekannt war, so erlaubte er Hersen, dem Großknecht, dem ein

Schmerz beim Atemholen über der Brust, seit jenem schlimmen Tage auf der Tronkenburg,

zurückgeblieben war, die Wirkung der kleinen, mit Dach und Einfassung versehenen,

Heilquelle zu versuchen. Es traf sich, daß der Stadthauptmann eben, am Rande des Kessels, in

welchen Kohlhaas den Herse gelegt hatte, gegenwärtig war, um einige Anordnungen zu

treffen, als jener, durch einen Boten, den ihm seine Frau nachschickte, den niederschlagenden

Brief seines Rechtsgehülfen aus Dresden empfing. Der Stadthauptmann, der, während er mit

dem Arzte sprach, bemerkte, daß Kohlhaas eine Träne auf den Brief, den er bekommen und

eröffnet hatte, fallen ließ, näherte sich ihm, auf eine freundliche und herzliche Weise, und

fragte ihn, was für ein Unfall ihn betroffen; und da der Roßhändler ihm, ohne ihm zu

antworten, den Brief überreichte: so klopfte ihm dieser würdige Mann, dem die abscheuliche

Ungerechtigkeit, die man auf der Tronkenburg an ihm verübt hatte, und an deren Folgen

Herse eben, vielleicht auf die Lebenszeit, krank danieder lag, bekannt war, auf die Schulter,

und sagte ihm: er solle nicht mutlos sein; er werde ihm zu seiner Genugtuung verhelfen! Am

Abend, da sich der Roßkamm, seinem Befehl gemäß, zu ihm aufs Schloß begeben hatte, sagte

er ihm, daß er nur eine Supplik, mit einer kurzen Darstellung des Vorfalls, an den Kurfürsten

von Brandenburg aufsetzen, den Brief des Advokaten beilegen, und wegen der

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Gewalttätigkeit, die man sich, auf sächsischem Gebiet, gegen ihn erlaubt, den

landesherrlichen Schutz aufrufen möchte. Er versprach ihm, die Bittschrift, unter einem

anderen Paket, das schon bereit liege, in die Hände des Kurfürsten zu bringen, der seinethalb

unfehlbar, wenn es die Verhältnisse zuließen, bei dem Kurfürsten von Sachsen einkommen

würde; und mehr als eines solchen Schrittes bedürfe es nicht, um ihm bei dem Tribunal in

Dresden, den Künsten des Junkers und seines Anhanges zum Trotz, Gerechtigkeit zu

verschaffen. Kohlhaas lebhaft erfreut, dankte dem Stadthauptmann, für diesen neuen Beweis

seiner Gewogenheit, aufs herzlichste; sagte, es tue ihm nur leid, daß er nicht, ohne irgend

Schritte in Dresden zu tun, seine Sache gleich in Berlin anhängig gemacht habe; und nachdem

er, in der Schreiberei des Stadtgerichts, die Beschwerde, ganz den Forderungen gemäß,

verfaßt, und dem Stadthauptmann übergeben hatte, kehrte er, beruhigter über den Ausgang

seiner Geschichte, als je, nach Kohlhaasenbrück zurück. Er hatte aber schon, in wenig Wochen,

den Kummer, durch einen Gerichtsherrn, der in Geschäften des Stadthauptmanns nach

Potsdam ging, zu erfahren, daß der Kurfürst die Supplik seinem Kanzler, dem Grafen Kallheim,

übergeben habe, und daß dieser nicht unmittelbar, wie es zweckmäßig schien, bei dem Hofe

zu Dresden, um Untersuchung und Bestrafung der Gewalttat, sondern um vorläufige, nähere

Information bei dem Junker von Tronka eingekommen sei. Der Gerichtsherr, der, vor

Kohlhaasens Wohnung, im Wagen haltend, den Auftrag zu haben schien, dem Roßhändler

diese Eröffnung zu machen, konnte ihm auf die betroffene Frage: warum man also verfahren?

keine befriedigende Auskunft geben. Er fügte nur noch hinzu: der Stadthauptmann ließe ihm

sagen, er möchte sich in Geduld fassen; schien bedrängt, seine Reise fortzusetzen; und erst am

Schluß der kurzen Unterredung erriet Kohlhaas, aus einigen hingeworfenen Worten, daß der

Graf Kallheim mit dem Hause derer von Tronka verschwägert sei. - Kohlhaas, der keine Freude

mehr, weder an seiner Pferdezucht, noch an Haus und Hof, kaum an Weib und Kind hatte,

durchharrte, in trüber Ahndung der Zukunft, den nächsten Mond; und ganz seiner Erwartung

gemäß kam, nach Verlauf dieser Zeit, Herse, dem das Bad einige Linderung verschafft hatte,

von Brandenburg zurück, mit einem, ein größeres Reskript begleitenden, Schreiben des

Stadthauptmanns, des Inhalts: es tue ihm leid, daß er nichts in seiner Sache tun könne; er

schicke ihm eine, an ihn ergangene, Resolution der Staatskanzlei, und rate ihm, die Pferde, die

er in der Tronkenburg zurückgelassen, wieder abführen, und die Sache übrigens ruhen zu

lassen. - Die Resolution lautete: »er sei, nach dem Bericht des Tribunals in Dresden, ein

unnützer Querulant; der Junker, bei dem er die Pferde zurückgelassen, halte ihm dieselben,

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auf keine Weise, zurück; er möchte nach der Burg schicken, und sie holen, oder dem Junker

wenigstens wissen lassen, wohin er sie ihm senden solle; die Staatskanzlei aber, auf jeden Fall,

mit solchen Plackereien und Stänkereien verschonen.« Kohlhaas, dem es nicht um die Pferde

zu tun war - er hätte gleichen Schmerz empfunden, wenn es ein Paar Hunde gegolten hätte -

Kohlhaas schäumte vor Wut, als er diesen Brief empfing. Er sah, so oft sich ein Geräusch im Hofe

hören ließ, mit der widerwärtigsten Erwartung, die seine Brust jemals bewegt hatte, nach

dem Torwege, ob die Leute des Jungherren erscheinen, und ihm, vielleicht gar mit einer

Entschuldigung, die Pferde, abgehungert und abgehärmt, wieder zustellen würden; der

einzige Fall, in welchem seine von der Welt wohlerzogene Seele, auf nichts das ihrem Gefühl

völlig entsprach gefaßt war. Er hörte aber in kurzer Zeit schon, durch einen Bekannten, der die

Straße gereiset war, daß die Gaule auf der Tronkenburg, nach wie vor, den übrigen Pferden

des Landjunkers gleich, auf dem Felde gebraucht würden; und mitten durch den Schmerz, die

Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit

empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen. Er lud einen Amtmann, seinen

Nachbar, zu sich, der längst mit dem Plan umgegangen war, seine Besitzungen durch den

Ankauf der, ihre Grenze berührenden, Grundstücke zu vergrößern, und fragte ihn, nachdem

sich derselbe bei ihm niedergelassen, was er für seine Besitzungen, im Brandenburgischen

und im Sächsischen, Haus und Hof, in Pausch und Bogen, es sei nagelfest oder nicht, geben

wolle? Lisbeth, sein Weib, erblaßte bei diesen Worten. Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes

auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte, Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten

Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein

Papier werfend, das er in der Hand hielt. Der Amtmann fragte, indem er ihn befremdet ansah,

was ihn plötzlich auf so sonderbare Gedanken bringe; worauf jener, mit so viel Heiterkeit, als

er erzwingen konnte, erwiderte: der Gedanke, seinen Meierhof, an den Ufern der Havel, zu

verkaufen, sei nicht allzuneu; sie hätten beide schon oft über diesen Gegenstand verhandelt;

sein Haus in der Vorstadt in Dresden sei, in Vergleich damit, ein bloßer Anhang, der nicht in

Erwägung komme; und kurz, wenn er ihm seinen Willen tun, und beide Grundstücke

übernehmen wolle, so sei er bereit, den Kontrakt darüber mit ihm abzuschließen. Er setzte,

mit einem etwas erzwungenen Scherz hinzu, Kohlhaasenbrück sei ja nicht die Welt; es könne

Zwecke geben, in Vergleich mit welchen, seinem Hauswesen, als ein ordentlicher Vater,

vorzustehen, untergeordnet und nichtswürdig sei; und kurz, seine Seele, müsse er ihm sagen,

sei auf große Dinge gestellt, von welchen er vielleicht bald hören werde. Der Amtmann, durch

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diese Worte beruhigt, sagte, auf eine lustige Art, zur Frau, die das Kind einmal über das andere

küßte: er werde doch nicht gleich Bezahlung verlangen? legte Hut und Stock, die er zwischen

den Knieen gehalten hatte, auf den Tisch, und nahm das Blatt, das der Roßkamm in der Hand

hielt, um es zu durchlesen. Kohlhaas, indem er demselben näher rückte, erklärte ihm, daß es

ein von ihm aufgesetzter eventueller in vier Wochen verfallener Kaufkontrakt sei; zeigte ihm,

daß darin nichts fehle, als die Unterschriften, und die Einrückung der Summen, sowohl was den

Kaufpreis selbst, als auch den Reukauf, d. h. die Leistung betreffe, zu der er sich, falls er binnen

vier Wochen zurückträte, verstehen wolle; und forderte ihn noch einmal munter auf, ein

Gebot zu tun, indem er ihm versicherte, daß er billig sein, und keine großen Umstände

machen würde. Die Frau ging in der Stube auf und ab; ihre Brust flog, daß das Tuch, an welchem

der Knabe gezupft hatte, ihr völlig von der Schulter herabzufallen drohte. Der Amtmann

sagte, daß er ja den Wert der Besitzung in Dresden keineswegs beurteilen könne; worauf ihm

Kohlhaas, Briefe, die bei ihrem Ankauf gewechselt worden waren, hinschiebend, antwortete:

daß er sie zu 100 Goldgülden anschlage; obschon daraus hervorging, daß sie ihm fast um die

Hälfte mehr gekostet hatte. Der Amtmann, der den Kaufkontrakt noch einmal überlas, und

darin auch von seiner Seite, auf eine sonderbare Art, die Freiheit stipuliert fand,

zurückzutreten, sagte, schon halb entschlossen: daß er ja die Gestütpferde, die in seinen

Ställen wären, nicht brauchen könne; doch da Kohlhaas erwiderte, daß er die Pferde auch gar

nicht loszuschlagen willens sei, und daß er auch einige Waffen, die in der Rüstkammer hingen,

für sich behalten wolle, so - zögerte jener noch und zögerte, und wiederholte endlich ein

Gebot, das er ihm vor kurzem schon einmal, halb im Scherz, halb im Ernst, nichtswürdig gegen

den Wert der Besitzung, auf einem Spaziergange gemacht hatte. Kohlhaas schob ihm Tinte

und Feder hin, um zu schreiben; und da der Amtmann, der seinen Sinnen nicht traute, ihn

noch einmal gefragt hatte, ob es sein Ernst sei? und der Roßkamm ihm ein wenig empfindlich

geantwortet hatte: ob er glaube, daß er bloß seinen Scherz mit ihm treibe? so nahm jener

zwar, mit einem bedenklichen Gesicht, die Feder, und schrieb; dagegen durchstrich er den

Punkt, in welchem von der Leistung, falls dem Verkäufer der Handel gereuen sollte, die Rede

war; verpflichtete sich zu einem Darlehn von 100 Goldgülden, auf die Hypothek des

Dresdenschen Grundstücks, das er auf keine Weise käuflich an sich bringen wollte; und ließ

ihm, binnen zwei Monaten völlige Freiheit, von dem Handel wieder zurückzutreten. Der

Roßkamm, von diesem Verfahren gerührt, schüttelte ihm mit vieler Herzlichkeit die Hand; und

nachdem sie noch, welches eine Hauptbedingung war, übereingekommen waren, daß des

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Kaufpreises vierter Teil unfehlbar gleich bar, und der Rest, in drei Monaten, in der Hamburger

Bank, gezahlt werden sollte, rief jener nach Wein, um sich eines so glücklich abgemachten

Geschäfts zu erfreuen. Er sagte einer Magd, die mit den Flaschen hereintrat, Sternbald, der

Knecht, solle ihm den Fuchs satteln; er müsse, gab er an, nach der Hauptstadt reiten, wo er

Verrichtungen habe; und gab zu verstehen, daß er in kurzem, wenn er zurückkehre, sich

offenherziger über das, was er jetzt noch für sich behalten müsse, auslassen würde. Hierauf,

indem er die Gläser einschenkte, fragte er nach dem Polen und Türken, die gerade damals mit

einander im Streit lagen; verwickelte den Amtmann in mancherlei politische Konjekturen

darüber; trank ihm schlüßlich hierauf noch einmal das Gedeihen ihres Geschäfts zu, und

entließ ihn. - Als der Amtmann das Zimmer verlassen hatte, fiel Lisbeth auf Knieen vor ihm

nieder. Wenn du mich irgend, rief sie, mich und die Kinder, die ich dir geboren habe, in

deinem Herzen trägst; wenn wir nicht im voraus schon, um welcher Ursach willen, weiß ich

nicht, verstoßen sind: so sage mir, was diese entsetzlichen Anstalten zu bedeuten haben!

Kohlhaas sagte: liebstes Weib, nichts, das dich noch, so wie die Sachen stehn, beunruhigen

dürfte. Ich habe eine Resolution erhalten, in welcher man mir sagt, daß meine Klage gegen

den Junker Wenzel von Tronka eine nichtsnutzige Stänkerei sei. Und weil hier ein

Mißverständnis obwalten muß: so habe ich mich entschlossen, meine Klage noch einmal,

persönlich bei dem Landesherrn selbst, einzureichen. - Warum willst du dein Haus verkaufen?

rief sie, indem sie mit einer verstörten Gebärde, aufstand. Der Roßkamm, indem er sie sanft an

seine Brust drückte, erwiderte: weil ich in einem Lande, liebste Lisbeth, in welchem man mich,

in meinen Rechten, nicht schützen will, nicht bleiben mag. Lieber ein Hund sein, wenn ich von

Füßen getreten werden soll, als ein Mensch! Ich bin gewiß, daß meine Frau hierin so denkt, als

ich. - Woher weißt du, fragte jene wild, daß man dich in deinen Rechten nicht schützen wird?

Wenn du dem Herrn bescheiden, wie es dir zukommt, mit deiner Bittschrift nahst: woher

weißt du, daß sie beiseite geworfen, oder mit Verweigerung, dich zu hören, beantwortet

werden wird? - Wohlan, antwortete Kohlhaas, wenn meine Furcht hierin ungegründet ist, so

ist auch mein Haus noch nicht verkauft. Der Herr selbst, weiß ich, ist gerecht; und wenn es mir

nur gelingt, durch die, die ihn umringen, bis an seine Person zu kommen, so zweifle ich nicht,

ich verschaffe mir Recht, und kehre fröhlich, noch ehe die Woche verstreicht, zu dir und

meinen alten Geschäften zurück. Möcht ich alsdann noch, setzt' er hinzu, indem er sie küßte,

bis an das Ende meines Lebens bei dir verharren! - Doch ratsam ist es, fuhr er fort, daß ich mich

auf jeden Fall gefaßt mache; und daher wünschte ich, daß du dich, auf einige Zeit, wenn es sein

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kann, entferntest, und mit den Kindern zu deiner Muhme nach Schwerin gingst, die du

überdies längst hast besuchen wollen. - Wie? rief die Hausfrau. Ich soll nach Schwerin gehen?

über die Grenze mit den Kindern, zu meiner Muhme nach Schwerin? Und das Entsetzen

erstickte ihr die Sprache. - Allerdings, antwortete Kohlhaas, und das, wenn es sein kann, gleich,

damit ich in den Schritten, die ich für meine Sache tun will, durch keine Rücksichten gestört

werde. - »O! ich verstehe dich!« rief sie. »Du brauchst jetzt nichts mehr, als Waffen und Pferde;

alles andere kann nehmen, wer will!« Und damit wandte sie sich, warf sich auf einen Sessel

nieder, und weinte. Kohlhaas sagte betroffen: liebste Lisbeth, was machst du? Gott hat mich

mit Weib und Kindern und Gütern gesegnet; soll ich heute zum erstenmal wünschen, daß es

anders wäre? - - - Er setzte sich zu ihr, die ihm, bei diesen Worten, errötend um den Hals

gefallen war, freundlich nieder. - Sag mir an, sprach er, indem er ihr die Locken von der Stirne

strich: was soll ich tun? Soll ich meine Sache aufgeben? Soll ich nach der Tronkenburg gehen,

und den Ritter bitten, daß er mir die Pferde wieder gebe, mich aufschwingen, und sie dir

herreiten? - Lisbeth wagte nicht: ja! ja! ja! zu sagen - sie schüttelte weinend mit dem Kopf, sie

drückte ihn heftig an sich, und überdeckte mit heißen Küssen seine Brust. »Nun also!« rief

Kohlhaas. »Wenn du fühlst, daß mir, falls ich mein Gewerbe forttreiben soll, Recht werden

muß: so gönne mir auch die Freiheit, die mir nötig ist, es mir zu verschaffen!« Und damit stand

er auf, und sagte dem Knecht, der ihm meldete, daß der Fuchs gesattelt stünde: morgen

müßten auch die Braunen eingeschirrt werden, um seine Frau nach Schwerin zu führen.

Lisbeth sagte: sie habe einen Einfall! Sie erhob sich, wischte sich die Tränen aus den Augen,

und fragte ihn, der sich an einem Pult niedergesetzt hatte: ob er ihr die Bittschrift geben, und

sie, statt seiner, nach Berlin gehen lassen wolle, um sie dem Landesherrn zu überreichen.

Kohlhaas, von dieser Wendung, um mehr als einer Ursach willen, gerührt, zog sie auf seinen

Schoß nieder, und sprach: liebste Frau, das ist nicht wohl möglich! Der Landesherr ist vielfach

umringt, mancherlei Verdrießlichkeiten ist der ausgesetzt, der ihm naht. Lisbeth versetzte,

daß es in tausend Fällen einer Frau leichter sei, als einem Mann, ihm zu nahen. Gib mir die

Bittschrift, wiederholte sie; und wenn du weiter nichts willst, als sie in seinen Händen wissen,

so verbürge ich mich dafür: er soll sie bekommen! Kohlhaas, der von ihrem Mut sowohl, als

ihrer Klugheit, mancherlei Proben hatte, fragte, wie sie es denn anzustellen denke; worauf sie,

indem sie verschämt vor sich niedersah, erwiderte: daß der Kastellan des kurfürstlichen

Schlosses, in früheren Zeiten, da er zu Schwerin in Diensten gestanden, um sie geworben

habe; daß derselbe zwar jetzt verheiratet sei, und mehrere Kinder habe; daß sie aber immer

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noch nicht ganz vergessen wäre; - und kurz, daß er es ihr nur überlassen möchte, aus diesem

und manchem andern Umstand, der zu beschreiben zu weitläufig wäre, Vorteil zu ziehen.

Kohlhaas küßte sie mit vieler Freude, sagte, daß er ihren Vorschlag annähme, belehrte sie, daß

es weiter nichts bedürfe, als einer Wohnung bei der Frau desselben, um den Landesherrn, im

Schlosse selbst, anzutreten, gab ihr die Bittschrift, ließ die Braunen anspannen, und schickte

sie mit Sternbald, seinem treuen Knecht, wohleingepackt ab.

Diese Reise war aber von allen erfolglosen Schritten, die er in seiner Sache getan hatte, der

allerunglücklichste. Denn schon nach wenigen Tagen zog Sternbald in den Hof wieder ein,

Schritt vor Schritt den Wagen führend, in welchem die Frau, mit einer gefährlichen

Quetschung an der Brust, ausgestreckt darnieder lag. Kohlhaas, der bleich an das Fuhrwerk

trat, konnte nichts Zusammenhängendes über das, was dieses Unglück verursacht hatte,

erfahren. Der Kastellan war, wie der Knecht sagte, nicht zu Hause gewesen; man war also

genötigt worden, in einem Wirtshause, das in der Nähe des Schlosses lag, abzusteigen; dies

Wirtshaus hatte Lisbeth am andern Morgen verlassen, und dem Knecht befohlen, bei den

Pferden zurückzubleiben; und eher nicht, als am Abend, sei sie, in diesem Zustand,

zurückgekommen. Es schien, sie hatte sich zu dreist an die Person des Landesherrn

vorgedrängt, und, ohne Verschulden desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die

ihn umringte, einen Stoß, mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten. Wenigstens

berichteten die Leute so, die sie, in bewußtlosem Zustand, gegen Abend in den Gasthof

brachten; denn sie selbst konnte, von aus dem Mund vorquellendem Blute gehindert, wenig

sprechen. Die Bittschrift war ihr nachher durch einen Ritter abgenommen worden. Sternbald

sagte, daß es sein Wille gewesen sei, sich gleich auf ein Pferd zu setzen, und ihm von diesem

unglücklichen Vorfall Nachricht zu geben; doch sie habe, trotz der Vorstellungen des

herbeigerufenen Wundarztes, darauf bestanden, ohne alle vorgängige Benachrichtigungen,

zu ihrem Manne nach Kohlhaasenbrück abgeführt zu werden. Kohlhaas brachte sie, die von

der Reise völlig zu Grunde gerichtet worden war, in ein Bett, wo sie, unter schmerzhaften

Bemühungen, Atem zu holen, noch einige Tage lebte. Man versuchte vergebens, ihr das

Bewußtsein wieder zu geben, um über das, was vorgefallen war, einige Aufschlüsse zu

erhalten; sie lag, mit starrem, schon gebrochenen Auge, da, und antwortete nicht. Nur kurz vor

ihrem Tode kehrte ihr noch einmal die Besinnung wieder. Denn da ein Geistlicher

lutherischer Religion (zu welchem eben damals aufkeimenden Glauben sie sich, nach dem

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Beispiel ihres Mannes, bekannt hatte) neben ihrem Bette stand, und ihr mit lauter und

empfindlich-feierlicher Stimme, ein Kapitel aus der Bibel vorlas: so sah sie ihn plötzlich, mit

einem finstern Ausdruck, an, nahm ihm, als ob ihr daraus nichts vorzulesen wäre, die Bibel aus

der Hand, blätterte und blätterte, und schien etwas darin zu suchen; und zeigte dem Kohlhaas,

der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: »Vergib deinen Feinden; tue wohl auch

denen, die dich hassen.« - Sie drückte ihm dabei mit einem überaus seelenvollen Blick die

Hand, und starb. - Kohlhaas dachte: »so möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker

vergebe!« küßte sie, indem ihm häufig die Tränen flossen, drückte ihr die Augen zu, und

verließ das Gemach. Er nahm die hundert Goldgülden, die ihm der Amtmann schon, für die

Ställe in Dresden, zugefertigt hatte, und bestellte ein Leichenbegräbnis, das weniger für sie,

als für eine Fürstin, angeordnet schien: ein eichener Sarg, stark mit Metall beschlagen, Kissen

von Seide, mit goldnen und silbernen Troddeln, und ein Grab von acht Ellen Tiefe, mit

Feldsteinen gefüttert und Kalk. Er stand selbst, sein jüngstes auf dem Arm, bei der Gruft, und

sah der Arbeit zu. Als der Begräbnistag kam, ward die Leiche, weiß wie Schnee, in einen Saal

aufgestellt, den er mit schwarzem Tuch hatte beschlagen lassen. Der Geistliche hatte eben

eine rührende Rede an ihrer Bahre vollendet, als ihm die landesherrliche Resolution auf die

Bittschrift zugestellt ward, welche die Abgeschiedene übergeben hatte, des Inhalts: er solle

die Pferde von der Tronkenburg abholen, und bei Strafe, in das Gefängnis geworfen zu

werden, nicht weiter in dieser Sache einkommen. Kohlhaas steckte den Brief ein, und ließ den

Sarg auf den Wagen bringen. Sobald der Hügel geworfen, das Kreuz darauf gepflanzt, und die

Gäste, die die Leiche bestattet hatten, entlassen waren, warf er sich noch einmal vor ihrem,

nun verödeten Bette nieder, und übernahm sodann das Geschäft der Rache. Er setzte sich

nieder und verfaßte einen Rechtsschluß, in welchem er den Junker Wenzel von Tronka, kraft

der ihm angebotenen Macht, verdammte, die Rappen, die er ihm abgenommen, und auf den

Feldern zu Grunde gerichtet, binnen drei Tagen nach Sicht, nach Kohlhaasenbrück zu führen,

und in Person in seinen Ställen dick zu füttern. Diesen Schluß sandte er durch einen reitenden

Boten an ihn ab, und instruierte denselben, flugs nach Übergabe des Papiers, wieder bei ihm

in Kohlhaasenbrück zu sein. Da die drei Tage, ohne Überlieferung der Pferde, verflossen, so rief

er Hersen; eröffnete ihm, was er dem Jungherrn, die Dickfütterung derselben anbetreffend,

aufgegeben; fragte ihn zweierlei, ob er mit ihm nach der Tronkenburg reiten und den

Jungherrn holen; auch, ob er über den Hergeholten, wenn er bei Erfüllung des

Rechtsschlusses in den Ställen von Kohlhaasenbrück, faul sei, die Peitsche führen wolle? und

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da Herse, so wie er ihn nur verstanden hatte: »Herr, heute noch!« aufjauchzte, und, indem er

die Mütze in die Höhe warf, versicherte: einen Riemen, mit zehn Knoten, um ihm das Striegeln

zu lehren, lasse er sich flechten! so verkaufte Kohlhaas das Haus, schickte die Kinder, in einen

Wagen gepackt, über die Grenze; rief, bei Anbruch der Nacht, auch die übrigen Knechte

zusammen, sieben an der Zahl, treu ihm jedweder, wie Gold; bewaffnete und beritt sie, und

brach nach der Tronkenburg auf.

Er fiel auch, mit diesem kleinen Haufen, schon, beim Einbruch der dritten Nacht, den

Zollwärter und Torwächter, die im Gespräch unter dem Tor standen, niederreitend, in die

Burg, und während, unter plötzlicher Aufprasselung aller Baracken im Schloßraum, die sie mit

Feuer bewarfen, Herse, über die Windeltreppe, in den Turm der Vogtei eilte, und den

Schloßvogt und Verwalter, die, halb entkleidet, beim Spiel saßen, mit Hieben und Stichen

überfiel, stürzte Kohlhaas zum Junker Wenzel ins Schloß. Der Engel des Gerichts fährt also vom

Himmel herab; und der Junker, der eben, unter vielem Gelächter, dem Troß junger Freunde,

der bei ihm war, den Rechtsschluß, den ihm der Roßkamm übermacht hatte, vorlas, hatte nicht

sobald dessen Stimme im Schloßhof vernommen: als er den Herren schon, plötzlich

leichenbleich: Brüder, rettet euch! zurief, und verschwand. Kohlhaas, der, beim Eintritt in den

Saal, einen Junker Hans von Tronka, der ihm entgegen kam, bei der Brust faßte, und in den

Winkel des Saals schleuderte, daß er sein Hirn an den Steinen versprützte, fragte, während die

Knechte die anderen Ritter, die zu den Waffen gegriffen hatten, überwältigten, und

zerstreuten: wo der Junker Wenzel von Tronka sei? Und da er, bei der Unwissenheit der

betäubten Männer, die Türen zweier Gemächer, die in die Seitenflügel des Schlosses führten,

mit einem Fußtritt sprengte, und in allen Richtungen, in denen er das weitläufige Gebäude

durchkreuzte, niemanden fand, so stieg er fluchend in den Schloßhof hinab, um die Ausgänge

besetzen zu lassen. Inzwischen war, vom Feuer der Baracken ergriffen, nun schon das Schloß,

mit allen Seitengebäuden, starken Rauch gen Himmel qualmend, angegangen, und während

Sternbald, mit drei geschäftigen Knechten, alles, was nicht niet- und nagelfest war,

zusammenschleppten, und zwischen den Pferden, als gute Beute, umstürzten, flogen, unter

dem Jubel Hersens, aus den offenen Fenstern der Vogtei, die Leichen des Schloßvogts und

Verwalters, mit Weib und Kindern, herab. Kohlhaas, dem sich, als er die Treppe vom Schloß

niederstieg, die alte, von der Gicht geplagte Haushälterin, die dem Junker die Wirtschaft

führte, zu Füßen warf, fragte sie, indem er auf der Stufe stehen blieb: wo der Junker Wenzel

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von Tronka sei? und da sie ihm, mit schwacher, zitternder Stimme, zur Antwort gab: sie glaube,

er habe sich in die Kapelle geflüchtet; so rief er zwei Knechte mit Fackeln, ließ in Ermangelung

der Schlüssel, den Eingang mit Brechstangen und Beilen eröffnen, kehrte Altäre und Bänke

um, und fand gleichwohl, zu seinem grimmigen Schmerz, den Junker nicht. Es traf sich, daß ein

junger, zum Gesinde der Tronkenburg gehöriger Knecht, in dem Augenblick, da Kohlhaas aus

der Kapelle zurückkam, herbeieilte, um aus einem weitläufigen, steinernen Stall, den die

Flamme bedrohte, die Streithengste des Junkers herauszuziehen. Kohlhaas, der, in eben

diesem Augenblick, in einem kleinen, mit Stroh bedeckten Schuppen, seine beiden Rappen

erblickte, fragte den Knecht: warum er die Rappen nicht rette? und da dieser, indem er den

Schlüssel in die Stalltür steckte, antwortete: der Schuppen stehe ja schon in Flammen; so warf

Kohlhaas den Schlüssel, nachdem er ihm mit Heftigkeit aus der Stalltüre gerissen, über die

Mauer, trieb den Knecht, mit hageldichten, flachen Hieben der Klinge, in den brennenden

Schuppen hinein, und zwang ihn, unter entsetzlichem Gelächter der Umstehenden, die

Rappen zu retten. Gleichwohl, als der Knecht schreckenblaß, wenige Momente nachdem der

Schuppen hinter ihm zusammenstürzte, mit den Pferden, die er an der Hand hielt, daraus

hervortrat, fand er den Kohlhaas nicht mehr; und da er sich zu den Knechten auf den

Schloßplatz begab, und den Roßhändler, der ihm mehreremal den Rücken zukehrte, fragte:

was er mit den Tieren nun anfangen solle? - hob dieser plötzlich, mit einer fürchterlichen

Gebärde, den Fuß, daß der Tritt, wenn er ihn getan hätte, sein Tod gewesen wäre: bestieg,

ohne ihm zu antworten, seinen Braunen, setzte sich unter das Tor der Burg, und erharrte,

inzwischen die Knechte ihr Wesen forttrieben, schweigend den Tag.

Als der Morgen anbrach, war das ganze Schloß, bis auf die Mauern, niedergebrannt, und

niemand befand sich mehr darin, als Kohlhaas und seine sieben Knechte. Er stieg vom Pferde,

und untersuchte noch einmal, beim hellen Schein der Sonne, den ganzen, in allen seinen

Winkeln jetzt von ihr erleuchteten Platz, und da er sich, so schwer es ihm auch ward,

überzeugen mußte, daß die Unternehmung auf die Burg fehlgeschlagen war, so schickte er,

die Brust voll Schmerz und Jammer, Hersen mit einigen Knechten aus, um über die Richtung,

die der Junker auf seiner Flucht genommen, Nachricht einzuziehen. Besonders beunruhigte

ihn ein reiches Fräuleinstift, namens Erlabrunn, das an den Ufern der Mulde lag, und dessen

Äbtissin, Antonia von Tronka, als eine fromme, wohltätige und heilige Frau, in der Gegend

bekannt war; denn es schien dem unglücklichen Kohlhaas nur zu wahrscheinlich, daß der

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Junker sich, entblößt von aller Notdurft, wie er war, in dieses Stift geflüchtet hatte, indem die

Äbtissin seine leibliche Tante und die Erzieherin seiner ersten Kindheit war. Kohlhaas,

nachdem er sich von diesem Umstand unterrichtet hatte, bestieg den Turm der Vogtei, in

dessen Innerem sich noch ein Zimmer, zur Bewohnung brauchbar, darbot, und verfaßte ein

sogenanntes »Kohlhaasisches Mandat«, worin er das Land aufforderte, dem Junker Wenzel von

Tronka, mit dem er in einem gerechten Krieg liege, keinen Vorschub zu tun, vielmehr jeden

Bewohner, seine Verwandten und Freunde nicht ausgenommen, verpflichtete, denselben bei

Strafe Leibes und des Lebens, und unvermeidlicher Einäscherung alles dessen, was ein

Besitztum heißen mag, an ihn auszuliefern. Diese Erklärung streute er, durch Reisende und

Fremde, in der Gegend aus; ja, er gab Waldmann, dem Knecht, eine Abschrift davon, mit dem

bestimmten Auftrage, sie in die Hände der Dame Antonia nach Erlabrunn zu bringen. Hierauf

besprach er einige Tronkenburgische Knechte, die mit dem Junker unzufrieden waren, und

von der Aussicht auf Beute gereizt, in seine Dienste zu treten wünschten; bewaffnete sie, nach

Art des Fußvolks, mit Armbrüsten und Dolchen, und lehrte sie, hinter den berittenen

Knechten aufsitzen; und nachdem er alles, was der Troß zusammengeschleppt hatte, zu Geld

gemacht und das Geld unter denselben verteilt hatte, ruhete er einige Stunden, unter dem

Burgtor, von seinen jämmerlichen Geschäften aus.

Gegen Mittag kam Herse und bestätigte ihm, was ihm sein Herz, immer auf die trübsten

Ahnungen gestellt, schon gesagt hatte: nämlich, daß der Junker in dem Stift zu Erlabrunn, bei

der alten Dame Antonia von Tronka, seiner Tante, befindlich sei. Es schien, er hatte sich, durch

eine Tür, die, an der hinteren Wand des Schlosses, in die Luft hinausging, über eine schmale,

steinerne Treppe gerettet, die, unter einem kleinen Dach, zu einigen Kähnen in die Elbe

hinablief. Wenigstens berichtete Herse, daß er, in einem Elbdorf, zum Befremden der Leute,

die wegen des Brandes in der Tronkenburg versammelt gewesen, um Mitternacht, in einem

Nachen, ohne Steuer und Ruder, angekommen, und mit einem Dorffuhrwerk nach Erlabrunn

weiter gereiset sei. - - - Kohlhaas seufzte bei dieser Nachricht tief auf; er fragte, ob die Pferde

gefressen hätten? und da man ihm antwortete: ja: so ließ er den Haufen aufsitzen, und stand

schon in drei Stunden vor Erlabrunn. Eben, unter dem Gemurmel eines entfernten Gewitters

am Horizont, mit Fackeln, die er sich vor dem Ort angesteckt, zog er mit seiner Schar in den

Klosterhof ein, und Waldmann, der Knecht, der ihm entgegen trat, meldete ihm, daß das

Mandat richtig abgegeben sei, als er die Äbtissin und den Stiftsvogt, in einem verstörten

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Wortwechsel, unter das Portal des Klosters treten sah; und während jener, der Stiftsvogt, ein

kleiner, alter, schneeweißer Mann, grimmige Blicke auf Kohlhaas schießend, sich den Harnisch

anlegen ließ, und den Knechten, die ihn umringten, mit dreister Stimme zurief, die

Sturmglocke zu ziehn: trat jene, die Stiftsfrau, das silberne Bildnis des Gekreuzigten in der

Hand, bleich, wie Linnenzeug, von der Rampe herab, und warf sich mit allen ihren Jungfrauen,

vor Kohlhaasens Pferd nieder. Kohlhaas, während Herse und Sternbald den Stiftsvogt, der kein

Schwert in der Hand hatte, überwältigten, und als Gefangenen zwischen die Pferde führten,

fragte sie: wo der Junker Wenzel von Tronka sei? und da sie, einen großen Ring mit Schlüsseln

von ihrem Gurt loslösend: in Wittenberg, Kohlhaas, würdiger Mann! antwortete, und, mit

bebender Stimme, hinzusetzte: fürchte Gott und tue kein Unrecht! - so wandte Kohlhaas, in

die Hölle unbefriedigter Rache zurückgeschleudert, das Pferd, und war im Begriff: steckt an!

zu rufen, als ein ungeheurer Wetterschlag, dicht neben ihm, zur Erde niederfiel. Kohlhaas,

indem er sein Pferd zu ihr zurückwandte, fragte sie: ob sie sein Mandat erhalten? und da die

Dame mit schwacher, kaum hörbarer Stimme, antwortete: eben jetzt! - »Wann?« - Zwei

Stunden, so wahr mir Gott helfe, nach des Junkers, meines Vetters, bereits vollzogener

Abreise! - - - und Waldmann, der Knecht, zu dem Kohlhaas sich, unter finsteren Blicken,

umkehrte, stotternd diesen Umstand bestätigte, indem er sagte, daß die Gewässer der Mulde,

vom Regen geschwellt, ihn verhindert hätten, früher, als eben jetzt, einzutreffen: so sammelte

sich Kohlhaas; ein plötzlich furchtbarer Regenguß, der die Fackeln verlöschend, auf das

Pflaster des Platzes niederrauschte, löste den Schmerz in seiner unglücklichen Brust; er

wandte, indem er kurz den Hut vor der Dame rückte, sein Pferd, drückte ihm, mit den Worten:

folgt mir meine Brüder; der Junker ist in Wittenberg! die Sporen ein, und verließ das Stift.

Er kehrte, da die Nacht einbrach, in einem Wirtshause auf der Landstraße ein, wo er, wegen

großer Ermüdung der Pferde, einen Tag ausruhen mußte, und da er wohl einsah, daß er mit

einem Haufen von zehn Mann (denn so stark war er jetzt), einem Platz wie Wittenberg war,

nicht trotzen konnte, so verfaßte er ein zweites Mandat, worin er, nach einer kurzen

Erzählung dessen, was ihm im Lande begegnet, »jeden guten Christen«, wie er sich

ausdrückte, »unter Angelobung eines Handgelds und anderer kriegerischen Vorteile«,

aufforderte »seine Sache gegen den Junker von Tronka, als dem allgemeinen Feind aller

Christen, zu ergreifen«. In einem anderen Mandat, das bald darauf erschien, nannte er sich:

»einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn«; eine Schwärmerei

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krankhafter und mißgeschaffener Art, die ihm gleichwohl, bei dem Klang seines Geldes und

der Aussicht auf Beute, unter dem Gesindel, das der Friede mit Polen außer Brot gesetzt hatte,

Zulauf in Menge verschaffte: dergestalt, daß er in der Tat dreißig und etliche Köpfe zählte, als

er sich, zur Einäscherung von Wittenberg, auf die rechte Seite der Elbe zurückbegab. Er

lagerte sich, mit Pferden und Knechten, unter dem Dache einer alten verfallenen

Ziegelscheune, in der Einsamkeit eines finsteren Waldes, der damals diesen Platz umschloß,

und hatte nicht sobald durch Sternbald, den er, mit dem Mandat, verkleidet in die Stadt

schickte, erfahren, daß das Mandat daselbst schon bekannt sei, als er auch mit seinen Haufen

schon, am heiligen Abend vor Pfingsten, aufbrach, und den Platz, während die Bewohner im

tiefsten Schlaf lagen, an mehreren Ecken zugleich, in Brand steckte. Dabei klebte er, während

die Knechte in der Vorstadt plünderten, ein Blatt an den Türpfeiler einer Kirche an, des Inhalts:

»er, Kohlhaas, habe die Stadt in Brand gesteckt, und werde sie, wenn man ihm den Junker nicht

ausliefere, dergestalt einäschern, daß er«, wie er sich ausdrückte, »hinter keiner Wand werde

zu sehen brauchen, um ihn zu finden.« - Das Entsetzen der Einwohner, über diesen unerhörten

Frevel, war unbeschreiblich; und die Flamme, die bei einer zum Glück ziemlich ruhigen

Sommernacht, zwar nicht mehr als neunzehn Häuser, worunter gleichwohl eine Kirche war, in

den Grund gelegt hatte, war nicht sobald, gegen Anbruch des Tages, einigermaßen gedämpft

worden, als der alte Landvogt, Otto von Gorgas, bereits ein Fähnlein von funfzig Mann

aussandte, um den entsetzlichen Wüterich aufzuheben. Der Hauptmann aber, der es führte,

namens Gerstenberg, benahm sich so schlecht dabei, daß die ganze Expedition Kohlhaasen,

statt ihn zu stürzen, vielmehr zu einem höchst gefährlichen kriegerischen Ruhm verhalf; denn

da dieser Kriegsmann sich in mehrere Abteilungen auflösete, um ihn, wie er meinte, zu

umzingeln und zu erdrücken, ward er von Kohlhaas, der seinen Haufen zusammenhielt, auf

vereinzelten Punkten, angegriffen und geschlagen, dergestalt, daß schon, am Abend des

nächstfolgenden Tages, kein Mann mehr von dem ganzen Haufen, auf den die Hoffnung des

Landes gerichtet war, gegen ihm im Felde stand. Kohlhaas, der durch diese Gefechte einige

Leute eingebüßt hatte, steckte die Stadt, am Morgen des nächsten Tages, von neuem in Brand,

und seine mörderischen Anstalten waren so gut, daß wiederum eine Menge Häuser, und fast

alle Scheunen der Vorstadt, in die Asche gelegt wurden. Dabei plackte er das bewußte Mandat

wieder, und zwar an die Ecken des Rathauses selbst, an, und fügte eine Nachricht über das

Schicksal des, von dem Landvogt abgeschickten und von ihm zu Grunde gerichteten,

Hauptmanns von Gerstenberg bei. Der Landvogt, von diesem Trotz aufs äußerste entrüstet,

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setzte sich selbst, mit mehreren Rittern, an die Spitze eines Haufens von hundert und funfzig

Mann. Er gab dem Junker Wenzel von Tronka, auf seine schriftliche Bitte, eine Wache, die ihn

vor der Gewalttätigkeit des Volks, das ihn platterdings aus der Stadt entfernt wissen wollte,

schützte; und nachdem er, auf allen Dörfern in der Gegend, Wachen ausgestellt, auch die

Ringmauer der Stadt, um sie vor einem Überfall zu decken, mit Posten besetzt hatte, zog er,

am Tage des heiligen Gervasius, selbst aus, um den Drachen, der das Land verwüstete, zu

fangen. Diesen Haufen war der Roßkamm klug genug, zu vermeiden; und nachdem er den

Landvogt, durch geschickte Märsche, fünf Meilen von der Stadt hinweggelockt, und

vermitteltet mehrerer Anstalten, die er traf, zu dem Wahn verleitet hatte, daß er sich, von der

Übermacht gedrängt, ins Brandenburgische werfen würde: wandte er sich plötzlich, beim

Einbruch der dritten Nacht, kehrte, in einem Gewaltritt, nach Wittenberg zurück, und steckte

die Stadt zum drittenmal in Brand. Herse, der sich verkleidet in die Stadt schlich, führte dieses

entsetzliche Kunststück aus; und die Feuersbrunst war, wegen eines scharf wehenden

Nordwindes, so verderblich und um sich fressend, daß, in weniger als drei Stunden, zwei und

vierzig Häuser, zwei Kirchen, mehrere Klöster und Schulen, und das Gebäude der

kurfürstlichen Landvogtei selbst, in Schutt und Asche lagen. Der Landvogt, der seinen Gegner,

beim Anbruch des Tages, im Brandenburgischen glaubte, fand, als er von dem, was vorgefallen,

benachrichtigt, in bestürzten Märschen zurückkehrte, die Stadt in allgemeinem Aufruhr; das

Volk hatte sich zu Tausenden vor dem, mit Balken und Pfählen versammelten, Hause des

Junkers gelagert, und forderte, mit rasendem Geschrei, seine Abführung aus der Stadt. Zwei

Bürgermeister, namens Jenkens und Otto, die in Amtskleidern an der Spitze des ganzen

Magistrats gegenwärtig waren, bewiesen vergebens, daß man platterdings die Rückkehr eines

Eilboten abwarten müsse, den man wegen Erlaubnis den Junker nach Dresden bringen zu

dürfen, wohin er selbst aus mancherlei Gründen abzugehen wünsche, an den Präsidenten der

Staatskanzlei geschickt habe; der unvernünftige, mit Spießen und Stangen bewaffnete Haufen

gab auf diese Worte nichts, und eben war man, unter Mißhandlung einiger zu kräftigen

Maßregeln auffordernden Räte, im Begriff das Haus worin der Junker war zu stürmen, und der

Erde gleich zu machen, als der Landvogt, Otto von Gorgas, an der Spitze seines Reuterhaufens,

in der Stadt erschien. Diesem würdigen Herrn, der schon durch seine bloße Gegenwart dem

Volk Ehrfurcht und Gehorsam einzuflößen gewohnt war, war es, gleichsam zum Ersatz für die

fehlgeschlagene Unternehmung, von welcher er zurückkam, gelungen, dicht vor den Toren

der Stadt drei zersprengte Knechte von der Bande des Mordbrenners aufzufangen; und da er,

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inzwischen die Kerle vor dem Angesicht des Volks mit Ketten belastet wurden, den Magistrat

in einer klugen Anrede versicherte, den Kohlhaas selbst denke er in kurzem, indem er ihm auf

die Spur sei, gefesselt einzubringen: so glückte es ihm, durch die Kraft aller dieser

beschwichtigenden Umstände, die Angst des versammelten Volks zu entwaffnen, und über

die Anwesenheit des Junkers, bis zur Zurückkunft des Eilboten aus Dresden, einigermaßen zu

beruhigen. Er stieg, in Begleitung einiger Ritter, vom Pferde, und verfügte sich, nach

Wegräumung der Palisaden und Pfähle, in das Haus, wo er den Junker, der aus einer Ohnmacht

in die andere fiel, unter den Händen zweier Ärzte fand, die ihn mit Essenzen und Irritanzen

wieder ins Leben zurück zu bringen suchten; und da Herr Otto von Gorgas wohl fühlte, daß

dies der Augenblick nicht war, wegen der Aufführung, die er sich zu Schulden kommen lasse,

Worte mit ihm zu wechseln: so sagte er ihm bloß, mit einem Blick stiller Verachtung, daß er

sich ankleiden, und ihm, zu seiner eigenen Sicherheit, in die Gemächer der Ritterhaft folgen

möchte. Als man dem Junker ein Wams angelegt, und einen Helm aufgesetzt hatte, und er, die

Brust, wegen Mangels an Luft, noch halb offen, am Arm des Landvogts und seines Schwagers,

des Grafen von Gerschau, auf der Straße erschien, stiegen gotteslästerliche und entsetzliche

Verwünschungen gegen ihn zum Himmel auf. Das Volk, von den Landsknechten nur mühsam

zurückgehalten, nannte ihn einen Blutigel, einen elenden Landplager und Menschenquäler,

den Fluch der Stadt Wittenberg, und das Verderben von Sachsen; und nach einem

jämmerlichen Zuge durch die in Trümmern liegende Stadt, während welchem er

mehreremal, ohne ihn zu vermissen, den Helm verlor, den ihm ein Ritter von hinten wieder

aufsetzte, erreichte man endlich das Gefängnis, wo er in einem Turm, unter dem Schutz einer

starken Wache, verschwand. Mittlerweile setzte die Rückkehr des Eilboten, mit der

kurfürstlichen Resolution, die Stadt in neue Besorgnis. Denn die Landesregierung, bei welcher

die Bürgerschaft von Dresden, in einer dringenden Supplik, unmittelbar eingekommen war,

wollte, vor Überwältigung des Mordbrenners, von dem Aufenthalt des Junkers in der Residenz

nichts wissen; vielmehr verpflichtete sie den Landvogt, denselben da, wo er sei, weil er

irgendwo sein müsse, mit der Macht, die ihm zu Gebote stehe, zu beschirmen: wogegen sie

der guten Stadt Wittenberg, zu ihrer Beruhigung, meldete, daß bereits ein Heerhaufen von

fünfhundert Mann, unter Anführung des Prinzen Friedrich von Meißen im Anzuge sei, um sie

vor den ferneren Belästigungen desselben zu beschützen. Der Landvogt, der wohl einsah, daß

eine Resolution dieser Art, das Volk keinesweges beruhigen konnte: denn nicht nur, daß

mehrere kleine Vorteile, die der Roßhändler, an verschiedenen Punkten, vor der Stadt

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erfochten, über die Stärke, zu der er herangewachsen, äußerst unangenehme Gerüchte

verbreiteten; der Krieg, den er, in der Finsternis der Nacht, durch verkleidetes Gesindel, mit

Pech, Stroh und Schwefel führte, hätte, unerhört und beispiellos, wie er war, selbst einen

größeren Schutz, als mit welchem der Prinz von Meißen heranrückte, unwirksam machen

können: der Landvogt, nach einer kurzen Überlegung, entschloß sich, die Resolution, die er

empfangen, ganz und gar zu unterdrücken. Er plackte bloß einen Brief, in welchem ihm der

Prinz von Meißen seine Ankunft meldete, an die Ecken der Stadt an; ein verdeckter Wagen,

der, beim Anbruch des Tages, aus dem Hofe des Herrenzwingers kam, fuhr, von vier schwer

bewaffneten Reutern begleitet, auf die Straße nach Leipzig hinaus, wobei die Reuter, auf eine

unbestimmte Art verlauten ließen, daß es nach der Pleißenburg gehe; und da das Volk über

den heillosen Junker, an dessen Dasein Feuer und Schwert gebunden, dergestalt

beschwichtigt war, brach er selbst, mit einem Haufen von dreihundert Mann, auf, um sich mit

dem Prinzen Friedrich von Meißen zu vereinigen. Inzwischen war Kohlhaas in der Tat, durch

die sonderbare Stellung, die er in der Welt einnahm, auf hundert und neun Köpfe

herangewachsen; und da er auch in Jassen einen Vorrat an Waffen aufgetrieben, und seine

Schar, auf das vollständigste, damit ausgerüstet hatte: so faßte er, von dem doppelten

Ungewitter, das auf ihn heranzog, benachrichtigt, den Entschluß, demselben, mit der

Schnelligkeit des Sturmwinds, ehe es über ihn zusammenschlüge, zu begegnen. Demnach

griff er schon, Tags darauf, den Prinzen von Meißen, in einem nächtlichen Überfall, bei

Mühlberg an; bei welchem Gefechte er zwar, zu seinem großen Leidwesen, den Herse

einbüßte, der gleich durch die ersten Schüsse an seiner Seite zusammenstürzte: durch diesen

Verlust erbittert aber, in einem drei Stunden langen Kampfe, den Prinzen, unfähig sich in dem

Flecken zu sammeln, so zurichtete, daß er beim Anbruch des Tages, mehrerer schweren

Wunden, und einer gänzlichen Unordnung seines Haufens wegen, genötigt war, den Rückweg

nach Dresden einzuschlagen. Durch diesen Vorteil tollkühn gemacht, wandte er sich, ehe

derselbe noch davon unterrichtet sein konnte, zu dem Landvogt zurück, fiel ihn bei dem Dorfe

Damerow, am hellen Mittag, auf freiem Felde an, und schlug sich, unter mörderischem Verlust

zwar, aber mit gleichen Vorteilen, bis in die sinkende Nacht mit ihm herum. Ja, er würde den

Landvogt, der sich in den Kirchhof zu Damerow geworfen hatte, am andern Morgen unfehlbar

mit dem Rest seines Haufens wieder angegriffen haben, wenn derselbe nicht durch

Kundschafter von der Niederlage, die der Prinz bei Mühlberg erlitten, benachrichtigt worden

wäre, und somit für ratsamer gehalten hätte, gleichfalls, bis auf einen besseren Zeitpunkt,

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nach Wittenberg zurückzukehren. Fünf Tage, nach Zersprengung dieser beiden Haufen, stand

er vor Leipzig, und steckte die Stadt an drei Seiten in Brand. - Er nannte sich in dem Mandat,

das er, bei dieser Gelegenheit, ausstreute, »einen Statthalter Michaels, des Erzengels, der

gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit

Feuer und Schwert, die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen«. Dabei

rief er, von dem Lützner Schloß aus, das er überrumpelt, und worin er sich festgesetzt hatte,

das Volk auf, sich zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge, an ihn anzuschließen; und

das Mandat war, mit einer Art von Verrückung, unterzeichnet: »Gegeben auf dem Sitz unserer

provisorischen Weltregierung, dem Erzschlosse zu Lützen.« Das Glück der Einwohner von

Leipzig wollte, daß das Feuer, wegen eines anhaltenden Regens der vom Himmel fiel, nicht

um sich griff, dergestalt, daß bei der Schnelligkeit der bestehenden Löschanstalten, nur einige

Kramläden, die um die Pleißenburg lagen, in Flammen aufloderten. Gleichwohl war die

Bestürzung in der Stadt, über das Dasein des rasenden Mordbrenners, und den Wahn, in

welchem derselbe stand, daß der Junker in Leipzig sei, unaussprechlich; und da ein Haufen von

hundert und achtzig Reisigen, den man gegen ihn ausschickte, zersprengt in die Stadt

zurückkam: so blieb dem Magistrat, der den Reichtum der Stadt nicht aussetzen wollte, nichts

anderes übrig, als die Tore gänzlich zu sperren, und die Bürgerschaft Tag und Nacht, außerhalb

der Mauern, wachen zu lassen. Vergebens ließ der Magistrat, auf den Dörfern der

umliegenden Gegend, Deklarationen anheften, mit der bestimmten Versicherung, daß der

Junker nicht in der Pleißenburg sei; der Roßkamm, in ähnlichen Blättern, bestand darauf, daß

er in der Pleißenburg sei, und erklärte, daß, wenn derselbe nicht darin befindlich wäre, er

mindestens verfahren würde, als ob er darin wäre, bis man ihm den Ort, mit Namen genannt,

werde angezeigt haben, worin er befindlich sei. Der Kurfürst, durch einen Eilboten, von der

Not, in welcher sich die Stadt Leipzig befand, benachrichtigt, erklärte, daß er bereits einen

Heerhaufen von zweitausend Mann zusammenzöge, und sich selbst an dessen Spitze setzen

würde, um den Kohlhaas zu fangen. Er erteilte dem Herrn Otto von Gorgas einen schweren

Verweis, wegen der zweideutigen und unüberlegten List, die er angewendet, um des

Mordbrenners aus der Gegend von Wittenberg loszuwerden; und niemand beschreibt die

Verwirrung, die ganz Sachsen und insbesondere die Residenz ergriff, als man daselbst erfuhr,

daß, auf den Dörfern bei Leipzig, man wußte nicht von wem, eine Deklaration an den Kohlhaas

angeschlagen worden sei, des Inhalts: »Wenzel, der Junker, befinde sich bei seinen Vettern

Hinz und Kunz, in Dresden.«

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Unter diesen Umständen übernahm der Doktor Martin Luther das Geschäft, den Kohlhaas,

durch die Kraft beschwichtigender Worte, von dem Ansehn, das ihm seine Stellung in der Welt

gab, unterstützt, in den Damm der menschlichen Ordnung zurückzudrücken, und auf ein

tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend, erließ er ein Plakat folgenden

Inhalts an ihn, das in allen Städten und Flecken des Kurfürstentums angeschlagen ward:

»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der Gerechtigkeit zu handhaben,

was unterfängst du dich, Vermessener, im Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den

Ungerechtigkeit selbst, vom Wirbel bis zur Sohle erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du

untertan bist, dein Recht verweigert hat, dein Recht in dem Streit um ein nichtiges Gut,

erhebst du dich, Heilloser, mit Feuer und Schwert, und brichst, wie der Wolf der Wüste, in die

friedliche Gemeinheit, die er beschirmt. Du, der die Menschen mit dieser Angabe, voll

Unwahrhaftigkeit und Arglist, verführt: meinst du, Sünder, vor Gott dereinst, an dem Tage, der

in die Falten aller Herzen scheinen wird, damit auszukommen? Wie kannst du sagen, daß dir

dein Recht verweigert worden ist, du, dessen grimmige Brust, vom Kitzel schnöder

Selbstrache gereizt, nach den ersten, leichtfertigen Versuchen, die dir gescheitert, die

Bemühung gänzlich aufgegeben hat, es dir zu verschaffen? Ist eine Bank voll Gerichtsdienern

und Schergen, die einen Brief, der gebracht wird, unterschlagen, oder ein Erkenntnis, das sie

abliefern sollen, zurückhalten, deine Obrigkeit? Und muß ich dir sagen, Gottvergessener, daß

deine Obrigkeit von deiner Sache nichts weiß - was sag ich? daß der Landesherr, gegen den du

dich auflehnst, auch deinen Namen nicht kennt, dergestalt, daß wenn dereinst du vor Gottes

Thron trittst, in der Meinung, ihn anzuklagen, er, heiteren Antlitzes, wird sprechen können:

diesem Mann, Herr, tat ich kein Unrecht, denn sein Dasein ist meiner Seele fremd? Das

Schwert, wisse, das du führst, ist das Schwert des Raubes und der Mordlust, ein Rebell bist du

und kein Krieger des gerechten Gottes, und dein Ziel auf Erden ist Rad und Galgen, und

jenseits die Verdammnis, die über die Missetat und die Gottlosigkeit verhängt ist.

Wittenberg, usw.

Martin Luther.«

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Kohlhaas wälzte eben, auf dem Schlosse zu Lützen, einen neuen Plan, Leipzig einzuäschern, in

seiner zerrissenen Brust herum: - denn auf die, in den Dörfern angeschlagene Nachricht, daß

der Junker Wenzel in Dresden sei, gab er nichts, weil sie von niemand, geschweige denn vom

Magistrat, wie er verlangt hatte, unterschrieben war: - als Sternbald und Waldmann das Plakat,

das, zur Nachtzeit, an den Torweg des Schlosses, angeschlagen worden war, zu ihrer großen

Bestürzung, bemerkten. Vergebens hofften sie, durch mehrere Tage, daß Kohlhaas, den sie

nicht gern deshalb antreten wollten, es erblicken würde; finster und in sich gekehrt, in der

Abendstunde erschien er zwar, aber bloß, um seine kurzen Befehle zu geben, und sah nichts:

dergestalt, daß sie an einem Morgen, da er ein paar Knechte, die in der Gegend, wider seinen

Willen, geplündert hatten, aufknöpfen lassen wollte, den Entschluß faßten, ihn darauf

aufmerksam zu machen. Eben kam er, während das Volk von beiden Seiten schüchtern

auswich, in dem Aufzuge, der ihm, seit seinem letzten Mandat, gewöhnlich war, von dem

Richtplatz zurück, ein großes Cherubsschwert, auf einem rotledernen Kissen, mit Quasten von

Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln folgten

ihm, da traten die beiden Männer, ihre Schwerter unter dem Arm, so, daß es ihn befremden

mußte, um den Pfeiler, an welchen das Plakat angeheftet war, herum. Kohlhaas, als er, mit auf

dem Rücken zusammengelegten Händen, in Gedanken vertieft, unter das Portal kam, schlug

die Augen auf und stutzte; und da die Knechte, bei seinem Anblick, ehrerbietig auswichen: so

trat er, indem er sie zerstreut ansah, mit einigen raschen Schritten, an den Pfeiler heran. Aber

wer beschreibt, was in seiner Seele vorging, als er das Blatt, dessen Inhalt ihn der

Ungerechtigkeit zieh, daran erblickte: unterzeichnet von dem teuersten und

verehrungswürdigsten Namen, den er kannte, von dem Namen Martin Luthers! Eine dunkle

Röte stieg in sein Antlitz empor; er durchlas es, indem er den Helm abnahm, zweimal von

Anfang bis zu Ende; wandte sich, mit ungewissen Blicken, mitten unter die Knechte zurück, als

ob er etwas sagen wollte, und sagte nichts; löste das Blatt von der Wand los, durchlas es noch

einmal; und rief: Waldmann! laß mir mein Pferd satteln! sodann: Sternbald! folge mir ins

Schloß! und verschwand. Mehr als dieser wenigen Worte bedurfte es nicht, um ihn, in der

ganzen Verderblichkeit, in der er dastand, plötzlich zu entwaffnen. Er warf sich in die

Verkleidung eines thüringischen Landpächters; sagte Sternbald, daß ein Geschäft, von

bedeutender Wichtigkeit, ihn nach Wittenberg zu reisen nötige; übergab ihm, in Gegenwart

einiger der vorzüglichsten Knechte, die Anführung des in Lützen zurückbleibenden Haufens;

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und zog, unter der Versicherung, daß er in drei Tagen, binnen welcher Zeit kein Angriff zu

fürchten sei, wieder zurück sein werde, nach Wittenberg ab.

Er kehrte, unter einem fremden Namen, in ein Wirtshaus ein, wo er, sobald die Nacht

angebrochen war, in seinem Mantel, und mit einem Paar Pistolen versehen, die er in der

Tronkenburg erbeutet hatte, zu Luthern ins Zimmer trat. Luther, der unter Schriften und

Büchern an seinem Pulte saß, und den fremden, besonderen Mann die Tür öffnen und hinter

sich verriegeln sah, fragte ihn: wer er sei? und was er wolle? und der Mann, der seinen Hut

ehrerbietig in der Hand hielt, hatte nicht sobald, mit dem schüchternen Vorgefühl des

Schreckens, den er verursachen würde, erwidert: daß er Michael Kohlhaas, der Roßhändler sei;

als Luther schon: weiche fern hinweg! ausrief, und indem er, vom Pult erstehend, nach einer

Klingel eilte, hinzusetzte: dein Odem ist Pest und deine Nähe Verderben! Kohlhaas, indem er,

ohne sich vom Platz zu regen, sein Pistol zog, sagte: Hochwürdiger Herr, dies Pistol, wenn Ihr

die Klingel rührt, streckt mich leblos zu Euren Füßen nieder! Setzt Euch und hört mich an;

unter den Engeln, deren Psalmen Ihr aufschreibt, seid Ihr nicht sicherer, als bei mir. Luther,

indem er sich niedersetzte, fragte: was willst du? Kohlhaas erwiderte: Eure Meinung von mir,

daß ich ein ungerechter Mann sei, widerlegen! Ihr habt mir in Eurem Plakat gesagt, daß meine

Obrigkeit von meiner Sache nichts weiß: wohlan, verschafft mir freies Geleit, so gehe ich nach

Dresden, und lege sie ihr vor. - »Heilloser und entsetzlicher Mann!« rief Luther, durch diese

Worte verwirrt zugleich und beruhigt: »wer gab dir das Recht, den Junker von Tronka, in

Verfolg eigenmächtiger Rechtsschlüsse, zu überfallen, und da du ihn auf seiner Burg nicht

fandst mit Feuer und Schwert die ganze Gemeinschaft heimzusuchen, die ihn beschirmt?«

Kohlhaas erwiderte: hochwürdiger Herr, niemand, fortan! Eine Nachricht, die ich aus Dresden

erhielt, hat mich getäuscht, mich verführt! Der Krieg, den ich mit der Gemeinheit der

Menschen führe, ist eine Missetat, sobald ich aus ihr nicht, wie Ihr mir die Versicherung

gegeben habt, verstoßen war! Verstoßen! rief Luther, indem er ihn ansah. Welch eine Raserei

der Gedanken ergriff dich? Wer hätte dich aus der Gemeinschaft des Staats, in welchem du

lebtest, verstoßen? Ja, wo ist, so lange Staaten bestehen, ein Fall, daß jemand, wer es auch sei,

daraus verstoßen worden wäre? - Verstoßen, antwortete Kohlhaas, indem er die Hand

zusammendrückte, nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses

Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es, dessenhalb ich

mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft flüchte; und wer mir ihn

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versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen,

die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand. - Wer hat dir den Schutz der Gesetze versagt?

rief Luther. Schrieb ich dir nicht, daß die Klage, die du eingereicht, dem Landesherrn, dem du

sie eingereicht, fremd ist? Wenn Staatsdiener hinter seinem Rücken Prozesse unterschlagen,

oder sonst seines geheiligten Namens, in seiner Unwissenheit, spotten; wer anders als Gott

darf ihn wegen der Wahl solcher Diener zur Rechenschaft ziehen, und bist du,

gottverdammter und entsetzlicher Mensch, befugt, ihn deshalb zu richten? - Wohlan,

versetzte Kohlhaas, wenn mich der Landesherr nicht verstößt, so kehre ich auch wieder in die

Gemeinschaft, die er beschirmt, zurück. Verschafft mir, ich wiederhol es, freies Geleit nach

Dresden: so lasse ich den Haufen, den ich im Schloß zu Lützen versammelt, auseinander gehen,

und bringe die Klage, mit der ich abgewiesen worden bin, noch einmal bei dem Tribunal des

Landes vor. - Luther, mit einem verdrießlichen Gesicht, warf die Papiere, die auf seinem Tisch

lagen, übereinander, und schwieg. Die trotzige Stellung, die dieser seltsame Mensch im Staat

einnahm, verdroß ihn; und den Rechtsschluß, den er, von Kohlhaasenbrück aus, an den Junker

erlassen, erwägend, fragte er: was er denn von dem Tribunal zu Dresden verlange? Kohlhaas

antwortete: Bestrafung des Junkers, den Gesetzen gemäß; Wiederherstellung der Pferde in

den vorigen Stand; und Ersatz des Schadens, den ich sowohl, als mein bei Mühlberg gefallener

Knecht Herse, durch die Gewalttat, die man an uns verübte, erlitten. - Luther rief: Ersatz des

Schadens! Summen zu Tausenden, bei Juden und Christen, auf Wechseln und Pfändern, hast du,

zur Bestreitung deiner wilden Selbstrache, aufgenommen. Wirst du den Wert auch, auf der

Rechnung, wenn es zur Nachfrage kommt, ansetzen? - Gott behüte! erwiderte Kohlhaas. Haus

und Hof, und den Wohlstand, den ich besessen, fordere ich nicht zurück; so wenig als die

Kosten des Begräbnisses meiner Frau! Hersens alte Mutter wird eine Berechnung der

Heilkosten, und eine Spezifikation dessen, was ihr Sohn in der Tronkenburg eingebüßt,

beibringen; und den Schaden, den ich wegen Nichtverkaufs der Rappen erlitten, mag die

Regierung durch einen Sachverständigen abschätzen lassen. - Luther sagte: rasender,

unbegreiflicher und entsetzlicher Mensch! und sah ihn an. Nachdem dein Schwert sich, an

dem Junker, Rache, die grimmigste, genommen, die sich erdenken läßt: was treibt dich, auf ein

Erkenntnis gegen ihn zu bestehen, dessen Schärfe, wenn es zuletzt fällt, ihn mit einem

Gewicht von so geringer Erheblichkeit nur trifft? - Kohlhaas erwiderte, indem ihm eine Träne

über die Wangen rollte: hochwürdiger Herr! es hat mich meine Frau gekostet; Kohlhaas will

der Welt zeigen, daß sie in keinem ungerechten Handel umgekommen ist. Fügt Euch in diesen

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Stücken meinem Willen, und laßt den Gerichtshof sprechen; in allem anderen, was sonst noch

streitig sein mag, füge ich mich Euch. - Luther sagte: schau her, was du forderst, wenn anders

die Umstände so sind, wie die öffentliche Stimme hören läßt, ist gerecht; und hättest du den

Streit, bevor du eigenmächtig zur Selbstrache geschritten, zu des Landesherrn Entscheidung

zu bringen gewußt, so wäre dir deine Forderung, zweifle ich nicht, Punkt vor Punkt bewilligt

worden. Doch hättest du nicht, alles wohl erwogen, besser getan, du hättest, um deines

Erlösers willen, dem Junker vergeben, die Rappen, dürre und abgehärmt, wie sie waren, bei

der Hand genommen, dich aufgesetzt, und zur Dickfütterung in deinen Stall nach

Kohlhaasenbrück heimgeritten? - Kohlhaas antwortete: kann sein! indem er ans Fenster trat:

kann sein, auch nicht! Hätte ich gewußt, daß ich sie mit Blut aus dem Herzen meiner lieben

Frau würde auf die Beine bringen müssen: kann sein, ich hätte getan, wie Ihr gesagt,

hochwürdiger Herr, und einen Scheffel Hafer nicht gescheut! Doch, weil sie mir einmal so

teuer zu stehen gekommen sind, so habe es denn, meine ich, seinen Lauf: laßt das Erkenntnis,

wie es mir zukömmt, sprechen, und den Junker mir die Rappen auffüttern. - - Luther sagte,

indem er, unter mancherlei Gedanken, wieder zu seinen Papieren griff: er wolle mit dem

Kurfürsten seinethalben in Unterhandlung treten. Inzwischen möchte er sich, auf dem

Schlosse zu Lützen, still halten; wenn der Herr ihm freies Geleit bewillige, so werde man es

ihm auf dem Wege öffentlicher Anplackung bekannt machen. - Zwar, fuhr er fort, da Kohlhaas

sich herabbog, um seine Hand zu küssen: ob der Kurfürst Gnade für Recht ergehen lassen wird,

weiß ich nicht; denn einen Heerhaufen, vernehm ich, zog er zusammen, und steht im Begriff,

dich im Schlosse zu Lützen aufzuheben: inzwischen, wie ich dir schon gesagt habe, an meinem

Bemühen soll es nicht liegen. Und damit stand er auf, und machte Anstalt, ihn zu entlassen.

Kohlhaas meinte, daß seine Fürsprache ihn über diesen Punkt völlig beruhige; worauf Luther

ihn mit der Hand grüßte, jener aber plötzlich ein Knie vor ihm senkte und sprach: er habe noch

eine Bitte auf seinem Herzen. Zu Pfingsten nämlich, wo er an den Tisch des Herrn zu gehen

pflege, habe er die Kirche, dieser seiner kriegerischen Unternehmungen wegen, versäumt; ob

er die Gewogenheit haben wolle, ohne weitere Vorbereitung, seine Beichte zu empfangen,

und ihm, zur Auswechselung dagegen, die Wohltat des heiligen Sakraments zu erteilen?

Luther, nach einer kurzen Besinnung, indem er ihn scharf ansah, sagte: ja, Kohlhaas, das will ich

tun! Der Herr aber, dessen Leib du begehrst, vergab seinem Feind. - Willst du, setzte er, da

jener ihn betreten ansah, hinzu, dem Junker, der dich beleidigt hat, gleichfalls vergeben: nach

der Tronkenburg gehen, dich auf deine Rappen setzen, und sie zur Dickfütterung nach

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Kohlhaasenbrück heimreisen? - »Hochwürdiger Herr«, sagte Kohlhaas errötend, indem er

seine Hand ergriff, - nun? - »der Herr auch vergab allen seinen Feinden nicht. Laßt mich den

Kurfürsten, meinen beiden Herren, dem Schloßvogt und Verwalter, den Herren Hinz und

Kunz, und wer mich sonst in dieser Sache gekränkt haben mag, vergeben: den Junker aber,

wenn es sein kann, nötigen, daß er mir die Rappen wieder dick füttere.« - Bei diesen Worten

kehrte ihm Luther, mit einem mißvergnüglichen Blick, den Rücken zu, und zog die Klingel.

Kohlhaas, während, dadurch herbeigerufen, ein Famulus sich mit Licht in dem Vorsaal

meldete, stand betreten, indem er sich die Augen trocknete, vom Boden auf; und da der

Famulus vergebens, weil der Riegel vorgeschoben war, an der Türe wirkte, Luther aber sich

wieder zu seinen Papieren niedergesetzt hatte: so machte Kohlhaas dem Mann die Türe auf.

Luther, mit einem kurzen, auf den fremden Mann gerichteten Seitenblick, sagte dem Famulus:

leuchte! worauf dieser, über den Besuch, den er erblickte, ein wenig befremdet, den

Hausschlüssel von der Wand nahm, und sich, auf die Entfernung desselben wartend, unter die

halboffene Tür des Zimmers zurückbegab. - Kohlhaas sprach, indem er seinen Hut bewegt

zwischen beide Hände nahm: und so kann ich, hochwürdigster Herr, der Wohltat versöhnt zu

werden, die ich mir von Euch erbat, nicht teilhaftig werden? Luther antwortete kurz: deinem

Heiland, nein; dem Landesherrn, - das bleibt einem Versuch, wie ich dir versprach,

vorbehalten! Und damit winkte er dem Famulus, das Geschäft, das er ihm aufgetragen, ohne

weiteren Aufschub, abzumachen. Kohlhaas legte, mit dem Ausdruck schmerzlicher

Empfindung, seine beiden Hände auf die Brust; folgte dem Mann, der ihm die Treppe hinunter

leuchtete, und verschwand.

Am anderen Morgen erließ Luther ein Sendschreiben an den Kurfürsten von Sachsen, worin

er, nach einem bitteren Seitenblick auf die seine Person umgebenden Herren Hinz und Kunz,

Kämmerer und Mundschenk von Tronka, welche die Klage, wie allgemein bekannt war,

untergeschlagen hatten, dem Herrn, mit der Freimütigkeit, die ihm eigen war, eröffnete, daß

bei so ärgerlichen Umständen, nichts anderes zu tun übrig sei, als den Vorschlag des

Roßhändlers anzunehmen, und ihm des Vorgefallenen wegen, zur Erneuerung seines

Prozesses, Amnestie zu erteilen. Die öffentliche Meinung, bemerkte er, sei auf eine höchst

gefährliche Weise, auf dieses Mannes Seite, dergestalt, daß selbst in dem dreimal von ihm

eingeäscherten Wittenberg, eine Stimme zu seinem Vorteil spreche; und da er sein

Anerbieten, falls er damit abgewiesen werden sollte, unfehlbar, unter gehässigen

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Bemerkungen, zur Wissenschaft des Volks bringen würde, so könne dasselbe leicht in dem

Grade verführt werden, daß mit der Staatsgewalt gar nichts mehr gegen ihn auszurichten sei.

Er schloß, daß man, in diesem außerordentlichen Fall, über die Bedenklichkeit, mit einem

Staatsbürger, der die Waffen ergriffen, in Unterhandlung zu treten, hinweggehen müsse; daß

derselbe in der Tat durch das Verfahren, das man gegen ihn beobachtet, auf gewisse Weise

außer der Staatsverbindung gesetzt worden sei; und kurz, daß man ihn, um aus dem Handel zu

kommen, mehr als eine fremde, in das Land gefallene Macht, wozu er sich auch, da er ein

Ausländer sei, gewissermaßen qualifiziere, als einen Rebellen, der sich gegen den Thron

auflehne, betrachten müsse. - Der Kurfürst erhielt diesen Brief eben, als der Prinz Christiern

von Meißen, Generalissimus des Reichs, Oheim des bei Mühlberg geschlagenen und an seinen

Wunden noch daniederliegenden Prinzen Friedrich von Meißen; der Großkanzler des

Tribunals, Graf Wrede; Graf Kallheim, Präsident der Staatskanzlei; und die beiden Herren Hinz

und Kunz von Tronka, dieser Kämmerer, jener Mundschenk, die Jugendfreunde und

Vertrauten des Herrn, in dem Schlosse gegenwärtig waren. Der Kämmerer, Herr Kunz, der, in

der Qualität eines Geheimenrats, des Herrn geheime Korrespondenz, mit der Befugnis, sich

seines Namens und Wappens zu bedienen, besorgte, nahm zuerst das Wort, und nachdem er

noch einmal weitläufig auseinander gelegt hatte, daß er die Klage, die der Roßhändler gegen

den Junker, seinen Vetter, bei dem Tribunal eingereicht, nimmermehr durch eine

eigenmächtige Verfügung niedergeschlagen haben würde, wenn er sie nicht, durch falsche

Angaben verführt, für eine völlig grundlose und nichtsnutzige Plackerei gehalten hätte, kam

er auf die gegenwärtige Lage der Dinge. Er bemerkte, daß, weder nach göttlichen noch

menschlichen Gesetzen, der Roßkamm, um dieses Mißgriffs willen, befugt gewesen wäre, eine

so ungeheure Selbstrache, als er sich erlaubt, auszuüben; schilderte den Glanz, der durch eine

Verhandlung mit demselben, als einer rechtlichen Kriegsgewalt, auf sein gottverdammtes

Haupt falle; und die Schmach, die dadurch auf die geheiligte Person des Kurfürsten

zurückspringe, schien ihm so unerträglich, daß er, im Feuer der Beredsamkeit, lieber das

Äußerste erleben, den Rechtsschluß des rasenden Rebellen erfüllt, und den Junker, seinen

Vetter, zur Dickfütterung der Rappen nach Kohlhaasenbrück abgeführt sehen, als den

Vorschlag, den der Doktor Luther gemacht, angenommen wissen wollte. Der Großkanzler des

Tribunals, Graf Wrede, äußerte, halb zu ihm gewandt, sein Bedauern, daß eine so zarte Sorgfalt,

als er, bei der Auflösung dieser allerdings mißlichen Sache, für den Ruhm des Herrn zeige, ihn

nicht, bei der ersten Veranlassung derselben, erfüllt hätte. Er stellte dem Kurfürsten sein

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Bedenken vor, die Staatsgewalt, zur Durchsetzung einer offenbar unrechtlichen Maßregel, in

Anspruch zu nehmen; bemerkte, mit einem bedeutenden Blick auf den Zulauf, den der

Roßhändler fortdauernd im Lande fand, daß der Faden der Freveltaten sich auf diese Weise ins

Unendliche fortzuspinnen drohe, und erklärte, daß nur ein schlichtes Rechttun, indem man

unmittelbar und rücksichtslos den Fehltritt, den man sich zu Schulden kommen lassen, wieder

gut machte, ihn abreißen und die Regierung glücklich aus diesem häßlichen Handel

herausziehen könne. Der Prinz Christiern von Meißen, auf die Frage des Herrn, was er davon

halte? äußerte, mit Verehrung gegen den Großkanzler gewandt: die Denkungsart, die er an

den Tag lege, erfülle ihn zwar mit dem größesten Respekt; indem er aber dem Kohlhaas zu

seinem Recht verhelfen wolle, bedenke er nicht daß er Wittenberg und Leipzig, und das

ganze durch ihn mißhandelte Land, in seinem gerechten Anspruch auf Schadenersatz, oder

wenigstens Bestrafung, beeinträchtige. Die Ordnung des Staats sei, in Beziehung auf diesen

Mann, so verrückt, daß man sie schwerlich durch einen Grundsatz, aus der Wissenschaft des

Rechts entlehnt, werde einrenken können. Daher stimme er, nach der Meinung des

Kämmerers, dafür, das Mittel, das für solche Fälle eingesetzt sei, ins Spiel zu ziehen: einen

Kriegshaufen, von hinreichender Größe zusammenzuraffen, und den Roßhändler, der in

Lützen aufgepflanzt sei, damit aufzuheben oder zu erdrücken. Der Kämmerer, indem er für ihn

und den Kurfürsten Stühle von der Wand nahm, und auf eine verbindliche Weise ins Zimmer

setzte, sagte: er freue sich, daß ein Mann von seiner Rechtschaffenheit und Einsicht mit ihm in

dem Mittel, diese Sache zweideutiger Art beizulegen, übereinstimme. Der Prinz, indem er

den Stuhl, ohne sich zu setzen, in der Hand hielt, und ihn ansah, versicherte ihn: daß er gar

nicht Ursache hätte sich deshalb zu freuen, indem die damit verbundene Maßregel

notwendig die wäre, einen Verhaftungsbefehl vorher gegen ihn zu erlassen, und wegen

Mißbrauchs des landesherrlichen Namens den Prozeß zu machen. Denn wenn Notwendigkeit

erfordere, den Schleier vor dem Thron der Gerechtigkeit niederzulassen, über eine Reihe von

Freveltaten, die unabsehbar wie sie sich forterzeugt, vor den Schranken desselben zu

erscheinen, nicht mehr Raum fänden, so gelte das nicht von der ersten, die sie veranlaßt; und

allererst seine Anklage auf Leben und Tod könne den Staat zur Zermalmung des Roßhändlers

bevollmächtigen, dessen Sache, wie bekannt, sehr gerecht sei, und dem man das Schwert, das

er führe, selbst in die Hand gegeben. Der Kurfürst, den der Junker bei diesen Worten betroffen

ansah, wandte sich, indem er über das ganze Gesicht rot ward, und trat ans Fenster. Der Graf

Kallheim, nach einer verlegenen Pause von allen Seiten, sagte, daß man auf diese Weise aus

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dem Zauberkreise, in dem man befangen, nicht herauskäme. Mit demselben Rechte könne

seinem Neffen, dem Prinzen Friedrich, der Prozeß gemacht werden; denn auch er hätte, auf

dem Streifzug sonderbarer Art, den er gegen den Kohlhaas unternommen, seine Instruktion

auf mancherlei Weise überschritten: dergestalt, daß wenn man nach der weitläufigen Schar

derjenigen frage, die die Verlegenheit, in welcher man sich befinde, veranlaßt, er gleichfalls

unter die Zahl derselben würde benannt, und von dem Landesherrn wegen dessen was bei

Mühlberg vorgefallen, zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Der Mundschenk, Herr Hinz

von Tronka, während der Kurfürst mit ungewissen Blicken an seinen Tisch trat, nahm das Wort

und sagte: er begriffe nicht, wie der Staatsbeschluß, der zu fassen sei, Männern von solcher

Weisheit, als hier versammelt wären, entgehen könne. Der Roßhändler habe, seines Wissens,

gegen bloß freies Geleit nach Dresden, und erneuerte Untersuchung seiner Sache,

versprochen, den Haufen, mit dem er in das Land gefallen, auseinander gehen zu lassen.

Daraus aber folge nicht, daß man ihm, wegen dieser frevelhaften Selbstrache, Amnestie

erteilen müsse: zwei Rechtsbegriffe, die der Doktor Luther sowohl, als auch der Staatsrat zu

verwechseln scheine. Wenn, fuhr er fort, indem er den Finger an die Nase legte, bei dem

Tribunal zu Dresden, gleichviel wie, das Erkenntnis der Rappen wegen gefallen ist; so hindert

nichts, den Kohlhaas auf den Grund seiner Mordbrennereien und Räubereien einzustecken:

eine staatskluge Wendung, die die Vorteile der Ansichten beider Staatsmänner vereinigt, und

des Beifalls der Welt und Nachwelt gewiß ist. - Der Kurfürst, da der Prinz sowohl als der

Großkanzler dem Mundschenk, Herrn Hinz, auf diese Rede mit einem bloßen Blick

antworteten, und die Verhandlung mithin geschlossen schien, sagte: daß er die

verschiedenen Meinungen, die sie ihm vorgetragen, bis zur nächsten Sitzung des Staatsrats

bei sich selbst überlegen würde. - Es schien, die Präliminar-Maßregel, deren der Prinz gedacht,

hatte seinem für Freundschaft sehr empfänglichen Herzen die Lust benommen, den

Heereszug gegen den Kohlhaas, zu welchem schon alles vorbereitet war, auszuführen

Wenigstens behielt er den Großkanzler, Grafen Wrede, dessen Meinung ihm die

zweckmäßigste schien, bei sich zurück; und da dieser ihm Briefe vorzeigte, aus welchen

hervorging, daß der Roßhändler in der Tat schon zu einer Stärke von vierhundert Mann

herangewachsen sei; ja, bei der allgemeinen Unzufriedenheit, die wegen der

Unziemlichkeiten des Kämmerers im Lande herrschte, in kurzem auf eine doppelte und

dreifache Stärke rechnen könne: so entschloß sich der Kurfürst, ohne weiteren Anstand, den

Rat, den ihm der Doktor Luther erteilt, anzunehmen. Dem gemäß übergab er dem Grafen

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Wrede die ganze Leitung der Kohlhaasischen Sache; und schon nach wenigen Tagen erschien

ein Plakat, das wir, dem Hauptinhalt nach, folgendermaßen mitteilen:

»Wir etc, etc. Kurfürst von Sachsen, erteilen, in besonders gnädiger Rücksicht auf die an Uns

ergangene Fürsprache des Doktors Martin Luther, dem Michael Kohlhaas, Roßhändler aus dem

Brandenburgischen, unter der Bedingung, binnen drei Tagen nach Sicht die Waffen, die er

ergriffen, niederzulegen, behufs einer erneuerten Untersuchung seiner Sache, freies Geleit

nach Dresden; dergestalt zwar, daß, wenn derselbe, wie nicht zu erwarten, bei dem Tribunal

zu Dresden mit seiner Klage, der Rappen wegen, abgewiesen werden sollte, gegen ihn, seines

eigenmächtigen Unternehmens wegen, sich selbst Recht zu verschaffen, mit der ganzen

Strenge des Gesetzes verfahren werden solle; im entgegengesetzten Fall aber, ihm mit

seinem ganzen Haufen, Gnade für Recht bewilligt, und völlige Amnestie, seiner in Sachsen

ausgeübten Gewalttätigkeiten wegen, zugestanden sein solle.«

Kohlhaas hatte nicht sobald, durch den Doktor Luther, ein Exemplar dieses in allen Plätzen des

Landes angeschlagenen Plakats erhalten, als er, so bedingungsweise auch die darin geführte

Sprache war, seinen ganzen Haufen schon, mit Geschenken, Danksagungen und

zweckmäßigen Ermahnungen auseinander gehen ließ. Er legte alles, was er an Geld, Waffen

und Gerätschaften erbeutet haben mochte, bei den Gerichten zu Lützen, als kurfürstliches

Eigentum, nieder; und nachdem er den Waldmann mit Briefen, wegen Wiederkaufs seiner

Meierei, wenn es möglich sei, an den Amtmann nach Kohlhaasenbrück, und den Sternbald zur

Abholung seiner Kinder, die er wieder bei sich zu haben wünschte, nach Schwerin geschickt

hatte, verließ er das Schloß zu Lützen, und ging, unerkannt, mit dem Rest seines kleinen

Vermögens, das er in Papieren bei sich trug, nach Dresden.

Der Tag brach eben an, und die ganze Stadt schlief noch, als er an die Tür der kleinen, in der

Pirnaischen Vorstadt gelegenen Besitzung, die ihm durch die Rechtschaffenheit des

Amtmanns übrig geblieben war, anklopfte, und Thomas, dem alten, die Wirtschaft führenden

Hausmann, der ihm mit Erstaunen und Bestürzung aufmachte, sagte: er möchte dem Prinzen

von Meißen auf dem Gubernium melden, daß er, Kohlhaas der Roßhändler, da wäre. Der Prinz

von Meißen, der auf diese Meldung für zweckmäßig hielt, augenblicklich sich selbst von dem

Verhältnis, in welchem man mit diesem Mann stand, zu unterrichten, fand, als er mit einem

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Gefolge von Rittern und Troßknechten bald darauf erschien, in den Straßen, die zu

Kohlhaasens Wohnung führten, schon eine unermeßliche Menschenmenge versammelt. Die

Nachricht, daß der Würgengel da sei, der die Volksbedrücker mit Feuer und Schwert verfolgte,

hatte ganz Dresden, Stadt und Vorstadt, auf die Beine gebracht; man mußte die Haustür vor

dem Andrang des neugierigen Haufens verriegeln, und die Jungen kletterten an den Fenstern

heran, um den Mordbrenner, der darin frühstückte, in Augenschein zu nehmen. Sobald der

Prinz, mit Hülfe der ihm Platz machenden Wache, ins Haus gedrungen, und in Kohlhaasens

Zimmer getreten war, fragte er diesen, welcher halb entkleidet an einem Tische stand: ob er

Kohlhaas, der Roßhändler, wäre? worauf Kohlhaas, indem er eine Brieftasche mit mehreren

über sein Verhältnis lautenden Papieren aus seinem Gurt nahm, und ihm ehrerbietig

überreichte, antwortete: ja! und hinzusetzte: er finde sich nach Auflösung seines

Kriegshaufens, der ihm erteilten landesherrlichen Freiheit gemäß, in Dresden ein, um seine

Klage, der Rappen wegen, gegen den Junker Wenzel von Tronka vor Gericht zu bringen. Der

Prinz, nach einem flüchtigen Blick, womit er ihn von Kopf zu Fuß überschaute, durchlief die in

der Brieftasche befindlichen Papiere; ließ sich von ihm erklären, was es mit einem von dem

Gericht zu Lützen ausgestellten Schein, den er darin fand, über die zu Gunsten des

kurfürstlichen Schatzes gemachte Deposition für eine Bewandtnis habe; und nachdem er die

Art des Mannes noch, durch Fragen mancherlei Gattung, nach seinen Kindern, seinem

Vermögen und der Lebensart die er künftig zu führen denke, geprüft, und überall so, daß man

wohl seinetwegen ruhig sein konnte, befunden hatte, gab er ihm die Briefschaften wieder,

und sagte: daß seinem Prozeß nichts im Wege stünde, und daß er sich nur unmittelbar, um ihn

einzuleiten, an den Großkanzler des Tribunals, Grafen Wrede, selbst wenden möchte.

Inzwischen, sagte der Prinz, nach einer Pause, indem er ans Fenster trat, und mit großen

Augen das Volk, das vor dem Hause versammelt war, überschaute: du wirst auf die ersten Tage

eine Wache annehmen müssen, die dich, in deinem Hause sowohl, als wenn du ausgehst,

schütze! - - Kohlhaas sah betroffen vor sich nieder, und schwieg. Der Prinz sagte: »gleichviel!«

indem er das Fenster wieder verließ. »Was daraus entsteht, du hast es dir selbst beizumessen«;

und damit wandte er sich wieder nach der Tür, in der Absicht, das Haus zu verlassen. Kohlhaas,

der sich besonnen hatte, sprach: Gnädigster Herr! tut, was Ihr wollt! Gebt mir Euer Wort, die

Wache, sobald ich es wünsche, wieder aufzuheben: so habe ich gegen diese Maßregel nichts

einzuwenden! Der Prinz erwiderte: das bedürfe der Rede nicht; und nachdem er drei

Landsknechten, die man ihm zu diesem Zweck vorstellte, bedeutet hatte: daß der Mann, in

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dessen Hause sie zurückblieben, frei wäre, und daß sie ihm bloß zu seinem Schutz, wenn er

ausginge, folgen sollten, grüßte er den Roßhändler mit einer herablassenden Bewegung der

Hand, und entfernte sich.

Gegen Mittag begab sich Kohlhaas, von seinen drei Landsknechten begleitet, unter dem

Gefolge einer unabsehbaren Menge, die ihm aber auf keine Weise, weil sie durch die Polizei

gewarnt war, etwas zu Leide tat, zu dem Großkanzler des Tribunals, Grafen Wrede. Der

Großkanzler, der ihn mit Milde und Freundlichkeit in seinem Vorgemach empfing, unterhielt

sich während zwei ganzer Stunden mit ihm, und nachdem er sich den ganzen Verlauf der

Sache, von Anfang bis zu Ende, hatte erzählen lassen, wies er ihn, zur unmittelbaren Abfassung

und Einreichung der Klage, an einen, bei dem Gericht angestellten, berühmten Advokaten

der Stadt. Kohlhaas, ohne weiteren Verzug, verfügte sich in dessen Wohnung; und nachdem

die Klage, ganz der ersten niedergeschlagenen gemäß, auf Bestrafung des Junkers nach den

Gesetzen, Wiederherstellung der Pferde in den vorigen Stand, und Ersatz seines Schadens

sowohl, als auch dessen, den sein bei Mühlberg gefallener Knecht Herse erlitten hatte, zu

Gunsten der alten Mutter desselben, aufgesetzt war, begab er sich wieder, unter Begleitung

des ihn immer noch angaffenden Volks, nach Hause zurück, wohl entschlossen, es anders nicht,

als nur wenn notwendige Geschäfte ihn riefen, zu verlassen.

Inzwischen war auch der Junker seiner Haft in Wittenberg entlassen, und nach Herstellung

von einer gefährlichen Rose, die seinen Fuß entzündet hatte, von dem Landesgericht unter

peremtorischen Bedingungen aufgefordert worden, sich zur Verantwortung auf die von dem

Roßhändler Kohlhaas gegen ihn eingereichte Klage, wegen widerrechtlich abgenommener

und zu Grunde gerichteter Rappen, in Dresden zu stellen. Die Gebrüder Kämmerer und

Mundschenk von Tronka, Lehnsvettern des Junkers, in deren Hause er abtrat, empfingen ihn

mit der größesten Erbitterung und Verachtung; sie nannten ihn einen Elenden und

Nichtswürdigen, der Schande und Schmach über die ganze Familie bringe, kündigten ihm an,

daß er seinen Prozeß nunmehr unfehlbar verlieren würde, und forderten ihn auf, nur gleich

zur Herbeischaffung der Rappen, zu deren Dickfütterung er, zum Hohngelächter der Welt,

verdammt werden werde, Anstalt zu machen. Der Junker sagte, mit schwacher, zitternder

Stimme: er sei der bejammernswürdigste Mensch von der Welt. Er verschwor sich, daß er von

dem ganzen verwünschten Handel, der ihn ins Unglück stürze, nur wenig gewußt, und daß der

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Schloßvogt und der Verwalter an allem schuld wären, indem sie die Pferde, ohne sein

entferntestes Wissen und Wollen, bei der Ernte gebraucht, und durch unmäßige

Anstrengungen, zum Teil auf ihren eigenen Feldern, zu Grunde gerichtet hätten. Er setzte

sich, indem er dies sagte, und bat ihn nicht durch Kränkungen und Beleidigungen in das Übel,

von dem er nur soeben erst erstanden sei, mutwillig zurückzustürzen. Am andern Tage

schrieben die Herren Hinz und Kunz, die in der Gegend der eingeäscherten Tronkenburg

Güter besaßen, auf Ansuchen des Junkers, ihres Vetters, weil doch nichts anders übrig blieb, an

ihre dort befindlichen Verwalter und Pächter, um Nachricht über die an jenem unglücklichen

Tage abhanden gekommenen und seitdem gänzlich verschollenen Rappen einzuziehn. Aber

alles, was sie bei der gänzlichen Verwüstung des Platzes, und der Niedermetzelung fast aller

Einwohner, erfahren konnten, war, daß ein Knecht sie, von den flachen Hieben des

Mordbrenners getrieben, aus dem brennenden Schuppen, in welchem sie standen, gerettet,

nachher aber auf die Frage, wo er sie hinführen, und was er damit anfangen solle, von dem

grimmigen Wüterich einen Fußtritt zur Antwort erhalten habe. Die alte, von der Gicht

geplagte Haushälterin des Junkers, die sich nach Meißen geflüchtet hatte, versicherte

demselben, auf eine schriftliche Anfrage, daß der Knecht sich, am Morgen jener entsetzlichen

Nacht, mit den Pferden nach der brandenburgischen Grenze gewandt habe; doch alle

Nachfragen, die man daselbst anstellte, waren vergeblich, und es schien dieser Nachricht ein

Irrtum zum Grunde zu liegen, indem der Junker keinen Knecht hatte, der im

Brandenburgischen, oder auch nur auf der Straße dorthin, zu Hause war. Männer aus Dresden,

die wenige Tage nach dem Brande der Tronkenburg in Wilsdruf gewesen waren, sagten aus,

daß um die benannte Zeit ein Knecht mit zwei an der Halfter gehenden Pferden dort

angekommen, und die Tiere, weil sie sehr elend gewesen wären, und nicht weiter fort

gekonnt hätten, im Kuhstall eines Schäfers, der sie wieder hätte aufbringen wollen, stehen

gelassen hätte. Es schien mancherlei Gründe wegen sehr wahrscheinlich, daß dies die in

Untersuchung stehenden Rappen waren; aber der Schäfer aus Wilsdruf hatte sie, wie Leute,

die dorther kamen, versicherten, schon wieder, man wußte nicht an wen, verhandelt; und ein

drittes Gerücht, dessen Urheber unentdeckt blieb, sagte gar aus, daß die Pferde bereits in

Gott verschieden, und in der Knochengrube zu Wilsdruf begraben wären. Die Herren Hinz und

Kunz, denen diese Wendung der Dinge, wie man leicht begreift, die erwünschteste war,

indem sie dadurch, bei des Junkers ihres Vetters Ermangelung eigener Ställe, der

Notwendigkeit, die Rappen in den ihrigen aufzufüttern, überhoben waren, wünschten

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gleichwohl, völliger Sicherheit wegen, diesen Umstand zu bewahrheiten. Herr Wenzel von

Tronka erließ demnach, als Erb-, Lehns- und Gerichtsherr, ein Schreiben an die Gerichte zu

Wilsdruf, worin er dieselben, nach einer weitläufigen Beschreibung der Rappen, die, wie er

sagte, ihm anvertraut und durch einen Unfall abhanden gekommen wären, dienstfreundlichst

ersuchte, den dermaligen Aufenthalt derselben zu erforschen, und den Eigner, wer er auch

sei, aufzufordern und anzuhalten, sie, gegen reichliche Wiedererstattung aller Kosten, in den

Ställen des Kämmerers, Herrn Kunz, zu Dresden abzuliefern. Dem gemäß erschien auch

wirklich, wenige Tage darauf, der Mann an den sie der Schäfer aus Wilsdruf verhandelt hatte,

und führte sie, dürr und wankend, an die Runge seines Karrens gebunden, auf den Markt der

Stadt; das Unglück aber Herrn Wenzels, und noch mehr des ehrlichen Kohlhaas wollte, daß es

der Abdecker aus Döbbeln war.

Sobald Herr Wenzel, in Gegenwart des Kämmerers, seines Vetters, durch ein unbestimmtes

Gerücht vernommen hatte, daß ein Mann mit zwei schwarzen aus dem Brande der

Tronkenburg entkommenen Pferden in der Stadt angelangt sei, begaben sich beide, in

Begleitung einiger aus dem Hause zusammengerafften Knechte, auf den Schloßplatz, wo er

stand, um sie demselben, falls es die dem Kohlhaas zugehörigen wären, gegen Erstattung der

Kosten abzunehmen, und nach Hause zu führen. Aber wie betreten waren die Ritter, als sie

bereits einen, von Augenblick zu Augenblick sich vergrößernden Haufen von Menschen, den

das Schauspiel herbeigezogen, um den zweirädrigen Karren, an dem die Tiere befestigt

waren, erblickten; unter unendlichem Gelächter einander zurufend, daß die Pferde schon, um

derenthalben der Staat wanke, an den Schinder gekommen wären! Der Junker, der um den

Karren herumgegangen war, und die jämmerlichen Tiere, die alle Augenblicke sterben zu

wollen schienen, betrachtet hatte, sagte verlegen: das wären die Pferde nicht, die er dem

Kohlhaas abgenommen; doch Herr Kunz, der Kämmerer, einen Blick sprachlosen Grimms voll

auf ihn werfend, der, wenn er von Eisen gewesen wäre, ihn zerschmettert hätte, trat, indem er

seinen Mantel, Orden und Kette entblößend, zurückschlug, zu dem Abdecker heran, und

fragte ihn: ob das die Rappen wären, die der Schäfer von Wilsdruf an sich gebracht, und der

Junker Wenzel von Tronka, dem sie gehörten, bei den Gerichten daselbst requiriert hätte? Der

Abdecker, der, einen Eimer Wasser in der Hand, beschäftigt war, einen dicken, wohlbeleibten

Gaul, der seinen Karren zog, zu tränken, sagte: »die schwarzen?« - Er streifte dem Gaul,

nachdem er den Eimer niedergesetzt, das Gebiß aus dem Maul, und sagte: »die Rappen, die an

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die Runge gebunden wären, hätte ihm der Schweinehirte von Hainichen verkauft. Wo der sie

her hätte, und ob sie von dem Wilsdrufer Schäfer kämen, das wisse er nicht. Ihm hätte«, sprach

er, während er den Eimer wieder aufnahm, und zwischen Deichsel und Knie anstemmte: »ihm

hätte der Gerichtsbote aus Wilsdruf gesagt, daß er sie nach Dresden in das Haus derer von

Tronka bringen solle; aber der Junker, an den er gewiesen sei, heiße Kunz.« Bei diesen Worten

wandte er sich mit dem Rest des Wassers, den der Gaul im Eimer übrig gelassen hatte, und

schüttete ihn auf das Pflaster der Straße aus. Der Kämmerer, der, von den Blicken der

hohnlachenden Menge umstellt, den Kerl, der mit empfindungslosem Eifer seine Geschäfte

betrieb, nicht bewegen konnte, daß er ihn ansah, sagte: daß er der Kämmerer, Kunz von

Tronka, wäre; die Rappen aber, die er an sich bringen solle, müßten dem Junker, seinem

Vetter, gehören; von einem Knecht, der bei Gelegenheit des Brandes aus der Tronkenburg

entwichen, an den Schäfer zu Wilsdruf gekommen, und ursprünglich zwei dem Roßhändler

Kohlhaas zugehörige Pferde sein! Er fragte den Kerl, der mit gespreizten Beinen dastand, und

sich die Hosen in die Höhe zog: ob er davon nichts wisse? Und ob sie der Schweinehirte von

Hainichen nicht vielleicht, auf welchen Umstand alles ankomme, von dem Wilsdrufer Schäfer,

oder von einem Dritten, der sie seinerseits von demselben gekauft, erstanden hätte? - Der

Abdecker, der sich an den Wagen gestellt und sein Wasser abgeschlagen hatte, sagte: »er wäre

mit den Rappen nach Dresden bestellt, um in dem Hause derer von Tronka sein Geld dafür zu

empfangen. Was er da vorbrächte, verstände er nicht; und ob sie, vor dem Schweinehirten aus

Hainichen, Peter oder Paul besessen hätte, oder der Schäfer aus Wilsdruf, gelte ihm, da sie

nicht gestohlen wären, gleich.« Und damit ging er, die Peitsche quer über seinen breiten

Rücken, nach einer Kneipe, die auf dem Platze lag, in der Absicht, hungrig wie er war, ein

Frühstück einzunehmen. Der Kämmerer, der auf der Welt Gottes nicht wußte, was er mit

Pferden, die der Schweinehirte von Hainichen an den Schinder in Döbbeln verkauft, machen

solle, falls es nicht diejenigen wären, auf welchen der Teufel durch Sachsen ritt, forderte den

Junker auf, ein Wort zu sprechen; doch da dieser mit bleichen, bebenden Lippen erwiderte:

das Ratsamste wäre, daß man die Rappen kaufe, sie möchten dem Kohlhaas gehören oder

nicht: so trat der Kämmerer, Vater und Mutter, die ihn geboren, verfluchend, indem er sich

den Mantel zurückschlug, gänzlich unwissend, was er zu tun oder zu lassen habe, aus dem

Haufen des Volks zurück. Er rief den Freiherrn von Wenk, einen Bekannten, der über die Straße

ritt, zu sich heran, und trotzig, den Platz nicht zu verlassen, eben weil das Gesindel höhnisch

auf ihn einblickte, und, mit vor dem Mund zusammengedrückten Schnupftüchern, nur auf

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seine Entfernung zu warten schien, um loszuplatzen, bat er ihn, bei dem Großkanzler, Grafen

Wrede, abzusteigen, und durch dessen Vermittelung den Kohlhaas zur Besichtigung der

Rappen herbeizuschaffen. Es traf sich, daß Kohlhaas eben, durch einen Gerichtsboten

herbeigerufen, in dem Gemach des Großkanzlers, gewisser, die Deposition in Lützen

betreffenden Erläuterungen wegen, die man von ihm bedurfte, gegenwärtig war, als der

Freiherr, in der eben erwähnten Absicht, zu ihm ins Zimmer trat; und während der

Großkanzler sich mit einem verdrießlichen Gesicht vom Sessel erhob, und den Roßhändler,

dessen Person jenem unbekannt war, mit den Papieren, die er in der Hand hielt, zur Seite

stehen ließ, stellte der Freiherr ihm die Verlegenheit, in welcher sich die Herren von Tronka

befanden, vor. Der Abdecker von Döbbeln sei, auf mangelhafte Requisition der Wilsdrufer

Gerichte, mit Pferden erschienen, deren Zustand so heillos beschaffen wäre, daß der Junker

Wenzel anstehen müsse, sie für die dem Kohlhaas gehörigen anzuerkennen; dergestalt, daß,

falls man sie gleichwohl dem Abdecker abnehmen solle, um in den Ställen der Ritter, zu ihrer

Wiederherstellung, einen Versuch zu machen, vorher eine Okular-Inspektion des Kohlhaas,

um den besagten Umstand außer Zweifel zu setzen, notwendig sei. »Habt demnach die Güte,

schloß er, den Roßhändler durch eine Wache aus seinem Hause abholen und auf den Markt, wo

die Pferde stehen, hinführen zu lassen.« Der Großkanzler, indem er sich eine Brille von der

Nase nahm, sagte: daß er in einem doppelten Irrtum stünde; einmal, wenn er glaube, daß der

in Rede stehende Umstand anders nicht, als durch eine Okular-Inspektion des Kohlhaas

auszumitteln sei; und dann, wenn er sich einbilde, er, der Kanzler, sei befugt, den Kohlhaas

durch eine Wache, wohin es dem Junker beliebe, abführen zu lassen. Dabei stellte er ihm den

Roßhändler, der hinter ihm stand, vor, und bat ihn, indem er sich niederließ und seine Brille

wieder aufsetzte, sich in dieser Sache an ihn selbst zu wenden. - Kohlhaas, der mit keiner

Miene, was in seiner Seele vorging, zu erkennen gab, sagte: daß er bereit wäre, ihm zur

Besichtigung der Rappen, die der Abdecker in die Stadt gebracht, auf den Markt zu folgen. Er

trat, während der Freiherr sich betroffen zu ihm umkehrte, wieder an den Tisch des

Großkanzlers heran, und nachdem er demselben noch, aus den Papieren seiner Brieftasche,

mehrere, die Deposition in Lützen betreffende Nachrichten gegeben hatte, beurlaubte er

sich von ihm; der Freiherr, der, über das ganze Gesicht rot, ans Fenster getreten war, empfahl

sich ihm gleichfalls; und beide gingen, begleitet von den drei durch den Prinzen von Meißen

eingesetzten Landsknechten, unter dem Troß einer Menge von Menschen, nach dem

Schloßplatz hin. Der Kämmerer, Herr Kunz, der inzwischen den Vorstellungen mehrerer

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Freunde, die sich um ihn eingefunden hatten, zum Trotz, seinen Platz, dem Abdecker von

Döbbeln gegenüber, unter dem Volke behauptet hatte, trat, sobald der Freiherr mit dem

Roßhändler erschien, an den letzteren heran, und fragte ihn, indem er sein Schwert, mit Stolz

und Ansehen, unter dem Arm hielt: ob die Pferde, die hinter dem Wagen stünden, die

seinigen wären? Der Roßhändler, nachdem er, mit einer bescheidenen Wendung gegen den

die Frage an ihn richtenden Herrn, den er nicht kannte, den Hut gerückt hatte, trat, ohne ihm

zu antworten, im Gefolge sämtlicher Ritter, an den Schinderkarren heran; und die Tiere, die,

auf wankenden Beinen, die Häupter zur Erde gebeugt, dastanden, und von dem Heu, das ihnen

der Abdecker vorgelegt hatte, nicht fraßen, flüchtig, aus einer Ferne von zwölf Schritt, in

welcher er stehen blieb, betrachtet: gnädigster Herr! wandte er sich wieder zu dem

Kämmerer zurück, der Abdecker hat ganz recht; die Pferde, die an seinen Karren gebunden

sind, gehören mir! Und damit, indem er sich in dem ganzen Kreise der Herren umsah, rückte er

den Hut noch einmal, und begab sich, von seiner Wache begleitet, wieder von dem Platz

hinweg. Bei diesen Worten trat der Kämmerer, mit einem raschen, seinen Helmbusch

erschütternden Schritt zu dem Abdecker heran, und warf ihm einen Beutel mit Geld zu; und

während dieser sich, den Beutel in der Hand, mit einem bleiernen Kamm die Haare über die

Stirn zurückkämmte, und das Geld betrachtete, befahl er einem Knecht, die Pferde abzulösen

und nach Hause zu führen! Der Knecht, der auf den Ruf des Herrn, einen Kreis von Freunden

und Verwandten, die er unter dem Volke besaß, verlassen hatte, trat auch, in der Tat, ein wenig

rot im Gesicht, über eine große Mistpfütze, die sich zu ihren Füßen gebildet hatte, zu den

Pferden heran; doch kaum hatte er ihre Halftern erfaßt, um sie loszubinden, als ihn Meister

Himboldt, sein Vetter, schon beim Arm ergriff, und mit den Worten: du rührst die

Schindmähren nicht an! von dem Karren hinwegschleuderte. Er setzte, indem er sich mit

ungewissen Schritten über die Mistpfütze wieder zu dem Kämmerer, der über diesen Vorfall

sprachlos dastand, zurück wandte, hinzu: daß er sich einen Schinderknecht anschaffen müsse,

um ihm einen solchen Dienst zu leisten! Der Kämmerer, der, vor Wut schäumend, den Meister

auf einen Augenblick betrachtet hatte, kehrte sich um, und rief über die Häupter der Ritter,

die ihn umringten, hinweg, nach der Wache; und sobald, auf die Bestellung des Freiherrn von

Wenk, ein Offizier mit einigen kurfürstlichen Trabanten, aus dem Schloß erschienen war,

forderte er denselben unter einer kurzen Darstellung der schändlichen Aufhetzerei, die sich

die Bürger der Stadt erlaubten, auf, den Rädelsführer, Meister Himboldt, in Verhaft zu

nehmen. Er verklagte den Meister, indem er ihn bei der Brust faßte: daß er seinen, die Rappen

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auf seinen Befehl losbindenden Knecht von dem Karren hinwegeschleudert und mißhandelt

hätte. Der Meister, indem er den Kämmerer mit einer geschickten Wendung, die ihn

befreiete, zurückwies, sagte: gnädigster Herr! einem Burschen von zwanzig Jahren bedeuten,

was er zu tun hat, heißt nicht, ihn verhetzen! Befragt ihn, ob er sich gegen Herkommen und

Schicklichkeit mit den Pferden, die an die Karre gebunden sind, befassen will; will er es, nach

dem, was ich gesagt, tun: sei's! Meinethalb mag er sie jetzt abludern und häuten! Bei diesen

Worten wandte sich der Kämmerer zu dem Knecht herum, und fragte ihn: ob er irgend

Anstand nähme, seinen Befehl zu erfüllen, und die Pferde, die dem Kohlhaas gehörten,

loszubinden, und nach Hause zu führen? und da dieser schüchtern, indem er sich unter die

Bürger mischte, erwiderte: die Pferde müßten erst ehrlich gemacht werden, bevor man ihm

das zumute; so folgte ihm der Kämmerer von hinten, riß ihm den Hut ab, der mit seinem

Hauszeichen geschmückt war, zog, nachdem er den Hut mit Füßen getreten, von Leder, und

jagte den Knecht mit wütenden Hieben der Klinge augenblicklich vom Platz weg und aus

seinen Diensten. Meister Himboldt rief: schmeißt den Mordwüterich doch gleich zu Boden!

und während die Bürger, von diesem Auftritt empört, zusammentraten, und die Wache

hinwegdrängten, warf er den Kämmerer von hinten nieder, riß ihm Mantel, Kragen und Helm

ab, wand ihm das Schwert aus der Hand, und schleuderte es, in einem grimmigen Wurf, weit

über den Platz hinweg. Vergebens rief der Junker Wenzel, indem er sich aus dem Tumult

rettete, den Rittern zu, seinem Vetter beizuspringen; ehe sie noch einen Schritt dazu getan

hatten, waren sie schon von dem Andrang des Volks zerstreut, dergestalt, daß der Kämmerer,

der sich den Kopf beim Fallen verletzt hatte, der ganzen Wut der Menge preis gegeben war.

Nichts, als die Erscheinung eines Trupps berittener Landsknechte, die zufällig über den Platz

zogen, und die der Offizier der kurfürstlichen Trabanten zu seiner Unterstützung herbeirief,

konnte den Kämmerer retten. Der Offizier, nachdem er den Haufen verjagt, ergriff den

wütenden Meister, und während derselbe durch einige Reuter nach dem Gefängnis gebracht

ward, hoben zwei Freunde den unglücklichen mit Blut bedeckten Kämmerer vom Boden auf,

und führten ihn nach Hause. Einen so heillosen Ausgang nahm der wohlgemeinte und

redliche Versuch, dem Roßhändler wegen des Unrechts, das man ihm zugefügt, Genugtuung

zu verschaffen. Der Abdecker von Döbbeln, dessen Geschäft abgemacht war, und der sich nicht

länger aufhalten wollte, band, da sich das Volk zu zerstreuen anfing, die Pferde an einen

Laternenpfahl, wo sie, den ganzen Tag über, ohne daß sich jemand um sie bekümmerte, ein

Spott der Straßenjungen und Tagediebe, stehen blieben; dergestalt, daß in Ermangelung aller

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Pflege und Wartung die Polizei sich ihrer annehmen mußte, und gegen Einbruch der Nacht

den Abdecker von Dresden herbeirief, um sie, bis auf weitere Verfügung, auf der Schinderei

vor der Stadt zu besorgen.

Dieser Vorfall, so wenig der Roßhändler ihn in der Tat verschuldet hatte, erweckte gleichwohl,

auch bei den Gemäßigtern und Besseren, eine, dem Ausgang seiner Streitsache höchst

gefährliche Stimmung im Lande. Man fand das Verhältnis desselben zum Staat ganz

unerträglich, und in Privathäusern und auf öffentlichen Plätzen, erhob sich die Meinung, daß

es besser sei, ein offenbares Unrecht an ihm zu verüben, und die ganze Sache von neuem

niederzuschlagen, als ihm Gerechtigkeit, durch Gewalttaten ertrotzt, in einer so nichtigen

Sache, zur bloßen Befriedigung seines rasenden Starrsinns, zukommen zu lassen. Zum völligen

Verderben des armen Kohlhaas mußte der Großkanzler selbst, aus übergroßer Rechtlichkeit,

und einem davon herrührenden Haß gegen die Familie von Tronka, beitragen, diese

Stimmung zu befestigen und zu verbreiten. Es war höchst unwahrscheinlich, daß die Pferde,

die der Abdecker von Dresden jetzt besorgte, jemals wieder in den Stand, wie sie aus dem

Stall zu Kohlhaasenbrück gekommen waren, hergestellt werden würden; doch gesetzt, daß es

durch Kunst und anhaltende Pflege möglich gewesen wäre: die Schmach, die zufolge der

bestehenden Umstände, dadurch auf die Familie des Junkers fiel, war so groß, daß bei dem

staatsbürgerlichen Gewicht, den sie, als eine der ersten und edelsten, im Lande hatte, nichts

billiger und zweckmäßiger schien, als eine Vergütigung der Pferde in Geld einzuleiten.

Gleichwohl, auf einen Brief, in welchem der Präsident, Graf Kallheim, im Namen des

Kämmerers, den seine Krankheit abhielt, dem Großkanzler, einige Tage darauf, diesen

Vorschlag machte, erließ derselbe zwar ein Schreiben an den Kohlhaas, worin er ihn

ermahnte, einen solchen Antrag, wenn er an ihn ergehen sollte, nicht von der Hand zu weisen;

den Präsidenten selbst aber bat er, in einer kurzen, wenig verbindlichen Antwort, ihn mit

Privataufträgen in dieser Sache zu verschonen, und forderte den Kämmerer auf, sich an den

Roßhändler selbst zu wenden, den er ihm als einen sehr billigen und bescheidenen Mann

schilderte. Der Roßhändler, dessen Wille, durch den Vorfall, der sich auf dem Markt

zugetragen, in der Tat gebrochen war, wartete auch nur, dem Rat des Großkanzlers gemäß, auf

eine Eröffnung von Seiten des Junkers, oder seiner Angehörigen, um ihnen mit völliger

Bereitwilligkeit und Vergebung alles Geschehenen, entgegenzukommen; doch eben diese

Eröffnung war den stolzen Rittern zu tun empfindlich; und schwer erbittert über die Antwort,

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die sie von dem Großkanzler empfangen hatten, zeigten sie dieselbe dem Kurfürsten, der, am

Morgen des nächstfolgenden Tages, den Kämmerer krank, wie er an seinen Wunden

daniederlag, in seinem Zimmer besucht hatte. Der Kämmerer, mit einer, durch seinen

Zustand, schwachen und rührenden Stimme, fragte ihn, ob er, nachdem er sein Leben daran

gesetzt, um diese Sache, seinen Wünschen gemäß, beizulegen, auch noch seine Ehre dem

Tadel der Welt aussetzen, und mit einer Bitte um Vergleich und Nachgiebigkeit, vor einem

Manne erscheinen solle, der alle nur erdenkliche Schmach und Schande über ihn und seine

Familie gebracht habe. Der Kurfürst, nachdem er den Brief gelesen hatte, fragte den Grafen

Kallheim verlegen: ob das Tribunal nicht befugt sei, ohne weitere Rücksprache mit dem

Kohlhaas, auf den Umstand, daß die Pferde nicht wieder herzustellen wären, zu fußen, und

dem gemäß das Urteil, gleich, als ob sie tot wären, auf bloße Vergütigung derselben in Geld

abzufassen? Der Graf antwortete: »gnädigster Herr, sie sind tot: sind in staatsrechtlicher

Bedeutung tot, weil sie keinen Wert haben, und werden es physisch sein, bevor man sie, aus

der Abdeckerei, in die Ställe der Ritter gebracht hat«; worauf der Kurfürst, indem er den Brief

einsteckte, sagte, daß er mit dem Großkanzler selbst darüber sprechen wolle, den Kämmerer,

der sich halb aufrichtete und seine Hand dankbar ergriff, beruhigte, und nachdem er ihm noch

empfohlen hatte, für seine Gesundheit Sorge zu tragen, mit vieler Huld sich von seinem Sessel

erhob, und das Zimmer verließ.

So standen die Sachen in Dresden, als sich über den armen Kohlhaas, noch ein anderes,

bedeutenderes Gewitter, von Lützen her, zusammenzog, dessen Strahl die arglistigen Ritter

geschickt genug waren, auf das unglückliche Haupt desselben herabzuleiten. Johann

Nagelschmidt nämlich, einer von den durch den Roßhändler zusammengebrachten, und nach

Erscheinung der kurfürstlichen Amnestie wieder abgedankten Knechten, hatte für gut

befunden, wenige Wochen nachher, an der böhmischen Grenze, einen Teil dieses zu allen

Schandtaten aufgelegten Gesindels von neuem zusammenzuraffen, und das Gewerbe, auf

dessen Spur ihn Kohlhaas geführt hatte, auf seine eigne Hand fortzusetzen. Dieser

nichtsnutzige Kerl nannte sich, teils um den Häschern von denen er verfolgt ward, Furcht

einzuflößen, teils um das Landvolk, auf die gewohnte Weise, zur Teilnahme an seinen

Spitzbübereien zu verleiten, einen Statthalter des Kohlhaas; sprengte mit einer seinem Herrn

abgelernten Klugheit aus, daß die Amnestie an mehreren, in ihre Heimat ruhig

zurückgekehrten Knechten nicht gehalten, ja der Kohlhaas selbst, mit himmelschreiender

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Wortbrüchigkeit, bei seiner Ankunft in Dresden eingesteckt, und einer Wache übergeben

worden sei; dergestalt, daß in Plakaten, die den Kohlhaasischen ganz ähnlich waren, sein

Mordbrennerhaufen als ein zur bloßen Ehre Gottes aufgestandener Kriegshaufen erschien,

bestimmt, über die Befolgung der ihnen von dem Kurfürsten angelobten Amnestie zu

wachen; alles, wie schon gesagt, keineswegs zur Ehre Gottes, noch aus Anhänglichkeit an den

Kohlhaas, dessen Schicksal ihnen völlig gleichgültig war, sondern um unter dem Schutz

solcher Vorspiegelungen desto ungestrafter und bequemer zu sengen und zu plündern. Die

Ritter, sobald die ersten Nachrichten davon nach Dresden kamen, konnten ihre Freude über

diesen, dem ganzen Handel eine andere Gestalt gebenden Vorfall nicht unterdrücken. Sie

erinnerten mit weisen und mißvergnügten Seitenblicken an den Mißgriff, den man begangen,

indem man dem Kohlhaas, ihren dringenden und wiederholten Warnungen zum Trotz,

Amnestie erteilt, gleichsam als hätte man die Absicht gehabt Bösewichtern aller Art dadurch,

zur Nachfolge auf seinem Wege, das Signal zu geben; und nicht zufrieden, dem Vorgeben des

Nagelschmidt, zur bloßen Aufrechthaltung und Sicherheit seines unterdrückten Herrn die

Waffen ergriffen zu haben, Glauben zu schenken, äußerten sie sogar die bestimmte Meinung,

daß die ganze Erscheinung desselben nichts, als ein von dem Kohlhaas angezetteltes

Unternehmen sei, um die Regierung in Furcht zu setzen, und den Fall des Rechtsspruchs,

Punkt vor Punkt, seinem rasenden Eigensinn gemäß, durchzusetzen und zu beschleunigen. Ja,

der Mundschenk, Herr Hinz, ging so weit, einigen Jagdjunkern und Hofherren, die sich nach

der Tafel im Vorzimmer des Kurfürsten um ihn versammelt hatten, die Auflösung des

Räuberhaufens in Lützen als eine verwünschte Spiegelfechterei darzustellen; und indem er

sich über die Gerechtigkeitsliebe des Großkanzlers sehr lustig machte, erwies er aus

mehreren witzig zusammengestellten Umständen, daß der Haufen, nach wie vor, noch in den

Wäldern des Kurfürstentums vorhanden sei, und nur auf den Wink des Roßhändlers warte, um

daraus von neuem mit Feuer und Schwert hervorzubrechen. Der Prinz Christiern von Meißen,

über diese Wendung der Dinge, die seines Herrn Ruhm auf die empfindlichste Weise zu

beflecken drohete, sehr mißvergnügt, begab sich sogleich zu demselben aufs Schloß; und das

Interesse der Ritter, den Kohlhaas, wenn es möglich wäre, auf den Grund neuer Vergehungen

zu stürzen, wohl durchschauend, bat er sich von demselben die Erlaubnis aus, unverzüglich ein

Verhör über den Roßhändler anstellen zu dürfen. Der Roßhändler, nicht ohne Befremden,

durch einen Häscher in das Gubernium abgeführt, erschien, den Heinrich und Leopold, seine

beiden kleinen Knaben auf dem Arm; denn Sternbald, der Knecht, war Tags zuvor mit seinen

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fünf Kindern aus dem Mecklenburgischen, wo sie sich aufgehalten hatten, bei ihm

angekommen, und Gedanken mancherlei Art, die zu entwickeln zu weitläufig sind,

bestimmten ihn, die Jungen, die ihn bei seiner Entfernung unter dem Erguß kindischer Tränen

darum baten, aufzuheben, und in das Verhör mitzunehmen. Der Prinz, nachdem er die Kinder,

die Kohlhaas neben sich niedergesetzt hatte, wohlgefällig betrachtet und auf eine

freundliche Weise nach ihrem Alter und Namen gefragt hatte, eröffnete ihm, was der

Nagelschmidt, sein ehemaliger Knecht, sich in den Tälern des Erzgebirges für Freiheiten

herausnehme; und indem er ihm die sogenannten Mandate desselben überreichte, forderte

er ihn auf, dagegen vorzubringen, was er zu seiner Rechtfertigung vorzubringen wüßte. Der

Roßhändler, so schwer er auch in der Tat über diese schändlichen und verräterischen Papiere

erschrak, hatte gleichwohl, einem so rechtschaffenen Manne, als der Prinz war, gegenüber,

wenig Mühe, die Grundlosigkeit der gegen ihn auf die Bahn gebrachten Beschuldigungen,

befriedigend auseinander zu legen. Nicht nur, daß zufolge seiner Bemerkung er, so wie die

Sachen standen, überhaupt noch zur Entscheidung seines, im besten Fortgang begriffenen

Rechtsstreits, keiner Hülfe von Seiten eines Dritten bedürfte: aus einigen Briefschaften, die er

bei sich trug, und die er dem Prinzen vorzeigte, ging sogar eine Unwahrscheinlichkeit ganz

eigner Art hervor, daß das Herz des Nagelschmidts gestimmt sein sollte, ihm dergleichen

Hülfe zu leisten, indem er den Kerl, wegen auf dem platten Lande verübter Notzucht und

anderer Schelmereien, kurz vor Auflösung des Haufens in Lützen hatte hängen lassen wollen;

dergestalt, daß nur die Erscheinung der kurfürstlichen Amnestie, indem sie das ganze

Verhältnis aufhob, ihn gerettet hatte, und beide Tags darauf, als Todfeinde auseinander

gegangen waren. Kohlhaas, auf seinen von dem Prinzen angenommenen Vorschlag, setzte

sich nieder, und erließ ein Sendschreiben an den Nagelschmidt, worin er das Vorgeben

desselben zur Aufrechthaltung der an ihm und seinen Haufen gebrochenen Amnestie

aufgestanden zu sein, für eine schändliche und ruchlose Erfindung erklärte; ihm sagte, daß er

bei seiner Ankunft in Dresden weder eingesteckt, noch einer Wache übergeben, auch seine

Rechtssache ganz so, wie er es wünsche, im Fortgang sei; und ihn wegen der, nach Publikation

der Amnestie im Erzgebirge ausgeübten Mordbrennereien, zur Warnung des um ihn

versammelten Gesindels, der ganzen Rache der Gesetze preis gab. Dabei wurden einige

Fragmente der Kriminalverhandlung, die der Roßhändler auf dem Schlosse zu Lützen, in

Bezug auf die oben erwähnten Schändlichkeiten, über ihn hatte anstellen lassen, zur

Belehrung des Volks über diesen nichtsnutzigen, schon damals dem Galgen bestimmten, und,

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wie schon erwähnt, nur durch das Patent das der Kurfürst erließ, geretteten Kerl, angehängt.

Dem gemäß beruhigte der Prinz den Kohlhaas über den Verdacht, den man ihm, durch die

Umstände notgedrungen, in diesem Verhör habe äußern müssen; versicherte ihn, daß so lange

er in Dresden wäre, die ihm erteilte Amnestie auf keine Weise gebrochen werden solle;

reichte den Knaben noch einmal, indem er sie mit Obst, das auf seinem Tische stand,

beschenkte, die Hand, grüßte den Kohlhaas und entließ ihn. Der Großkanzler, der gleichwohl

die Gefahr, die über den Roßhändler schwebte, erkannte, tat sein Äußerstes, um die Sache

desselben, bevor sie durch neue Ereignisse verwickelt und verworren würde, zu Ende zu

bringen; das aber wünschten und bezweckten die staatsklugen Ritter eben, und statt, wie

zuvor, mit stillschweigendem Eingeständnis der Schuld, ihren Widerstand auf ein bloß

gemildertes Rechtserkenntnis einzuschränken, fingen sie jetzt an, in Wendungen arglistiger

und rabulistischer Art, diese Schuld selbst gänzlich zu leugnen. Bald gaben sie vor, daß die

Rappen des Kohlhaas, in Folge eines bloß eigenmächtigen Verfahrens des Schloßvogts und

Verwalters, von welchem der Junker nichts oder nur Unvollständiges gewußt, auf der

Tronkenburg zurückgehalten worden seien; bald versicherten sie, daß die Tiere schon, bei

ihrer Ankunft daselbst, an einem heftigen und gefährlichen Husten krank gewesen wären, und

beriefen sich deshalb auf Zeugen, die sie herbeizuschaffen sich anheischig machten; und als

sie mit diesen Argumenten, nach weitläufigen Untersuchungen und Auseinandersetzungen,

aus dem Felde geschlagen waren, brachten sie gar ein kurfürstliches Edikt bei, worin, vor

einem Zeitraum von zwölf Jahren, einer Viehseuche wegen, die Einführung der Pferde aus

dem Brandenburgischen ins Sächsische, in der Tat verboten worden war: zum sonnenklaren

Beleg nicht nur der Befugnis, sondern sogar der Verpflichtung des Junkers, die von dem

Kohlhaas über die Grenze gebrachten Pferde anzuhalten. - Kohlhaas, der inzwischen von dem

wackern Amtmann zu Kohlhaasenbrück seine Meierei, gegen eine geringe Vergütigung des

dabei gehabten Schadens, käuflich wieder erlangt hatte, wünschte, wie es scheint wegen

gerichtlicher Abmachung dieses Geschäfts, Dresden auf einige Tage zu verlassen, und in diese

seine Heimat zu reisen; ein Entschluß, an welchem gleichwohl, wie wir nicht zweifeln,

weniger das besagte Geschäft, so dringend es auch in der Tat, wegen Bestellung der

Wintersaat, sein mochte, als die Absicht unter so sonderbaren und bedenklichen Umständen

seine Lage zu prüfen, Anteil hatte: zu welchem vielleicht auch noch Gründe anderer Art

mitwirkten, die wir jedem, der in seiner Brust Bescheid weiß, zu erraten überlassen wollen.

Demnach verfügte er sich, mit Zurücklassung der Wache, die ihm zugeordnet war, zum

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Großkanzler, und eröffnete ihm, die Briefe des Amtmanns in der Hand: daß er willens sei, falls

man seiner, wie es den Anschein habe, bei dem Gericht nicht notwendig bedürfe, die Stadt zu

verlassen, und auf einen Zeitraum von acht oder zwölf Tagen, binnen welcher Zeit er wieder

zurück zu sein versprach, nach dem Brandenburgischen zu reisen. Der Großkanzler, indem er

mit einem mißvergnügten und bedenklichen Gesichte zur Erde sah, versetzte: er müsse

gestehen, daß seine Anwesenheit grade jetzt notwendiger sei als jemals, indem das Gericht

wegen arglistiger und winkelziehender Einwendungen der Gegenpart, seiner Aussagen und

Erörterungen, in tausenderlei nicht vorherzusehenden Fällen, bedürfe; doch da Kohlhaas ihn

auf seinen, von dem Rechtsfall wohl unterrichteten Advokaten verwies, und mit bescheidener

Zudringlichkeit, indem er sich auf acht Tage einzuschränken versprach, auf seine Bitte

beharrte, so sagte der Großkanzler nach einer Pause kurz, indem er ihn entließ: »er hoffe, daß

er sich deshalb Pässe, bei dem Prinzen Christiern von Meißen, ausbitten würde.« - - Kohlhaas,

der sich auf das Gesicht des Großkanzlers gar wohl verstand, setzte sich, in seinem Entschluß

nur bestärkt, auf der Stelle nieder, und bat, ohne irgend einen Grund anzugeben, den Prinzen

von Meißen, als Chef des Guberniums, um Pässe auf acht Tage nach Kohlhaasenbrück, und

zurück. Auf dieses Schreiben erhielt er eine, von dem Schloßhauptmann, Freiherrn Siegfried

von Wenk, unterzeichnete Gubernial-Resolution, des Inhalts: »sein Gesuch um Pässe nach

Kohlhaasenbrück werde des Kurfürsten Durchlaucht vorgelegt werden, auf dessen höchster

Bewilligung, sobald sie eingingen ihm die Pässe zugeschickt werden würden.« Auf die

Erkundigung Kohlhaasens bei seinem Advokaten, wie es zuginge, daß die Gubernial-

Resolution von einem Freiherrn Siegfried von Wenk, und nicht von dem Prinzen Christiern

von Meißen, an den er sich gewendet, unterschrieben sei, erhielt er zur Antwort: daß der

Prinz vor drei Tagen auf seine Güter gereist, und die Gubernialgeschäfte während seiner

Abwesenheit dem Schloßhauptmann Freiherrn Siegfried von Wenk, einem Vetter des oben

erwähnten Herren gleiches Namens, übergeben worden wären. - Kohlhaas, dem das Herz

unter allen diesen Umständen unruhig zu klopfen anfing, harrte durch mehrere Tage auf die

Entscheidung seiner, der Person des Landesherrn mit befremdender Weitläufigkeit

vorgelegten Bitte; doch es verging eine Woche, und es verging mehr, ohne daß weder diese

Entscheidung einlief, noch auch das Rechtserkenntnis, so bestimmt man es ihm auch

verkündigt hatte, bei dem Tribunal gefällt ward: dergestalt, daß er am zwölften Tage, fest

entschlossen, die Gesinnung der Regierung gegen ihn, sie möge sein, welche man wolle, zur

Sprache zu bringen, sich niedersetzte, und das Gubernium von neuem in einer dringenden

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Vorstellung um die erforderten Pässe bat. Aber wie betreten war er, als er am Abend des

folgenden, gleichfalls ohne die erwartete Antwort verstrichenen Tages, mit einem Schritt,

den er gedankenvoll, in Erwägung seiner Lage, und besonders der ihm von dem Doktor Luther

ausgewirkten Amnestie, an das Fenster seines Hinterstübchens tat, in dem kleinen, auf dem

Hofe befindlichen Nebengebäude, das er ihr zum Aufenthalte angewiesen hatte, die Wache

nicht erblickte, die ihm bei seiner Ankunft der Prinz von Meißen eingesetzt hatte. Thomas,

der alte Hausmann, den er herbeirief und fragte: was dies zu bedeuten habe? antwortete ihm

seufzend: Herr! es ist nicht alles wie es sein soll; die Landsknechte, deren heute mehr sind wie

gewöhnlich, haben sich bei Einbruch der Nacht um das ganze Haus verteilt; zwei stehen, mit

Schild und Spieß, an der vordern Tür auf der Straße; zwei an der hintern im Garten: und noch

zwei andere liegen im Vorsaal auf ein Bund Stroh, und sagen, daß sie daselbst schlafen würden.

Kohlhaas, der seine Farbe verlor, wandte sich und versetzte: »es wäre gleichviel, wenn sie nur

da wären; und er möchte den Landsknechten, sobald er auf den Flur käme, Licht hinsetzen,

damit sie sehen könnten.« Nachdem er noch, unter dem Vorwande, ein Geschirr auszugießen,

den vordern Fensterladen eröffnet, und sich von der Wahrheit des Umstands, den ihm der Alte

entdeckt, überzeugt hatte: denn eben ward sogar in geräuschloser Ablösung die Wache

erneuert, an welche Maßregel bisher, so lange die Einrichtung bestand, noch niemand

gedacht hatte: so legte er sich, wenig schlaflustig allerdings, zu Bette, und sein Entschluß war

für den kommenden Tag sogleich gefaßt. Denn nichts mißgönnte er der Regierung, mit der er

zu tun hatte, mehr, als den Schein der Gerechtigkeit, während sie in der Tat die Amnestie, die

sie ihm angelobt hatte, an ihm brach; und falls er wirklich ein Gefangener sein sollte, wie es

keinem Zweifel mehr unterworfen war, wollte er derselben auch die bestimmte und

unumwundene Erklärung, daß es so sei, abnötigen. Demnach ließ er, sobald der Morgen des

nächsten Tages anbrach, durch Sternbald, seinen Knecht, den Wagen anspannen und

vorführen, um wie er vorgab, zu dem Verwalter nach Lockewitz zu fahren, der ihn, als ein alter

Bekannter, einige Tage zuvor in Dresden gesprochen und eingeladen hatte, ihn einmal mit

seinen Kindern zu besuchen. Die Landsknechte, welche mit zusammengesteckten Köpfen, die

dadurch veranlaßten Bewegungen im Hause wahrnahmen, schickten einen aus ihrer Mitte

heimlich in die Stadt, worauf binnen wenigen Minuten ein Gubernial-Offiziant an der Spitze

mehrerer Häscher erschien, und sich, als ob er daselbst ein Geschäft hätte, in das

gegenüberliegende Haus begab. Kohlhaas der mit der Ankleidung seiner Knaben beschäftigt,

diese Bewegungen gleichfalls bemerkte, und den Wagen absichtlich länger, als eben nötig

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gewesen wäre, vor dem Hause halten ließ, trat, sobald er die Anstalten der Polizei vollendet

sah, mit seinen Kindern, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, vor das Haus hinaus; und während

er dem Troß der Landsknechte, die unter der Tür standen, im Vorübergehen sagte, daß sie

nicht nötig hätten, ihm zu folgen, hob er die Jungen in den Wagen und küßte und tröstete die

kleinen weinenden Mädchen, die, seiner Anordnung gemäß, bei der Tochter des alten

Hausmanns zurückbleiben sollten. Kaum hatte er selbst den Wagen bestiegen, als der

Gubernial-Offiziant mit seinem Gefolge von Häschern, aus dem gegenüberliegenden Hause,

zu ihm herantrat, und ihn fragte: wohin er wolle? Auf die Antwort Kohlhaasens: »daß er zu

seinem Freund, dem Amtmann nach Lockewitz fahren wolle, der ihn vor einigen Tagen mit

seinen beiden Knaben zu sich aufs Land geladen«, antwortete der Gubernial-Offiziant: daß er

in diesem Fall einige Augenblicke warten müsse, indem einige berittene Landsknechte, dem

Befehl des Prinzen von Meißen gemäß, ihn begleiten würden. Kohlhaas fragte lächelnd von

dem Wagen herab: »ob er glaube, daß seine Person in dem Hause eines Freundes, der sich

erboten, ihn auf einen Tag an seiner Tafel zu bewirten, nicht sicher sei?« Der Offiziant

erwiderte auf eine heitere und angenehme Art: daß die Gefahr allerdings nicht groß sei;

wobei er hinzusetzte: daß ihm die Knechte auch auf keine Weise zur Last fallen sollten.

Kohlhaas versetzte ernsthaft: »daß ihm der Prinz von Meißen, bei seiner Ankunft in Dresden,

freigestellt, ob er sich der Wache bedienen wolle oder nicht«; und da der Offiziant sich über

diesen Umstand wunderte, und sich mit vorsichtigen Wendungen auf den Gebrauch, während

der ganzen Zeit seiner Anwesenheit, berief: so erzählte der Roßhändler ihm den Vorfall, der

die Einsetzung der Wache in seinem Hause veranlaßt hatte. Der Offiziant versicherte ihn, daß

die Befehle des Schloßhauptmanns, Freiherrn von Wenk, der in diesem Augenblick Chef der

Polizei sei, ihm die unausgesetzte Beschützung seiner Person zur Pflicht mache; und bat ihn,

falls er sich die Begleitung nicht gefallen lassen wolle, selbst auf das Gubernium zu gehen, um

den Irrtum, der dabei obwalten müsse, zu berichtigen. Kohlhaas, mit einem sprechenden

Blick, den er auf den Offizianten warf, sagte, entschlossen die Sache zu beugen oder zu

brechen: »daß er dies tun wolle«; stieg mit klopfendem Herzen von dem Wagen, ließ die

Kinder durch den Hausmann in den Flur tragen, und verfügte sich, während der Knecht mit

dem Fuhrwerk vor dem Hause halten blieb, mit dem Offizianten und seiner Wache in das

Gubernium. Es traf sich, daß der Schloßhauptmann, Freiherr Wenk eben mit der Besichtigung

einer Bande, am Abend zuvor eingebrachter Nagelschmidtscher Knechte, die man in der

Gegend von Leipzig aufgefangen hatte, beschäftigt war, und die Kerle über manche Dinge, die

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man gern von ihnen gehört hätte, von den Rittern, die bei ihm waren, befragt wurden, als der

Roßhändler mit seiner Begleitung zu ihm in den Saal trat. Der Freiherr, sobald er den

Roßhändler erblickte, ging, während die Ritter plötzlich still wurden, und mit dem Verhör der

Knechte einhielten, auf ihn zu, und fragte ihn: was er wolle? und da der Roßkamm ihm auf

ehrerbietige Weise sein Vorhaben, bei dem Verwalter in Lockewitz zu Mittag zu speisen, und

den Wunsch, die Landsknechte deren er dabei nicht bedürfe zurücklassen zu dürfen,

vorgetragen hatte, antwortete der Freiherr, die Farbe im Gesicht wechselnd, indem er eine

andere Rede zu verschlucken schien: »er würde wohl tun, wenn er sich still in seinem Hause

hielte, und den Schmaus bei dem Lockewitzer Amtmann vor der Hand noch aussetzte.« - Dabei

wandte er sich, das ganze Gespräch zerschneidend, dem Offizianten zu, und sagte ihm: »daß es

mit dem Befehl, den er ihm, in Bezug auf den Mann gegeben, sein Bewenden hätte, und daß

derselbe anders nicht, als in Begleitung sechs berittener Landsknechte die Stadt verlassen

dürfe.« - Kohlhaas fragte: ob er ein Gefangener wäre, und ob er glauben solle, daß die ihm

feierlich, vor den Augen der ganzen Welt angelobte Amnestie gebrochen sei? worauf der

Freiherr sich plötzlich glutrot im Gesichte zu ihm wandte, und, indem er dicht vor ihn trat, und

ihm in das Auge sah, antwortete: ja! ja! ja! - ihm den Rücken zukehrte, ihn stehen ließ, und

wieder zu den Nagelschmidtschen Knechten ging. Hierauf verließ Kohlhaas den Saal, und ob

er schon einsah, daß er sich das einzige Rettungsmittel, das ihm übrig blieb, die Flucht, durch

die Schritte die er getan, sehr erschwert hatte, so lobte er sein Verfahren gleichwohl, weil er

sich nunmehr auch seinerseits von der Verbindlichkeit den Artikeln der Amnestie

nachzukommen, befreit sah. Er ließ, da er zu Hause kam, die Pferde ausspannen, und begab

sich, in Begleitung des Gubernial-Offizianten, sehr traurig und erschüttert in sein Zimmer; und

während dieser Mann auf eine dem Roßhändler Ekel erregende Weise, versicherte, daß alles

nur auf einem Mißverständnis beruhen müsse, das sich in Kurzem lösen würde, verriegelten

die Häscher, auf seinen Wink, alle Ausgänge der Wohnung die auf den Hof führten; wobei der

Offiziant ihm versicherte, daß ihm der vordere Haupteingang nach wie vor, zu seinem

beliebigen Gebrauch offen stehe.

Inzwischen war der Nagelschmidt in den Wäldern des Erzgebirgs, durch Häscher und

Landsknechte von allen Seiten so gedrängt worden, daß er bei dem gänzlichen Mangel an

Hülfsmitteln, eine Rolle der Art, wie er sie übernommen, durchzuführen, auf den Gedanken

verfiel, den Kohlhaas in der Tat ins Interesse zu ziehen; und da er von der Lage seines

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Rechtsstreits in Dresden durch einen Reisenden, der die Straße zog, mit ziemlicher

Genauigkeit unterrichtet war: so glaubte er, der offenbaren Feindschaft, die unter ihnen

bestand, zum Trotz, den Roßhändler bewegen zu können, eine neue Verbindung mit ihm

einzugehen. Demnach schickte er einen Knecht, mit einem, in kaum leserlichem Deutsch

abgefaßten Schreiben an ihn ab, des Inhalts: »Wenn er nach dem Altenburgischen kommen,

und die Anführung des Haufens, der sich daselbst, aus Resten des aufgelösten

zusammengefunden, wieder übernehmen wolle, so sei er erbötig, ihm zur Flucht aus seiner

Haft in Dresden mit Pferden, Leuten und Geld an die Hand zu gehen; wobei er ihm versprach,

künftig gehorsamer und überhaupt ordentlicher und besser zu sein, als vorher, und sich zum

Beweis seiner Treue und Anhänglichkeit anheischig machte, selbst in die Gegend von

Dresden zu kommen, um seine Befreiung aus seinem Kerker zu bewirken.« Nun hatte der, mit

diesem Brief beauftragte Kerl das Unglück, in einem Dorf dicht vor Dresden, in Krämpfen

häßlicher Art, denen er von Jugend auf unterworfen war, niederzusinken; bei welcher

Gelegenheit der Brief, den er im Brustlatz trug, von Leuten, die ihm zu Hülfe kamen,

gefunden, er selbst aber, sobald er sich erholt, arretiert, und durch eine Wache unter

Begleitung vielen Volks, auf das Gubernium transportiert ward. Sobald der Schloßhauptmann

von Wenk diesen Brief gelesen hatte, verfügte er sich unverzüglich zum Kurfürsten aufs

Schloß, wo er die Herren Kunz und Hinz, welcher ersterer von seinen Wunden wieder

hergestellt war, und den Präsidenten der Staatskanzelei, Grafen Kallheim, gegenwärtig fand.

Die Herren waren der Meinung, daß der Kohlhaas ohne weiteres arretiert, und ihm, auf den

Grund geheimer Einverständnisse mit dem Nagelschmidt, der Prozeß gemacht werden müsse;

indem sie bewiesen, daß ein solcher Brief nicht, ohne daß frühere auch von Seiten des

Roßhändlers vorangegangen, und ohne daß überhaupt eine frevelhafte und verbrecherische

Verbindung, zu Schmiedung neuer Greuel, unter ihnen statt finden sollte, geschrieben sein

könne. Der Kurfürst weigerte sich standhaft, auf den Grund bloß dieses Briefes, dem Kohlhaas

das freie Geleit, das er ihm angelobt, zu brechen; er war vielmehr der Meinung, daß eine Art

von Wahrscheinlichkeit aus dem Briefe des Nagelschmidt hervorgehe, daß keine frühere

Verbindung zwischen ihnen statt gefunden habe; und alles, wozu er sich, um hierüber aufs

Reine zu kommen, auf den Vorschlag des Präsidenten, obschon nach großer Zögerung

entschloß, war, den Brief durch den von dem Nagelschmidt abgeschickten Knecht, gleichsam

als ob derselbe nach wie vor frei sei, an ihn abgeben zu lassen, und zu prüfen, ob er ihn

beantworten würde. Dem gemäß ward der Knecht, den man in ein Gefängnis gesteckt hatte,

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am andern Morgen auf das Gubernium geführt, wo der Schloßhauptmann ihm den Brief

wieder zustellte, und ihn unter dem Versprechen, daß er frei sein, und die Strafe die er

verwirkt, ihm erlassen sein solle, aufforderte, das Schreiben, als sei nichts vorgefallen, dem

Roßhändler zu übergeben; zu welcher List schlechter Art sich dieser Kerl auch ohne weiteres

gebrauchen ließ, und auf scheinbar geheimnisvolle Weise, unter dem Vorwand, daß er Krebse

zu verkaufen habe, womit ihn der Gubernial-Offiziant, auf dem Markte, versorgt hatte, zu

Kohlhaas ins Zimmer trat. Kohlhaas, der den Brief, während die Kinder mit den Krebsen

spielten, las, würde den Gauner gewiß unter andern Umständen beim Kragen genommen, und

den Landsknechten, die vor seiner Tür standen, überliefert haben; doch da bei der Stimmung

der Gemüter auch selbst dieser Schritt noch einer gleichgültigen Auslegung fähig war, und er

sich vollkommen überzeugt hatte, daß nichts auf der Welt ihn aus dem Handel, in dem er

verwickelt war, retten konnte: so sah er dem Kerl, mit einem traurigen Blick, in sein ihm

wohlbekanntes Gesicht, fragte ihn, wo er wohnte, und beschied ihn, in einigen Stunden,

wieder zu sich, wo er ihm, in Bezug auf seinen Herrn, seinen Beschluß eröffnen wolle. Er hieß

dem Sternbald, der zufällig in die Tür trat, dem Mann, der im Zimmer war, etliche Krebse

abkaufen; und nachdem dies Geschäft abgemacht war, und beide sich ohne einander zu

kennen, entfernt hatten, setzte er sich nieder und schrieb einen Brief folgenden Inhalts an

den Nagelschmidt: »Zuvörderst daß er seinen Vorschlag, die Oberanführung seines Haufens im

Altenburgischen betreffend, annähme; daß er dem gemäß, zur Befreiung aus der vorläufigen

Haft, in welcher er mit seinen fünf Kindern gehalten werde, ihm einen Wagen mit zwei

Pferden nach der Neustadt bei Dresden schicken solle; daß er auch, rascheren Fortkommens

wegen, noch eines Gespannes von zwei Pferden auf der Straße nach Wittenberg bedürfe, auf

welchem Umweg er allein, aus Gründen, die anzugeben zu weitläufig wären, zu ihm kommen

könne; daß er die Landsknechte, die ihn bewachten, zwar durch Bestechung gewinnen zu

können glaube, für den Fall aber daß Gewalt nötig sei, ein paar beherzte, gescheute und

wohlbewaffnete Knechte, in der Neustadt bei Dresden gegenwärtig wissen wolle; daß er ihm

zur Bestreitung der mit allen diesen Anstalten verbundenen Kosten, eine Rolle von zwanzig

Goldkronen durch den Knecht zuschicke, über deren Verwendung er sich, nach abgemachter

Sache, mit ihm berechnen wolle; daß er sich übrigens, weil sie unnötig sei, seine eigne

Anwesenheit bei seiner Befreiung in Dresden verbitte, ja ihm vielmehr den bestimmten

Befehl erteile, zur einstweiligen Anführung der Bande, die nicht ohne Oberhaupt sein könne,

im Altenburgischen zurückzubleiben.« - Diesen Brief, als der Knecht gegen Abend kam,

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überlieferte er ihm; beschenkte ihn selbst reichlich, und schärfte ihm ein, denselben wohl in

acht zu nehmen. - Seine Absicht war mit seinen fünf Kindern nach Hamburg zu gehen, und sich

von dort nach der Levante oder nach Ostindien, oder so weit der Himmel über andere

Menschen, als die er kannte, blau war, einzuschiffen: denn die Dickfütterung der Rappen hatte

seine, von Gram sehr gebeugte Seele auch unabhängig von dem Widerwillen, mit dem

Nagelschmidt deshalb gemeinschaftliche Sache zu machen, aufgegeben. - Kaum hatte der Kerl

diese Antwort dem Schloßhauptmann überbracht, als der Großkanzler abgesetzt, der

Präsident, Graf Kallheim, an dessen Stelle, zum Chef des Tribunals ernannt, und Kohlhaas, durch

einen Kabinettsbefehl des Kurfürsten arretiert, und schwer mit Ketten beladen in die

Stadttürme gebracht ward. Man machte ihm auf den Grund dieses Briefes, der an alle Ecken

der Stadt angeschlagen ward, den Prozeß; und da er vor den Schranken des Tribunals auf die

Frage, ob er die Handschrift anerkenne, dem Rat, der sie ihm vorhielt, antwortete: »ja!« zur

Antwort aber auf die Frage, ob er zu seiner Verteidigung etwas vorzubringen wisse, indem er

den Blick zur Erde schlug, erwiderte, »nein!« so ward er verurteilt, mit glühenden Zangen von

Schinderknechten gekniffen, gevierteilt, und sein Körper, zwischen Rad und Galgen,

verbrannt zu werden.

So standen die Sachen für den armen Kohlhaas in Dresden, als der Kurfürst von Brandenburg zu

seiner Rettung aus den Händen der Übermacht und Willkür auftrat, und ihn, in einer bei der

kurfürstlichen Staatskanzlei daselbst eingereichten Note, als brandenburgischen Untertan

reklamierte. Denn der wackere Stadthauptmann, Herr Heinrich von Geusau, hatte ihn, auf

einem Spaziergange an den Ufern der Spree, von der Geschichte dieses sonderbaren und

nicht verwerflichen Mannes unterrichtet, bei welcher Gelegenheit er von den Fragen des

erstaunten Herrn gedrängt, nicht umhin konnte, der Schuld zu erwähnen, die durch die

Unziemlichkeiten seines Erzkanzlers, des Grafen Siegfried von Kallheim, seine eigene Person

drückte: worüber der Kurfürst schwer entrüstet, den Erzkanzler, nachdem er ihn zur Rede

gestellt und befunden, daß die Verwandtschaft desselben mit dem Hause derer von Tronka an

allem schuld sei, ohne weiteres, mit mehreren Zeichen seiner Ungnade entsetzte, und den

Herrn Heinrich von Geusau zum Erzkanzler ernannte.

Es traf sich aber, daß die Krone Polen grade damals, indem sie mit dem Hause Sachsen, um

welchen Gegenstandes willen wissen wir nicht, im Streit lag, den Kurfürsten von Brandenburg,

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in wiederholten und dringenden Vorstellungen anging, sich mit ihr in gemeinschaftlicher

Sache gegen das Haus Sachsen zu verbinden; dergestalt, daß der Erzkanzler, Herr Geusau, der

in solchen Dingen nicht ungeschickt war, wohl hoffen durfte, den Wunsch seines Herrn, dem

Kohlhaas, es koste was es wolle, Gerechtigkeit zu verschaffen, zu erfüllen, ohne die Ruhe des

Ganzen auf eine mißlichere Art, als die Rücksicht auf einen einzelnen erlaubt, aufs Spiel zu

setzen. Demnach forderte der Erzkanzler nicht nur wegen gänzlich willkürlichen, Gott und

Menschen mißgefälligen Verfahrens, die unbedingte und ungesäumte Auslieferung des

Kohlhaas, um denselben, falls ihn eine Schuld drücke, nach brandenburgischen Gesetzen, auf

Klageartikel, die der Dresdner Hof deshalb durch einen Anwalt in Berlin anhängig machen

könne, zu richten; sondern er begehrte sogar selbst Pässe für einen Anwalt, den der Kurfürst

nach Dresden zu schicken willens sei, um dem Kohlhaas, wegen der ihm auf sächsischem

Grund und Boden abgenommenen Rappen und anderer himmelschreienden Mißhandlungen

und Gewalttaten halber, gegen den Junker Wenzel von Tronka, Recht zu verschaffen. Der

Kämmerer, Herr Kunz, der bei der Veränderung der Staatsämter in Sachsen zum Präsidenten

der Staatskanzlei ernannt worden war, und der aus mancherlei Gründen den Berliner Hof, in

der Bedrängnis in der er sich befand, nicht verletzen wollte, antwortete im Namen seines

über die eingegangene Note sehr niedergeschlagenen Herrn: »daß man sich über die

Unfreundschaftlichkeit und Unbilligkeit wundere, mit welcher man dem Hofe zu Dresden das

Recht abspreche, den Kohlhaas wegen Verbrechen, die er im Lande begangen, den Gesetzen

gemäß zu richten, da doch weltbekannt sei, daß derselbe ein beträchtliches Grundstück in der

Hauptstadt besitze, und sich selbst in der Qualität als sächsischen Bürger gar nicht verleugne.«

Doch da die Krone Polen bereits zur Ausfechtung ihrer Ansprüche einen Heerhaufen von

fünftausend Mann an der Grenze von Sachsen zusammenzog, und der Erzkanzler, Herr

Heinrich von Geusau, erklärte: »daß Kohlhaasenbrück, der Ort, nach welchem der Roßhändler

heiße, im Brandenburgischen liege, und daß man die Vollstreckung des über ihn

ausgesprochenen Todesurteils für eine Verletzung des Völkerrechts halten würde«: so rief der

Kurfürst, auf den Rat des Kämmerers, Herrn Kunz selbst, der sich aus diesem Handel

zurückzuziehen wünschte, den Prinzen Christiern von Meißen von seinen Gütern herbei, und

entschloß sich, auf wenige Worte dieses verständigen Herrn, den Kohlhaas, der Forderung

gemäß, an den Berliner Hof auszuliefern. Der Prinz, der obschon mit den Unziemlichkeiten die

vorgefallen waren, wenig zufrieden, die Leitung der Kohlhaasischen Sache auf den Wunsch

seines bedrängten Herrn, übernehmen mußte, fragte ihn, auf welchen Grund er nunmehr den

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Roßhändler bei dem Kammergericht zu Berlin verklagt wissen wolle; und da man sich auf den

leidigen Brief desselben an den Nagelschmidt, wegen der zweideutigen und unklaren

Umstände, unter welchen er geschrieben war, nicht berufen konnte, der früheren

Plünderungen und Einäscherungen aber, wegen des Plakats, worin sie ihm vergeben worden

waren, nicht erwähnen durfte: so beschloß der Kurfürst, der Majestät des Kaisers zu Wien

einen Bericht über den bewaffneten Einfall des Kohlhaas in Sachsen vorzulegen, sich über den

Bruch des von ihm eingesetzten öffentlichen Landfriedens zu beschweren, und sie, die

allerdings durch keine Amnestie gebunden war, anzuliegen, den Kohlhaas bei dem Hofgericht

zu Berlin deshalb durch einen Reichsankläger zur Rechenschaft zu ziehen. Acht Tage darauf

ward der Roßkamm durch den Ritter Friedrich von Malzahn, den der Kurfürst von Brandenburg

mit sechs Reutern nach Dresden geschickt hatte, geschlossen wie er war, auf einen Wagen

geladen, und mit seinen fünf Kindern, die man auf seine Bitte aus Findel- und Waisenhäusern

wieder zusammengesucht hatte, nach Berlin transportiert. Es traf sich daß der Kurfürst von

Sachsen auf die Einladung des Landdrosts, Grafen Aloysius von Kallheim, der damals an der

Grenze von Sachsen beträchtliche Besitzungen hatte, in Gesellschaft des Kämmerers, Herrn

Kunz, und seiner Gemahlin, der Dame Heloise, Tochter des Landdrosts und Schwester des

Präsidenten, andrer glänzenden Herren und Damen, Jagdjunker und Hofherren, die dabei

waren, nicht zu erwähnen, zu einem großen Hirschjagen, das man, um ihn zu erheitern,

angestellt hatte, nach Dahme gereist war; dergestalt, daß unter dem Dach bewimpelter Zelte,

die quer über die Straße auf einem Hügel erbaut waren, die ganze Gesellschaft vom Staub der

Jagd noch bedeckt unter dem Schall einer heitern vom Stamm einer Eiche herschallenden

Musik, von Pagen bedient und Edelknaben, an der Tafel saß, als der Roßhändler langsam mit

seiner Reuterbedeckung die Straße von Dresden daher gezogen kam. Denn die Erkrankung

eines der kleinen, zarten Kinder des Kohlhaas, hatte den Ritter von Malzahn, der ihn

begleitete, genötigt, drei Tage lang in Herzberg zurückzubleiben; von welcher Maßregel er,

dem Fürsten dem er diente deshalb allein verantwortlich, nicht nötig befunden hatte, der

Regierung zu Dresden weitere Kenntnis zu geben. Der Kurfürst, der mit halboffener Brust, den

Federhut, nach Art der Jäger, mit Tannenzweigen geschmückt, neben der Dame Heloise saß,

die, in Zeiten früherer Jugend, seine erste Liebe gewesen war, sagte von der Anmut des

Festes, das ihn umgaukelte, heiter gestimmt: »Lasset uns hingehen, und dem Unglücklichen,

wer es auch sei, diesen Becher mit Wein reichen!« Die Dame Heloise, mit einem herzlichen

Blick auf ihn, stand sogleich auf, und füllte, die ganze Tafel plündernd, ein silbernes Geschirr,

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das ihr ein Page reichte, mit Früchten, Kuchen und Brot an; und schon hatte, mit Erquickungen

jeglicher Art, die ganze Gesellschaft wimmelnd das Zelt verlassen, als der Landdrost ihnen mit

einem verlegenen Gesicht entgegen kam, und sie bat zurückzubleiben. Auf die betretene

Frage des Kurfürsten was vorgefallen wäre, daß er so bestürzt sei? antwortete der Landdrost

stotternd gegen den Kämmerer gewandt, daß der Kohlhaas im Wagen sei; auf welche

jedermann unbegreifliche Nachricht, indem weltbekannt war, daß derselbe bereits vor sechs

Tagen abgereist war, der Kämmerer, Herr Kunz, seinen Becher mit Wein nahm, und ihn, mit

einer Rückwendung gegen das Zelt, in den Sand schüttete. Der Kurfürst setzte, über und über

rot, den seinigen auf einen Teller, den ihm ein Edelknabe auf den Wink des Kämmerers zu

diesem Zweck vorhielt; und während der Ritter Friedrich von Malzahn, unter ehrfurchtsvoller

Begrüßung der Gesellschaft, die er nicht kannte, langsam durch die Zeltleinen, die über die

Straße liefen, nach Dahme weiter zog, begaben sich die Herrschaften, auf die Einladung des

Landdrosts, ohne weiter davon Notiz zu nehmen, ins Zelt zurück. Der Landdrost, sobald sich

der Kurfürst niedergelassen hatte, schickte unter der Hand nach Dahme, um bei dem

Magistrat daselbst die unmittelbare Weiterschaffung des Roßhändlers bewirken zu lassen;

doch da der Ritter, wegen bereits zu weit vorgerückter Tageszeit, bestimmt in dem Ort

übernachten zu wollen erklärte, so mußte man sich begnügen, ihn in einer dem Magistrat

zugehörigen Meierei, die, in Gebüschen versteckt, auf der Seite lag, geräuschlos

unterzubringen.

Nun begab es sich, daß gegen Abend, da die Herrschaften vom Wein und dem Genuß eines

üppigen Nachtisches zerstreut, den ganzen Vorfall wieder vergessen hatten, der Landdrost

den Gedanken auf die Bahn brachte, sich noch einmal, eines Rudels Hirsche wegen, der sich

hatte blicken lassen, auf den Anstand zu stellen; welchen Vorschlag die ganze Gesellschaft mit

Freuden ergriff, und paarweise nachdem sie sich mit Büchsen versorgt, über Gräben und

Hecken in die nahe Forst eilte: dergestalt, daß der Kurfürst und die Dame Heloise, die sich, um

dem Schauspiel beizuwohnen, an seinen Arm hing, von einem Boten, den man ihnen

zugeordnet hatte, unmittelbar, zu ihrem Erstaunen, durch den Hof des Hauses geführt

wurden, in welchem Kohlhaas mit den brandenburgischen Reutern befindlich war. Die Dame

als sie dies hörte, sagte: »kommt, gnädigster Herr, kommt!« und versteckte die Kette, die ihm

vom Halse herabhing, schäkernd in seinen seidenen Brustlatz: »laßt uns ehe der Troß

nachkommt in die Meierei schleichen, und den wunderlichen Mann, der darin übernachtet,

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betrachten!« Der Kurfürst, indem er errötend ihre Hand ergriff, sagte: Heloise! was fällt Euch

ein? Doch da sie, indem sie ihn betreten ansah, versetzte: »daß ihn ja in der Jägertracht, die ihn

decke, kein Mensch erkenne!« und ihn fortzog; und in eben diesem Augenblick ein paar

Jagdjunker, die ihre Neugierde schon befriedigt hatten, aus dem Hause heraustreten,

versichernd, daß in der Tat, vermöge einer Veranstaltung, die der Landdrost getroffen, weder

der Ritter noch der Roßhändler wisse, welche Gesellschaft in der Gegend von Dahme

versammelt sei; so drückte der Kurfürst sich den Hut lächelnd in die Augen, und sagte:

»Torheit, du regierst die Welt, und dein Sitz ist ein schöner weiblicher Mund!« - Es traf sich daß

Kohlhaas eben mit dem Rücken gegen die Wand auf einem Bund Stroh saß, und sein, ihm in

Herzberg erkranktes Kind mit Semmel und Milch fütterte, als die Herrschaften, um ihn zu

besuchen, in die Meierei traten; und da die Dame ihn, um ein Gespräch einzuleiten, fragte:

wer er sei? und was dem Kinde fehle? auch was er verbrochen und wohin man ihn unter

solcher Bedeckung abführe? so rückte er seine lederne Mütze vor ihr, und gab ihr auf alle

diese Fragen, indem er sein Geschäft fortsetzte, unreichliche aber befriedigende Antwort.

Der Kurfürst, der hinter den Jagdjunkern stand, und eine kleine bleierne Kapsel, die ihm an

einem seidenen Faden vom Halse herabhing, bemerkte, fragte ihn, da sich grade nichts

Besseres zur Unterhaltung darbot: was diese zu bedeuten hätte und was darin befindlich

wäre? Kohlhaas erwiderte: »ja, gestrenger Herr, diese Kapsel!« - und damit streifte er sie vom

Nacken ab, öffnete sie und nahm einen kleinen mit Mundlack versiegelten Zettel heraus - »mit

dieser Kugel hat es eine wunderliche Bewandtnis! Sieben Monden mögen es etwa sein, genau

am Tage nach dem Begräbnis meiner Frau; und von Kohlhaasenbrück, wie Euch vielleicht

bekannt sein wird, war ich aufgebrochen, um des Junkers von Tronka, der mir viel Unrecht

zugefügt, habhaft zu werden, als um einer Verhandlung willen, die mir unbekannt ist, der

Kurfürst von Sachsen und der Kurfürst von Brandenburg in Jüterbock, einem Marktflecken,

durch den der Streifzug mich führte, eine Zusammenkunft hielten; und da sie sich gegen

Abend ihren Wünschen gemäß vereinigt hatten, so gingen sie, in freundschaftlichem

Gespräch, durch die Straßen der Stadt, um den Jahrmarkt, der eben darin fröhlich abgehalten

ward, in Augenschein zu nehmen. Da trafen sie auf eine Zigeunerin, die, auf einem Schemel

sitzend, dem Volk, das sie umringte, aus dem Kalender wahrsagte, und fragten sie scherzhafter

Weise: ob sie ihnen nicht auch etwas, das ihnen lieb wäre, zu eröffnen hätte? Ich, der mit

meinem Haufen eben in einem Wirtshause abgestiegen, und auf dem Platz, wo dieser Vorfall

sich zutrug, gegenwärtig war, konnte hinter allem Volk, am Eingang einer Kirche, wo ich stand,

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nicht vernehmen, was die wunderliche Frau den Herren sagte; dergestalt, daß, da die Leute

lachend einander zuflüsterten, sie teile nicht jedermann ihre Wissenschaft mit, und sich des

Schauspiels wegen das sich bereitete, sehr bedrängten, ich, weniger neugierig, in der Tat, als

um den Neugierigen Platz zu machen, auf eine Bank stieg, die hinter mir im Kircheneingange

ausgehauen war. Kaum hatte ich von diesem Standpunkt aus, mit völliger Freiheit der

Aussicht, die Herrschaften und das Weib, das auf dem Schemel vor ihnen saß und etwas

aufzukritzeln schien, erblickt: da steht sie plötzlich auf ihre Krücken gelehnt, indem sie sich im

Volk umsieht, auf; faßt mich, der nie ein Wort mit ihr wechselte, noch ihrer Wissenschaft Zeit

seines Lebens begehrte, ins Auge; drängt sich durch den ganzen dichten Auflauf der

Menschen zu mir heran und spricht: ›da! wenn es der Herr wissen will, so mag er dich danach

fragen!‹ Und damit, gestrenger Herr, reichte sie mir mit ihren dürren knöchernen Händen

diesen Zettel dar. Und da ich betreten, während sich alles Volk zu mir umwendet, spreche:

Mütterchen, was auch verehrst du mir da? antwortete sie, nach vielem unvernehmlichen

Zeug, worunter ich jedoch zu meinem großen Befremden meinen Namen höre: ›ein Amulett,

Kohlhaas, der Roßhändler; verwahr es wohl, es wird dir dereinst das Leben retten!‹ und

verschwindet. - Nun!« fuhr Kohlhaas gutmütig fort: »die Wahrheit zu gestehen, hats mir in

Dresden, so scharf es herging, das Leben nicht gekostet; und wie es mir in Berlin gehen wird,

und ob ich auch dort damit bestehen werde, soll die Zukunft lehren.« - Bei diesen Worten

setzte sich der Kurfürst auf eine Bank; und ob er schon auf die betretne Frage der Dame: was

ihm fehle? antwortete: nichts, gar nichts! so fiel er doch schon ohnmächtig auf den Boden

nieder, ehe sie noch Zeit hatte ihm beizuspringen, und in ihre Arme aufzunehmen. Der Ritter

von Malzahn, der in eben diesem Augenblick, eines Geschäfts halber, ins Zimmer trat, sprach:

heiliger Gott! was fehlt dem Herrn? Die Dame rief: schafft Wasser her! Die Jagdjunker hoben

ihn auf und trugen ihn auf ein im Nebenzimmer befindliches Bett; und die Bestürzung

erreichte ihren Gipfel, als der Kämmerer, den ein Page herbeirief, nach mehreren

vergeblichen Bemühungen, ihn ins Leben zurückzubringen, erklärte: er gebe alle Zeichen von

sich, als ob ihn der Schlag gerührt! Der Landdrost, während der Mundschenk einen reitenden

Boten nach Luckau schickte, um einen Arzt herbeizuholen, ließ ihn, da er die Augen aufschlug,

in einen Wagen bringen, und Schritt vor Schritt nach seinem in der Gegend befindlichen

Jagdschloß abführen; aber diese Reise zog ihm, nach seiner Ankunft daselbst, zwei neue

Ohnmachten zu: dergestalt, daß er sich erst spät am andern Morgen, bei der Ankunft des

Arztes aus Luckau, unter gleichwohl entscheidenden Symptomen eines herannahenden

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Nervenfiebers, einigermaßen erholte. Sobald er seiner Sinne mächtig geworden war, richtete

er sich halb im Bette auf, und seine erste Frage war gleich: wo der Kohlhaas sei? Der

Kämmerer, der seine Frage mißverstand, sagte, indem er seine Hand ergriff: daß er sich dieses

entsetzlichen Menschen wegen beruhigen möchte, indem derselbe, seiner Bestimmung

gemäß, nach jenem sonderbaren und unbegreiflichen Vorfall, in der Meierei zu Dahme, unter

brandenburgischer Bedeckung, zurückgeblieben wäre. Er fragte ihn, unter der Versicherung

seiner lebhaftesten Teilnahme und der Beteurung, daß er seiner Frau, wegen des

unverantwortlichen Leichtsinns, ihn mit diesem Mann zusammenzubringen, die bittersten

Vorwürfe gemacht hätte: was ihn denn so wunderbar und ungeheuer in der Unterredung mit

demselben ergriffen hätte? Der Kurfürst sagte: er müsse ihm nur gestehen, daß der Anblick

eines nichtigen Zettels, den der Mann in einer bleiernen Kapsel mit sich führe, schuld an dem

ganzen unangenehmen Zufall sei, der ihm zugestoßen. Er setzte noch mancherlei zur

Erklärung dieses Umstands, das der Kämmerer nicht verstand, hinzu; versicherte ihn plötzlich,

indem er seine Hand zwischen die seinigen drückte, daß ihm der Besitz dieses Zettels von der

äußersten Wichtigkeit sei; und bat ihn, unverzüglich aufzusitzen, nach Dahme zu reiten, und

ihm den Zettel, um welchen Preis es immer sei, von demselben zu erhandeln. Der Kämmerer,

der Mühe hatte, seine Verlegenheit zu verbergen, versicherte ihn: daß, falls dieser Zettel

einigen Wert für ihn hätte, nichts auf der Welt notwendiger wäre, als dem Kohlhaas diesen

Umstand zu verschweigen; indem, sobald derselbe durch eine unvorsichtige Äußerung

Kenntnis davon nähme, alle Reichtümer, die er besäße, nicht hinreichen würden, ihn aus den

Händen dieses grimmigen, in seiner Rachsucht unersättlichen Kerls zu erkaufen. Er fügte, um

ihn zu beruhigen, hinzu, daß man auf ein anderes Mittel denken müsse, und daß es vielleicht

durch List, vermöge eines Dritten ganz Unbefangenen, indem der Bösewicht wahrscheinlich,

an und für sich, nicht sehr daran hänge, möglich sein würde, sich den Besitz des Zettels, an

dem ihm so viel gelegen sei, zu verschaffen. Der Kurfürst, indem er sich den Schweiß

abtrocknete, fragte: ob man nicht unmittelbar zu diesem Zweck nach Dahme schicken, und

den weiteren Transport des Roßhändlers, vorläufig, bis man des Blattes, auf welche Weise es

sei, habhaft geworden, einstellen könne? Der Kämmerer, der seinen Sinnen nicht traute,

versetzte: daß leider allen wahrscheinlichen Berechnungen zufolge, der Roßhändler Dahme

bereits verlassen haben, und sich jenseits der Grenze, auf brandenburgischem Grund und

Boden befinden müsse, wo das Unternehmen, die Fortschaffung desselben zu hemmen, oder

wohl gar rückgängig zu machen, die unangenehmsten und weitläufigsten, ja solche

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Schwierigkeiten, die vielleicht gar nicht zu beseitigen wären, veranlassen würde. Er fragte ihn,

da der Kurfürst sich schweigend, mit der Gebärde eines ganz Hoffnungslosen, auf das Kissen

zurücklegte: was denn der Zettel enthalte? und durch welchen Zufall befremdlicher und

unerklärlicher Art ihm, daß der Inhalt ihn betreffe, bekannt sei? Hierauf aber, unter

zweideutigen Blicken auf den Kämmerer, dessen Willfährigkeit er in diesem Falle mißtraute,

antwortete der Kurfürst nicht: starr, mit unruhig klopfendem Herzen lag er da, und sah auf die

Spitze des Schnupftuches nieder, das er gedankenvoll zwischen den Händen hielt; und bat ihn

plötzlich, den Jagdjunker vom Stein, einen jungen, rüstigen und gewandten Herrn, dessen er

sich öfter schon zu geheimen Geschäften bedient hatte, unter dem Vorwand, daß er ein

anderweitiges Geschäft mit ihm abzumachen habe, ins Zimmer zu rufen. Den Jagdjunker,

nachdem er ihm die Sache auseinandergelegt, und von der Wichtigkeit des Zettels, in dessen

Besitz der Kohlhaas war, unterrichtet hatte, fragte er, ob er sich ein ewiges Recht auf seine

Freundschaft erwerben, und ihm den Zettel, noch ehe derselbe Berlin erreicht, verschaffen

wolle? und da der Junker, sobald er das Verhältnis nur, sonderbar wie es war, einigermaßen

überschaute, versicherte, daß er ihm mit allen seinen Kräften zu Diensten stehe: so trug ihm

der Kurfürst auf, dem Kohlhaas nachzureiten, und ihm, da demselben mit Geld wahrscheinlich

nicht beizukommen sei, in einer mit Klugheit angeordneten Unterredung, Freiheit und Leben

dafür anzubieten, ja ihm, wenn er darauf bestehe, unmittelbar, obschon mit Vorsicht, zur

Flucht aus den Händen der brandenburgischen Reuter, die ihn transportierten, mit Pferden,

Leuten und Geld an die Hand zu gehen. Der Jagdjunker, nachdem er sich ein Blatt von der

Hand des Kurfürsten zur Beglaubigung ausgebeten, brach auch sogleich mit einigen Knechten

auf, und hatte, da er den Odem der Pferde nicht sparte, das Glück, den Kohlhaas auf einem

Grenzdorf zu treffen, wo derselbe mit dem Ritter von Malzahn und seinen fünf Kindern ein

Mittagsmahl, das im Freien vor der Tür eines Hauses angerichtet war, zu sich nahm. Der Ritter

von Malzahn, dem der Junker sich als einen Fremden, der bei seiner Durchreise den seltsamen

Mann, den er mit sich führe, in Augenschein zu nehmen wünsche, vorstellte, nötigte ihn

sogleich auf zuvorkommende Art, indem er ihn mit dem Kohlhaas bekannt machte, an der

Tafel nieder; und da der Ritter in Geschäften der Abreise ab und zuging, die Reuter aber an

einem, auf des Hauses anderer Seite befindlichen Tisch, ihre Mahlzeit hielten: so traf sich die

Gelegenheit bald, wo der Junker dem Roßhändler eröffnen konnte, wer er sei, und in welchen

besonderen Aufträgen er zu ihm komme. Der Roßhändler, der bereits Rang und Namen

dessen, der beim Anblick der in Rede stehenden Kapsel, in der Meierei zu Dahme in

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Ohnmacht gefallen war, kannte, und der zur Krönung des Taumels, in welchen ihn diese

Entdeckung versetzt hatte, nichts bedurfte, als Einsicht in die Geheimnisse des Zettels, den er,

um mancherlei Gründe willen, entschlossen war, aus bloßer Neugierde nicht zu eröffnen: der

Roßhändler sagte, eingedenk der unedelmütigen und unfürstlichen Behandlung, die er in

Dresden, bei seiner gänzlichen Bereitwilligkeit, alle nur möglichen Opfer zu bringen, hatte

erfahren müssen: »daß er den Zettel behalten wolle.« Auf die Frage des Jagdjunkers: was ihn

zu dieser sonderbaren Weigerung, da man ihm doch nichts Minderes, als Freiheit und Leben

dafür anbiete, veranlasse? antwortete Kohlhaas: »Edler Herr! Wenn Euer Landesherr käme, und

spräche, ich will mich, mit dem ganzen Troß derer, die mir das Szepter führen helfen,

vernichten - vernichten, versteht Ihr, welches allerdings der größeste Wunsch ist, den meine

Seele hegt: so würde ich ihm doch den Zettel noch, der ihm mehr wert ist, als das Dasein,

verweigern und sprechen: du kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun,

und ich wills!« Und damit, im Antlitz den Tod, rief er einen Reuter herbei, unter der

Aufforderung, ein gutes Stück Essen, das in der Schüssel übrig geblieben war, zu sich zu

nehmen; und für den ganzen Rest der Stunde, die er im Flecken zubrachte, für den Junker, der

an der Tafel saß, wie nicht vorhanden, wandte er sich erst wieder, als er den Wagen bestieg,

mit einem Blick, der ihn abschiedlich grüßte, zu ihm zurück.

Der Zustand des Kurfürsten, als er diese Nachricht bekam, verschlimmerte sich in dem Grade,

daß der Arzt, während drei verhängnisvoller Tage, seines Lebens wegen, das zu gleicher Zeit,

von so vielen Seiten angegriffen ward, in der größesten Besorgnis war. Gleichwohl stellte er

sich, durch die Kraft seiner natürlichen Gesundheit, nach dem Krankenlager einiger peinlich

zugebrachten Wochen wieder her; dergestalt wenigstens, daß man ihn in einen Wagen

bringen, und mit Kissen und Decken wohl versehen, nach Dresden zu seinen

Regierungsgeschäften wieder zurückführen konnte. Sobald er in dieser Stadt angekommen

war, ließ er den Prinzen Christiern von Meißen rufen, und fragte denselben: wie es mit der

Abfertigung des Gerichtsrats Eibenmayer stünde, den man, als Anwalt in der Sache des

Kohlhaas, nach Wien zu schicken gesonnen gewesen wäre, um kaiserlicher Majestät daselbst

die Beschwerde wegen gebrochenen, kaiserlichen Landfriedens, vorzulegen? Der Prinz

antwortete ihm: daß derselbe, dem, bei seiner Abreise nach Dahme hinterlassenen Befehl

gemäß, gleich nach Ankunft des Rechtsgelehrten Zäuner, den der Kurfürst von Brandenburg

als Anwalt nach Dresden geschickt hätte, um die Klage desselben, gegen den Junker Wenzel

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von Tronka, der Rappen wegen, vor Gericht zu bringen, nach Wien abgegangen wäre. Der

Kurfürst, indem er errötend an seinen Arbeitstisch trat, wunderte sich über diese Eilfertigkeit,

indem er seines Wissens erklärt hätte, die definitive Abreise des Eibenmayer, wegen vorher

notwendiger Rücksprache mit dem Doktor Luther, der dem Kohlhaas die Amnestie

ausgewirkt, einem näheren und bestimmteren Befehl vorbehalten zu wollen. Dabei warf er

einige Briefschaften und Akten, die auf dem Tisch lagen, mit dem Ausdruck zurückgehaltenen

Unwillens, über einander. Der Prinz, nach einer Pause, in welcher er ihn mit großen Augen

ansah, versetzte, daß es ihm leid täte, wenn er seine Zufriedenheit in dieser Sache verfehlt

habe; inzwischen könne er ihm den Beschluß des Staatsrats vorzeigen, worin ihm die

Abschickung des Rechtsanwalts, zu dem besagten Zeitpunkt, zur Pflicht gemacht worden

wäre. Er setzte hinzu, daß im Staatsrat von einer Rücksprache mit dem Doktor Luther, auf keine

Weise die Rede gewesen wäre; daß es früherhin vielleicht zweckmäßig gewesen sein möchte,

diesen geistlichen Herrn, wegen der Verwendung, die er dem Kohlhaas angedeihen lassen, zu

berücksichtigen, nicht aber jetzt mehr, nachdem man demselben die Amnestie vor den

Augen der ganzen Welt gebrochen, ihn arretiert, und zur Verurteilung und Hinrichtung an die

brandenburgischen Gerichte ausgeliefert hätte. Der Kurfürst sagte: das Versehen, den

Eibenmayer abgeschickt zu haben, wäre auch in der Tat nicht groß; inzwischen wünsche er,

daß derselbe vorläufig, bis auf weiteren Befehl, in seiner Eigenschaft als Ankläger zu Wien

nicht aufträte, und bat den Prinzen, deshalb das Erforderliche unverzüglich durch einen

Expressen, an ihn zu erlassen. Der Prinz antwortete: daß dieser Befehl leider um einen Tag zu

spät käme, indem der Eibenmayer bereits nach einem Berichte, der eben heute eingelaufen,

in seiner Qualität als Anwalt aufgetreten, und mit Einreichung der Klage bei der Wiener

Staatskanzlei vorgegangen wäre. Er setzte auf die betroffene Frage des Kurfürsten: wie dies

überall in so kurzer Zeit möglich sei? hinzu: daß bereits, seit der Abreise dieses Mannes drei

Wochen verstrichen wären, und daß die Instruktion, die er erhalten, ihm eine ungesäumte

Abmachung dieses Geschäfts, gleich nach seiner Ankunft in Wien zur Pflicht gemacht hätte.

Eine Verzögerung, bemerkte der Prinz, würde in diesem Fall um so unschicklicher gewesen

sein, da der brandenburgische Anwalt Zäuner, gegen den Junker Wenzel von Tronka mit dem

trotzigsten Nachdruck verfahre, und bereits auf eine vorläufige Zurückziehung der Rappen,

aus den Händen des Abdeckers, behufs ihrer künftigen Wiederherstellung, bei dem

Gerichtshof angetragen, und auch aller Einwendungen der Gegenpart ungeachtet,

durchgesetzt habe. Der Kurfürst, indem er die Klingel zog, sagte: »gleichviel! es hätte nichts

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zu bedeuten!« und nachdem er sich mit gleichgültigen Fragen: wie es sonst in Dresden stehe?

und was in seiner Abwesenheit vorgefallen sei? zu dem Prinzen zurückgewandt hatte: grüßte

er ihn, unfähig seinen innersten Zustand zu verbergen, mit der Hand, und entließ ihn. Er

forderte ihm noch an demselben Tage schriftlich, unter dem Vorwande, daß er die Sache, ihrer

politischen Wichtigkeit wegen, selbst bearbeiten wolle, die sämtlichen Kohlhaasischen Akten

ab; und da ihm der Gedanke, denjenigen zu verderben, von dem er allein über die

Geheimnisse des Zettels Auskunft erhalten konnte, unerträglich war: so verfaßte er einen

eigenhändigen Brief an den Kaiser, worin er ihn auf herzliche und dringende Weise bat, aus

wichtigen Gründen, die er ihm vielleicht in kurzer Zeit bestimmter auseinander legen würde,

die Klage, die der Eibenmayer gegen den Kohlhaas eingereicht, vorläufig bis auf einen

weitern Beschluß, zurücknehmen zu dürfen. Der Kaiser, in einer durch die Staatskanzlei

ausgefertigten Note, antwortete ihm: »daß der Wechsel, der plötzlich in seiner Brust

vorgegangen zu sein scheine, ihn aufs äußerste befremde; daß der sächsischerseits an ihn

erlassene Bericht, die Sache des Kohlhaas zu einer Angelegenheit gesamten heiligen

römischen Reichs gemacht hätte; daß demgemäß er, der Kaiser, als Oberhaupt desselben, sich

verpflichtet gesehen hätte, als Ankläger in dieser Sache bei dem Hause Brandenburg

aufzutreten; dergestalt, daß da bereits der Hof-Assessor Franz Müller, in der Eigenschaft als

Anwalt nach Berlin gegangen wäre, um den Kohlhaas daselbst, wegen Verletzung des

öffentlichen Landfriedens, zur Rechenschaft zu ziehen, die Beschwerde nunmehr auf keine

Weise zurückgenommen werden könne, und die Sache den Gesetzen gemäß, ihren weiteren

Fortgang nehmen müsse.« Dieser Brief schlug den Kurfürsten völlig nieder; und da, zu seiner

äußersten Betrübnis, in einiger Zeit Privatschreiben aus Berlin einliefen, in welchen die

Einleitung des Prozesses bei dem Kammergericht gemeldet, und bemerkt ward, daß der

Kohlhaas wahrscheinlich, aller Bemühungen des ihm zugeordneten Advokaten ungeachtet,

auf dem Schafott enden werde: so beschloß dieser unglückliche Herr noch einen Versuch zu

machen, und bat den Kurfürsten von Brandenburg, in einer eigenhändigen Zuschrift, um des

Roßhändlers Leben. Er schützte vor, daß die Amnestie, die man diesem Manne angelobt, die

Vollstreckung eines Todesurteils an demselben, füglicher Weise, nicht zulasse; versicherte ihn,

daß es, trotz der scheinbaren Strenge, mit welcher man gegen ihn verfahren, nie seine

Absicht gewesen wäre, ihn sterben zu lassen; und beschrieb ihm, wie trostlos er sein würde,

wenn der Schutz, den man vorgegeben hätte, ihm von Berlin aus angedeihen lassen zu wollen,

zuletzt, in einer unerwarteten Wendung, zu seinem größeren Nachteile ausschlage, als wenn

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er in Dresden geblieben, und seine Sache nach sächsischen Gesetzen entschieden worden

wäre. Der Kurfürst von Brandenburg, dem in dieser Angabe mancherlei zweideutig und unklar

schien, antwortete ihm: »daß der Nachdruck, mit welchem der Anwalt kaiserlicher Majestät

verführe, platterdings nicht erlaube, dem Wunsch, den er ihm geäußert, gemäß, von der

strengen Vorschrift der Gesetze abzuweichen. Er bemerkte, daß die ihm vorgelegte Besorgnis

in der Tat zu weit ginge, indem die Beschwerde, wegen der dem Kohlhaas in der Amnestie

verziehenen Verbrechen ja nicht von ihm, der demselben die Amnestie erteilt, sondern von

dem Reichsoberhaupt, das daran auf keine Weise gebunden sei, bei dem Kammergericht zu

Berlin anhängig gemacht worden wäre. Dabei stellte er ihm vor, wie notwendig bei den

fortdauernden Gewalttätigkeiten des Nagelschmidt, die sich sogar schon, mit unerhörter

Dreistigkeit, bis aufs brandenburgische Gebiet erstreckten, die Statuierung eines

abschreckenden Beispiels wäre, und bat ihn, falls er dies alles nicht berücksichtigen wolle, sich

an des Kaisers Majestät selbst zu wenden, indem, wenn dem Kohlhaas zu Gunsten ein

Machtspruch fallen sollte, dies allein auf eine Erklärung von dieser Seite her geschehen

könne.« Der Kurfürst, aus Gram und Ärger über alle diese mißglückten Versuche, verfiel in

eine neue Krankheit; und da der Kämmerer ihn an einem Morgen besuchte, zeigte er ihm die

Briefe, die er, um dem Kohlhaas das Leben zu fristen, und somit wenigstens Zeit zu gewinnen,

des Zettels, den er besäße, habhaft zu werden, an den Wiener und Berliner Hof erlassen. Der

Kämmerer warf sich auf Knieen vor ihm nieder, und bat ihn, um alles was ihm heilig und teuer

sei, ihm zu sagen, was dieser Zettel enthalte? Der Kurfürst sprach, er möchte das Zimmer

verriegeln, und sich auf das Bett niedersetzen; und nachdem er seine Hand ergriffen, und mit

einem Seufzer an sein Herz gedrückt hatte, begann er folgendergestalt: »Deine Frau hat dir,

wie ich höre, schon erzählt, daß der Kurfürst von Brandenburg und ich, am dritten Tage der

Zusammenkunft, die wir in Jüterbock hielten, auf eine Zigeunerin trafen; und da der Kurfürst,

aufgeweckt wie er von Natur ist, beschloß, den Ruf dieser abenteuerlichen Frau, von deren

Kunst, eben bei der Tafel, auf ungebührliche Weise die Rede gewesen war, durch einen Scherz

im Angesicht alles Volks zu nichte zu machen: so trat er mit verschränkten Armen vor ihren

Tisch, und forderte, der Weissagung wegen, die sie ihm machen sollte, ein Zeichen von ihr, das

sich noch heute erproben ließe, vorschützend, daß er sonst nicht, und wäre sie auch die

römische Sibylle selbst, an ihre Worte glauben könne. Die Frau, indem sie uns flüchtig von Kopf

zu Fuß maß, sagte: das Zeichen würde sein, daß uns der große, gehörnte Rehbock, den der

Sohn des Gärtners im Park erzog, auf dem Markt, worauf wir uns befanden, bevor wir ihn noch

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verlassen, entgegenkommen würde. Nun mußt du wissen, daß dieser, für die Dresdner Küche

bestimmte Rehbock, in einem mit Latten hoch verzäunten Verschlage, den die Eichen des

Parks beschatteten, hinter Schloß und Riegel aufbewahrt ward, dergestalt, daß, da überdies

anderen kleineren Wildes und Geflügels wegen, der Park überhaupt und obenein der Garten,

der zu ihm führte, in sorgfältigem Beschluß gehalten ward, schlechterdings nicht abzusehen

war, wie uns das Tier, diesem sonderbaren Vorgeben gemäß, bis auf dem Platz, wo wir standen,

entgegenkommen würde; gleichwohl schickte der Kurfürst aus Besorgnis vor einer dahinter

steckenden Schelmerei, nach einer kurzen Abrede mit mir, entschlossen, auf unabänderliche

Weise, alles was sie noch vorbringen wurde, des Spaßes wegen, zu Schanden zu machen, ins

Schloß, und befahl, daß der Rehbock augenblicklich getötet, und für die Tafel, an einem der

nächsten Tage, zubereitet werden solle. Hierauf wandte er sich zu der Frau, vor welcher diese

Sache laut verhandelt worden war, zurück, und sagte: nun, Wohlan! was hast du mir für die

Zukunft zu entdecken? Die Frau, indem sie in seine Hand sah, sprach: Heil meinem Kurfürsten

und Herrn! Deine Gnaden wird lange regieren, das Haus, aus dem du stammst, lange bestehen,

und deine Nachkommen groß und herrlich werden und zu Macht gelangen, vor allen Fürsten

und Herren der Welt! Der Kurfürst, nach einer Pause, in welcher er die Frau gedankenvoll

ansah, sagte halblaut, mit einem Schritte, den er zu mir tat, daß es ihm jetzo fast leid täte,

einen Boten abgeschickt zu haben, um die Weissagung zu nichte zu machen; und während das

Geld aus den Händen der Ritter, die ihm folgten, der Frau haufenweise unter vielem Jubel, in

den Schoß regnete, fragte er sie, indem er selbst in die Tasche griff, und ein Goldstück dazu

legte: ob der Gruß, den sie mir zu eröffnen hätte, auch von so silbernem Klang wäre, als der

seinige? Die Frau, nachdem sie einen Kasten, der ihr zur Seite stand, aufgemacht, und das Geld,

nach Sorte und Menge, weitläufig und umständlich darin geordnet, und den Kasten wieder

verschlossen hatte, schützte ihre Hand vor die Sonne, gleichsam als ob sie ihr lästig wäre, und

sah mich an; und da ich die Frage an sie wiederholte, und, auf scherzhafte Weise, während sie

meine Hand prüfte, zum Kurfürsten sagte: mir, scheint es, hat sie nichts, das eben angenehm

wäre, zu verkündigen: so ergriff sie ihre Krücken, hob sich langsam daran vom Schemel empor,

und indem sie sich, mit geheimnisvoll vorgehaltenen Händen, dicht zu mir heran drängte,

flüsterte sie mir vernehmlich ins Ohr: nein! - So! sagt ich verwirrt, und trat einen Schritt vor

der Gestalt zurück, die sich, mit einem Blick, kalt und leblos, wie aus marmornen Augen, auf

den Schemel, der hinter ihr stand, zurücksetzte: von welcher Seite her droht meinem Hause

Gefahr? Die Frau, indem sie eine Kohle und ein Papier zur Hand nahm und ihre Kniee kreuzte,

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fragte: ob sie es mir aufschreiben solle? und da ich, verlegen in der Tat, bloß weil mir, unter

den bestehenden Umständen, nichts anders übrig blieb, antwortete: ja! das tu! so versetzte

sie: ›wohlan! dreierlei schreib ich dir auf: den Namen des letzten Regenten deines Hauses, die

Jahreszahl, da er sein Reich verlieren, und den Namen dessen, der es, durch die Gewalt der

Waffen, an sich reißen wird.‹ Dies, vor den Augen allen Volks abgemacht, erhebt sie sich,

verklebt den Zettel mit Lack, den sie in ihrem welken Munde befeuchtet, und drückt einen

bleiernen, an ihrem Mittelfinger befindlichen Siegelring darauf. Und da ich den Zettel,

neugierig, wie du leicht begreifst, mehr als Worte sagen können, erfassen will, spricht sie: ›mit

nichten, Hoheit!‹ und wendet sich und hebt ihrer Krücken eine empor: ›von jenem Mann dort,

der, mit dem Federhut, auf der Bank steht, hinter allem Volk, am Kircheneingang, lösest du,

wenn es dir beliebt, den Zettel ein!‹ Und damit, ehe ich noch recht begriffen, was sie sagt, auf

dem Platz, vor Erstaunen sprachlos, läßt sie mich stehen; und während sie den Kasten, der

hinter ihr stand, zusammenschlug, und über den Rücken warf, mischt sie sich, ohne daß ich

weiter bemerken konnte, was sie tut, unter den Haufen des uns umringenden Volks. Nun trat,

zu meinem in der Tat herzlichen Trost, in eben diesem Augenblick der Ritter auf, den der

Kurfürst ins Schloß geschickt hatte, und meldete ihm, mit lachendem Munde, daß der Rehbock

getötet, und durch zwei Jäger, vor seinen Augen, in die Küche geschleppt worden sei. Der

Kurfürst, indem er seinen Arm munter in den meinigen legte, in der Absicht, mich von dem

Platz hinwegzuführen, sagte: nun, wohlan! so war die Prophezeiung eine alltägliche Gaunerei,

und Zeit und Gold, die sie uns gekostet nicht wert! Aber wie groß war unser Erstaunen, da sich,

noch während dieser Worte, ein Geschrei rings auf dem Platze erhob, und aller Augen sich

einem großen, vom Schloßhof herantrabenden Schlächterhund zuwandten, der in der Küche

den Rehbock als gute Beute beim Nacken erfaßt, und das Tier drei Schritte von uns, verfolgt

von Knechten und Mägden, auf den Boden fallen ließ: dergestalt, daß in der Tat die

Prophezeiung des Weibes, zum Unterpfand alles dessen, was sie vorgebracht, erfüllt, und der

Rehbock uns bis auf den Markt, obschon allerdings tot, entgegen gekommen war. Der Blitz,

der an einem Wintertag vom Himmel fällt, kann nicht vernichtender treffen, als mich dieser

Anblick, und meine erste Bemühung, sobald ich der Gesellschaft in der ich mich befand,

überhoben, war gleich, den Mann mit dem Federhut, den mir das Weib bezeichnet hatte,

auszumitteln; doch keiner meiner Leute, unausgesetzt während drei Tage auf Kundschaft

geschickt, war im Stande mir auch nur auf die entfernteste Weise Nachricht davon zu geben:

und jetzt, Freund Kunz, vor wenig Wochen, in der Meierei zu Dahme, habe ich den Mann mit

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meinem eigenen Augen gesehn.« - Und damit ließ er die Hand des Kämmerers fahren; und

während er sich den Schweiß abtrocknete, sank er wieder auf das Lager zurück. Der Kämmerer,

der es für vergebliche Mühe hielt, mit seiner Ansicht von diesem Vorfall die Ansicht, die der

Kurfürst davon hatte, zu durchkreuzen und zu berichtigen, bat ihn, doch irgend ein Mittel zu

versuchen, des Zettels habhaft zu werden, und den Kerl nachher seinem Schicksal zu

überlassen; doch der Kurfürst antwortete, daß er platterdings kein Mittel dazu sähe, obschon

der Gedanke, ihn entbehren zu müssen, oder wohl gar die Wissenschaft davon mit diesem

Menschen untergehen zu sehen, ihn dem Jammer und der Verzweiflung nahe brächte. Auf die

Frage des Freundes: ob er denn Versuche gemacht, die Person der Zigeunerin selbst

auszuforschen? erwiderte der Kurfürst, daß das Gubernium, auf einen Befehl, den er unter

einem falschen Vorwand an dasselbe erlassen, diesem Weibe vergebens, bis auf den heutigen

Tag, in allen Plätzen des Kurfürstentums nachspüre: wobei er, aus Gründen, die er jedoch

näher zu entwickeln sich weigerte, überhaupt zweifelte, daß sie in Sachsen auszumitteln sei.

Nun traf es sich, daß der Kämmerer, mehrerer beträchtlichen Güter wegen, die seiner Frau aus

der Hinterlassenschaft des abgesetzten und bald darauf verstorbenen Erzkanzlers, Grafen

Kallheim, in der Neumark zugefallen waren, nach Berlin reisen wollte; dergestalt, daß, da er

den Kurfürsten in der Tat liebte, er ihn nach einer kurzen Überlegung fragte: ob er ihm in

dieser Sache freie Hand lassen wolle? und da dieser, indem er seine Hand herzlich an seine

Brust drückte, antwortete: »denke, du seist ich, und schaff mir den Zettel!« so beschleunigte

der Kämmerer, nachdem er seine Geschäfte abgegeben, um einige Tage seine Abreise, und

fuhr, mit Zurücklassung seiner Frau, bloß von einigen Bedienten begleitet, nach Berlin ab.

Kohlhaas, der inzwischen, wie schon gesagt, in Berlin angekommen, und, auf einen

Spezialbefehl des Kurfürsten, in ein ritterliches Gefängnis gebracht worden war, das ihn mit

seinen fünf Kindern, so bequem als es sich tun ließ, empfing, war gleich nach Erscheinung des

kaiserlichen Anwalts aus Wien, auf den Grund wegen Verletzung des öffentlichen, kaiserlichen

Landfriedens, vor den Schranken des Kammergerichts zur Rechenschaft gezogen worden; und

ob er schon in seiner Verantwortung einwandte, daß er wegen seines bewaffneten Einfalls in

Sachsen, und der dabei verübten Gewalttätigkeiten, kraft des mit dem Kurfürsten von Sachsen

zu Lützen abgeschlossenen Vergleichs, nicht belangt werden könne: so erfuhr er doch, zu

seiner Belehrung, daß des Kaisers Majestät, deren Anwalt hier die Beschwerde führe, darauf

keine Rücksicht nehmen könne: ließ sich auch sehr bald, da man ihm die Sache auseinander

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setzte und erklärte, wie ihm dagegen von Dresden her, in seiner Sache gegen den Junker

Wenzel von Tronka, völlige Genugtuung widerfahren werde, die Sache gefallen. Demnach traf

es sich, daß grade am Tage der Ankunft des Kämmerers, das Gesetz über ihn sprach, und er

verurteilt ward mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht zu werden; ein Urteil, an

dessen Vollstreckung gleichwohl, bei der verwickelten Lage der Dinge, seiner Milde

ungeachtet, niemand glaubte, ja, das die ganze Stadt, bei dem Wohlwollen das der Kurfürst für

den Kohlhaas trug, unfehlbar durch ein Machtwort desselben, in eine bloße, vielleicht

beschwerliche und langwierige Gefängnisstrafe verwandelt zu sehen hoffte. Der Kämmerer,

der gleichwohl einsah, daß keine Zeit zu verlieren sein möchte, falls der Auftrag, den ihm sein

Herr gegeben, in Erfüllung gehen sollte, fing sein Geschäft damit an, sich dem Kohlhaas, am

Morgen eines Tages, da derselbe in harmloser Betrachtung der Vorübergehenden, am Fenster

seines Gefängnisses stand, in seiner gewöhnlichen Hoftracht, genau und umständlich zu

zeigen; und da er, aus einer plötzlichen Bewegung seines Kopfes, schloß, daß der Roßhändler

ihn bemerkt hatte, und besonders, mit großem Vergnügen, einen unwillkürlichen Griff

desselben mit der Hand auf die Gegend der Brust, wo die Kapsel lag, wahrnahm: so hielt er das,

was in der Seele desselben in diesem Augenblick vorgegangen war, für eine hinlängliche

Vorbereitung, um in dem Versuch, des Zettels habhaft zu werden, einen Schritt weiter

vorzurücken. Er bestellte ein altes, auf Krücken herumwandelndes Trödelweib zu sich, das er

in den Straßen von Berlin, unter einem Troß andern, mit Lumpen handelnden Gesindels

bemerkt hatte, und das ihm, dem Alter und der Tracht nach, ziemlich mit dem, das ihm der

Kurfürst beschrieben hatte, übereinzustimmen schien; und in der Voraussetzung, der

Kohlhaas werde sich die Züge derjenigen, die ihm in einer flüchtigen Erscheinung den Zettel

überreicht hatte, nicht eben tief eingeprägt haben, beschloß er, das gedachte Weib statt ihrer

unterzuschieben, und bei Kohlhaas, wenn es sich tun ließe, die Rolle, als ob sie die Zigeunerin

wäre, spielen zu lassen. Dem gemäß, um sie dazu in Stand zu setzen, unterrichtete er sie

umständlich von allem, was zwischen dem Kurfürsten und der gedachten Zigeunerin in

Jüterbock vorgefallen war, wobei er, weil er nicht wußte, wie weit das Weib in ihren

Eröffnungen gegen den Kohlhaas gegangen war, nicht vergaß, ihr besonders die drei

geheimnisvollen, in dem Zettel enthaltenen Artikel einzuschärfen; und nachdem er ihr

auseinandergesetzt hatte, was sie, auf abgerissene und unverständliche Weise, fallen lassen

müsse, gewisser Anstalten wegen, die man getroffen, sei es durch List oder durch Gewalt, des

Zettels, der dem sächsischen Hofe von der äußersten Wichtigkeit sei, habhaft zu werden, trug

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er ihr auf, dem Kohlhaas den Zettel, unter dem Vorwand, daß derselbe bei ihm nicht mehr

sicher sei, zur Aufbewahrung während einiger verhängnisvollen Tage, abzufordern. Das

Trödelweib übernahm auch sogleich gegen die Verheißung einer beträchtlichen Belohnung,

wovon der Kämmerer ihr auf ihre Forderung einen Teil im voraus bezahlen mußte, die

Ausführung des besagten Geschäfts; und da die Mutter des bei Mühlberg gefallenen Knechts

Herse, den Kohlhaas, mit Erlaubnis der Regierung, zuweilen besuchte, diese Frau ihr aber seit

einigen Monden her, bekannt war: so gelang es ihr, an einem der nächsten Tage, vermittelst

einer kleinen Gabe an den Kerkermeister, sich bei dem Roßkamm Eingang zu verschaffen. -

Kohlhaas aber, als diese Frau zu ihm eintrat, meinte, an einem Siegelring, den sie an der Hand

trug, und einer ihr vom Hals herabhängenden Korallenkette, die bekannte alte Zigeunerin

selbst wieder zu erkennen, die ihm in Jüterbock den Zettel überreicht hatte; und wie denn

die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist, so traf es sich, daß hier etwas

geschehen war, das wir zwar berichten: die Freiheit aber, daran zu zweifeln, demjenigen, dem

es wohlgefällt, zugestehen müssen: der Kämmerer hatte den ungeheuersten Mißgriff

begangen, und in dem alten Trödelweib, das er in den Straßen von Berlin aufgriff, um die

Zigeunerin nachzuahmen, die geheimnisreiche Zigeunerin selbst getroffen, die er

nachgeahmt wissen wollte. Wenigstens berichtete das Weib, indem sie, auf ihre Krücken

gestützt, die Wangen der Kinder streichelte, die sich, betroffen von ihrem wunderlichen

Anblick, an den Vater lehnten: daß sie schon seit geraumer Zeit aus dem Sächsischen ins

Brandenburgische zurückgekehrt sei, und sich, auf eine, in den Straßen von Berlin

unvorsichtig gewagte Frage des Kämmerers, nach der Zigeunerin, die im Frühjahr des

verflossenen Jahres, in Jüterbock gewesen, sogleich an ihn gedrängt, und, unter einem

falschen Namen, zu dem Geschäfte, das er besorgt wissen wollte, angeraten habe. Der

Roßhändler, der eine sonderbare Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem verstorbenen Weibe

Lisbeth bemerkte, dergestalt, daß er sie hätte fragen können, ob sie ihre Großmutter sei: denn

nicht nur, daß die Züge ihres Gesichts, ihre Hände, auch in ihrem knöchernen Bau noch schön,

und besonders der Gebrauch, den sie davon im Reden machte, ihn aufs lebhafteste an sie

erinnerten: auch ein Mal, womit seiner Frauen Hals bezeichnet war, bemerkte er an dem

ihrigen - der Roßhändler nötigte sie, unter Gedanken, die sich seltsam in ihm kreuzten, auf

einen Stuhl nieder, und fragte, was sie in aller Welt in Geschäften des Kämmerers zu ihm

führe? Die Frau, während der alte Hund des Kohlhaas ihre Kniee umschnüffelte, und von ihrer

Hand gekraut, mit dem Schwanz wedelte, antwortete: »der Auftrag, den ihr der Kämmerer

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gegeben, wäre, ihm zu eröffnen, auf welche drei dem sächsischen Hofe wichtigen Fragen der

Zettel geheimnisvolle Antwort enthalte; ihn vor einem Abgesandten, der sich in Berlin

befinde, um seiner habhaft zu werden, zu warnen: und ihm den Zettel, unter dem Vorwande,

daß er an seiner Brust, wo er ihn trage, nicht mehr sicher sei, abzufordern. Die Absicht aber, in

der sie komme, sei, ihm zu sagen, daß die Drohung ihn durch Arglist oder Gewalttätigkeit um

den Zettel zu bringen, abgeschmackt, und ein leeres Trugbild sei; daß er unter dem Schutz des

Kurfürsten von Brandenburg, in dessen Verwahrsam er sich befinde, nicht das Mindeste für

denselben zu befürchten habe, ja, daß das Blatt bei ihm weit sicherer sei, als bei ihr, und daß er

sich wohl hüten möchte, sich durch Ablieferung desselben, an wen und unter welchem

Vorwand es auch sei, darum bringen zu lassen. - Gleichwohl schloß sie, daß sie es für klug

hielte, von dem Zettel den Gebrauch zu machen, zu welchem sie ihm denselben auf dem

Jahrmarkt zu Jüterbock eingehändigt, dem Antrag, den man ihm auf der Grenze durch den

Junker vom Stein gemacht, Gehör zu geben, und den Zettel, der ihm selbst weiter nichts

nutzen könne, für Freiheit und Leben an den Kurfürsten von Sachsen auszuliefern.« Kohlhaas,

der über die Macht jauchzte, die ihm gegeben war, seines Feindes Ferse, in dem Augenblick,

da sie ihn in den Staub trat, tödlich zu verwunden, antwortete: nicht um die Welt, Mütterchen,

nicht um die Welt! und drückte der Alten Hand, und wollte nur wissen, was für Antworten auf

die ungeheuren Fragen im Zettel enthalten wären? Die Frau, inzwischen sie das Jüngste, das

sich zu ihren Füßen niedergekauert hatte, auf den Schoß nahm, sprach: »nicht um die Welt,

Kohlhaas, der Roßhändler; aber um diesen hübschen, kleinen, blonden Jungen!« und damit

lachte sie ihn an, hetzte und küßte ihn, der sie mit großen Augen ansah, und reichte ihm, mit

ihren dürren Händen, einen Apfel, den sie in ihrer Tasche trug, dar. Kohlhaas sagte verwirrt:

daß die Kinder selbst, wenn sie groß wären, ihn, um seines Verfahrens loben würden, und daß

er, für sie und ihre Enkel nichts Heilsameres tun könne, als den Zettel behalten. Zudem fragte

er, wer ihn, nach der Erfahrung, die er gemacht, vor einem neuen Betrug sicher stelle, und ob

er nicht zuletzt, unnützer Weise, den Zettel, wie jüngst den Kriegshaufen, den er in Lützen

zusammengebracht, an den Kurfürsten aufopfern würde? »Wer mir sein Wort einmal

gebrochen«, sprach er, »mit dem wechsle ich keins mehr; und nur deine Forderung, bestimmt

und unzweideutig, trennt mich, gutes Mütterchen, von dem Blatt, durch welches mir für alles,

was ich erlitten, auf so wunderbare Weise Genugtuung geworden ist.« Die Frau, indem sie das

Kind auf den Boden setzte, sagte: daß er in mancherlei Hinsicht recht hätte, und daß er tun

und lassen könnte, was er wollte! Und damit nahm sie ihre Krücken wieder zur Hand, und

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wollte gehn. Kohlhaas wiederholte seine Frage, den Inhalt des wunderbaren Zettels

betreffend; er wünschte, da sie flüchtig antwortete: »daß er ihn ja eröffnen könne, obschon es

eine bloße Neugierde wäre«, noch über tausend andere Dinge, bevor sie ihn verließe,

Aufschluß zu erhalten; wer sie eigentlich sei, woher sie zu der Wissenschaft, die ihr inwohne,

komme, warum sie dem Kurfürsten, für den er doch geschrieben, den Zettel verweigert, und

grade ihm, unter so vielen tausend Menschen, der ihrer Wissenschaft nie begehrt, das

Wunderblatt überreicht habe? - - Nun traf es sich, daß in eben diesem Augenblick ein Geräusch

hörbar ward, das einige Polizei-Offizianten, die die Treppe heraufstiegen, verursachten;

dergestalt, daß das Weib, von plötzlicher Besorgnis, in diesen Gemächern von ihnen betroffen

zu werden, ergriffen, antwortete: »auf Wiedersehen Kohlhaas, auf Wiedersehn! Es soll dir,

wenn wir uns wiedertreffen, an Kenntnis über dies alles nicht fehlen!« Und damit, indem sie

sich gegen die Tür wandte, rief sie: »lebt wohl, Kinderchen, lebt wohl!« küßte das kleine

Geschlecht nach der Reihe, und ging ab.

Inzwischen hatte der Kurfürst von Sachsen, seinen jammervollen Gedanken preisgegeben,

zwei Astrologen, namens Oldenholm und Olearius, welche damals in Sachsen in großem

Ansehen standen, herbeigerufen, und wegen des Inhalts des geheimnisvollen, ihm und dem

ganzen Geschlecht seiner Nachkommen so wichtigen Zettels zu Rate gezogen; und da die

Männer, nach einer, mehrere Tage lang im Schloßturm zu Dresden fortgesetzten, tiefsinnigen

Untersuchung, nicht einig werden konnten, ob die Prophezeiung sich auf späte Jahrhunderte

oder aber auf die jetzige Zeit beziehe, und vielleicht die Krone Polen, mit welcher die

Verhältnisse immer noch sehr kriegerisch waren, damit gemeint sei: so wurde durch solchen

gelehrten Streit, statt sie zu zerstreuen, die Unruhe, um nicht zu sagen, Verzweiflung, in

welcher sich dieser unglückliche Herr befand, nur geschärft, und zuletzt bis auf einen Grad,

der seiner Seele ganz unerträglich war, vermehrt. Dazu kam, daß der Kämmerer um diese Zeit

seiner Frau, die im Begriff stand, ihm nach Berlin zu folgen, auftrug, dem Kurfürsten, bevor sie

abreiste, auf eine geschickte Art beizubringen, wie mißlich es nach einem verunglückten

Versuch, den er mit einem Weibe gemacht, das sich seitdem nicht wieder habe blicken lassen,

mit der Hoffnung aussehe, des Zettels in dessen Besitz der Kohlhaas sei, habhaft zu werden,

indem das über ihn gefällte Todesurteil, nunmehr, nach einer umständlichen Prüfung der

Akten, von dem Kurfürsten von Brandenburg unterzeichnet, und der Hinrichtungstag bereits

auf den Montag nach Palmarum festgesetzt sei; auf welche Nachricht der Kurfürst sich, das

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Herz von Kummer und Reue zerrissen, gleich einem ganz Verlorenen, in seinem Zimmer

verschloß, während zwei Tage, des Lebens satt, keine Speise zu sich nahm, und am dritten

plötzlich, unter der kurzen Anzeige an das Gubernium, daß er zu dem Fürsten von Dessau auf

die Jagd reise, aus Dresden verschwand. Wohin er eigentlich ging, und ob er sich nach Dessau

wandte, lassen wir dahin gestellt sein, indem die Chroniken, aus deren Vergleichung wir

Bericht erstatten, an dieser Stelle, auf befremdende Weise, einander widersprechen und

aufheben. Gewiß ist, daß der Fürst von Dessau, unfähig zu jagen, um diese Zeit krank in

Braunschweig, bei seinem Oheim, dem Herzog Heinrich, lag, und daß die Dame Heloise, am

Abend des folgenden Tages, in Gesellschaft eines Grafen von Königstein, den sie für ihren

Vetter ausgab, bei dem Kämmerer Herrn Kunz, ihrem Gemahl, in Berlin eintraf. - Inzwischen

war dem Kohlhaas, auf Befehl des Kurfürsten, das Todesurteil vorgelesen, die Ketten

abgenommen, und die über sein Vermögen lautenden Papiere, die ihm in Dresden

abgesprochen worden waren, wieder zugestellt worden; und da die Räte, die das Gericht an

ihn abgeordnet hatte, ihn fragten, wie er es mit dem, was er besitze, nach seinem Tode

gehalten wissen wolle: so verfertigte er, mit Hülfe eines Notars, zu seiner Kinder Gunsten ein

Testament, und setzte den Amtmann zu Kohlhaasenbrück, seinen wackern Freund, zum

Vormund derselben ein. Demnach glich nichts der Ruhe und Zufriedenheit seiner letzten

Tage; denn auf eine sonderbare Spezial-Verordnung des Kurfürsten war bald darauf auch noch

der Zwinger, in welchem er sich befand, eröffnet, und allen seinen Freunden, deren er sehr

viele in der Stadt besaß, bei Tag und Nacht freier Zutritt zu ihm verstattet worden. Ja, er hatte

noch die Genugtuung, den Theologen Jakob Freising, als einen Abgesandten Doktor Luthers,

mit einem eigenhändigen, ohne Zweifel sehr merkwürdigen Brief, der aber verloren

gegangen ist, in sein Gefängnis treten zu sehen, und von diesem geistlichen Herrn in

Gegenwart zweier brandenburgischen Dechanten, die ihm an die Hand gingen, die Wohltat

der heiligen Kommunion zu empfangen. Hierauf erschien nun, unter einer allgemeinen

Bewegung der Stadt, die sich immer noch nicht entwöhnen konnte, auf ein Machtwort, das ihn

rettete, zu hoffen, der verhängnisvolle Montag nach Palmarum, an welchem er die Welt,

wegen des allzuraschen Versuchs, sich selbst in ihr Recht verschaffen zu wollen, versöhnen

sollte. Eben trat er, in Begleitung einer starken Wache, seine beiden Knaben auf dem Arm

(denn diese Vergünstigung hatte er sich ausdrücklich vor den Schranken des Gerichts

ausgebeten), von dem Theologen Jakob Freising geführt, aus dem Tor seines Gefängnisses, als

unter einem wehmütigen Gewimmel von Bekannten, die ihm die Hände drückten, und von

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ihm Abschied nahmen, der Kastellan des kurfürstlichen Schlosses, verstört im Gesicht, zu ihm

herantrat, und ihm ein Blatt gab, das ihm, wie er sagte, ein altes Weib für ihn eingehändigt.

Kohlhaas, während er den Mann der ihm nur wenig bekannt war, befremdet ansah, eröffnete

das Blatt, dessen Siegelring ihn, im Mundlack ausgedrückt, sogleich an die bekannte

Zigeunerin erinnerte. Aber wer beschreibt das Erstaunen, das ihn ergriff, als er folgende

Nachricht darin fand: »Kohlhaas, der Kurfürst von Sachsen ist in Berlin; auf den Richtplatz schon

ist er vorangegangen, und wird, wenn dir daran liegt, an einem Hut, mit blauen und weißen

Federbüschen kenntlich sein. Die Absicht, in der er kömmt, brauche ich dir nicht zu sagen; er

will die Kapsel, sobald du verscharrt bist, ausgraben, und den Zettel, der darin befindlich ist,

eröffnen lassen. - Deine Elisabeth.« - Kohlhaas, indem er sich auf das äußerste bestürzt zu dem

Kastellan umwandte, fragte ihn: ob er das wunderbare Weib, das ihm den Zettel übergeben,

kenne? Doch da der Kastellan antwortete: »Kohlhaas, das Weib« - - und in Mitten der Rede auf

sonderbare Weise stockte, so konnte er, von dem Zuge, der in diesem Augenblick wieder

antrat, fortgerissen, nicht vernehmen, was der Mann, der an allen Gliedern zu zittern schien,

vorbrachte. - Als er auf dem Richtplatz ankam, fand er den Kurfürsten von Brandenburg mit

seinem Gefolge, worunter sich auch der Erzkanzler, Herr Heinrich von Geusau befand, unter

einer unermeßlichen Menschenmenge, daselbst zu Pferde halten: ihm zur Rechten der

kaiserliche Anwalt Franz Müller, eine Abschrift des Todesurteils in der Hand; ihm zur Linken,

mit dem Konklusum des Dresdner Hofgerichts, sein eigener Anwalt, der Rechtsgelehrte

Anton Zäuner; ein Herold in der Mitte des halboffenen Kreises, den das Volk schloß, mit einem

Bündel Sachen, und den beiden, von Wohlsein glänzenden, die Erde mit ihren Hufen

stampfenden Rappen. Denn der Erzkanzler, Herr Heinrich, hatte die Klage, die er, im Namen

seines Herrn, in Dresden anhängig gemacht, Punkt für Punkt, und ohne die mindeste

Einschränkung gegen den Junker Wenzel von Tronka, durchgesetzt; dergestalt, daß die Pferde,

nachdem man sie durch Schwingung einer Fahne über ihre Häupter, ehrlich gemacht, und aus

den Händen des Abdeckers, der sie ernährt, zurückgezogen hatte, von den Leuten des Junkers

dickgefüttert, und in Gegenwart einer eigens dazu niedergesetzten Kommission, dem

Anwalt, auf dem Markt zu Dresden, übergeben worden waren. Demnach sprach der Kurfürst,

als Kohlhaas von der Wache begleitet, auf den Hügel zu ihm heranschritt: Nun, Kohlhaas, heut

ist der Tag, an dem dir dein Recht geschieht! Schau her, hier liefere ich dir alles, was du auf der

Tronkenburg gewaltsamer Weise eingebüßt, und was ich, als dein Landesherr, dir wieder zu

verschaffen, schuldig war, zurück: Rappen, Halstuch, Reichsgulden, Wäsche, bis auf die

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Kurkosten sogar für deinen bei Mühlberg gefallenen Knecht Herse. Bist du mit mir zufrieden? -

Kohlhaas, während er das, ihm auf den Wink des Erzkanzlers eingehändigte Konklusum, mit

großen, funkelnden Augen überlas, setzte die beiden Kinder, die er auf dem Arm trug, neben

sich auf den Boden nieder; und da er auch einen Artikel darin fand, in welchem der Junker

Wenzel zu zweijähriger Gefängnisstrafe verurteilt ward: so ließ er sich, aus der Ferne, ganz

überwältigt von Gefühlen, mit kreuzweis auf die Brust gelegten Händen, vor dem Kurfürsten

nieder. Er versicherte freudig dem Erzkanzler, indem er aufstand, und die Hand auf seinen

Schoß legte, daß sein höchster Wunsch auf Erden erfüllt sei; trat an die Pferde heran, musterte

sie, und klopfte ihren feisten Hals; und erklärte dem Kanzler, indem er wieder zu ihm

zurückkam, heiter: »daß er sie seinen beiden Söhnen Heinrich und Leopold schenke!« Der

Kanzler, Herr Heinrich von Geusau, vom Pferde herab mild zu ihm gewandt, versprach ihm, in

des Kurfürsten Namen, daß sein letzter Wille heilig gehalten werden solle: und forderte ihn

auf, auch über die übrigen im Bündel befindlichen Sachen, nach seinem Gutdünken zu

schalten. Hierauf rief Kohlhaas die alte Mutter Hersens, die er auf dem Platz wahrgenommen

hatte, aus dem Haufen des Volks hervor, und indem er ihr die Sachen übergab, sprach er: »da,

Mütterchen; das gehört dir!« - die Summe, die, als Schadenersatz für ihn, bei dem im Bündel

liegenden Gelde befindlich war, als ein Geschenk noch, zur Pflege und Erquickung ihrer alten

Tage, hinzufügend. - - Der Kurfürst rief: »nun, Kohlhaas, der Roßhändler, du, dem solchergestalt

Genugtuung geworden, mache dich bereit, kaiserlicher Majestät, deren Anwalt hier steht,

wegen des Bruchs ihres Landfriedens, deinerseits Genugtuung zu geben!« Kohlhaas, indem er

seinen Hut abnahm, und auf die Erde warf, sagte: daß er bereit dazu wäre! übergab die Kinder,

nachdem er sie noch einmal vom Boden erhoben, und an seine Brust gedrückt hatte, dem

Amtmann von Kohlhaasenbrück, und trat, während dieser sie unter stillen Tränen, vom Platz

hinwegführte, an den Block. Eben knüpfte er sich das Tuch vom Hals ab und öffnete seinen

Brustlatz: als er, mit einem flüchtigen Blick auf den Kreis, den das Volk bildete, in geringer

Entfernung von sich, zwischen zwei Rittern, die ihn mit ihren Leibern halb deckten, den

wohlbekannten Mann mit blauen und weißen Federbüschen wahrnahm. Kohlhaas löste sich,

indem er mit einem plötzlichen, die Wache, die ihn umringte, befremdenden Schritt, dicht

vor ihn trat, die Kapsel von der Brust; er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn, und überlas

ihn: und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet,

der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und

verschlang ihn. Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei diesem Anblick,

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ohnmächtig, in Krämpfen nieder. Kohlhaas aber, während die bestürzten Begleiter desselben

sich herabbeugten, und ihn vom Boden aufhoben, wandte sich zu dem Schafott, wo sein Haupt

unter dem Beil des Scharfrichters fiel. Hier endigt die Geschichte vom Kohlhaas. Man legte die

Leiche unter einer allgemeinen Klage des Volks in einen Sarg; und während die Träger sie

aufhoben, um sie anständig auf den Kirchhof der Vorstadt zu begraben, rief der Kurfürst die

Söhne des Abgeschiedenen herbei und schlug sie, mit der Erklärung an den Erzkanzler, daß sie

in seiner Pagenschule erzogen werden sollten, zu Rittern. Der Kurfürst von Sachsen kam bald

darauf, zerrissen an Leib und Seele, nach Dresden zurück, wo man das Weitere in der

Geschichte nachlesen muß. Vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert, im

Mecklenburgischen, einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.

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5. Heinrich von Kleist Die Marquise von O... Nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden

In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O..., eine

Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die

Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß

der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus

Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten. Die Dame, die einen so sonderbaren,

den Spott der Welt reizenden Schritt, beim Drang unabänderlicher Umstände, mit solcher

Sicherheit tat, war die Tochter des Herrn von G..., Kommandanten der Zitadelle bei M... Sie

hatte, vor ungefähr drei Jahren, ihren Gemahl, den Marquis von O..., dem sie auf das innigste

und zärtlichste zugetan war, auf einer Reise verloren, die er, in Geschäften der Familie, nach

Paris gemacht hatte. Auf Frau von G...s, ihrer würdigen Mutter, Wunsch, hatte sie, nach seinem

Tode, den Landsitz verlassen, den sie bisher bei V... bewohnt hatte, und war, mit ihren beiden

Kindern, in das Kommandantenhaus, zu ihrem Vater, zurückgekehrt. Hier hatte sie die

nächsten Jahre mit Kunst, Lektüre, mit Erziehung, und ihrer Eltern Pflege beschäftigt, in der

größten Eingezogenheit zugebracht: bis der ... Krieg plötzlich die Gegend umher mit den

Truppen fast aller Mächte und auch mit russischen erfüllte. Der Obrist von G..., welcher den

Platz zu verteidigen Order hatte, forderte seine Gemahlin und seine Tochter auf, sich auf das

Landgut, entweder der letzteren, oder seines Sohnes, das bei V... lag, zurückzuziehen. Doch

ehe sich die Abschätzung noch, hier der Bedrängnisse, denen man in der Festung, dort der

Greuel, denen man auf dem platten Lande ausgesetzt sein konnte, auf der Waage der

weiblichen Überlegung entschieden hatte: war die Zitadelle von den russischen Truppen

schon berennt, und aufgefordert, sich zu ergeben. Der Obrist erklärte gegen seine Familie,

daß er sich nunmehr verhalten würde, als ob sie nicht vorhanden wäre; und antwortete mit

Kugeln und Granaten. Der Feind, seinerseits, bombardierte die Zitadelle. Er steckte die

Magazine in Brand, eroberte ein Außenwerk, und als der Kommandant, nach einer

nochmaligen Aufforderung, mit der Übergabe zauderte, so ordnete er einen nächtlichen

Überfall an, und eroberte die Festung mit Sturm.

Eben als die russischen Truppen, unter einem heftigen Haubitzenspiel, von außen eindrangen,

fing der linke Flügel des Kommandantenhauses Feuer und nötigte die Frauen, ihn zu

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verlassen. Die Obristin, indem sie der Tochter, die mit den Kindern die Treppe hinabfloh,

nacheilte, rief, daß man zusammenbleiben, und sich in die unteren Gewölbe flüchten möchte;

doch eine Granate, die, eben in diesem Augenblicke, in dem Hause zerplatzte, vollendete die

gänzliche Verwirrung in demselben. Die Marquise kam, mit ihren beiden Kindern, auf den

Vorplatz des Schlosses, wo die Schüsse schon, im heftigsten Kampf, durch die Nacht blitzten,

und sie, besinnungslos, wohin sie sich wenden solle, wieder in das brennende Gebäude

zurückjagten. Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die Hintertür

entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich

still ward, die Gewehre über die Schultern hing, und sie, unter abscheulichen Gebärden, mit

sich fortführte. Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich unter einander selbst

bekämpfenden, Rotte bald hier, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die Pforte

zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben,

unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei

der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem

Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des

Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib

umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem

Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede

den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von

der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos

niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten,

einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen

würde; und kehrte in den Kampf zurück.

Der Platz war in kurzer Zeit völlig erobert, und der Kommandant, der sich nur noch wehrte,

weil man ihm keinen Pardon geben wollte, zog sich eben mit sinkenden Kräften nach dem

Portal des Hauses zurück, als der russische Offizier, sehr erhitzt im Gesicht, aus demselben

hervortrat, und ihm zurief, sich zu ergeben. Der Kommandant antwortete, daß er auf diese

Aufforderung nur gewartet habe, reichte ihm seinen Degen dar, und bat sich die Erlaubnis aus,

sich ins Schloß begeben, und nach seiner Familie umsehen zu dürfen. Der russische Offizier,

der, nach der Rolle zu urteilen, die er spielte, einer der Anführer des Sturms zu sein schien,

gab ihm, unter Begleitung einer Wache, diese Freiheit; setzte sich, mit einiger Eilfertigkeit, an

die Spitze eines Detachements, entschied, wo er noch zweifelhaft sein mochte, den Kampf,

und bemannte schleunigst die festen Punkte des Forts. Bald darauf kehrte er auf den

Waffenplatz zurück, gab Befehl, der Flamme, welche wütend um sich zu greifen anfing, Einhalt

zu tun, und leistete selbst hierbei Wunder der Anstrengung, als man seine Befehle nicht mit

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dem gehörigen Eifer befolgte. Bald kletterte er, den Schlauch in der Hand, mitten unter

brennenden Giebeln umher, und regierte den Wasserstrahl; bald steckte er, die Naturen der

Asiaten mit Schaudern erfüllend, in den Arsenälen, und wälzte Pulverfässer und gefüllte

Bomben heraus. Der Kommandant, der inzwischen in das Haus getreten war, geriet auf die

Nachricht von dem Unfall, der die Marquise betroffen hatte, in die äußerste Bestürzung. Die

Marquise, die sich schon völlig, ohne Beihülfe des Arztes, wie der russische Offizier vorher

gesagt hatte, aus ihrer Ohnmacht wieder erholt hatte, und bei der Freude, alle die Ihrigen

gesund und wohl zu sehen, nur noch, um die übermäßige Sorge derselben zu beschwichtigen,

das Bett hütete, versicherte ihn, daß sie keinen andern Wunsch habe, als aufstehen zu dürfen,

um ihrem Retter ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Sie wußte schon, daß er der Graf F...,

Obristlieutenant vom t...n Jägerkorps, und Ritter eines Verdienst- und mehrerer anderen

Orden war. Sie bat ihren Vater, ihn inständigst zu ersuchen, daß er die Zitadelle nicht verlasse,

ohne sich einen Augenblick im Schloß gezeigt zu haben. Der Kommandant, der das Gefühl

seiner Tochter ehrte, kehrte auch ungesäumt in das Fort zurück, und trug ihm, da er unter

unaufhörlichen Kriegsanordnungen umherschweifte, und keine bessere Gelegenheit zu

finden war, auf den Wällen, wo er eben die zerschossenen Rotten revidierte, den Wunsch

seiner gerührten Tochter vor. Der Graf versicherte ihn, daß er nur auf den Augenblick warte,

den er seinen Geschäften würde abmüßigen können, um ihr seine Ehrerbietigkeit zu

bezeugen. Er wollte noch hören, wie sich die Frau Marquise befinde? als ihn die Rapporte

mehrerer Offiziere schon wieder in das Gewühl des Krieges zurückrissen. Als der Tag anbrach,

erschien der Befehlshaber der russischen Truppen, und besichtigte das Fort. Er bezeugte dem

Kommandanten seine Hochachtung, bedauerte, daß das Glück seinen Mut nicht besser

unterstützt habe, und gab ihm, auf sein Ehrenwort, die Freiheit, sich hinzubegeben, wohin er

wolle. Der Kommandant versicherte ihn seiner Dankbarkeit, und äußerte, wie viel er, an

diesem Tage, den Russen überhaupt, und besonders dem jungen Grafen F..., Obristlieutenant

vom t...n Jägerkorps, schuldig geworden sei. Der General fragte, was vorgefallen sei; und als

man ihn von dem frevelhaften Anschlag auf die Tochter desselben unterrichtete, zeigte er

sich auf das äußerste entrüstet. Er rief den Grafen F... bei Namen vor. Nachdem er ihm

zuvörderst wegen seines eignen edelmütigen Verhaltens eine kurze Lobrede gehalten hatte:

wobei der Graf über das ganze Gesicht rot ward; schloß er, daß er die Schandkerle, die den

Namen des Kaisers brandmarkten, niederschießen lassen wolle; und befahl ihm, zu sagen, wer

sie seien? Der Graf F... antwortete, in einer verwirrten Rede, daß er nicht im Stande sei, ihre

Namen anzugeben, indem es ihm, bei dem schwachen Schimmer der Reverberen im

Schloßhof, unmöglich gewesen wäre, ihre Gesichter zu erkennen. Der General, welcher

gehört hatte, daß damals schon das Schloß in Flammen stand, wunderte sich darüber; er

bemerkte, wie man wohl bekannte Leute in der Nacht an ihren Stimmen erkennen könnte;

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und gab ihm, da er mit einem verlegenen Gesicht die Achseln zuckte, auf, der Sache auf das

allereifrigste und strengste nachzuspüren. In diesem Augenblick berichtete jemand, der sich

aus dem hintern Kreise hervordrängte, daß einer von den, durch den Grafen F... verwundeten,

Frevlern, da er in dem Korridor niedergesunken, von den Leuten des Kommandanten in ein

Behältnis geschleppt worden, und darin noch befindlich sei. Der General ließ diesen hierauf

durch eine Wache herbeiführen, ein kurzes Verhör über ihn halten; und die ganze Rotte,

nachdem jener sie genannt hatte, fünf an der Zahl zusammen, erschießen. Dies abgemacht,

gab der General, nach Zurücklassung einer kleinen Besatzung, Befehl zum allgemeinen

Aufbruch der übrigen Truppen; die Offiziere zerstreuten sich eiligst zu ihren Korps; der Graf

trat, durch die Verwirrung der Auseinander-Eilenden, zum Kommandanten, und bedauerte,

daß er sich der Frau Marquise, unter diesen Umständen, gehorsamst empfehlen müsse: und in

weniger, als einer Stunde, war das ganze Fort von Russen wieder leer.

Die Familie dachte nun darauf, wie sie in der Zukunft eine Gelegenheit finden würde, dem

Grafen irgend eine Äußerung ihrer Dankbarkeit zu geben; doch wie groß war ihr Schrecken,

als sie erfuhr, daß derselbe noch am Tage seines Aufbruchs aus dem Fort, in einem Gefecht mit

den feindlichen Truppen, seinen Tod gefunden habe. Der Kurier, der diese Nachricht nach M...

brachte, hatte ihn mit eignen Augen, tödlich durch die Brust geschossen, nach P... tragen

sehen, wo er, wie man sichere Nachricht hatte, in dem Augenblick, da ihn die Träger von den

Schultern nehmen wollten, verblichen war. Der Kommandant, der sich selbst auf das Posthaus

verfügte, und sich nach den näheren Umständen dieses Vorfalls erkundigte, erfuhr noch, daß

er auf dem Schlachtfeld, in dem Moment, da ihn der Schuß traf, gerufen habe: »Julietta! Diese

Kugel rächt dich!« und nachher seine Lippen auf immer geschlossen hätte. Die Marquise war

untröstlich, daß sie die Gelegenheit hatte vorbeigehen lassen, sich zu seinen Füßen zu

werfen. Sie machte sich die lebhaftesten Vorwürfe, daß sie ihn, bei seiner, vielleicht aus

Bescheidenheit, wie sie meinte, herrührenden Weigerung, im Schlosse zu erscheinen, nicht

selbst aufgesucht habe; bedauerte die Unglückliche, ihre Namensschwester, an die er noch im

Tode gedacht hatte; bemühte sich vergebens, ihren Aufenthalt zu erforschen, um sie von

diesem unglücklichen und rührenden Vorfall zu unterrichten; und mehrere Monden

vergingen, ehe sie selbst ihn vergessen konnte.

Die Familie mußte nun das Kommandantenhaus räumen, um dem russischen Befehlshaber

darin Platz zu machen. Man überlegte anfangs, ob man sich nicht auf die Güter des

Kommandanten begeben sollte, wozu die Marquise einen großen Hang hatte; doch da der

Obrist das Landleben nicht liebte, so bezog die Familie ein Haus in der Stadt, und richtete sich

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dasselbe zu einer immerwährenden Wohnung ein. Alles kehrte nun in die alte Ordnung der

Dinge zurück. Die Marquise knüpfte den lange unterbrochenen Unterricht ihrer Kinder

wieder an, und suchte, für die Feierstunden, ihre Staffelei und Bücher hervor: als sie sich, sonst

die Göttin der Gesundheit selbst, von wiederholten Unpäßlichkeiten befallen fühlte, die sie

ganze Wochen lang, für die Gesellschaft untauglich machten. Sie litt an Übelkeiten,

Schwindeln und Ohnmachten, und wußte nicht, was sie aus diesem sonderbaren Zustand

machen solle. Eines Morgens, da die Familie beim Tee saß, und der Vater sich, auf einen

Augenblick, aus dem Zimmer entfernt hatte, sagte die Marquise, aus einer langen

Gedankenlosigkeit erwachend, zu ihrer Mutter: wenn mir eine Frau sagte, daß sie ein Gefühl

hätte, ebenso, wie ich jetzt, da ich die Tasse ergriff, so würde ich bei mir denken, daß sie in

gesegneten Leibesumständen wäre. Frau von G... sagte, sie verstände sie nicht. Die Marquise

erklärte sich noch einmal, daß sie eben jetzt eine Sensation gehabt hätte, wie damals, als sie

mit ihrer zweiten Tochter schwanger war. Frau von G... sagte, sie würde vielleicht den

Phantasus gebären, und lachte. Morpheus wenigstens, versetzte die Marquise, oder einer der

Träume aus seinem Gefolge, würde sein Vater sein; und scherzte gleichfalls. Doch der Obrist

kam, das Gespräch ward abgebrochen, und der ganze Gegenstand, da die Marquise sich in

einigen Tagen wieder erholte, vergessen.

Bald darauf ward der Familie, eben zu einer Zeit, da sich auch der Forstmeister von G..., des

Kommandanten Sohn, in dem Hause eingefunden hatte, der sonderbare Schrecken, durch

einen Kammerdiener, der ins Zimmer trat, den Grafen F... anmelden zu hören. Der Graf F...!

sagte der Vater und die Tochter zugleich; und das Erstaunen machte alle sprachlos. Der

Kammerdiener versicherte, daß er recht gesehen und gehört habe, und daß der Graf schon im

Vorzimmer stehe, und warte. Der Kommandant sprang sogleich selbst auf, ihm zu öffnen,

worauf er, schön, wie ein junger Gott, ein wenig bleich im Gesicht, eintrat. Nachdem die Szene

unbegreiflicher Verwunderung vorüber war, und der Graf, auf die Anschuldigung der Eltern,

daß er ja tot sei, versichert hatte, daß er lebe; wandte er sich, mit vieler Rührung im Gesicht,

zur Tochter, und seine erste Frage war gleich, wie sie sich befinde? Die Marquise versicherte,

sehr wohl, und wollte nur wissen, wie er ins Leben erstanden sei? Doch er, auf seinem

Gegenstand beharrend, erwiderte: daß sie ihm nicht die Wahrheit sage; auf ihrem Antlitz

drücke sich eine seltsame Mattigkeit aus; ihn müsse alles trügen, oder sie sei unpäßlich, und

leide. Die Marquise, durch die Herzlichkeit, womit er dies vorbrachte, gut gestimmt,

versetzte: nun ja; diese Mattigkeit, wenn er wolle, könne für die Spur einer Kränklichkeit

gelten, an welcher sie vor einigen Wochen gelitten hätte; sie fürchte inzwischen nicht, daß

diese weiter von Folgen sein würde. Worauf er, mit einer aufflammenden Freude, erwiderte:

er auch nicht! und hinzusetzte, ob sie ihn heiraten wolle? Die Marquise wußte nicht, was sie

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von dieser Aufführung denken solle. Sie sah, über und über rot, ihre Mutter, und diese, mit

Verlegenheit, den Sohn und den Vater an; während der Graf vor die Marquise trat, und indem

er ihre Hand nahm, als ob er sie küssen wollte, wiederholte: ob sie ihn verstanden hätte? Der

Kommandant sagte: ob er nicht Platz nehmen wolle; und setzte ihm, auf eine verbindliche,

obschon etwas ernsthafte, Art einen Stuhl hin. Die Obristin sprach: in der Tat, wir werden

glauben, daß Sie ein Geist sind, bis Sie uns werden eröffnet haben, wie Sie aus dem Grabe, in

welches man Sie zu P... gelegt hatte, erstanden sind. Der Graf setzte sich, indem er die Hand

der Dame fahren ließ, nieder, und sagte, daß er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr

kurz fassen müsse; daß er, tödlich durch die Brust geschossen, nach P... gebracht worden wäre;

daß er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzweifelt hätte; daß während dessen die

Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre; daß er die Lust und den Schmerz nicht

beschreiben könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; daß er endlich, nach seiner

Wiederherstellung, wieder zur Armee gegangen wäre; daß er daselbst die lebhafteste Unruhe

empfunden hätte; daß er mehrere Male die Feder ergriffen, um in einem Briefe, an den Herrn

Obristen und die Frau Marquise, seinem Herzen Luft zu machen; daß er plötzlich mit

Depeschen nach Neapel geschickt worden wäre; daß er nicht wisse, ob er nicht von dort

weiter nach Konstantinopel werde abgeordert werden; daß er vielleicht gar nach St.

Petersburg werde gehen müssen; daß ihm inzwischen unmöglich wäre, länger zu leben, ohne

über eine notwendige Forderung seiner Seele ins Reine zu sein; daß er dem Drang bei seiner

Durchreise durch M..., einige Schritte zu diesem Zweck zu tun, nicht habe widerstehen

können; kurz, daß er den Wunsch hege, mit der Hand der Frau Marquise beglückt zu werden,

und daß er auf das ehrfurchtsvollste, inständigste und dringendste bitte, sich ihm hierüber

gütig zu erklären. - Der Kommandant, nach einer langen Pause, erwiderte: daß ihm dieser

Antrag zwar, wenn er, wie er nicht zweifle, ernsthaft gemeint sei, sehr schmeichelhaft wäre.

Bei dem Tode ihres Gemahls, des Marquis von O..., hätte sich seine Tochter aber entschlossen,

in keine zweite Vermählung einzugehen. Da ihr jedoch kürzlich von ihm eine so große

Verbindlichkeit auferlegt worden sei: so wäre es nicht unmöglich, daß ihr Entschluß dadurch,

seinen Wünschen gemäß, eine Abänderung erleide; er bitte sich inzwischen die Erlaubnis für

sie aus, darüber im Stillen während einiger Zeit nachdenken zu dürfen. Der Graf versicherte,

daß diese gütige Erklärung zwar alle seine Hoffnungen befriedige; daß sie ihn, unter anderen

Umständen, auch völlig beglücken würde; daß er die ganze Unschicklichkeit fühle, sich mit

derselben nicht zu beruhigen: daß dringende Verhältnisse jedoch, über welche er sich näher

auszulassen nicht im Stande sei, ihm eine bestimmtere Erklärung äußerst wünschenswert

machten; daß die Pferde, die ihn nach Neapel tragen sollten, vor seinem Wagen stünden; und

daß er inständigst bitte, wenn irgend etwas in diesem Hause günstig für ihn spreche, - wobei

er die Marquise ansah - ihn nicht, ohne eine gütige Äußerung darüber, abreisen zu lassen. Der

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Obrist, durch diese Aufführung ein wenig betreten, antwortete, daß die Dankbarkeit, die die

Marquise für ihn empfände, ihn zwar zu großen Voraussetzungen berechtige: doch nicht zu so

großen; sie werde bei einem Schritte, bei welchem es das Glück ihres Lebens gelte, nicht

ohne die gehörige Klugheit verfahren. Es wäre unerläßlich, daß seiner Tochter, bevor sie sich

erkläre, das Glück seiner näheren Bekanntschaft würde. Er lade ihn ein, nach Vollendung

seiner Geschäftsreise, nach M... zurückzukehren, und auf einige Zeit der Gast seines Hauses zu

sein. Wenn alsdann die Frau Marquise hoffen könne, durch ihn glücklich zu werden, so werde

auch er, eher aber nicht, mit Freuden vernehmen, daß sie ihm eine bestimmte Antwort

gegeben habe. Der Graf äußerte, indem ihm eine Röte ins Gesicht stieg, daß er seinen

ungeduldigen Wünschen, während seiner ganzen Reise, dies Schicksal vorausgesagt habe; daß

er sich inzwischen dadurch in die äußerste Bekümmernis gestürzt sehe; daß ihm, bei der

ungünstigen Rolle, die er eben jetzt zu spielen gezwungen sei, eine nähere Bekanntschaft

nicht anders als vorteilhaft sein könne; daß er für seinen Ruf, wenn anders diese zweideutigste

aller Eigenschaften in Erwägung gezogen werden solle, einstehen zu dürfen glaube; daß die

einzige nichtswürdige Handlung, die er in seinem Leben begangen hätte, der Welt

unbekannt, und er schon im Begriff sei, sie wieder gut zu machen; daß er, mit einem Wort, ein

ehrlicher Mann sei, und die Versicherung anzunehmen bitte, daß diese Versicherung

wahrhaftig sei. - Der Kommandant erwiderte, indem er ein wenig, obschon ohne Ironie,

lächelte, daß er alle diese Äußerungen unterschreibe. Noch hätte er keines jungen Mannes

Bekanntschaft gemacht, der, in so kurzer Zeit, so viele vortreffliche Eigenschaften des

Charakters entwickelt hätte. Er glaube fast, daß eine kurze Bedenkzeit die Unschlüssigkeit, die

noch obwalte, heben würde; bevor er jedoch Rücksprache genommen hätte, mit seiner

sowohl, als des Herrn Grafen Familie, könne keine andere Erklärung, als die gegebene,

erfolgen. Hierauf äußerte der Graf, daß er ohne Eltern und frei sei. Sein Onkel sei der General

K..., für dessen Einwilligung er stehe. Er setzte hinzu, daß er Herr eines ansehnlichen

Vermögens wäre, und sich würde entschließen können, Italien zu seinem Vaterlande zu

machen. - Der Kommandant machte ihm eine verbindliche Verbeugung, erklärte seinen

Willen noch einmal; und bat ihn, bis nach vollendeter Reise, von dieser Sache abzubrechen.

Der Graf, nach einer kurzen Pause, in welcher er alle Merkmale der größten Unruhe gegeben

hatte, sagte, indem er sich zur Mutter wandte, daß er sein Äußerstes getan hätte, um dieser

Geschäftsreise auszuweichen; daß die Schritte, die er deshalb beim General en Chef, und dem

General K..., seinem Onkel, gewagt hätte, die entscheidendsten gewesen wären, die sich

hätten tun lassen; daß man aber geglaubt hätte, ihn dadurch aus einer Schwermut

aufzurütteln, die ihm von seiner Krankheit noch zurückgeblieben wäre; und daß er sich jetzt

völlig dadurch ins Elend gestürzt sehe. - Die Familie wußte nicht, was sie zu dieser Äußerung

sagen sollte. Der Graf fuhr fort, indem er sich die Stirn rieb, daß wenn irgend Hoffnung wäre,

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dem Ziele seiner Wünsche dadurch näher zu kommen, er seine Reise auf einen Tag, auch wohl

noch etwas darüber, aussetzen würde, um es zu versuchen. - Hierbei sah er, nach der Reihe,

den Kommandanten, die Marquise und die Mutter an. Der Kommandant blickte mißvergnügt

vor sich nieder, und antwortete ihm nicht. Die Obristin sagte: gehn Sie, gehn Sie, Herr Graf;

reisen Sie nach Neapel; schenken Sie uns, wenn Sie wiederkehren, auf einige Zeit das Glück

Ihrer Gegenwart; so wird sich das Übrige finden. - Der Graf saß einen Augenblick, und schien zu

suchen, was er zu tun habe. Drauf, indem er sich erhob, und seinen Stuhl wegsetzte: da er die

Hoffnungen, sprach er, mit denen er in dies Haus getreten sei, als übereilt erkennen müsse,

und die Familie, wie er nicht mißbillige, auf eine nähere Bekanntschaft bestehe: so werde er

seine Depeschen, zu einer anderweitigen Expedition, nach Z..., in das Hauptquartier,

zurückschicken, und das gütige Anerbieten, der Gast dieses Hauses zu sein, auf einige Wochen

annehmen. Worauf er noch, den Stuhl in der Hand, an der Wand stehend, einen Augenblick

verharrte, und den Kommandanten ansah. Der Kommandant versetzte, daß es ihm äußerst leid

tun würde, wenn die Leidenschaft, die er zu seiner Tochter gefaßt zu haben scheine, ihm

Unannehmlichkeiten von der ernsthaftesten Art zuzöge: daß er indessen wissen müsse, was er

zu tun und zu lassen habe, die Depeschen abschicken, und die für ihn bestimmten Zimmer

beziehen möchte. Man sah ihn bei diesen Worten sich entfärben, der Mutter ehrerbietig die

Hand küssen, sich gegen die Übrigen verneigen und sich entfernen.

Als er das Zimmer verlassen hatte, wußte die Familie nicht, was sie aus dieser Erscheinung

machen solle. Die Mutter sagte, es wäre wohl nicht möglich, daß er Depeschen, mit denen er

nach Neapel ginge, nach Z... zurückschicken wolle, bloß, weil es ihm nicht gelungen wäre, auf

seiner Durchreise durch M..., in einer fünf Minuten langen Unterredung, von einer ihm ganz

unbekannten Dame ein Jawort zu erhalten. Der Forstmeister äußerte, daß eine so

leichtsinnige Tat ja mit nichts Geringerem, als Festungsarrest, bestraft werden würde! Und

Kassation obenein, setzte der Kommandant hinzu. Es habe aber damit keine Gefahr, fuhr er

fort. Es sei ein bloßer Schreckschuß beim Sturm; er werde sich wohl noch, ehe er die

Depeschen abgeschickt, wieder besinnen. Die Mutter, als sie von dieser Gefahr unterrichtet

ward, äußerte die lebhafteste Besorgnis, daß er sie abschicken werde. Sein heftiger, auf einen

Punkt hintreibender Wille, meinte sie, scheine ihr grade einer solchen Tat fähig. Sie bat den

Forstmeister auf das dringendste, ihm sogleich nachzugehen, und ihn von einer so

unglückdrohenden Handlung abzuhalten. Der Forstmeister erwiderte, daß ein solcher Schritt

gerade das Gegenteil bewirken, und ihn nur in der Hoffnung, durch seine Kriegslist zu siegen,

bestärken würde. Die Marquise war derselben Meinung, obschon sie versicherte, daß ohne ihn

die Absendung der Depeschen unfehlbar erfolgen würde, indem er lieber werde unglücklich

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werden, als sich eine Blöße geben wollen. Alle kamen darin überein, daß sein Betragen sehr

sonderbar sei, und daß er Damenherzen durch Anlauf, wie Festungen, zu erobern gewohnt

scheine. In diesem Augenblick bemerkte der Kommandant den angespannten Wagen des

Grafen vor seiner Tür. Er rief die Familie ans Fenster, und fragte einen eben eintretenden

Bedienten, erstaunt, ob der Graf noch im Hause sei? Der Bediente antwortete, daß er unten, in

der Domestikenstube, in Gesellschaft eines Adjutanten, Briefe schreibe und Pakete versiegle.

Der Kommandant, der seine Bestürzung unterdrückte, eilte mit dem Forstmeister hinunter,

und fragte den Grafen, da er ihn auf dazu nicht schicklichen Tischen seine Geschäfte betreiben

sah, ob er nicht in seine Zimmer treten wolle? Und ob er sonst irgend etwas befehle? Der Graf

erwiderte, indem er mit Eilfertigkeit fortschrieb, daß er untertänigst danke, und daß sein

Geschäft abgemacht sei; fragte noch, indem er den Brief zusiegelte, nach der Uhr; und

wünschte dem Adjutanten, nachdem er ihm das ganze Portefeuille übergeben hatte, eine

glückliche Reise. Der Kommandant, der seinen Augen nicht traute, sagte, indem der Adjutant

zum Hause hinausging: Herr Graf, wenn Sie nicht sehr wichtige Gründe haben -

Entscheidende! fiel ihm der Graf ins Wort; begleitete den Adjutanten zum Wagen, und öffnete

ihm die Tür. In diesem Fall würde ich wenigstens, fuhr der Kommandant fort, die Depeschen -

Es ist nicht möglich, antwortete der Graf, indem er den Adjutanten in den Sitz hob. Die

Depeschen gelten nichts in Neapel ohne mich. Ich habe auch daran gedacht. Fahr zu! - Und die

Briefe Ihres Herrn Onkels? rief der Adjutant, sich aus der Tür hervorbeugend. Treffen mich,

erwiderte der Graf, in M... Fahr zu, sagte der Adjutant, und rollte mit dem Wagen dahin.

Hierauf fragte der Graf F..., indem er sich zum Kommandanten wandte, ob er ihm gefälligst sein

Zimmer anweisen lassen wolle? Er würde gleich selbst die Ehre haben, antwortete der

verwirrte Obrist; rief seinen und des Grafen Leuten, das Gepäck desselben aufzunehmen: und

führte ihn in die für fremden Besuch bestimmten Gemächer des Hauses, wo er sich ihm mit

einem trocknen Gesicht empfahl. Der Graf kleidete sich um; verließ das Haus, um sich bei dem

Gouverneur des Platzes zu melden, und für den ganzen weiteren Rest des Tages im Hause

unsichtbar, kehrte er erst kurz vor der Abendtafel dahin zurück.

Inzwischen war die Familie in der lebhaftesten Unruhe. Der Forstmeister erzählte, wie

bestimmt, auf einige Vorstellungen des Kommandanten, des Grafen Antworten ausgefallen

wären; meinte, daß sein Verhalten einem völlig überlegten Schritt ähnlich sehe; und fragte, in

aller Welt, nach den Ursachen einer so auf Kurierpferden gehenden Bewerbung. Der

Kommandant sagte, daß er von der Sache nichts verstehe, und forderte die Familie auf, davon

weiter nicht in seiner Gegenwart zu sprechen. Die Mutter sah alle Augenblicke aus dem

Fenster, ob er nicht kommen, seine leichtsinnige Tat bereuen, und wieder gut machen werde.

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Endlich, da es finster ward, setzte sie sich zur Marquise nieder, welche, mit vieler Emsigkeit, an

einem Tisch arbeitete, und das Gespräch zu vermeiden schien. Sie fragte sie halblaut, während

der Vater auf und niederging, ob sie begreife, was aus dieser Sache werden solle? Die

Marquise antwortete, mit einem schüchtern nach dem Kommandanten gewandten Blick:

wenn der Vater bewirkt hätte, daß er nach Neapel gereist wäre, so wäre alles gut. Nach

Neapel! rief der Kommandant, der dies gehört hatte. Sollt ich den Priester holen lassen? Oder

hätt ich ihn schließen lassen und arretieren, und mit Bewachung nach Neapel schicken sollen?

- Nein, antwortete die Marquise, aber lebhafte und eindringliche Vorstellungen tun ihre

Wirkung; und sah, ein wenig unwillig, wieder auf ihre Arbeit nieder. - Endlich gegen die Nacht

erschien der Graf. Man erwartete nur, nach den ersten Höflichkeitsbezeugungen, daß dieser

Gegenstand zur Sprache kommen würde, um ihn mit vereinter Kraft zu bestürmen, den

Schritt, den er gewagt hatte, wenn es noch möglich sei, wieder zurückzunehmen. Doch

vergebens, während der ganzen Abendtafel, erharrte man diesen Augenblick. Geflissentlich

alles, was darauf führen konnte, vermeidend, unterhielt er den Kommandanten vom Kriege,

und den Forstmeister von der Jagd. Als er des Gefechts bei P..., in welchem er verwundet

worden war, erwähnte, verwickelte ihn die Mutter bei der Geschichte seiner Krankheit, fragte

ihn, wie es ihm an diesem kleinen Orte ergangen sei, und ob er die gehörigen

Bequemlichkeiten gefunden hätte. Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur

Marquise interessanten, Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette

gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der

Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern

gesehen; daß ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan

einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder

emporgekommen sei; daß sie immer auf feurigen Fluten umhergeschwommen wäre, und er

Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, daß er aber nicht im Stande

gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern und

In-die-Brust-sich-werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich

liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg. Man mußte endlich von der Tafel

aufstehen; und da der Graf, nach einem kurzen Gespräch mit der Mutter, sich sogleich gegen

die Gesellschaft verneigte, und wieder in sein Zimmer zurückzog: so standen die Mitglieder

derselben wieder, und wußten nicht, was sie denken sollten. Der Kommandant meinte: man

müsse der Sache ihren Lauf lassen. Er rechne wahrscheinlich auf seine Verwandten bei diesem

Schritte. Infame Kassation stünde sonst darauf. Frau von G... fragte ihre Tochter, was sie denn

von ihm halte? Und ob sie sich wohl zu irgend einer Äußerung, die ein Unglück vermiede,

würde verstehen können? Die Marquise antwortete: Liebste Mutter! Das ist nicht möglich. Es

tut mir leid, daß meine Dankbarkeit auf eine so harte Probe gestellt wird. Doch es war mein

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Entschluß, mich nicht wieder zu vermählen; ich mag mein Glück nicht, und nicht so

unüberlegt, auf ein zweites Spiel setzen. Der Forstmeister bemerkte, daß wenn dies ihr fester

Wille wäre, auch diese Erklärung ihm Nutzen schaffen könne, und daß es fast notwendig

scheine, ihm irgend eine bestimmte zu geben. Die Obristin versetzte, daß da dieser junge

Mann, den so viele außerordentliche Eigenschaften empföhlen, seinen Aufenthalt in Italien

nehmen zu wollen, erklärt habe, sein Antrag, nach ihrer Meinung, einige Rücksicht, und der

Entschluß der Marquise Prüfung verdiene. Der Forstmeister, indem er sich bei ihr niederließ,

fragte, wie er ihr denn, was seine Person anbetreffe, gefalle? Die Marquise antwortete, mit

einiger Verlegenheit: er gefällt und mißfällt mir; und berief sich auf das Gefühl der anderen.

Die Obristin sagte: wenn er von Neapel zurückkehrt, und die Erkundigungen, die wir

inzwischen über ihn einziehen könnten, dem Gesamteindruck, den du von ihm empfangen

hast, nicht widersprächen: wie würdest du dich, falls er alsdann seinen Antrag wiederholte,

erklären? In diesem Fall, versetzte die Marquise, würd ich - da in der Tat seine Wünsche so

lebhaft scheinen, diese Wünsche - sie stockte, und ihre Augen glänzten, indem sie dies sagte -

um der Verbindlichkeit willen, die ich ihm schuldig bin, erfüllen. Die Mutter, die eine zweite

Vermählung ihrer Tochter immer gewünscht hatte, hatte Mühe, ihre Freude über diese

Erklärung zu verbergen, und sann, was sich wohl daraus machen lasse. Der Forstmeister sagte,

indem er unruhig vom Sitz wieder aufstand, daß wenn die Marquise irgend an die Möglichkeit

denke, ihn einst mit ihrer Hand zu erfreuen, jetzt gleich notwendig ein Schritt dazu

geschehen müsse, um den Folgen seiner rasenden Tat vorzubeugen. Die Mutter war

derselben Meinung, und behauptete, daß zuletzt das Wagstück nicht allzu groß wäre, indem

bei so vielen vortrefflichen Eigenschaften, die er in jener Nacht, da das Fort von den Russen

erstürmt ward, entwickelte, kaum zu fürchten sei, daß sein übriger Lebenswandel ihnen nicht

entsprechen sollte. Die Marquise sah, mit dem Ausdruck der lebhaftesten Unruhe, vor sich

nieder. Man könnte ihm ja, fuhr die Mutter fort, indem sie ihre Hand ergriff, etwa eine

Erklärung, daß du, bis zu seiner Rückkehr von Neapel, in keine andere Verbindung eingehen

wollest, zukommen lassen. Die Marquise sagte: diese Erklärung, liebste Mutter, kann ich ihm

geben; ich fürchte nur, daß sie ihn nicht beruhigen, und uns verwickeln wird. Das sei meine

Sorge! erwiderte die Mutter, mit lebhafter Freude; und sah sich nach dem Kommandanten um.

Lorenzo! fragte sie, was meinst du? und machte Anstalten, sich vom Sitz zu erheben. Der

Kommandant, der alles gehört hatte, stand am Fenster, sah auf die Straße hinaus, und sagte

nichts. Der Forstmeister versicherte, daß er, mit dieser unschädlichen Erklärung, den Grafen

aus dem Hause zu schaffen, sich anheischig mache. Nun so macht! macht! macht! rief der Vater,

indem er sich umkehrte: ich muß mich diesem Russen schon zum zweitenmal ergeben! -

Hierauf sprang die Mutter auf, küßte ihn und die Tochter, und fragte, indem der Vater über

ihre Geschäftigkeit lächelte, wie man dem Grafen jetzt diese Erklärung augenblicklich

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hinterbringen solle? Man beschloß, auf den Vorschlag des Forstmeisters, ihn bitten zu lassen,

sich, falls er noch nicht entkleidet sei, gefälligst auf einen Augenblick zur Familie zu verfügen.

Er werde gleich die Ehre haben zu erscheinen! ließ der Graf antworten, und kaum war der

Kammerdiener mit dieser Meldung zurück, als er schon selbst, mit Schritten, die die Freude

beflügelte, ins Zimmer trat, und zu den Füßen der Marquise, in der allerlebhaftesten Rührung

niedersank. Der Kommandant wollte etwas sagen: doch er, indem er aufstand, versetzte, er

wisse genug! küßte ihm und der Mutter die Hand, umarmte den Bruder, und bat nur um die

Gefälligkeit, ihm sogleich zu einem Reisewagen zu verhelfen. Die Marquise, obschon von

diesem Auftritt bewegt, sagte doch: ich fürchte nicht, Herr Graf, daß Ihre rasche Hoffnung Sie

zu weit - Nichts! Nichts! versetzte der Graf; es ist nichts geschehen, wenn die Erkundigungen,

die Sie über mich einziehen mögen, dem Gefühl widersprechen, das mich zu Ihnen in dies

Zimmer zurückberief. Hierauf umarmte der Kommandant ihn auf das herzlichste, der

Forstmeister bot ihm sogleich seinen eigenen Reisewagen an, ein Jäger flog auf die Post,

Kurierpferde auf Prämien zu bestellen, und Freude war bei dieser Abreise, wie noch niemals

bei einem Empfang. Er hoffe, sagte der Graf, die Depeschen in B... einzuholen, von wo er jetzt

einen näheren Weg nach Neapel, als über M... einschlagen würde; in Neapel würde er sein

Möglichstes tun, die fernere Geschäftsreise nach Konstantinopel abzulehnen; und da er, auf

den äußersten Fall, entschlossen wäre, sich krank anzugeben, so versicherte er, daß wenn

nicht unvermeidliche Hindernisse ihn abhielten, er in Zeit von vier bis sechs Wochen

unfehlbar wieder in M... sein würde. Hierauf meldete sein Jäger, daß der Wagen angespannt,

und alles zur Abreise bereit sei. Der Graf nahm seinen Hut, trat vor die Marquise, und ergriff

ihre Hand. Nun denn, sprach er, Julietta, so bin ich einigermaßen beruhigt; und legte seine

Hand in die ihrige; obschon es mein sehnlichster Wunsch war, mich noch vor meiner Abreise

mit Ihnen zu vermählen. Vermählen! riefen alle Mitglieder der Familie aus. Vermählen,

wiederholte der Graf, küßte der Marquise die Hand, und versicherte, da diese fragte, ob er von

Sinnen sei: es würde ein Tag kommen, wo sie ihn verstehen würde! Die Familie wollte auf ihn

böse werden; doch er nahm gleich auf das wärmste von allen Abschied, bat sie, über diese

Äußerung nicht weiter nachzudenken, und reiste ab.

Mehrere Wochen, in welchen die Familie, mit sehr verschiedenen Empfindungen, auf den

Ausgang dieser sonderbaren Sache gespannt war, verstrichen. Der Kommandant empfing vom

General K..., dem Onkel des Grafen, eine höfliche Zuschrift; der Graf selbst schrieb aus Neapel;

die Erkundigungen, die man über ihn einzog, sprachen ziemlich zu seinem Vorteil; kurz, man

hielt die Verlobung schon für so gut, wie abgemacht: als sich die Kränklichkeiten der Marquise,

mit größerer Lebhaftigkeit, als jemals, wieder einstellten. Sie bemerkte eine unbegreifliche

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Veränderung ihrer Gestalt. Sie entdeckte sich mit völliger Freimütigkeit ihrer Mutter, und

sagte, sie wisse nicht, was sie von ihrem Zustand denken solle. Die Mutter, welche so

sonderbare Zufälle für die Gesundheit ihrer Tochter äußerst besorgt machten, verlangte, daß

sie einen Arzt zu Rate ziehe. Die Marquise, die durch ihre Natur zu siegen hoffte, sträubte sich

dagegen; sie brachte mehrere Tage noch, ohne dem Rat der Mutter zu folgen, unter den

empfindlichsten Leiden zu: bis Gefühle, immer wiederkehrend und von so wunderbarer Art,

sie in die lebhafteste Unruhe stürzten. Sie ließ einen Arzt rufen, der das Vertrauen ihres Vaters

besaß, nötigte ihn, da gerade die Mutter abwesend war, auf den Diwan nieder, und eröffnete

ihm, nach einer kurzen Einleitung, scherzend, was sie von sich glaube. Der Arzt warf einen

forschenden Blick auf sie; schwieg noch, nachdem er eine genaue Untersuchung vollendet

hatte, eine Zeitlang: und antwortete dann mit einer sehr ernsthaften Miene, daß die Frau

Marquise ganz richtig urteile. Nachdem er sich auf die Frage der Dame, wie er dies verstehe,

ganz deutlich erklärt, und mit einem Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte, gesagt hatte,

daß sie ganz gesund sei, und keinen Arzt brauche, zog die Marquise, und sah ihn sehr streng

von der Seite an, die Klingel, und bat ihn, sich zu entfernen. Sie äußerte halblaut, als ob er der

Rede nicht wert wäre, vor sich nieder murmelnd: daß sie nicht Lust hätte, mit ihm über

Gegenstände dieser Art zu scherzen. Der Doktor erwiderte empfindlich: er müsse wünschen,

daß sie immer zum Scherz so wenig aufgelegt gewesen wäre, wie jetzt; nahm Stock und Hut,

und machte Anstalten, sich sogleich zu empfehlen. Die Marquise versicherte, daß sie von

diesen Beleidigungen ihren Vater unterrichten würde. Der Arzt antwortete, daß er seine

Aussage vor Gericht beschwören könne: öffnete die Tür, verneigte sich, und wollte das

Zimmer verlassen. Die Marquise fragte, da er noch einen Handschuh, den er hatte fallen lassen,

von der Erde aufnahm: und die Möglichkeit davon, Herr Doktor? Der Doktor erwiderte, daß er

ihr die letzten Gründe der Dinge nicht werde zu erklären brauchen; verneigte sich ihr noch

einmal, und ging ab.

Die Marquise stand, wie vom Donner gerührt. Sie raffte sich auf, und wollte zu ihrem Vater

eilen; doch der sonderbare Ernst des Mannes, von dem sie sich beleidigt sah, lähmte alle ihre

Glieder. Sie warf sich in der größten Bewegung auf den Diwan nieder. Sie durchlief, gegen sich

selbst mißtrauisch, alle Momente des verflossenen Jahres, und hielt sich für verrückt, wenn sie

an den letzten dachte. Endlich erschien die Mutter; und auf die bestürzte Frage, warum sie so

unruhig sei? erzählte ihr die Tochter, was ihr der Arzt soeben eröffnet hatte. Frau von G...

nannte ihn einen Unverschämten und Nichtswürdigen, und bestärkte die Tochter in dem

Entschluß, diese Beleidigung dem Vater zu entdecken. Die Marquise versicherte, daß es sein

völliger Ernst gewesen sei, und daß er entschlossen scheine, dem Vater ins Gesicht seine

rasende Behauptung zu wiederholen. Frau von G... fragte, nicht wenig erschrocken, ob sie

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denn an die Möglichkeit eines solchen Zustandes glaube? Eher, antwortete die Marquise, daß

die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln

wird! Nun, du liebes wunderliches Weib, sagte die Obristin, indem sie sie fest an sich drückte:

was beunruhigt dich denn? Wenn dein Bewußtsein dich rein spricht: wie kann dich ein Urteil,

und wäre es das einer ganzen Konsulta von Ärzten, nur kümmern? Ob das seinige aus Irrtum,

ob es aus Bosheit entsprang: gilt es dir nicht völlig gleichviel? Doch schicklich ist es, daß wir es

dem Vater entdecken. - O Gott! sagte die Marquise, mit einer konvulsivischen Bewegung: wie

kann ich mich beruhigen. Hab ich nicht mein eignes, innerliches, mir nur allzuwohlbekanntes

Gefühl gegen mich? Würd ich nicht, wenn ich in einer andern meine Empfindung wüßte, von

ihr selbst urteilen, daß es damit seine Richtigkeit habe? Es ist entsetzlich, versetzte die

Obristin. Bosheit! Irrtum! fuhr die Marquise fort. Was kann dieser Mann, der uns bis auf den

heutigen Tag schätzenswürdig erschien, für Gründe haben, mich auf eine so mutwillige und

niederträchtige Art zu kränken? Mich, die ihn nie beleidigt hatte? Die ihn mit Vertrauen, und

dem Vorgefühl zukünftiger Dankbarkeit, empfing? Bei der er, wie seine ersten Worte zeugten,

mit dem reinen und unverfälschten Willen erschien, zu helfen, nicht Schmerzen, grimmigere,

als ich empfand, erst zu erregen? Und wenn ich in der Notwendigkeit der Wahl, fuhr sie fort,

während die Mutter sie unverwandt ansah, an einen Irrtum glauben wollte: ist es wohl

möglich, daß ein Arzt, auch nur von mittelmäßiger Geschicklichkeit, in solchem Falle irre? –

Die Obristin sagte ein wenig spitz: und gleichwohl muß es doch notwendig eins oder das

andere gewesen sein. Ja! versetzte die Marquise, meine teuerste Mutter, indem sie ihr, mit

dem Ausdruck der gekränkten Würde, hochrot im Gesicht glühend, die Hand küßte: das muß

es! Obschon die Umstände so außerordentlich sind, daß es mir erlaubt ist, daran zu zweifeln.

Ich schwöre, weil es doch einer Versicherung bedarf, daß mein Bewußtsein, gleich dem

meiner Kinder ist; nicht reiner, Verehrungswürdigste, kann das Ihrige sein. Gleichwohl bitte

ich Sie, mir eine Hebamme rufen zu lassen, damit ich mich von dem, was ist, überzeuge, und

gleichviel alsdann, was es sei, beruhige. Eine Hebamme! rief Frau von G... mit Entwürdigung.

Ein reines Bewußtsein, und eine Hebamme! Und die Sprache ging ihr aus. Eine Hebamme,

meine teuerste Mutter, wiederholte die Marquise, indem sie sich auf Knieen vor ihr

niederließ; und das augenblicklich, wenn ich nicht wahnsinnig werden soll. O sehr gern,

versetzte die Obristin; nur bitte ich, das Wochenlager nicht in meinem Hause zu halten. Und

damit stand sie auf, und wollte das Zimmer verlassen. Die Marquise, ihr mit ausgebreiteten

Armen folgend, fiel ganz auf das Gesicht nieder, und umfaßte ihre Kniee. Wenn irgend ein

unsträfliches Leben, rief sie, mit der Beredsamkeit des Schmerzes, ein Leben, nach Ihrem

Muster geführt, mir ein Recht auf Ihre Achtung gibt, wenn irgend ein mütterliches Gefühl

auch nur, so lange meine Schuld nicht sonnenklar entschieden ist, in Ihrem Busen für mich

spricht: so verlassen Sie mich in diesen entsetzlichen Augenblicken nicht. - Was ist es, das dich

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beunruhigt? fragte die Mutter. Ist es weiter nichts, als der Ausspruch des Arztes? Weiter

nichts, als dein innerliches Gefühl? Nichts weiter, meine Mutter, versetzte die Marquise, und

legte ihre Hand auf die Brust. Nichts, Julietta? fuhr die Mutter fort. Besinne dich. Ein Fehltritt,

so unsäglich er mich schmerzen würde, er ließe sich, und ich müßte ihn zuletzt verzeihn; doch

wenn du, um einem mütterlichen Verweis auszuweichen, ein Märchen von der Umwälzung

der Weltordnung ersinnen, und gotteslästerliche Schwüre häufen könntest, um es meinem,

dir nur allzugerngläubigen, Herzen aufzubürden: so wäre das schändlich; ich würde dir

niemals wieder gut werden. - Möge das Reich der Erlösung einst so offen vor mir liegen, wie

meine Seele vor Ihnen, rief die Marquise. Ich verschwieg Ihnen nichts, meine Mutter. - Diese

Äußerung, voll Pathos getan, erschütterte die Mutter. O Himmel! rief sie: mein

liebenswürdiges Kind! Wie rührst du mich! Und hob sie auf, und küßte sie, und drückte sie an

ihre Brust. Was denn, in aller Welt, fürchtest du? Komm, du bist sehr krank. Sie wollte sie in ein

Bett führen. Doch die Marquise, welcher die Tränen häufig flossen, versicherte, daß sie sehr

gesund wäre, und daß ihr gar nichts fehle, außer jenem sonderbaren und unbegreiflichen

Zustand. - Zustand! rief die Mutter wieder; welch ein Zustand? Wenn dein Gedächtnis über die

Vergangenheit so sicher ist, welch ein Wahnsinn der Furcht ergriff dich? Kann ein innerliches

Gefühl denn, das doch nur dunkel sich regt, nicht trügen? Nein! Nein! sagte die Marquise, es

trügt mich nicht! Und wenn Sie die Hebamme rufen lassen wollen, so werden Sie hören, daß

das Entsetzliche, mich Vernichtende, wahr ist. Komm, meine liebste Tochter, sagte Frau von

G..., die für ihren Verstand zu fürchten anfing. Komm, folge mir, und lege dich zu Bett. Was

meintest du, daß dir der Arzt gesagt hat? Wie dein Gesicht glüht! Wie du an allen Gliedern so

zitterst! Was war es schon, das dir der Arzt gesagt hat? Und damit zog sie die Marquise,

ungläubig nunmehr an den ganzen Auftritt, den sie ihr erzählt hatte, mit sich fort. - Die

Marquise sagte: Liebe! Vortreffliche! indem sie mit weinenden Augen lächelte. Ich bin meiner

Sinne mächtig. Der Arzt hat mir gesagt, daß ich in gesegneten Leibesumständen bin. Lassen

Sie die Hebamme rufen: und sobald sie sagt, daß es nicht wahr ist, bin ich wieder ruhig. Gut,

gut! erwiderte die Obristin, die ihre Angst unterdrückte. Sie soll gleich kommen; sie soll

gleich, wenn du dich von ihr willst auslachen lassen, erscheinen, und dir sagen, daß du eine

Träumerin, und nicht recht klug bist. Und damit zog sie die Klingel, und schickte

augenblicklich einen ihrer Leute, der die Hebamme rufe.

Die Marquise lag noch, mit unruhig sich hebender Brust, in den Armen ihrer Mutter, als diese

Frau erschien, und die Obristin ihr, an welcher seltsamen Vorstellung ihre Tochter krank liege,

eröffnete. Die Frau Marquise schwöre, daß sie sich tugendhaft verhalten habe, und gleichwohl

halte sie, von einer unbegreiflichen Empfindung getäuscht, für nötig, daß eine

sachverständige Frau ihren Zustand untersuche. Die Hebamme, während sie sich von

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demselben unterrichtete, sprach von jungem Blut und der Arglist der Welt; äußerte, als sie ihr

Geschäft vollendet hatte, dergleichen Fälle wären ihr schon vorgekommen; die jungen

Witwen, die in ihre Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben; beruhigte

inzwischen die Frau Marquise, und versicherte sie, daß sich der muntere Korsar, der zur

Nachtzeit gelandet, schon finden würde. Bei diesen Worten fiel die Marquise in Ohnmacht.

Die Obristin, die ihr mütterliches Gefühl nicht überwältigen konnte, brachte sie zwar, mit

Hülfe der Hebamme, wieder ins Leben zurück. Doch die Entrüstung siegte, da sie erwacht war.

Julietta! rief die Mutter mit dem lebhaftesten Schmerz. Willst du dich mir entdecken, willst du

den Vater mir nennen? Und schien noch zur Versöhnung geneigt. Doch als die Marquise sagte,

daß sie wahnsinnig werden würde, sprach die Mutter, indem sie sich vom Diwan erhob: geh!

geh! du bist nichtswürdig! Verflucht sei die Stunde, da ich dich gebar! und verließ das Zimmer.

Die Marquise, der das Tageslicht von neuem schwinden wollte, zog die Geburtshelferin vor

sich nieder, und legte ihr Haupt heftig zitternd an ihre Brust. Sie fragte, mit gebrochener

Stimme, wie denn die Natur auf ihren Wegen walte? Und ob die Möglichkeit einer

unwissentlichen Empfängnis sei? - Die Hebamme lächelte, machte ihr das Tuch los, und sagte,

das würde ja doch der Frau Marquise Fall nicht sein. Nein, nein, antwortete die Marquise, sie

habe wissentlich empfangen, sie wolle nur im allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im

Reiche der Natur sei? Die Hebamme versetzte, daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch

keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre. Die Marquise zitterte immer heftiger. Sie glaubte,

daß sie augenblicklich niederkommen würde, und bat die Geburtshelferin, indem sie sich mit

krampfhafter Beängstigung an sie schloß, sie nicht zu verlassen. Die Hebamme beruhigte sie.

Sie versicherte, daß das Wochenbett noch beträchtlich entfernt wäre, gab ihr auch die Mittel

an, wie man, in solchen Fällen, dem Leumund der Welt ausweichen könne, und meinte, es

würde noch alles gut werden. Doch da diese Trostgründe der unglücklichen Dame völlig wie

Messerstiche durch die Brust fuhren, so sammelte sie sich, sagte, sie befände sich besser, und

bat ihre Gesellschafterin sich zu entfernen.

Kaum war die Hebamme aus dem Zimmer, als ihr ein Schreiben von der Mutter gebracht ward,

in welchem diese sich so ausließ: »Herr von G... wünsche, unter den obwaltenden Umständen,

daß sie sein Haus verlasse. Er sende ihr hierbei die über ihr Vermögen lautenden Papiere, und

hoffe daß ihm Gott den Jammer ersparen werde, sie wieder zu sehen.« - Der Brief war

inzwischen von Tränen benetzt; und in einem Winkel stand ein verwischtes Wort: diktiert. -

Der Marquise stürzte der Schmerz aus den Augen. Sie ging, heftig über den Irrtum ihrer Eltern

weinend, und über die Ungerechtigkeit, zu welcher diese vortrefflichen Menschen verführt

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wurden, nach den Gemächern ihrer Mutter. Es hieß, sie sei bei ihrem Vater; sie wankte nach

den Gemächern ihres Vaters. Sie sank, als sie die Türe verschlossen fand, mit jammernder

Stimme, alle Heiligen zu Zeugen ihrer Unschuld anrufend, vor derselben nieder. Sie mochte

wohl schon einige Minuten hier gelegen haben, als der Forstmeister daraus hervortrat, und zu

ihr mit flammendem Gesicht sagte: sie höre daß der Kommandant sie nicht sehen wolle. Die

Marquise rief: mein liebster Bruder! unter vielem Schluchzen; drängte sich ins Zimmer, und

rief: mein teuerster Vater! und streckte die Arme nach ihm aus. Der Kommandant wandte ihr,

bei ihrem Anblick, den Rücken zu, und eilte in sein Schlafgemach. Er rief, als sie ihn dahin

verfolgte, hinweg! und wollte die Türe zuwerfen; doch da sie, unter Jammern und Flehen, daß

er sie schließe, verhinderte, so gab er plötzlich nach und eilte, während die Marquise zu ihm

hineintrat, nach der hintern Wand. Sie warf sich ihm, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, eben

zu Füßen, und umfaßte zitternd seine Kniee, als ein Pistol, das er ergriffen hatte, in dem

Augenblick, da er es von der Wand herabriß, losging, und der Schuß schmetternd in die Decke

fuhr. Herr meines Lebens! rief die Marquise, erhob sich leichenblaß von ihren Knieen, und

eilte aus seinen Gemächern wieder hinweg. Man soll sogleich anspannen, sagte sie, indem sie

in die ihrigen trat; setzte sich, matt bis in den Tod, auf einen Sessel nieder, zog ihre Kinder

eilfertig an, und ließ die Sachen einpacken. Sie hatte eben ihr Kleinstes zwischen den Knieen,

und schlug ihm noch ein Tuch um, um nunmehr, da alles zur Abreise bereit war, in den Wagen

zu steigen: als der Forstmeister eintrat, und auf Befehl des Kommandanten die Zurücklassung

und Überlieferung der Kinder von ihr forderte. Dieser Kinder? fragte sie; und stand auf. Sag

deinem unmenschlichen Vater, daß er kommen, und mich niederschießen, nicht aber mir

meine Kinder entreißen könne! Und hob, mit dem ganzen Stolz der Unschuld gerüstet, ihre

Kinder auf, trug sie ohne daß der Bruder gewagt hätte, sie anzuhalten, in den Wagen, und fuhr

ab.

Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie

an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte,

empor. Der Aufruhr, der ihre Brust zerriß, legte sich, als sie im Freien war, sie küßte häufig die

Kinder, diese ihre liebe Beute, und mit großer Selbstzufriedenheit gedachte sie, welch einen

Sieg sie, durch die Kraft ihres schuldfreien Bewußtseins, über ihren Bruder davon getragen

hatte. Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter

der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen. Sie sah die

Unmöglichkeit ein, ihre Familie von ihrer Unschuld zu überzeugen, begriff, daß sie sich

darüber trösten müsse, falls sie nicht untergehen wolle, und wenige Tage nur waren nach

ihrer Ankunft in V... verflossen, als der Schmerz ganz und gar dem heldenmütigen Vorsatz Platz

machte, sich mit Stolz gegen die Anfälle der Welt zu rüsten. Sie beschloß, sich ganz in ihr

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Innerstes zurückzuziehen, sich, mit ausschließendem Eifer, der Erziehung ihrer beiden Kinder

zu widmen, und des Geschenks, das ihr Gott mit dem dritten gemacht hatte, mit voller

mütterlichen Liebe zu pflegen. Sie machte Anstalten, in wenig Wochen, sobald sie ihre

Niederkunft überstanden haben würde, ihren schönen, aber durch die lange Abwesenheit ein

wenig verfallenen Landsitz wieder herzustellen; saß in der Gartenlaube, und dachte, während

sie kleine Mützen, und Strümpfe für kleine Beine strickte, wie sie die Zimmer bequem

verteilen würde; auch, welches sie mit Büchern füllen, und in welchem die Staffelei am

schicklichsten stehen würde. Und so war der Zeitpunkt, da der Graf F... von Neapel

wiederkehren sollte, noch nicht abgelaufen, als sie schon völlig mit dem Schicksal, in ewig

klösterlicher Eingezogenheit zu leben, vertraut war. Der Türsteher erhielt Befehl, keinen

Menschen im Hause vorzulassen. Nur der Gedanke war ihr unerträglich, daß dem jungen

Wesen, das sie in der größten Unschuld und Reinheit empfangen hatte, und dessen Ursprung,

eben weil er geheimnisvoller war, auch göttlicher zu sein schien, als der anderer Menschen,

ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte. Ein sonderbares Mittel war

ihr eingefallen, den Vater zu entdecken: ein Mittel, bei dem sie, als sie es zuerst dachte, das

Strickzeug selbst vor Schrecken aus der Hand fallen ließ. Durch ganze Nächte, in unruhiger

Schlaflosigkeit durchwacht, ward es gedreht und gewendet um sich an seine ihr innerstes

Gefühl verletzende, Natur zu gewöhnen. Immer noch sträubte sie sich, mit dem Menschen,

der sie so hintergangen hatte, in irgend ein Verhältnis zu treten: indem sie sehr richtig schloß,

daß derselbe doch, ohne alle Rettung, zum Auswurf seiner Gattung gehören müsse, und, auf

welchem Platz der Welt man ihn auch denken wolle, nur aus dem zertretensten und

unflätigsten Schlamm derselben, hervorgegangen sein könne. Doch da das Gefühl ihrer

Selbständigkeit immer lebhafter in ihr ward, und sie bedachte, daß der Stein seinen Wert

behält, er mag auch eingefaßt sein, wie man wolle, so griff sie eines Morgens, da sich das junge

Leben wieder in ihr regte, ein Herz, und ließ jene sonderbare Aufforderung in die

Intelligenzblätter von M... rücken, die man am Eingang dieser Erzählung gelesen hat.

Der Graf F..., den unvermeidliche Geschäfte in Neapel aufhielten, hatte inzwischen zum

zweitenmal an die Marquise geschrieben, und sie aufgefordert, es möchten fremde Umstände

eintreten, welche da wollten, ihrer, ihm gegebenen, stillschweigenden Erklärung getreu zu

bleiben. Sobald es ihm geglückt war, seine fernere Geschäftsreise nach Konstantinopel

abzulehnen, und es seine übrigen Verhältnisse gestatteten, ging er augenblicklich von Neapel

ab, und kam auch richtig, nur wenige Tage nach der von ihm bestimmten Frist, in M... an. Der

Kommandant empfing ihn mit einem verlegenen Gesicht, sagte, daß ein notwendiges

Geschäft ihn aus dem Hause nötige, und forderte den Forstmeister auf, ihn inzwischen zu

unterhalten. Der Forstmeister zog ihn auf sein Zimmer, und fragte ihn, nach einer kurzen

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Begrüßung, ob er schon wisse, was sich während seiner Abwesenheit in dem Hause des

Kommandanten zugetragen habe. Der Graf antwortete, mit einer flüchtigen Blässe: nein.

Hierauf unterrichtete ihn der Forstmeister von der Schande, die die Marquise über die Familie

gebracht hatte, und gab ihm die Geschichtserzählung dessen, was unsre Leser soeben

erfahren haben. Der Graf schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Warum legte man mir so viele

Hindernisse in den Weg! rief er in der Vergessenheit seiner. Wenn die Vermählung erfolgt

wäre: so wäre alle Schmach und jedes Unglück uns erspart! Der Forstmeister fragte, indem er

ihn anglotzte, ob er rasend genug wäre, zu wünschen, mit dieser Nichtswürdigen vermählt zu

sein? Der Graf erwiderte, daß sie mehr wert wäre, als die ganze Welt, die sie verachtete; daß

ihre Erklärung über ihre Unschuld vollkommnen Glauben bei ihm fände; und daß er noch

heute nach V... gehen, und seinen Antrag bei ihr wiederholen würde. Er ergriff auch sogleich

seinen Hut, empfahl sich dem Forstmeister, der ihn für seiner Sinne völlig beraubt hielt, und

ging ab.

Er bestieg ein Pferd und sprengte nach V... hinaus. Als er am Tore abgestiegen war, und in den

Vorplatz treten wollte, sagte ihm der Türsteher, daß die Frau Marquise keinen Menschen

spräche. Der Graf fragte, ob diese, für Fremde getroffene, Maßregel auch einem Freund des

Hauses gälte; worauf jener antwortete, daß er von keiner Ausnahme wisse, und bald darauf, auf

eine zweideutige Art hinzusetzte: ob er vielleicht der Graf F... wäre? Der Graf erwiderte, nach

einem forschenden Blick, nein; und äußerte, zu seinem Bedienten gewandt, doch so, daß jener

es hören konnte, er werde, unter solchen Umständen, in einem Gasthofe absteigen, und sich

bei der Frau Marquise schriftlich anmelden. Sobald er inzwischen dem Türsteher aus den

Augen war, bog er um eine Ecke, und umschlich die Mauer eines weitläufigen Gartens, der

sich hinter dem Hause ausbreitete. Er trat durch eine Pforte, die er offen fand, in den Garten,

durchstrich die Gänge desselben, und wollte eben die hintere Rampe hinaufsteigen, als er, in

einer Laube, die zur Seite lag, die Marquise, in ihrer lieblichen und geheimnisvollen Gestalt,

an einem kleinen Tischchen emsig arbeiten sah. Er näherte sich ihr so, daß sie ihn nicht früher

erblicken konnte, als bis er am Eingang der Laube, drei kleine Schritte von ihren Füßen, stand.

Der Graf F...! sagte die Marquise, als sie die Augen aufschlug, und die Röte der Überraschung

überflog ihr Gesicht. Der Graf lächelte, blieb noch eine Zeitlang, ohne sich im Eingang zu

rühren, stehen; setzte sich dann, mit so bescheidener Zudringlichkeit, als sie nicht zu

erschrecken nötig war, neben ihr nieder, und schlug, ehe sie noch, in ihrer sonderbaren Lage,

einen Entschluß gefaßt hatte, seinen Arm sanft um ihren lieben Leib. Von wo, Herr Graf, ist es

möglich, fragte die Marquise - und sah schüchtern vor sich auf die Erde nieder. Der Graf sagte:

von M..., und drückte sie ganz leise an sich; durch eine hintere Pforte, die ich offen fand. Ich

glaubte auf Ihre Verzeihung rechnen zu dürfen, und trat ein. Hat man Ihnen denn in M... nicht

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gesagt -? - fragte sie, und rührte noch kein Glied in seinen Armen. Alles, geliebte Frau,

versetzte der Graf; doch von Ihrer Unschuld völlig überzeugt - Wie! rief die Marquise, indem

sie aufstand, und sich loswickelte; und Sie kommen gleichwohl? - Der Welt zum Trotz, fuhr er

fort, indem er sie festhielt, und Ihrer Familie zum Trotz, und dieser lieblichen Erscheinung

sogar zum Trotz; wobei er einen glühenden Kuß auf ihre Brust drückte. - Hinweg! rief die

Marquise - So überzeugt, sagte er, Julietta, als ob ich allwissend wäre, als ob meine Seele in

deiner Brust wohnte - Die Marquise rief: Lassen Sie mich! Ich komme, schloß er - und ließ sie

nicht - meinen Antrag zu wiederholen, und das Los der Seligen, wenn Sie mich erhören

wollen, von Ihrer Hand zu empfangen. Lassen Sie mich augenblicklich! rief die Marquise; ich

befehls Ihnen! riß sich gewaltsam aus seinen Armen, und entfloh. Geliebte! Vortreffliche!

flüsterte er, indem er wieder aufstand, und ihr folgte. - Sie hören! rief die Marquise, und

wandte sich, und wich ihm aus. Ein einziges, heimliches, geflüstertes -! sagte der Graf, und griff

hastig nach ihrem glatten, ihm entschlüpfenden Arm. - Ich will nichts wissen, versetzte die

Marquise, stieß ihn heftig vor die Brust zurück, eilte auf die Rampe, und verschwand.

Er war schon halb auf die Rampe gekommen, um sich, es koste, was es wolle, bei ihr Gehör zu

verschaffen, als die Tür vor ihm zuflog, und der Riegel heftig, mit verstörter Beeiferung, vor

seinen Schritten zurasselte. Unschlüssig, einen Augenblick, was unter solchen Umständen zu

tun sei, stand er, und überlegte, ob er durch ein, zur Seite offen stehendes Fenster einsteigen,

und seinen Zweck, bis er ihn erreicht, verfolgen solle; doch so schwer es ihm auch in jedem

Sinne war, umzukehren, diesmal schien es die Notwendigkeit zu erfordern, und grimmig

erbittert über sich, daß er sie aus seinen Armen gelassen hatte, schlich er die Rampe hinab,

und verließ den Garten, um seine Pferde aufzusuchen. Er fühlte daß der Versuch, sich an ihrem

Busen zu erklären, für immer fehlgeschlagen sei, und ritt schrittweis, indem er einen Brief

überlegte, den er jetzt zu schreiben verdammt war, nach M... zurück. Abends, da er sich, in der

übelsten Laune von der Welt, bei einer öffentlichen Tafel eingefunden hatte, traf er den

Forstmeister an, der ihn auch sogleich befragte, ob er seinen Antrag in V... glücklich

angebracht habe? Der Graf antwortete kurz: nein! und war sehr gestimmt, ihn mit einer

bitteren Wendung abzufertigen; doch um der Höflichkeit ein Genüge zu tun, setzte er nach

einer Weile hinzu: er habe sich entschlossen, sich schriftlich an sie zu wenden, und werde

damit in kurzem ins Reine sein. Der Forstmeister sagte: er sehe mit Bedauern, daß seine

Leidenschaft für die Marquise ihn seiner Sinne beraube. Er müsse ihm inzwischen versichern,

daß sie bereits auf dem Wege sei, eine andere Wahl zu treffen; klingelte nach den neuesten

Zeitungen, und gab ihm das Blatt, in welchem die Aufforderung derselben an den Vater ihres

Kindes eingerückt war. Der Graf durchlief, indem ihm das Blut ins Gesicht schoß, die Schrift. Ein

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Wechsel von Gefühlen durchkreuzte ihn. Der Forstmeister fragte, ob er nicht glaube, daß die

Person, die die Frau Marquise suche, sich finden werde? - Unzweifelhaft! versetzte der Graf,

indessen er mit ganzer Seele über dem Papier lag, und den Sinn desselben gierig verschlang.

Darauf nachdem er einen Augenblick, während er das Blatt zusammenlegte, an das Fenster

getreten war, sagte er: nun ist es gut! nun weiß ich, was ich zu tun habe! kehrte sich sodann

um; und fragte den Forstmeister noch, auf eine verbindliche Art, ob man ihn bald wiedersehen

werde; empfahl sich ihm, und ging, völlig ausgesöhnt mit seinem Schicksal, fort. -

Inzwischen waren in dem Hause des Kommandanten die lebhaftesten Auftritte vorgefallen.

Die Obristin war über die zerstörende Heftigkeit ihres Gatten und über die Schwäche, mit

welcher sie sich, bei der tyrannischen Verstoßung der Tochter, von ihm hatte unterjochen

lassen, äußerst erbittert. Sie war, als der Schuß in des Kommandanten Schlafgemach fiel, und

die Tochter aus demselben hervorstürzte, in eine Ohnmacht gesunken, aus der sie sich zwar

bald wieder erholte; doch der Kommandant hatte, in dem Augenblick ihres Erwachens, weiter

nichts gesagt, als, es täte ihm leid, daß sie diesen Schrecken umsonst gehabt, und das

abgeschossene Pistol auf einen Tisch geworfen. Nachher, da von der Abforderung der Kinder

die Rede war, wagte sie schüchtern, zu erklären, daß man zu einem solchen Schritt kein Recht

habe; sie bat mit einer, durch die gehabte Anwandlung, schwachen und rührenden Stimme,

heftige Auftritte im Hause zu vermeiden; doch der Kommandant erwiderte weiter nichts, als,

indem er sich zum Forstmeister wandte, vor Wut schäumend: geh! und schaff sie mir! Als der

zweite Brief des Grafen F... ankam, hatte der Kommandant befohlen, daß er nach V... zur

Marquise herausgeschickt werden solle, welche ihn, wie man nachher durch den Boten erfuhr,

bei Seite gelegt, und gesagt hatte, es wäre gut. Die Obristin, der in der ganzen Begebenheit

so vieles, und besonders die Geneigtheit der Marquise, eine neue, ihr ganz gleichgültige

Vermählung einzugehen, dunkel war, suchte vergebens, diesen Umstand zur Sprache zu

bringen. Der Kommandant bat immer, auf eine Art, die einem Befehle gleich sah, zu

schweigen; versicherte, indem er einst, bei einer solchen Gelegenheit, ein Porträt

herabnahm, das noch von ihr an der Wand hing, daß er sein Gedächtnis ihrer ganz zu vertilgen

wünsche; und meinte, er hätte keine Tochter mehr. Drauf erschien der sonderbare Aufruf der

Marquise in den Zeitungen. Die Obristin, die auf das lebhafteste darüber betroffen war, ging

mit dem Zeitungsblatt, das sie von dem Kommandanten erhalten hatte, in sein Zimmer, wo sie

ihn an einem Tisch arbeitend fand, und fragte ihn, was er in aller Welt davon halte? Der

Kommandant sagte, indem er fortschrieb: o! sie ist unschuldig. Wie! rief Frau von G..., mit dem

alleräußersten Erstaunen: unschuldig? Sie hat es im Schlaf getan, sagte der Kommandant, ohne

aufzusehen. Im Schlafe! versetzte Frau von G... Und ein so ungeheurer Vorfall wäre -? Die

Närrin! rief der Kommandant, schob die Papiere über einander, und ging weg.

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Am nächsten Zeitungstage las die Obristin, da beide beim Frühstück saßen, in einem

Intelligenzblatt, das eben ganz feucht von der Presse kam, folgende Antwort:

»Wenn die Frau Marquise von O... sich, am 3ten ... 11 Uhr morgens, im Hause des Herrn von G...,

ihres Vaters, einfinden will: so wird sich derjenige, den sie sucht, ihr daselbst zu Füßen

werfen.« -

Der Obristin verging, ehe sie noch auf die Hälfte dieses unerhörten Artikels gekommen war,

die Sprache; sie überflog das Ende, und reichte das Blatt dem Kommandanten dar. Der Obrist

durchlas das Blatt dreimal, als ob er seinen eignen Augen nicht traute. Nun sage mir, um des

Himmels willen, Lorenzo, rief die Obristin, was hältst du davon? O die Schändliche! versetzte

der Kommandant, und stand auf; o die verschmitzte Heuchlerin! Zehnmal die Schamlosigkeit

einer Hündin, mit zehnfacher List des Fuchses gepaart, reichen noch an die ihrige nicht! Solch

eine Miene! Zwei solche Augen! Ein Cherub hat sie nicht treuer! - und jammerte und konnte

sich nicht beruhigen. Aber was in aller Welt, fragte die Obristin, wenn es eine List ist, kann sie

damit bezwecken? - Was sie damit bezweckt? Ihre nichtswürdige Betrügerei, mit Gewalt will

sie sie durchsetzen, erwiderte der Obrist. Auswendig gelernt ist sie schon, die Fabel, die sie

uns beide, sie und er, am Dritten 11 Uhr morgens hier aufbürden wollen. Mein liebes

Töchterchen, soll ich sagen, das wußte ich nicht, wer konnte das denken, vergib mir, nimm

meinen Segen, und sei wieder gut. Aber die Kugel dem, der am Dritten morgens über meine

Schwelle tritt! Es müßte denn schicklicher sein, ihn mir durch Bedienten aus dem Hause zu

schaffen. - Frau von G... sagte, nach einer nochmaligen Überlesung des Zeitungsblattes, daß

wenn sie, von zwei unbegreiflichen Dingen, einem, Glauben beimessen solle, sie lieber an ein

unerhörtes Spiel des Schicksals, als an diese Niederträchtigkeit ihrer sonst so vortrefflichen

Tochter glauben wolle. Doch ehe sie noch vollendet hatte, rief der Kommandant schon: tu mir

den Gefallen und schweig! und verließ das Zimmer. Es ist mir verhaßt, wenn ich nur davon

höre.

Wenige Tage nachher erhielt der Kommandant, in Beziehung auf diesen Zeitungsartikel,

einen Brief von der Marquise, in welchem sie ihn, da ihr die Gnade versagt wäre, in seinem

Hause erscheinen zu dürfen, auf eine ehrfurchtsvolle und rührende Art bat, denjenigen, der

sich am Dritten morgens bei ihm zeigen würde, gefälligst zu ihr nach V... hinauszuschicken. Die

Obristin war gerade gegenwärtig, als der Kommandant diesen Brief empfing; und da sie auf

seinem Gesicht deutlich bemerkte, daß er in seiner Empfindung irre geworden war: denn

welch ein Motiv jetzt, falls es eine Betrügerei war, sollte er ihr unterlegen, da sie auf seine

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Verzeihung gar keine Ansprüche zu machen schien? so rückte sie, dadurch dreist gemacht, mit

einem Plan hervor, den sie schon lange, in ihrer von Zweifeln bewegten Brust, mit sich herum

getragen hatte. Sie sagte, während der Obrist noch, mit einer nichtssagenden Miene, in das

Papier hineinsah: sie habe einen Einfall. Ob er ihr erlauben wolle, auf einen oder zwei Tage,

nach V... hinauszufahren? Sie werde die Marquise, falls sie wirklich denjenigen, der ihr durch

die Zeitungen, als ein Unbekannter, geantwortet, schon kenne, in eine Lage zu versetzen

wissen, in welcher sich ihre Seele verraten müßte, und wenn sie die abgefeimteste Verräterin

wäre. Der Kommandant erwiderte, indem er, mit einer plötzlich heftigen Bewegung, den

Brief zerriß: sie wisse, daß er mit ihr nichts zu schaffen haben wolle, und er verbiete ihr, in

irgend eine Gemeinschaft mit ihr zu treten. Er siegelte die zerrissenen Stücke ein, schrieb

eine Adresse an die Marquise, und gab sie dem Boten, als Antwort, zurück. Die Obristin, durch

diesen hartnäckigen Eigensinn, der alle Möglichkeit der Aufklärung vernichtete, heimlich

erbittert, beschloß ihren Plan jetzt, gegen seinen Willen, auszuführen. Sie nahm einen von

den Jägern des Kommandanten, und fuhr am nächstfolgenden Morgen, da ihr Gemahl noch im

Bette lag, mit demselben nach V... hinaus. Als sie am Tore des Landsitzes angekommen war,

sagte ihr der Türsteher, daß niemand bei der Frau Marquise vorgelassen würde. Frau von G...

antwortete, daß sie von dieser Maßregel unterrichtet wäre, daß er aber gleichwohl nur

gehen, und die Obristin von G... bei ihr anmelden möchte. Worauf dieser versetzte, daß dies zu

nichts helfen würde, indem die Frau Marquise keinen Menschen auf der Welt spräche. Frau

von G... antwortete, daß sie von ihr gesprochen werden würde, indem sie ihre Mutter wäre,

und daß er nur nicht länger säumen, und sein Geschäft verrichten möchte. Kaum aber war

noch der Türsteher zu diesem, wie er meinte, gleichwohl vergeblichen Versuche ins Haus

gegangen, als man schon die Marquise daraus hervortreten, nach dem Tore eilen, und sich auf

Knieen vor dem Wagen der Obristin niederstürzen sah. Frau von G... stieg, von ihrem Jäger

unterstützt, aus, und hob die Marquise, nicht ohne einige Bewegung, vom Boden auf. Die

Marquise drückte sich, von Gefühlen überwältigt, tief auf ihre Hand hinab, und führte sie,

indem ihr die Tränen häufig flossen, ehrfurchtsvoll in die Zimmer ihres Hauses. Meine teuerste

Mutter! rief sie, nachdem sie ihr den Diwan angewiesen hatte, und noch vor ihr stehen blieb,

und sich die Augen trocknete: welch ein glücklicher Zufall ist es, dem ich Ihre, mir

unschätzbare Erscheinung verdanke? Frau von G... sagte, indem sie ihre Tochter vertraulich

faßte, sie müsse ihr nur sagen, daß sie komme, sie wegen der Härte, mit welcher sie aus dem

väterlichen Hause verstoßen worden sei, um Verzeihung zu bitten. Verzeihung! fiel ihr die

Marquise ins Wort, und wollte ihre Hände küssen. Doch diese, indem sie den Handkuß

vermied, fuhr fort: denn nicht nur, daß die, in den letzten öffentlichen Blättern eingerückte,

Antwort auf die bewußte Bekanntmachung, mir sowohl als dem Vater, die Überzeugung von

deiner Unschuld gegeben hat; so muß ich dir auch eröffnen, daß er sich selbst schon, zu

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unserm großen und freudigen Erstaunen, gestern im Hause gezeigt hat. Wer hat sich -? fragte

die Marquise, und setzte sich bei ihrer Mutter nieder; - welcher er selbst hat sich gezeigt -?

und Erwartung spannte jede ihrer Mienen. Er, erwiderte Frau von G..., der Verfasser jener

Antwort, er persönlich selbst, an welchen dein Aufruf gerichtet war. - Nun denn, sagte die

Marquise, mit unruhig arbeitender Brust: wer ist es? Und noch einmal: wer ist es? - Das,

erwiderte Frau von G..., möchte ich dich erraten lassen. Denn denke, daß sich gestern, da wir

beim Tee sitzen, und eben das sonderbare Zeitungsblatt lesen, ein Mensch, von unsrer

genauesten Bekanntschaft, mit Gebärden der Verzweiflung ins Zimmer stürzt, und deinem

Vater, und bald darauf auch mir, zu Füßen fällt. Wir, unwissend, was wir davon denken sollen,

fordern ihn auf, zu reden. Darauf spricht er: sein Gewissen lasse ihm keine Ruhe; er sei der

Schändliche, der die Frau Marquise betrogen, er müsse wissen, wie man sein Verbrechen

beurteile, und wenn Rache über ihn verhängt werden solle, so komme er, sich ihr selbst

darzubieten. Aber wer? wer? wer? versetzte die Marquise. Wie gesagt, fuhr Frau von G... fort,

ein junger, sonst wohlerzogener Mensch, dem wir eine solche Nichtswürdigkeit niemals

zugetraut hätten. Doch erschrecken wirst du nicht, meine Tochter, wenn du erfährst, daß er

von niedrigem Stande, und von allen Forderungen, die man sonst an deinen Gemahl machen

dürfte, entblößt ist. Gleichviel, meine vortreffliche Mutter, sagte die Marquise, er kann nicht

ganz unwürdig sein, da er sich Ihnen früher als mir, zu Füßen geworfen hat. Aber, wer? wer?

Sagen Sie mir nur: wer? Nun denn, versetzte die Mutter, es ist Leopardo, der Jäger, den sich

der Vater jüngst aus Tirol verschrieb, und den ich, wenn du ihn wahrnahmst, schon

mitgebracht habe, um ihn dir als Bräutigam vorzustellen. Leopardo, der Jäger! rief die

Marquise, und drückte ihre Hand, mit dem Ausdruck der Verzweiflung, vor die Stirn. Was

erschreckt dich? fragte die Obristin. Hast du Gründe, daran zu zweifeln? - Wie? Wo? Wann?

fragte die Marquise verwirrt. Das, antwortete jene, will er nur dir anvertrauen. Scham und

Liebe, meinte er, machten es ihm unmöglich, sich einer andern hierüber zu erklären, als dir.

Doch wenn du willst, so öffnen wir das Vorzimmer, wo er, mit klopfendem Herzen, auf den

Ausgang wartet; und du magst sehen, ob du ihm sein Geheimnis, indessen ich abtrete,

entlockst. - Gott, mein Vater! rief die Marquise; ich war einst in der Mittagshitze

eingeschlummert, und sah ihn von meinem Diwan gehen, als ich erwachte! - Und damit legte

sie ihre kleinen Hände vor ihr in Scham erglühendes Gesicht. Bei diesen Worten sank die

Mutter auf Knieen vor ihr nieder. O meine Tochter! rief sie; o du Vortreffliche! und schlug die

Arme um sie. Und o ich Nichtswürdige! und verbarg das Antlitz in ihren Schoß. Die Marquise

fragte bestürzt: was ist Ihnen, meine Mutter? Denn begreife, fuhr diese fort, o du Reinere als

Engel sind, daß von allem, was ich dir sagte, nichts wahr ist; daß meine verderbte Seele an

solche Unschuld nicht, als von der du umstrahlt bist, glauben konnte, und daß ich dieser

schändlichen List erst bedurfte, um mich davon zu überzeugen. Meine teuerste Mutter, rief

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die Marquise, und neigte sich voll froher Rührung zu ihr herab, und wollte sie aufheben. Jene

versetzte darauf: nein, eher nicht von deinen Füßen weich ich, bis du mir sagst, ob du mir die

Niedrigkeit meines Verhaltens, du Herrliche, Überirdische, verzeihen kannst. Ich Ihnen

verzeihen, meine Mutter! Stehen Sie auf, rief die Marquise, ich beschwöre Sie - Du hörst, sagte

Frau von G..., ich will wissen, ob du mich noch lieben, und so aufrichtig verehren kannst, als

sonst? Meine angebetete Mutter! rief die Marquise, und legte sich gleichfalls auf Knieen vor

ihr nieder; Ehrfurcht und Liebe sind nie aus meinem Herzen gewichen. Wer konnte mir, unter

so unerhörten Umständen, Vertrauen schenken? Wie glücklich bin ich, daß Sie von meiner

Unsträflichkeit überzeugt sind! Nun denn, versetzte Frau von G..., indem sie, von ihrer Tochter

unterstützt, aufstand: so will ich dich auf Händen tragen, mein liebstes Kind. Du sollst bei mir

dein Wochenlager halten; und wären die Verhältnisse so, daß ich einen jungen Fürsten von dir

erwartete, mit größerer Zärtlichkeit nicht und Würdigkeit könnt ich dein pflegen. Die Tage

meines Lebens nicht mehr von deiner Seite weich ich. Ich biete der ganzen Welt Trotz; ich will

keine andre Ehre mehr, als deine Schande; wenn du mir nur wieder gut wirst, und der Härte

nicht, mit welcher ich dich verstieß, mehr gedenkst. Die Marquise suchte sie mit

Liebkosungen und Beschwörungen ohne Ende zu trösten; doch der Abend kam heran, und

Mitternacht schlug, ehe es ihr gelang. Am folgenden Tage, da sich der Affekt der alten Dame,

der ihr während der Nacht eine Fieberhitze zugezogen hatte, ein wenig gelegt hatte, fuhren

Mutter und Tochter und Enkel, wie im Triumph, wieder nach M... zurück. Sie waren äußerst

vergnügt auf der Reise, scherzten über Leopardo, den Jäger, der vorn auf dem Bock saß; und

die Mutter sagte zur Marquise, sie bemerke, daß sie rot würde, so oft sie seinen breiten

Rücken ansähe. Die Marquise antwortete, mit einer Regung, die halb ein Seufzer, halb ein

Lächeln war: wer weiß, wer zuletzt noch am Dritten 11 Uhr morgens bei uns erscheint! - Drauf,

je mehr man sich M... näherte, je ernsthafter stimmten sich wieder die Gemüter, in der

Vorahndung entscheidender Auftritte, die ihnen noch bevorstanden. Frau von G..., die sich von

ihren Plänen nichts merken ließ, führte ihre Tochter, da sie vor dem Hause ausgestiegen

waren, wieder in ihre alten Zimmer ein; sagte, sie möchte es sich nur bequem machen, sie

würde gleich wieder bei ihr sein, und schlüpfte ab. Nach einer Stunde kam sie mit einem ganz

erhitzten Gesicht wieder. Nein, solch ein Thomas! sprach sie mit heimlich vergnügter Seele;

solch ein ungläubiger Thomas! Hab ich nicht eine Seigerstunde gebraucht, ihn zu überzeugen.

Aber nun sitzt er, und weint. Wer? fragte die Marquise. Er, antwortete die Mutter. Wer sonst,

als wer die größte Ursache dazu hat. Der Vater doch nicht? rief die Marquise. Wie ein Kind,

erwiderte die Mutter; daß ich, wenn ich mir nicht selbst hätte die Tränen aus den Augen

wischen müssen, gelacht hätte, so wie ich nur aus der Türe heraus war. Und das wegen meiner?

fragte die Marquise, und stand auf; und ich sollte hier -? Nicht von der Stelle! sagte Frau von G...

Warum diktierte er mir den Brief! Hier sucht er dich auf, wenn er mich, so lange ich lebe,

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wiederfinden will. Meine teuerste Mutter, flehte die Marquise - Unerbittlich! fiel ihr die

Obristin ins Wort. Warum griff er nach der Pistole. - Aber ich beschwöre Sie - Du sollst nicht,

versetzte Frau von G..., indem sie die Tochter wieder auf ihren Sessel niederdrückte. Und wenn

er nicht heut vor Abend noch kommt, zieh ich morgen mit dir weiter. Die Marquise nannte

dies Verfahren hart und ungerecht. Doch die Mutter erwiderte: Beruhige dich - denn eben

hörte sie jemand von weitem heranschluchzen: er kömmt schon! Wo? fragte die Marquise, und

horchte. Ist wer hier draußen vor der Tür; dies heftige -? Allerdings, versetzte Frau von G... Er

will, daß wir ihm die Türe öffnen. Lassen Sie mich! rief die Marquise, und riß sich vom Stuhl

empor. Doch: wenn du mir gut bist, Julietta, versetzte die Obristin, so bleib; und in dem

Augenblick trat auch der Kommandant schon, das Tuch vor das Gesicht haltend, ein. Die

Mutter stellte sich breit vor ihre Tochter, und kehrte ihm den Rücken zu. Mein teuerster

Vater! rief die Marquise, und streckte ihre Arme nach ihm aus. Nicht von der Stelle, sagte Frau

von G..., du hörst! Der Kommandant stand in der Stube und weinte. Er soll dir abbitten, fuhr

Frau von G... fort. Warum ist er so heftig! Und warum ist er so hartnäckig! Ich liebe ihn, aber dich

auch; ich ehre ihn, aber dich auch. Und muß ich eine Wahl treffen, so bist du vortrefflicher, als

er, und ich bleibe bei dir. Der Kommandant beugte sich ganz krumm, und heulte, daß die

Wände erschallten. Aber mein Gott! rief die Marquise, gab der Mutter plötzlich nach, und

nahm ihr Tuch, ihre eigenen Tränen fließen zu lassen. Frau von G... sagte: - er kann nur nicht

sprechen! und wich ein wenig zur Seite aus. Hierauf erhob sich die Marquise, umarmte den

Kommandanten, und bat ihn, sich zu beruhigen. Sie weinte selbst heftig. Sie fragte ihn, ob er

sich nicht setzen wolle? sie wollte ihn auf einen Sessel niederziehen; sie schob ihm einen

Sessel hin, damit er sich darauf setze: doch er antwortete nicht; er war nicht von der Stelle zu

bringen; er setzte sich auch nicht, und stand bloß, das Gesicht tief zur Erde gebeugt, und

weinte. Die Marquise sagte, indem sie ihn aufrecht hielt, halb zur Mutter gewandt: er werde

krank werden; die Mutter selbst schien, da er sich ganz konvulsivisch gebärdete, ihre

Standhaftigkeit verlieren zu wollen. Doch da der Kommandant sich endlich, auf die

wiederholten Anforderungen der Tochter, niedergesetzt hatte, und diese ihm, mit

unendlichen Liebkosungen, zu Füßen gesunken war: so nahm sie wieder das Wort, sagte, es

geschehe ihm ganz recht, er werde nun wohl zur Vernunft kommen, entfernte sich aus dem

Zimmer, und ließ sie allein.

Sobald sie draußen war, wischte sie sich selbst die Tränen ab, dachte, ob ihm die heftige

Erschütterung, in welche sie ihn versetzt hatte, nicht doch gefährlich sein könnte, und ob es

wohl ratsam sei, einen Arzt rufen zu lassen? Sie kochte ihm für den Abend alles, was sie nur

Stärkendes und Beruhigendes aufzutreiben wußte, in der Küche zusammen, bereitete und

wärmte ihm das Bett, um ihn sogleich hineinzulegen, sobald er nur, an der Hand der Tochter,

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erscheinen würde, und schlich, da er immer noch nicht kam, und schon die Abendtafel

gedeckt war, dem Zimmer der Marquise zu, um doch zu hören, was sich zutrage? Sie vernahm,

da sie mit sanft an die Tür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, das,

wie es ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durchs Schlüsselloch bemerkte, saß sie

auch auf des Kommandanten Schoß, was er sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte.

Drauf endlich öffnete sie die Tür, und sah nun - und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die

Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen

liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das

große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die

Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das

Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter

fühlte sich, wie eine Selige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die

Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. Sie

nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in

unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl

herumbeugend, von der Seite an. Der Kommandant schlug, bei ihrem Anblick, das Gesicht

schon wieder ganz kraus nieder, und wollte etwas sagen; doch sie rief: o was für ein Gesicht ist

das! küßte es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und machte der Rührung durch Scherzen ein

Ende. Sie lud und führte beide, die wie Brautleute gingen, zur Abendtafel, an welcher der

Kommandant zwar sehr heiter war, aber noch von Zeit zu Zeit schluchzte, wenig aß und

sprach, auf den Teller niedersah, und mit der Hand seiner Tochter spielte.

Nun galt es, beim Anbruch des nächsten Tages, die Frage: wer nur, in aller Welt, morgen um 11

Uhr sich zeigen würde; denn morgen war der gefürchtete Dritte. Vater und Mutter, und auch

der Bruder, der sich mit seiner Versöhnung eingefunden hatte, stimmten unbedingt, falls die

Person nur von einiger Erträglichkeit sein würde, für Vermählung; alles, was nur immer

möglich war, sollte geschehen, um die Lage der Marquise glücklich zu machen. Sollten die

Verhältnisse derselben jedoch so beschaffen sein, daß sie selbst dann, wenn man ihnen durch

Begünstigungen zu Hülfe käme, zu weit hinter den Verhältnissen der Marquise zurückblieben,

so widersetzten sich die Eltern der Heirat; sie beschlossen, die Marquise nach wie vor bei sich

zu behalten, und das Kind zu adoptieren. Die Marquise hingegen schien willens, in jedem

Falle, wenn die Person nur nicht ruchlos wäre, ihr gegebenes Wort in Erfüllung zu bringen,

und dem Kinde, es koste was es wolle, einen Vater zu verschaffen. Am Abend fragte die

Mutter, wie es denn mit dem Empfang der Person gehalten werden solle? Der Kommandant

meinte, daß es am schicklichsten sein würde, wenn man die Marquise um 11 Uhr allein ließe.

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Die Marquise hingegen bestand darauf, daß beide Eltern, und auch der Bruder, gegenwärtig

sein möchten, indem sie keine Art des Geheimnisses mit dieser Person zu teilen haben wolle.

Auch meinte sie, daß dieser Wunsch sogar in der Antwort derselben, dadurch, daß sie das Haus

des Kommandanten zur Zusammenkunft vorgeschlagen, ausgedrückt scheine; ein Umstand,

um dessentwillen ihr gerade diese Antwort, wie sie frei gestehen müsse, sehr gefallen habe.

Die Mutter bemerkte die Unschicklichkeit der Rollen, die der Vater und der Bruder dabei zu

spielen haben würden, bat die Tochter, die Entfernung der Männer zuzulassen, wogegen sie in

ihren Wunsch willigen, und bei dem Empfang der Person gegenwärtig sein wolle. Nach einer

kurzen Besinnung der Tochter ward dieser letzte Vorschlag endlich angenommen. Drauf nun

erschien, nach einer, unter den gespanntesten Erwartungen zugebrachten, Nacht der Morgen

des gefürchteten Dritten. Als die Glocke eilf Uhr schlug, saßen beide Frauen, festlich, wie zur

Verlobung angekleidet, im Besuchzimmer; das Herz klopfte ihnen, daß man es gehört haben

würde, wenn das Geräusch des Tages geschwiegen hätte. Der eilfte Glockenschlag summte

noch, als Leopardo, der Jäger, eintrat, den der Vater aus Tirol verschrieben hatte. Die Weiber

erblaßten bei diesem Anblick. Der Graf F..., sprach er, ist vorgefahren, und läßt sich anmelden.

Der Graf F...! riefen beide zugleich, von einer Art der Bestürzung in die andre geworfen. Die

Marquise rief: Verschließt die Türen! Wir sind für ihn nicht zu Hause; stand auf, das Zimmer

gleich selbst zu verriegeln, und wollte eben den Jäger, der ihr im Wege stand, hinausdrängen,

als der Graf schon, in genau demselben Kriegsrock, mit Orden und Waffen, wie er sie bei der

Eroberung des Forts getragen hatte, zu ihr eintrat. Die Marquise glaubte vor Verwirrung in die

Erde zu sinken; sie griff nach einem Tuch, das sie auf dem Stuhl hatte liegen lassen, und wollte

eben in ein Seitenzimmer entfliehn; doch Frau von G..., indem sie die Hand derselben ergriff,

rief: Julietta -! und wie erstickt von Gedanken, ging ihr die Sprache aus. Sie heftete die Augen

fest auf den Grafen und wiederholte: ich bitte dich, Julietta! indem sie sie nach sich zog: wen

erwarten wir denn -? Die Marquise rief, indem sie sich plötzlich wandte: nun? doch ihn nicht -?

und schlug mit einem Blick funkelnd, wie ein Wetterstrahl, auf ihn ein, indessen Blässe des

Todes ihr Antlitz überflog. Der Graf hatte ein Knie vor ihr gesenkt; die rechte Hand lag auf

seinem Herzen, das Haupt sanft auf seine Brust gebeugt, lag er, und blickte hochglühend vor

sich nieder, und schwieg. Wen sonst, rief die Obristin mit beklemmter Stimme, wen sonst, wir

Sinnberaubten, als ihn -? Die Marquise stand starr über ihm, und sagte: ich werde wahnsinnig

werden, meine Mutter! Du Törin, erwiderte die Mutter, zog sie zu sich, und flüsterte ihr etwas

in das Ohr. Die Marquise wandte sich, und stürzte, beide Hände vor das Gesicht, auf den Sofa

nieder. Die Mutter rief: Unglückliche! Was fehlt dir? Was ist geschehn, worauf du nicht

vorbereitet warst? - Der Graf wich nicht von der Seite der Obristin; er faßte, immer noch auf

seinen Knieen liegend, den äußersten Saum ihres Kleides, und küßte ihn. Liebe! Gnädige!

Verehrungswürdigste! flüsterte er: eine Träne rollte ihm die Wangen herab. Die Obristin

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sagte: stehn Sie auf, Herr Graf, stehn Sie auf! Trösten Sie jene; so sind wir alle versöhnt, so ist

alles vergeben und vergessen. Der Graf erhob sich weinend. Er ließ sich von neuem vor der

Marquise nieder, er faßte leise ihre Hand, als ob sie von Gold wäre, und der Duft der seinigen

sie trüben könnte. Doch diese -: gehn Sie! gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf

einen Lasterhaften war ich gefaßt, aber auf keinen - - - Teufel! öffnete, indem sie ihm dabei,

gleich einem Pestvergifteten, auswich, die Tür des Zimmers, und sagte: ruft den Obristen!

Julietta! rief die Obristin mit Erstaunen. Die Marquise blickte, mit tötender Wildheit, bald auf

den Grafen, bald auf die Mutter ein; ihre Brust flog, ihr Antlitz loderte: eine Furie blickt nicht

schrecklicher. Der Obrist und der Forstmeister kamen. Diesem Mann, Vater, sprach sie, als jene

noch unter dem Eingang waren, kann ich mich nicht vermählen! griff in ein Gefäß mit

Weihwasser, das an der hinteren Tür befestigt war, besprengte, in einem großen Wurf, Vater

und Mutter und Bruder damit, und verschwand.

Der Kommandant, von dieser seltsamen Erscheinung betroffen, fragte, was vorgefallen sei; und

erblaßte, da er, in diesem entscheidenden Augenblick, den Grafen F... im Zimmer erblickte.

Die Mutter nahm den Grafen bei der Hand und sagte: frage nicht; dieser junge Mann bereut

von Herzen alles, was geschehen ist; gib deinen Segen, gib, gib: so wird sich alles noch

glücklich endigen. Der Graf stand wie vernichtet. Der Kommandant legte seine Hand auf ihn;

seine Augenwimpern zuckten, seine Lippen waren weiß, wie Kreide. Möge der Fluch des

Himmels von diesen Scheiteln weichen! rief er: wann gedenken Sie zu heiraten? - Morgen,

antwortete die Mutter für ihn, denn er konnte kein Wort hervorbringen, morgen oder heute,

wie du willst; dem Herrn Grafen, der so viel schöne Beeiferung gezeigt hat, sein Vergehen

wieder gut zu machen, wird immer die nächste Stunde die liebste sein. - So habe ich das

Vergnügen, Sie morgen um 11 Uhr in der Augustinerkirche zu finden! sagte der Kommandant;

verneigte sich gegen ihn, rief Frau und Sohn ab, um sich in das Zimmer der Marquise zu

verfügen, und ließ ihn stehen.

Man bemühte sich vergebens, von der Marquise den Grund ihres sonderbaren Betragens zu

erfahren; sie lag im heftigsten Fieber, wollte durchaus von Vermählung nichts wissen, und bat,

sie allein zu lassen. Auf die Frage: warum sie denn ihren Entschluß plötzlich geändert habe?

und was ihr den Grafen gehässiger mache, als einen andern? sah sie den Vater mit großen

Augen zerstreut an, und antwortete nichts. Die Obristin sprach: ob sie vergessen habe, daß sie

Mutter sei? worauf sie erwiderte, daß sie, in diesem Falle, mehr an sich, als ihr Kind, denken

müsse, und nochmals, indem sie alle Engel und Heiligen zu Zeugen anrief, versicherte, daß sie

nicht heiraten würde. Der Vater, der sie offenbar in einem überreizten Gemütszustande sah,

erklärte, daß sie ihr Wort halten müsse; verließ sie, und ordnete alles, nach gehöriger

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schriftlicher Rücksprache mit dem Grafen, zur Vermählung an. Er legte demselben einen

Heiratskontrakt vor, in welchem dieser auf alle Rechte eines Gemahls Verzicht tat, dagegen

sich zu allen Pflichten, die man von ihm fordern würde, verstehen sollte. Der Graf sandte das

Blatt, ganz von Tränen durchfeuchtet, mit seiner Unterschrift zurück. Als der Kommandant am

andern Morgen der Marquise dieses Papier überreichte, hatten sich ihre Geister ein wenig

beruhigt. Sie durchlas es, noch im Bette sitzend, mehrere Male, legte es sinnend zusammen,

öffnete es, und durchlas es wieder; und erklärte hierauf, daß sie sich um 11 Uhr in der

Augustinerkirche einfinden würde. Sie stand auf, zog sich, ohne ein Wort zu sprechen, an,

stieg, als die Glocke schlug, mit allen Ihrigen in den Wagen, und fuhr dahin ab.

Erst an dem Portal der Kirche war es dem Grafen erlaubt, sich an die Familie anzuschließen.

Die Marquise sah, während der Feierlichkeit, starr auf das Altarbild; nicht ein flüchtiger Blick

ward dem Manne zuteil, mit welchem sie die Ringe wechselte. Der Graf bot ihr, als die

Trauung vorüber war, den Arm; doch sobald sie wieder aus der Kirche heraus waren, verneigte

sich die Gräfin vor ihm: der Kommandant fragte, ob er die Ehre haben würde, ihn zuweilen in

den Gemächern seiner Tochter zu sehen, worauf der Graf etwas stammelte, das niemand

verstand, den Hut vor der Gesellschaft abnahm, und verschwand. Er bezog eine Wohnung in

M..., in welcher er mehrere Monate zubrachte, ohne auch nur den Fuß in des Kommandanten

Haus zu setzen, bei welchem die Gräfin zurückgeblieben war. Nur seinem zarten, würdigen

und völlig musterhaften Betragen überall, wo er mit der Familie in irgend eine Berührung

kam, hatte er es zu verdanken, daß er, nach der nunmehr erfolgten Entbindung der Gräfin von

einem jungen Sohne, zur Taufe desselben eingeladen ward. Die Gräfin, die, mit Teppichen

bedeckt, auf dem Wochenbette saß, sah ihn nur auf einen Augenblick, da er unter die Tür trat,

und sie von weitem ehrfurchtsvoll grüßte. Er warf unter den Geschenken, womit die Gäste den

Neugebornen bewillkommten, zwei Papiere auf die Wiege desselben, deren eines, wie sich

nach seiner Entfernung auswies, eine Schenkung von 20000 Rubel an den Knaben, und das

andere ein Testament war, in dem er die Mutter, falls er stürbe, zur Erbin seines ganzen

Vermögens einsetzte. Von diesem Tage an ward er, auf Veranstaltung der Frau von G..., öfter

eingeladen; das Haus stand seinem Eintritt offen, es verging bald kein Abend, da er sich nicht

darin gezeigt hätte. Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, daß ihm von allen Seiten, um der

gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin,

seine Gemahlin, von neuem an, erhielt, nach Verlauf eines Jahres, ein zweites Jawort von ihr,

und auch eine zweite Hochzeit ward gefeiert, froher, als die erste, nach deren Abschluß die

ganze Familie nach V... hinauszog. Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem

ersten; und da der Graf, in einer glücklichen Stunde, seine Frau einst fragte, warum sie, an

jenem fürchterlichen Dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefaßt schien, vor ihm, gleich

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einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr

damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung,

wie ein Engel vorgekommen wäre.

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6. E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi Eine Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs XIV

In der Straße St. Honoré war das kleine Haus gelegen, welches Magdaleine von Scuderi,

bekannt durch ihre anmutigen Verse, durch die Gunst Ludwigs XIV. und der Maintenon,

bewohnte.

Spät um Mitternacht – im Herbste des Jahres 1680 – wurde an dieses Haus hart und heftig

angeschlagen, daß es im ganzen Flur laut widerhallte. – Baptiste, der in des Fräuleins kleinem

Haushalt Koch, Bedienten und Türsteher zugleich vorstellte, war mit Erlaubnis seiner

Herrschaft über Land gegangen zur Hochzeit seiner Schwester, und so kam es, daß die

Martiniere, des Fräuleins Kammerfrau, allein im Hause noch wachte. Sie hörte die

wiederholten Schläge, es fiel ihr ein, daß Baptiste fortgegangen und sie mit dem Fräulein

ohne weitern Schutz im Hause geblieben sei; aller Frevel von Einbruch, Diebstahl und Mord

wie er jemals in Paris verübt worden, kam ihr in den Sinn, es wurde ihr gewiß, daß irgend ein

Haufen Meuterer, von der Einsamkeit des Hauses unterrichtet, da draußen tobe, und

eingelassen ein böses Vorhaben gegen die Herrschaft ausführen wolle, und so blieb sie in

ihrem Zimmer zitternd und zagend und den Baptiste verwünschend samt seiner Schwester

Hochzeit. Unterdessen donnerten die Schläge immer fort, und es war ihr, als rufe eine Stimme

dazwischen: So macht doch nur auf um Christus willen, so macht doch nur auf! Endlich in

steigender Angst ergriff die Martiniere schnell den Leuchter mit der brennenden Kerze und

rannte hinaus auf den Flur; da vernahm sie ganz deutlich die Stimme des Anpochenden: Um

Christus willen, so macht doch nur auf! In der Tat, dachte die Martiniere, so spricht doch wohl

kein Räuber; wer weiß, ob nicht gar ein Verfolgter Zutritt sucht bei meiner Herrschaft, die ja

geneigt ist zu jeder Wohltat. Aber laßt uns vorsichtig sein! – Sie öffnete ein Fenster und rief

hinab, wer denn da unten in so später Nacht so an der Haustür tobe und alles aus dem Schlafe

wecke, indem sie ihrer tiefen Stimme so viel Männliches zu geben sich bemühte, als nur

möglich. In dem Schimmer der Mondesstrahlen, die eben durch die finstern Wolken brachen,

gewahrte sie eine lange, in einen hellgrauen Mantel gewickelte Gestalt, die den breiten Hut

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tief in die Augen gedrückt hatte. Sie rief nun mit lauter Stimme, so, daß es der unten

vernehmen konnte. Baptiste, Claude, Pierre, steht auf, und seht einmal zu, welcher

Taugenichts uns das Haus einschlagen will! Da sprach es aber mit sanfter, beinahe klagender

Stimme von unten herauf! Ach! la Martiniere, ich weiß ja, daß Ihr es seid, liebe Frau, so sehr Ihr

Eure Stimme zu verstellen trachtet, ich weiß ja, daß Baptiste über Land gegangen ist und Ihr

mit Eurer Herrschaft allein im Hause seid. Macht mir nur getrost auf, befürchtet nichts. Ich muß

durchaus mit Eurem Fräulein sprechen, noch in dieser Minute. Wo denkt Ihr hin, erwiderte

Martiniere, mein Fräulein wollt Ihr sprechen mitten in der Nacht? Wißt Ihr denn nicht, daß sie

längst schläft, und daß ich sie um keinen Preis wecken werde aus dem ersten süßesten

Schlummer, dessen sie in ihren Jahren wohl bedarf. Ich weiß, sprach der Untenstehende, ich

weiß, daß Euer Fräulein soeben das Manuskript ihres Romans, Clelia geheißen, an dem sie

rastlos arbeitet, beiseite gelegt hat und jetzt einige Verse aufschreibt, die sie morgen bei der

Marquise de Maintenon vorzulegen gedenkt. Ich beschwöre Euch, Frau Martiniere, habt die

Barmherzigkeit und öffnet mir die Türe. Wißt, daß es darauf ankommt, einen Unglücklichen

vom Verderben zu retten, wißt, daß Ehre, Freiheit, ja das Leben eines Menschen abhängt von

dem Augenblick, in dem ich Euer Fräulein sprechen muß. Bedenkt, daß Eurer Gebieterin Zorn

ewig auf Euch lasten würde, wenn Sie erführe, daß Ihr es waret, die den Unglücklichen,

welcher kam, ihre Hilfe zu erflehen, hartherzig von der Türe wieset. Aber warum sprecht Ihr

denn meines Fräuleins Mitleid an in dieser ungewöhnlichen Stunde, kommt morgen zu guter

Zeit wieder, so sprach die Martiniere herab; da erwiderte der unten: Kehrt sich denn das

Schicksal, wenn es verderbend wie der tötende Blitz einschlägt, an Zeit und Stunde? Darf,

wenn nur ein Augenblick Rettung noch möglich ist, die Hilfe aufgeschoben werden? öffnet

mir die Türe, fürchtet doch nur nichts von einem Elenden, der schutzlos, verlassen von aller

Welt, verfolgt, bedrängt von einem ungeheuren Geschick Euer Fräulein um Rettung anflehen

will aus drohender Gefahr! Die Martiniere vernahm, wie der Untenstehende bei diesen

Worten vor tiefem Schmerz stöhnte und schluchzte; dabei war der Ton von seiner Stimme der

eines Jünglings, sanft und eindringend tief in die Brust. Sie fühlte sich im Innersten bewegt,

ohne sich weiter lange zu besinnen, holte sie die Schlüssel herbei.

Sowie sie die Türe kaum geöffnet, drängte sich ungestüm die in den Mantel gehüllte Gestalt

hinein und rief, an der Martiniere vorbeischreitend in den Flur, mit wilder Stimme: Führt mich

zu Eurem Fräulein! Erschrocken hob die Martiniere den Leuchter in die Höhe, und der

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Kerzenschimmer fiel in ein todbleiches, furchtbar entstelltes Jünglingsantlitz. Vor Schrecken

hätte die Martiniere zu Boden sinken mögen, als nun der Mensch den Mantel

auseinanderschlug und der blanke Griff eines Stiletts aus dem Brustlatz hervorragte. Es blitzte

der Mensch sie an mit funkelnden Augen und rief noch wilder als zuvor: Führt mich zu Eurem

Fräulein, sage ich Euch! Nun sah die Martiniere ihr Fräulein in der dringendsten Gefahr, alle

Liebe zu der teuren Herrschaft, in der sie zugleich die fromme, treue Mutter ehrte, flammte

stärker auf im Innern und erzeugte einen Mut, dessen sie wohl selbst sich nicht fähig geglaubt

hätte. Sie warf die Türe ihres Gemachs, die sie offen gelassen, schnell zu, trat vor dieselbe und

sprach stark und fest: In der Tat, Euer tolles Betragen hier im Hause paßt schlecht zu Euren

kläglichen Worten da draußen, die, wie ich nun wohl merke, mein Mitleiden sehr zu unrechter

Zeit erweckt haben. Mein Fräulein sollt und werdet Ihr jetzt nicht sprechen. Habt Ihr nichts

Böses im Sinn, dürft Ihr den Tag nicht scheuen, so kommt morgen wieder und bringt Eure

Sache an! – Jetzt schert Euch aus dem Hause! Der Mensch stieß einen dumpfen Seufzer aus,

blickte die Martiniere starr an mit entsetzlichem Blick und griff nach dem Stilett. Die

Martiniere befahl im stillen ihre Seele dem Herrn, doch blieb sie standhaft, und sah dem

Menschen keck ins Auge, indem sie sich fester an die Türe des Gemachs drückte, durch

welches der Mensch gehen mußte, um zu dem Fräulein zu gelangen. Laßt mich zu Eurem

Fräulein, sage ich Euch, rief der Mensch nochmals. Tut was Ihr wollt, erwiderte die Martiniere,

ich weiche nicht von diesem Platz, vollendet nur die böse Tat, die Ihr begonnen, auch Ihr

werdet den schmachvollen Tod finden auf dem Greveplatz, wie Eure verruchten

Spießgesellen. Ha, schrie der Mensch auf, Ihr habt recht, la Martiniere! ich sehe aus, ich bin

bewaffnet wie ein verruchter Räuber und Mörder, aber meine Spießgesellen sind nicht

gerichtet, sind nicht gerichtet! – Und damit zog er, giftige Blicke schießend auf die zum Tode

geängstigte Frau, das Stilett heraus. Jesus! rief sie, den Todesstoß erwartend, aber in dem

Augenblick ließ sich auf der Straße das Geklirr von Waffen, der Huftritt von Pferden hören. Die

Marechaussee – die Marechaussee. Hilfe, Hilfe! schrie die Martiniere. Entsetzliches Weib, du

willst mein Verderben – nun ist alles aus, alles aus! – nimm! – nimm; gib das dem Fräulein

heute noch – morgen wenn du willst – dies leise murmelnd hatte der Mensch der Martiniere

den Leuchter weggerissen, die Kerzen verlöscht und ihr ein Kästchen in die Hände gedrückt.

Um deiner Seligkeit willen, gib das Kästchen dem Fräulein, rief der Mensch und sprang zum

Hause hinaus. Die Martiniere war zu Boden gesunken, mit Mühe stand sie auf und tappte sich

in der Finsternis zurück in ihr Gemach, wo sie ganz erschöpft, keines Lautes mächtig, in den

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Lehnstuhl sank. Nun hörte sie die Schlüssel klirren, die sie im Schloß der Haustüre hatte

stecken lassen. Das Haus wurde zugeschlossen und leise unsichere Tritte nahten sich dem

Gemach. Fest gebannt, ohne Kraft sich zu regen, erwartete sie das Gräßliche; doch wie

geschah ihr; als die Türe aufging und sie bei dem Scheine der Nachtlampe auf den ersten Blick

den ehrlichen Baptiste erkannte; der sah leichenblaß aus und ganz verstört. Um aller Heiligen

willen, fing er an, um aller Heiligen willen, sagt mir Frau Martiniere, was ist geschehen? Ach

die Angst, die Angst! – Ich weiß nicht was es war, aber fortgetrieben hat es mich von der

Hochzeit gestern Abend mit Gewalt! – Und nun komme ich in die Straße. Frau Martiniere,

denk' ich, hat einen leisen Schlaf, die wird's wohl hören, wenn ich leise und säuberlich

anpoche an die Haustüre, und mich hineinlassen. Da kommt mir eine starke Patrouille

entgegen, Reiter, Fußvolk bis an die Zähne bewaffnet und hält mich an und will mich nicht

fortlassen. Aber zum Glück ist Desgrais dabei, der Marechaussee-Leutnant, der mich recht gut

kennt; der spricht, als sie mir die Laterne unter die Nase halten: Ei Baptiste, wo kommst du her

des Wegs in der Nacht? Du mußt fein im Hause bleiben und es hüten. Hier ist es nicht geheuer,

wir denken noch in dieser Nacht einen guten Fang zu machen. Ihr glaubt gar nicht, Frau

Martiniere, wie mir diese Worte aufs Herz fielen. Und nun trete ich auf die Schwelle, und da

stürzt ein verhüllter Mensch aus dem Hause, das blanke Stilett in der Faust, und rennt mich um

und um – das Haus ist offen, die Schlüssel stecken im Schlosse – sagt, was hat das alles zu

bedeuten? Die Martiniere, von ihrer Todesangst befreit, erzählte, wie sich alles begeben.

Beide, sie und Baptiste, gingen in den Hausflur, sie fanden den Leuchter auf dem Boden, wo

der fremde Mensch ihn im Entfliehen hingeworfen. Es ist nur zu gewiß, sprach Baptiste, daß

unser Fräulein beraubt und wohl gar ermordet werden sollte. Der Mensch wußte, wie Ihr

erzählt, daß Ihr allein waret mit dem Fräulein, ja sogar, daß sie noch wachte bei ihren

Schriften; gewiß war es einer von den verfluchten Gaunern und Spitzbuben, die bis ins Innere

der Häuser dringen, alles listig auskundschaftend, was ihnen zur Ausführung ihrer teuflischen

Anschläge dienlich. Und das kleine Kästchen, Frau Martiniere, das, denk' ich, werfen wir in die

Seine, wo sie am tiefsten ist. Wer steht uns dafür, daß nicht irgend ein verruchter Unhold

unserm guten Fräulein nach dem Leben trachtet, daß sie, das Kästchen öffnend, nicht tot

niedersinkt, wie der alte Marquis von Tournay, als er den Brief aufmachte, den er von

unbekannter Hand erhalten! – Lange ratschlagend beschlossen die Getreuen endlich, dem

Fräulein am andern Morgen alles zu erzählen und ihr auch das geheimnisvolle Kästchen

einzuhändigen, das ja mit gehöriger Vorsicht geöffnet werden könne. Beide, erwägten sie

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genau jeden Umstand der Erscheinung des verdächtigen Fremden, meinten, daß wohl ein

besonderes Geheimnis im Spiele sein könne, über das sie eigenmächtig nicht schalten

dürften, sondern die Enthüllung ihrer Herrschaft überlassen mußten. –

Baptistes Besorgnisse hatten ihren guten Grund. Gerade zu der Zeit war Paris der Schauplatz

der verruchtesten Greueltaten, gerade zu der Zeit bot die teuflische Erfindung der Hölle die

leichtesten Mittel dazu dar.

Glaser, ein deutscher Apotheker, der beste Chemiker seiner Zeit, beschäftigt sich, wie es bei

Leuten von seiner Wissenschaft wohl zu geschehen pflegt, mit alchymistischen Versuchen. Er

hatte es darauf abgesehen, den Stein der Weisen zu finden. Ihm gesellte sich ein Italiener zu,

Namens Exili. Diesem diente aber die Goldmacherkunst nur zum Vorwande. Nur das Mischen,

Kochen, Sublimieren der Giftstoffe, in denen Glaser sein Heil zu finden hoffte, wollt' er

erlernen, und es gelang ihm endlich, jenes feine Gift zu bereiten, das ohne Geruch, ohne

Geschmack, entweder auf der Stelle oder langsam tötend, durchaus keine Spur im

menschlichen Körper zurückläßt und alle Kunst, alle Wissenschaft der Arzte täuscht, die, den

Giftmord nicht ahnend, den Tod einer natürlichen Ursache zuschreiben müssen. So vorsichtig

Exili auch zu Werke ging, so kam er doch in den Verdacht des Giftverkaufs, und wurde nach der

Bastille gebracht. In dasselbe Zimmer sperrte man bald darauf den Hauptmann Godin de

Sainte Croix ein. Dieser hatte mit der Marquise de Brinvillier lange Zeit in einem Verhältnisse

gelebt, welches Schande über die ganze Familie brachte und endlich, da der Marquis

unempfindlich blieb für die Verbrechen seiner Gemahlin, ihren Vater, Dreux d'Aubray, Zivil-

Leutnant zu Paris, nötigte, das verbrecherische Paar durch einen Verhaftsbefehl zu trennen,

den er wider den Hauptmann auswirkte. Leidenschaftlich, ohne Charakter, Frömmigkeit

heuchelnd und zu Lastern aller Art geneigt von Jugend auf, eifersüchtig, rachsüchtig bis zur

Wut, konnte dem Hauptmann nichts willkommener sein als Exilis teuflisches Geheimnis, das

ihm die Macht gab, alle seine Feinde zu vernichten. Er wurde Exilis eifriger Schüler, und tat es

bald seinem Meister gleich, so daß er, aus der Bastille entlassen, allein fortzuarbeiten

imstande war.

Die Brinvillier war ein entartetes Weib, durch Sainte Croix wurde sie zum Ungeheuer. Er

vermochte sie nach und nach, erst ihren eigenen Vater, bei dem sie sich befand, ihn mit

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verruchter Heuchelei im Alter pflegend, dann ihre beiden Brüder und endlich ihre Schwester

zu vergiften; den Vater aus Rache, die andern der reichen Erbschaft wegen. Die Geschichte

mehrerer Giftmörder gibt das entsetzliche Beispiel, daß Verbrechen der Art zur

unwiderstehlichen Leidenschaft werden. Ohne weiteren Zweck, aus reiner Lust daran, wie der

Chemiker Experimente macht zu seinem Vergnügen, haben oft Giftmörder Personen

gemordet, deren Leben oder Tod ihnen völlig gleich sein konnte. Das plötzliche Hinsterben

mehrerer Armen im Hotel Dieu erregte später den Verdacht, daß die Brote, welche die

Brinvillier dort wöchentlich auszuteilen pflegte, um als Muster der Frömmigkeit und des

Wohltuns zu gelten, vergiftet waren. Gewiß ist es aber, daß sie Taubenpasteten vergiftete und

sie den Gästen, die sie geladen, vorsetzte. Der Chevalier du Guet und mehrere andere

Personen fielen als Opfer dieser höllischen Mahlzeiten. Sainte Croix, sein Gehilfe la Chaussee,

die Brinvillier wußten lange Zeit ihre gräßlichen Untaten in undurchdringliche Schleier zu

hüllen; doch welche verruchte List verworfener Menschen vermag zu bestehen, hat die ewige

Macht des Himmels beschlossen, schon hier auf Erden die Frevler zu richten! – Die Gifte,

welche Sainte Croix bereitete, waren so fein, daß, lag das Pulver ( poudre de succession

nannten es die Pariser) bei der Bereitung offen, ein einziger Atemzug hinreichte, sich

augenblicklich den Tod zu geben. Sainte Croix trug deshalb bei seinen Operationen eine

Maske von feinem Glase. Diese fiel eines Tags, als er eben ein fertiges Giftpulver in eine Phiole

schütten wollte, herab, und er sank, den feinen Staub des Giftes einatmend, augenblicklich tot

nieder. Da er ohne Erben verstorben, eilten die Gerichte herbei, um den Nachlaß unter Siegel

zu nehmen. Da fand sich in einer Kiste verschlossen das ganze höllische Arsenal des Giftmords,

das dem verruchten Sainte Croix zu Gebote gestanden, aber auch die Briefe der Brinvillier

wurden aufgefunden, die über ihre Untaten keinen Zweifel ließen. Sie floh nach Lüttich in ein

Kloster. Desgrais, ein Beamter der Marechaussee, wurde ihr nachgesendet. Als Geistlicher

verkleidet, erschien er in dem Kloster, wo sie sich verborgen. Es gelang ihm, mit dem

entsetzlichen Weibe einen Liebeshandel anzuknüpfen und sie zu einer heimlichen

Zusammenkunft in einem einsamen Garten vor der Stadt zu verlocken. Kaum dort

angekommen, wurde sie aber von Desgrais' Häschern umringt, der geistliche Liebhaber

verwandelte sich plötzlich in den Beamten der Marechaussee und nötigte sie in den Wagen

zu steigen, der vor dem Garten bereit stand, und von den Häschern umringt, geradewegs nach

Paris abfuhr. La Chaussee war schon früher enthauptet worden, die Brinvillier litt denselben

Tod, ihr Körper wurde nach der Hinrichtung verbrannt, und die Asche in die Lüfte zerstreut.

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Die Pariser atmeten auf, als das Ungeheuer von der Welt war, das die heimliche mörderische

Waffe ungestraft richten konnte gegen den Feind und Freund. Doch bald tat es sich kund, daß

des verruchten La Croix entsetzliche Kunst sich fortvererbt hatte. Wie ein unsichtbares

tückisches Gespenst schlich der Mord sich ein in die engsten Kreise, wie sie Verwandtschaft –

Liebe – Freundschaft nur bilden können, und erfaßte sicher und schnell die unglücklichen

Opfer. Der, den man heute in blühender Gesundheit gesehen, wankte morgen krank und siech

umher, und keine Kunst der Ärzte konnte ihn vor dem Tode retten. Reichtum – ein

erträgliches Amt – ein schönes, vielleicht zu jugendliches Weib – das genügte zur Verfolgung

auf den Tod. Das grausamste Mißtrauen trennte die heiligsten Bande. Der Gatte zitterte vor

der Gattin – der Vater vor dem Sohn – die Schwester vor dem Bruder. – Unberührt blieben die

Speisen, blieb der Wein bei dem Mahl, das der Freund den Freunden gab, und wo sonst Lust

und Scherz gewartet, spähten verwilderte Blicke nach dem verkappten Mörder. Man sah

Familienväter ängstlich in entfernten Gegenden Lebensmittel einkaufen, und in dieser oder

jener schmutzigen Garküche selbst bereiten, in ihrem eigenen Hause teuflischen Verrat

fürchtend. Und doch war manchmal die größte, bedachteste Vorsicht vergebens.

Der König, dem Unwesen, das immer mehr überhand nahm, zu steuern, ernannte einen

eigenen Gerichtshof, dem er ausschließlich die Untersuchung und Bestrafung dieser

heimlichen Verbrechen übertrug. Das war die sogenannte Chambre ardente, die ihre

Sitzungen unfern der Bastille hielt, und welcher la Regnie als Präsident vorstand. Mehrere

Zeit hindurch blieben Regnies Bemühungen, so eifrig sie auch sein mochten, fruchtlos, dem

verschlagenen Desgrais war es vorbehalten, den geheimsten Schlupfwinkel des Verbrechens

zu entdecken. – In der Vorstadt Saint Germain wohnte ein altes Weib, la Voisin geheißen, die

sich mit Wahrsagen und Geisterbeschwören abgab und mit Hilfe ihrer Spießgesellen, le Sage

und le Vigoureux, auch selbst Personen, die eben nicht schwach und leichtgläubig zu nennen,

in Furcht und Erstaunen zu setzen wußte. Aber sie tat mehr als dieses. Exilis Schülerin wie la

Croix, bereitete sie wie dieser, das feine, spurlose Gift und half auf diese Weise ruchlosen

Söhnen zur frühen Erbschaft, entarteten Weibern zum andern jüngern Gemahl. Desgrais drang

in ihr Geheimnis ein, sie gestand alles, die Chambre ardente verurteilte sie zum Feuertode,

den sie auf dem Greveplatze erlitt. Man fand bei ihr eine Liste aller Personen, die sich ihrer

Hilfe bedient hatten und so kam es, daß nicht allein Hinrichtung auf Hinrichtung folgte,

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sondern auch schwerer Verdacht selbst auf Personen von hohem Ansehen lastete. So glaubte

man, daß der Kardinal Bonzy bei der la Voisin das Mittel gefunden, alle Personen, denen er als

Erzbischof von Narbonne Pensionen bezahlen mußte, in kurzer Zeit hinsterben zu lassen. So

wurden die Herzogin von Bouillon, die Gräfin von Soissons, deren Namen man auf der Liste

gefunden, der Verbindung mit dem teuflischen Weibe angeklagt, und selbst François Henri de

Montmorenci, Boudebelle, Herzog von Luxemburg, Pair und Marschall des Reichs, blieb nicht

verschont. Auch ihn verfolgte die furchtbare Chambre ardente. Er stellte sich selbst zum

Geständnis in der Bastille, wo ihn Louvois und la Regnies Haß in ein sechs Fuß hohes Loch

einsperren ließ. Monate vergingen, ehe es sich vollkommen ausmittelte, daß des Herzogs

Verbrechen keine Rüge verdienen konnte. Er hatte sich einmal von le Sage das Horoskop

stellen lassen.

Gewiß ist es, daß blinder Eifer den Präsidenten la Regnie zu Gewaltstreichen und

Grausamkeiten verleitete. Das Tribunal nahm ganz den Charakter der Inquisition an, der

geringfügigste Verdacht reichte hin zu strenger Einkerkerung, und oft war es dem Zufall

überlassen, die Unschuld des auf den Tod Angeklagten darzutun. Dabei war Regnie von

garstigem Ansehen und heimtückischem Wesen, so daß er bald den Haß derer auf sich lud,

deren Rächer oder Schützer zu sein er berufen wurde. Die Herzogin von Bouillon, von ihm im

Verhöre gefragt, ob sie den Teufel gesehen, erwiderte: mich dünkt, ich sehe ihn in diesem

Augenblick!

Während nun auf dem Greveplatz das Blut Schuldiger und Verdächtiger in Strömen floß und

endlich der heimliche Giftmord seltener und seltener wurde, zeigte sich ein Unheil anderer

Art, welches neue Bestürzung verbreitete. Eine Gaunerbande schien es darauf angelegt zu

haben, alle Juwelen in ihren Besitz zu bringen. Der reiche Schmuck, kaum gekauft, verschwand

auf unbegreifliche Weise, mochte er verwahrt sein wie er wollte. Noch viel ärger war es aber,

daß jeder, der es wagte, zur Abendzeit Juwelen bei sich zu tragen, auf offener Straße oder in

finstern Gängen der Häuser beraubt, ja wohl gar ermordet wurde. Die mit dem Leben

davongekommen, sagten aus, ein Faustschlag auf den Kopf habe sie wie ein Wetterstrahl

niedergestürzt, und aus der Betäubung erwacht, hätten sie sich beraubt, und am ganz andern

Ort als da, wo sie der Schlag getroffen, wiedergefunden. Die Ermordeten, wie sie beinahe

jeden Morgen auf der Straße oder in den Häusern lagen, hatten alle dieselbe tödliche Wunde.

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Einen Dolchstich ins Herz, nach dem Urteil der Arzte so schnell und sicher tötend, daß der

Verwundete keines Lautes mächtig zu Boden sinken mußte. Wer war an dem üppigen Hofe

Ludwigs XIV., der nicht in einen geheimen Liebeshandel verstrickt, spät zur Geliebten schlich

und manchmal ein reiches Geschenk bei sich trug? – Als stünden die Gauner mit Geistern im

Bunde, wußten sie genau, wenn sich so etwas zutragen sollte. Oft erreichte der Unglückliche

nicht das Haus, wo er Liebesglück zu genießen dachte, oft fiel er auf der Schwelle, ja vor dem

Zimmer der Geliebten, die mit Entsetzen den blutigen Leichnam fand.

Vergebens ließ Argenson, der Polizeiminister, alles aufgreifen in Paris, was von dem Volk nur

irgend verdächtig schien, vergebens wütete la Regnie und suchte Geständnisse zu erpressen,

vergebens wurden Wachen, Patrouillen verstärkt, die Spur der Täter war nicht zu finden. Nur

die Vorsicht, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, und sich eine Leuchte vortragen zu lassen,

half einigermaßen, und doch fanden sich Beispiele, daß der Diener mit Steinwürfen geängstet

und der Herr in demselben Augenblick ermordet und beraubt wurde.

Merkwürdig war es, daß aller Nachforschungen auf allen Plätzen, wo Juwelenhandel nur

möglich war, unerachtet nicht das mindeste von den geraubten Kleinodien zum Vorschein

kam, und also auch hier keine Spur sich zeigte, die hätte verfolgt werden können.

Desgrais schäumte vor Wut, daß selbst seiner List die Spitzbuben zu entgehen wußten. Das

Viertel der Stadt, in dem er sich gerade befand, blieb verschont, während in den andern, wo

keiner Böses geahnt, der Raubmord seine reichen Opfer erspähte.

Desgrais besann sich auf ein Kunststück, mehrere Desgrais zu schaffen, sich untereinander so

ähnlich an Gang, Stellung, Sprache, Figur, Gesicht, daß selbst die Häscher nicht wußten, wo der

rechte Desgrais stecke. Unterdessen lauschte er, sein Leben wagend, allein in den geheimsten

Schlupfwinkeln und folgte von weitem diesem oder jenem, der auf seinen Anlaß einen

reichen Schmuck bei sich trug. Der blieb unangefochten; also auch von dieser Maßregel waren

die Gauner unterrichtet. Desgrais geriet in Verzweiflung.

Eines Morgens kommt Desgrais zu dem Präsidenten la Regnie, blaß, entstellt, außer sich. – Was

habt Ihr, was für Nachrichten? – Fandet Ihr die Spur? ruft ihm der Präsident entgegen. Ha –

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gnädiger Herr, fängt Desgrais an, vor Wut stammelnd, ha gnädiger Herr – gestern in der Nacht

– unfern des Louvre ist der Marquis de la Fare angefallen worden in meiner Gegenwart.

Himmel und Erde, jauchzt la Regnie auf vor Freude – wir haben sie! – O hört nur, fällt Desgrais

mit bitterm Lächeln ein, o hört nur erst, wie sich alles begeben. – Am Louvre steh' ich also und

passe, die ganze Hölle in der Brust, auf die Teufel, die meiner spotten. Da kommt mit

unsicheren Schritt immer hinter sich schauend eine Gestalt dicht bei mir vorüber, ohne mich

zu sehen. Im Mondesschimmer erkenne ich den Marquis de la Fare. Ich konnt' ihn da erwarten,

ich wußte, wo er hinschlich. Kaum ist er zehn – zwölf Schritte bei mir vorüber, da springt wie

aus der Erde herauf eine Figur, schmettert ihn nieder und fällt über ihn her. Unbesonnen,

überrascht von dem Augenblick, der den Mörder in meine Hand liefern konnte, schrie ich laut

auf und will mit einem gewaltigen Sprunge aus meinem Schlupfwinkel heraus auf ihn

zusetzen; da verwickle ich mich in den Mantel und falle hin. Ich sehe den Menschen wie auf

den Flügeln des Windes forteilen, ich rapple mich auf und renne ihm nach – laufend stoße ich

in mein Horn – aus der Ferne antworten die Pfeifen der Häscher – es wird lebendig –

Waffengeklirr, Pferdegetrappel von allen Seiten. – Hierher – hierher – Desgrais – Desgrais!

schreie ich, daß es durch die Straßen hallt. – Immer sehe ich den Menschen vor mir im hellen

Mondschein, wie er, mich zu täuschen, da – dort – einbiegt; wir kommen in die Straße Nicaise,

da scheinen seine Kräfte zu sinken, ich strenge die meinigen doppelt an – noch fünfzehn

Schritte höchstens hat er Vorsprung – Ihr holt ihn ein – Ihr packt ihn, die Häscher kommen, ruft

la Regnie mit blitzenden Augen, indem er Desgrais beim Arm ergreift, als sei der der

fliehende Mörder selbst. – Fünfzehn Schritte, fährt Desgrais mit dumpfer Stimme und mühsam

atmend fort, fünfzehn Schritte vor mir springt der Mensch auf die Seite in den Schatten und

verschwindet durch die Mauer. Verschwindet? – durch die Mauer! – Seid Ihr rasend, ruft la

Regnie, indem er zwei Schritte zurück tritt und die Hände zusammenschlägt. Nennt mich,

fährt Desgrais fort, sich die Stirne reibend wie einer, den böse Gedanken plagen, nennt mich,

gnädiger Herr, immerhin einen Rasenden, einen törichten Geisterseher, aber es ist nicht

anders, als wie ich es Euch erzähle. Erstarrt stehe ich vor der Mauer, als mehrere Häscher

atemlos herbeikommen; mit ihnen der Marquis de la Fare, der sich aufgerafft, den bloßen

Degen in der Hand. Wir zünden die Fackeln an, wir tappen an der Mauer hin und her; keine

Spur einer Türe, eines Fensters, einer Öffnung. Es ist eine starke steinerne Hofmauer, die sich

an ein Haus lehnt, in dem Leute wohnen, gegen die auch nicht der leiseste Verdacht

aufkommt. Noch heute habe ich alles in genauen Augenschein genommen. – Der Teufel selbst

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ist es, der uns foppt. Desgrais Geschichte wurde in Paris bekannt. Die Köpfe waren erfüllt von

den Zaubereien, Geisterbeschwörungen, Teufelsbündnissen der Voisin, des Vigoureux, des

berüchtigten Priesters le Sage; und wie es denn nun in unserer ewigen Natur liegt, daß der

Hang zum Übernatürlichen, zum Wunderbaren alle Vernunft überbietet, so glaubte man bald

nichts Geringeres, als daß, wie Desgrais nur im Unmut gesagt, wirklich der Teufel selbst die

Verruchten schütze, die ihm ihre Seelen verkauft. Man kann es sich denken, daß Desgrais'

Geschichte mancherlei tollen Schmuck erhielt. Die Erzählung davon mit einem Holzschnitt

darüber, eine gräßliche Teufelsgestalt vorstellend, die vor dem erschrockenen Desgrais in die

Erde versinkt, wurde gedruckt und an allen Ecken verkauft. Genug, das Volk einzuschüchtern

und selbst den Häschern allen Mut zu nehmen, die nun zur Nachtzeit mit Zittern und Zagen

die Straßen durchirrten, mit Amuletten behängt und eingeweiht in Weihwasser.

Argenson sah die Bemühungen der Chambre ardente scheitern und ging den König an, für das

neue Verbrechen einen Gerichtshof zu ernennen, der mit noch ausgedehnterer Macht den

Tätern nachspüre und sie strafe. Der König, überzeugt, schon der Chambre ardente zu viel

Gewalt gegeben zu haben, erschüttert von dem Greuel unzähliger Hinrichtungen, die der

blutgierige la Regnie veranlaßt, wies den Vorschlag gänzlich von der Hand.

Man wählte ein anderes Mittel, den König für die Sache zu beleben.

In den Zimmern der Maintenon, wo sich der König nachmittags aufzuhalten und wohl auch

mit seinen Ministern bis in die späte Nacht hinein zu arbeiten pflegte, wurde ihm ein Gedicht

überreicht im Namen der gefährdeten Liebhaber, welche klagten, daß, gebiete ihnen die

Galanterie, der Geliebten ein reiches Geschenk zu bringen, sie allemal ihr Leben daran setzen

müßten. Ehre und Lust sei es, im ritterlichen Kampf sein Blut für die Geliebte zu verspritzen;

anders verhalte es sich aber mit dem heimtückischen Anfall des Mörders, wider den man sich

nicht wappnen könne. Ludwig, der leuchtende Polarstern aller Liebe und Galanterie, der

möge hellaufstrahlend die finstre Nacht zerstreuen und so das schwarze Geheimnis, das darin

verborgen, enthüllen. Der göttliche Held, der seine Feinde niedergeschmettert, werde nun

auch sein siegreich funkelndes Schwert zucken, und wie Herkules die Lernäische Schlange,

wie Theseus den Minotaur, das bedrohliche Ungeheuer bekämpfen, das alle Liebeslust

wegzehre und alle Freude verdüstre in tiefes Leid, in trostlose Trauer.

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So ernst die Sache auch war, so fehlte es diesem Gedicht doch nicht, vorzüglich in der

Schilderung, wie die Liebhaber auf dem heimlichen Schleichwege zur Geliebten sich

ängstigen müßten, wie die Angst schon alle Liebeslust, jedes schöne Abenteuer der

Galanterie im Aufkeimen töte, an geistreich-witzigen Wendungen. Kam nun noch hinzu, daß

beim Schluß alles in einen hochtrabenden Panegyrikus auf Ludwig XIV. ausging, so konnte es

nicht fehlen, daß der König das Gedicht mit sichtlichem Wohlgefallen durchlas. Damit

zustandegekommen, drehte er sich, die Augen nicht wegwendend von dem Papier, rasch um

zur Maintenon, las das Gedicht noch einmal mit lauter Stimme ab und fragte dann anmutig

lächelnd, was sie von den Wünschen der gefährdeten Liebhaber halte. Die Maintenon, ihrem

ernsten Sinne treu und immer in der Farbe einer gewissen Frömmigkeit, erwiderte, daß

geheime verbotene Wege eben keines besonderen Schutzes würdig, die entsetzlichen

Verbrecher aber wohl besonderer Maßregeln zu ihrer Vertilgung wert wären. Der König, mit

dieser schwankenden Antwort unzufrieden, schlug das Papier zusammen und wollte zurück

zu dem Staatssekretär, der in dem andern Zimmer arbeitete, als ihm bei einem Blick, den er

seitwärts warf, die Scuderi ins Auge fiel, die zugegen war und eben unfern der Maintenon auf

einem kleinen Lehnsessel Platz genommen hatte. Auf diese schritt er nun los; das anmutige

Lächeln, das erst um Mund und Wangen spielte, und das verschwunden, gewann wieder

Oberhand, und dicht vor dem Fräulein stehend, und das Gedicht wieder auseinander faltend,

sprach er sanft: Die Marquise mag nun einmal von den Galanterien unserer verliebten Herren

nichts wissen und weicht mir aus auf Wegen, die nichts weniger als verboten sind. Aber Ihr,

mein Fräulein, was haltet Ihr von dieser dichterischen Supplik? – Die Scuderi stand ehrerbietig

auf von ihrem Lehnsessel, ein flüchtiges Rot überflog wie Abendpurpur die blassen Wangen

der alten würdigen Dame, sie sprach, sich leise verneigend mit niedergeschlagenen Augen:

Un amant qui craint les voleurs

n'est point digne d'amour.

Der König, ganz erstaunt über den ritterlichen Geist dieser wenigen Worte, die das ganze

Gedicht mit seinen ellenlangen Tiraden zu Boden schlugen, rief mit blitzenden Augen: Beim

heiligen Dionys, Ihr habt recht, Fräulein! Keine blinde Maßregel, die den Unschuldigen trifft

mit dem Schuldigen, soll die Feigheit schützen; mögen Argenson und la Regnie das Ihrige tun!

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Alle die Greuel der Zeit schilderte nun die Martiniere mit den lebhaftesten Farben, als sie am

andern Morgen ihrem Fräulein erzählte, was sich in voriger Nacht zugetragen, und übergab

ihr zitternd und zagend das geheimnisvolle Kästchen. Sowohl sie als Baptiste, der ganz

verblaßt in der Ecke stand und vor Angst und Beklommenheit die Nachtmütze in den Händen

knetend, kaum sprechen konnte, baten das Fräulein auf das Wehmütigste um aller Heiligen

willen, doch nur mit möglichster Behutsamkeit das Kästchen zu öffnen. Die Scuderi, das

verschlossene Geheimnis in der Hand wiegend und prüfend, sprach lächelnd: Ihr seht beide

Gespenster! – Daß ich nicht reich bin, daß bei mir keine Schätze, eines Mordes wert, zu holen

sind, das wissen die verruchten Meuchelmörder da draußen, die, wie ihr selbst sagt, das

Innerste der Häuser erspähen, wohl ebensogut als ich und ihr. Auf mein Leben soll es

abgesehen sein? Wem kann was an dem Tode liegen einer Person von dreiundsiebzig Jahren,

die niemals andere verfolgte als die Bösewichter und Friedensstörer in den Romanen, die sie

selbst schuf, die mittelmäßige Verse macht, welche niemandes Neid erregen können, die

nichts hinterlassen wird, als den Staat des alten Fräuleins, das bisweilen an den Hof ging, und

ein paar Dutzend gut eingebundener Bücher mit vergoldetem Schnitt! Und du, Martiniere! du

magst nun die Erscheinung des fremden Menschen so schreckhaft beschreiben wie du willst,

doch kann ich nicht glauben, daß er Böses im Sinne getragen.

Also! –

Die Martiniere prallte drei Schritte zurück, Baptiste sank mit einem dumpfen Ach! halb in die

Knie, als das Fräulein nun an einen hervorragenden stählernen Knopf drückte und der Deckel

des Kästchens mit Geräusch aufsprang.

Wie erstaunte das Fräulein, als ihr aus dem Kästchen ein Paar goldne, reich mit Juwelen

besetzte Armbänder und eben ein solcher Halsschmuck entgegenfunkelten. Sie nahm das

Geschmeide heraus, und indem sie die wundervolle Arbeit des Halsschmuck lobte, beäugelte

die Martiniere die reichen Armbänder und rief ein Mal über das andere, daß ja selbst die eitle

Montespan nicht solchen Schmuck besitze. Aber was soll das, was hat das zu bedeuten, sprach

die Scuderi. In dem Augenblick gewahrte sie auf dem Boden des Kästchens einen kleinen

zusammengefalteten Zettel. Mit Recht hoffte sie den Aufschluß des Geheimnisses darin zu

finden. Der Zettel, kaum hatte sie, was er enthielt, gelesen, entfiel ihren zitternden Händen.

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Sie warf einen sprechenden Blick zum Himmel und sank dann wie halb ohnmächtig in den

Lehnsessel zurück. Erschrocken sprang die Martiniere, sprang Baptiste ihr bei. O, rief sie nun

mit von Tränen halb erstickter Stimme, o der Kränkung, o der tiefen Beschämung! Muß mir das

noch geschehen im hohen Alter! Hab' ich denn im törichten Leichtsinn gefrevelt, wie ein

junges, unbesonnenes Ding? – O Gott, sind Worte, halb im Scherz hingeworfen, solcher

gräßlichen Deutung fähig! – Darf man mich, die ich der Tugend getreu und der Frömmigkeit

tadellos blieb von Kindheit an, darf dann mich das Verbrechen des teuflischen Bündnisses

zeihen?

Das Fräulein hielt das Schnupftuch vor die Augen und weinte und schluchzte heftig, so daß die

Martiniere und Baptiste ganz verwirrt und beklommen nicht wußten, wie ihrer guten

Herrschaft beistehen in ihrem großen Schmerz.

Die Martiniere hatte den verhängnisvollen Zettel von der Erde aufgehoben. Auf demselben

stand:

Un amant qui craint les voleurs

n'est point digne d'amour.

Euer scharfsinniger Geist, hochgeehrte Dame, hat uns, die wir an der Schwäche und Feigheit

das Recht des Stärkern üben und uns Schätze zueignen, die auf unwürdige Weise vergeudet

werden sollten, vor großer Verfolgung errettet. Als einen Beweis unserer Dankbarkeit

nehmet gütig diesen Schmuck an. Es ist das Kostbarste, was wir seit langer Zeit haben

auftreiben können, wiewohl Euch, würdige Dame! viel schöneres Geschmeide zieren sollte,

als dieses nun eben ist. Wir bitten, daß Ihr uns Eure Freundschaft und Euer huldvolles

Andenken nicht entziehen möget.

Die Unsichtbaren.

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Ist es möglich, rief die Scuderi, als sie sich einigermaßen erholt hatte, ist es möglich, daß man

die schamlose Frechheit, den verruchten Hohn so weit treiben kann? – Die Sonne schien hell

durch die Fenstergardinen von hochroter Seide, und so kam es, daß die Brillanten, welche auf

dem Tische neben dem offenen Kästchen lagen, in rötlichem Schimmer aufblitzten.

Hinblickend verhüllte die Scuderi voll Entsetzen das Gesicht und befahl der Martiniere, das

fürchterliche Geschmeide, an dem das Blut der Ermordeten klebe, augenblicklich

fortzuschaffen. Die Martiniere, nachdem sie Halsschmuck und Armbänder sogleich in das

Kästchen verschlossen, meinte, daß es wohl am geratensten sein würde, die Juwelen dem

Polizeiminister zu übergeben und ihm zu vertrauen, wie sich alles mit der beängstigenden

Erscheinung des jungen Menschen und der Einhändigung des Kästchens zugetragen.

Die Scuderi stand auf und schritt schweigend langsam im Zimmer auf und nieder, als sinne sie

erst nach, was nun zu tun sei. Dann befahl sie dem Baptiste, einen Tragsessel zu holen, der

Martiniere aber, sie anzukleiden, weil sie auf der Stelle hin wolle zur Marquise de Maintenon.

Sie ließ sich hintragen zur Marquise gerade zu der Stunde, als diese, wie die Scuderi wußte,

sich allein in ihren Gemächern befand. Das Kästchen mit den Juwelen nahm sie mit sich.

Wohl mußte die Marquise sich hoch verwundern, als sie das Fräulein, sonst die Würde, ja trotz

ihrer hohen Jahre, die Liebenswürdigkeit, die Anmut selbst, eintreten sah blaß, entstellt, mit

wankenden Schritten. Was um aller Heiligen willen ist Euch widerfahren? rief sie der armen,

beängsteten Dame entgegen, die, ganz außer sich selbst, kaum imstande, sich aufrecht zu

erhalten, nur schnell den Lehnsessel zu erreichen suchte, den ihr die Marquise hinschob.

Endlich des Wortes wieder mächtig, erzählte das Fräulein, welche tiefe, nicht zu

verschmerzende Kränkung ihr jener unbedachtsame Scherz, mit dem sie die Supplik der

gefährdeten Liebhaber beantwortet, zugezogen habe. Die Marquise, nachdem sie alles von

Moment zu Moment erfahren, urteilte, daß die Scuderi sich das sonderbare Ereignis viel zu

sehr zu Herzen nehme, daß der Hohn verruchten Gesindels nie ein frommes, edles Gemüt

treffen könne, und verlangte zuletzt den Schmuck zu sehen.

Die Scuderi gab ihr das geöffnete Kästchen, und die Marquise konnte sich, als sie das köstliche

Geschmeide erblickte, des lauten Ausrufs der Verwunderung nicht erwehren. Sie nahm den

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Halsschmuck, die Armbänder heraus und trat damit an das Fenster, wo sie bald die Juwelen an

der Sonne spielen ließ, bald die zierliche Goldarbeit ganz nahe vor die Augen hielt, um nur

recht zu erschauen, mit welcher wundervollen Kunst jedes kleine Häkchen der

verschlungenen Ketten gearbeitet war.

Auf einmal wandte sich die Marquise rasch um nach dem Fräulein und rief: Wißt Ihr wohl,

Fräulein! daß diese Armbänder, diesen Halsschmuck niemand anders gearbeitet haben kann,

als René Cardillac? – René Cardillac war damals der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer

der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner Zeit. Eher klein als groß,

aber breitschultrig und von starkem, muskulösem Körperbau hatte Cardillac, hoch in die

fünfziger Jahre vorgerückt, noch die Kraft, die Beweglichkeit des Jünglings. Von dieser Kraft,

die ungewöhnlich zu nennen, zeugte auch das dicke, krause, rötliche Haupthaar und das

gedrungene, gleißende Antlitz. Wäre Cardillac nicht in Paris als der rechtlichste Ehrenmann,

uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz

besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätten ihn in den

Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können. Wie gesagt, Cardillac war in seiner

Kunst der Geschickteste nicht sowohl in Paris, als vielleicht überhaupt seiner Zeit. Innig

vertraut mit der Natur der Edelsteine, wußte er sie auf eine Art zu behandeln und zu fassen,

daß der Schmuck, der erst für unscheinbar gegolten, aus Cardillacs Werkstatt hervorging in

glänzender Pracht. Jeden Auftrag übernahm er mit brennenden Begierde und machte einen

Preis, der, so gering er war, mit der Arbeit in keinem Verhältnis zu stehen schien. Dann ließ

ihm das Werk keine Ruhe, Tag und Nacht hörte man ihn in seiner Werkstatt hämmern und oft,

war die Arbeit beinahe vollendet, mißfiel ihm plötzlich die Form, er zweifelte an der

Zierlichkeit irgend einer Fassung der Juwelen, irgend eines kleinen Häkchens – Anlaß genug,

die ganze Arbeit wieder in den Schmelztiegel zu werfen und von neuem anzufangen. So

wurde jede Arbeit ein reines, unübertreffliches Meisterwerk, das den Besteller in Erstaunen

setzte. Aber nun war es kaum möglich, die fertige Arbeit von ihm zu erhalten. Unter tausend

Vorwänden hielt er den Besteller hin von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Vergebens

bot man ihm das Doppelte für die Arbeit, nicht einen Louis mehr als den bedungenen Preis

wollte er nehmen. Mußte er dann endlich dem Andringen des Bestellers weichen und den

Schmuck herausgeben, so konnte er sich aller Zeichen des tiefsten Verdrusses, ja einer innern

Wut, die in ihm kochte, nicht erwehren. Hatte er ein bedeutenderes, vorzüglich reiches Werk,

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vielleicht viele Tausende an Wert, bei der Kostbarkeit der Juwelen, bei der überzierlichen

Goldarbeit abliefern müssen, so war er imstande, wie unsinnig umherzulaufen, sich, seine

Arbeit, alles um sich her verwünschend. Aber sowie einer hinter ihm herrannte und laut

schrie: »René Cardillac, möchtet Ihr nicht einen schönen Halsschmuck machen für meine Braut

– Armbänder für mein Mädchen usw., dann stand er plötzlich still, blitzte den an mit seinen

kleinen Augen und fragte, die Hände reibend: Was habt Ihr denn? Der zieht nun ein

Schächtelchen hervor und spricht: Hier sind Juwelen, viel Sonderliches ist es nicht, gemeines

Zeug, doch unter Euren Händen – Cardillac läßt ihn nicht ausreden, reißt ihm das

Schächtelchen aus den Händen, nimmt die Juwelen heraus, die wirklich nicht viel wert sind,

hält sie gegen das Licht und ruft voll Entzücken: Ho ho – gemeines Zeug? – mit nichten! –

hübsche Steine – herrliche Steine, laßt mich nur machen! – und wenn es Euch auf eine

Handvoll Louis nicht ankommt, so will ich noch ein paar Steinchen hineinbringen, die Euch in

die Augen funkeln sollen wie die liebe Sonne selbst. – Der spricht: Ich überlasse Euch alles,

Meister René, und zahle, was Ihr wollt! Ohne Unterschied, mag er nun ein reicher

Bürgersmann oder ein vornehmer Herr vom Hofe sein, wirft sich Cardillac ungestüm an seinen

Hals, und drückt und küßt ihn und spricht, nun sei er wieder ganz glücklich und in acht Tagen

werde die Arbeit fertig sein. Er rennt über Hals und Kopf nach Hause, hinein in die Werkstatt

und hämmert darauf los, und in acht Tagen ist ein Meisterwerk zustande gebracht. Aber sowie

der, der es bestellte, kommt, mit Freuden die geforderte geringe Summe bezahlen und den

fertigen Schmuck mitnehmen will, wird Cardillac verdrießlich, grob, trotzig. – Aber Meister

Cardillac, bedenkt, morgen ist meine Hochzeit. – Was schert mich Eure Hochzeit, fragt in

vierzehn Tagen wieder nach. – Der Schmuck ist fertig, hier liegt das Geld, ich muß ihn haben. –

Und ich sage Euch, daß ich noch manches an dem Schmuck ändern muß und ihn heute nicht

herausgeben werde. – Und ich sage Euch, daß, wenn Ihr mir den Schmuck, den ich Euch

allenfalls doppelt bezahlen will, nicht herausgabt im Guten, Ihr mich gleich mit Argensons

dienstbaren Trabanten anrücken sehen sollt. – Nun so quäle Euch der Satan mit hundert

glühenden Kneipzangen und hänge drei Zentner an den Halsschmuck, damit er Eure Braut

erdroßle! – Und damit steckte Cardillac dem Bräutigam den Schmuck in die Busentasche,

ergreift ihn beim Arm, wirft ihn zur Stubentür hinaus, daß er die ganze Treppe hinabpoltert,

und lacht wie der Teufel zum Fenster hinaus, wenn er sieht, wie der arme junge Mensch, das

Schnupftuch vor der blutigen Nase, aus dem Hause hinaushinkt. – Gar nicht zu erklären war es

auch, daß Cardillac oft, wenn er mit Enthusiasmus eine Arbeit übernahm, plötzlich den

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Besteller mit allen Zeichen des im Innersten aufgeregten Gemüts, mit den erschütterndsten

Beteuerungen, ja unter Schluchzen und Tränen, bei der Jungfrau und allen Heiligen beschwor,

ihm das unternommene Werk zu erlassen. Manche der von dem Könige, von dem Volke

hochgeachtetsten Personen hatten vergebens große Summen geboten, um nur das kleinste

Werk von Cardillac zu erhalten. Er warf sich dem Könige zu Füßen und flehte um die Huld,

nichts für ihn arbeiten zu dürfen. Ebenso verweigerte er der Maintenon jede Bestellung, ja

mit dem Ausdruck des Abscheues und Entsetzens verwarf er den Antrag derselben, einen

kleinen, mit den Emblemen der Kunst verzierten Ring zu fertigen, den Racine von ihr erhalten

sollte.

Ich wette, sprach daher die Maintenon, ich wette, daß Cardillac, schicke ich auch hin zu ihm,

um wenigstens zu erfahren, für wen er diesen Schmuck fertigte, sich weigert herzukommen,

weil er vielleicht eine Bestellung fürchtet und doch durchaus nichts für mich arbeiten will.

Wiewohl er seit einiger Zeit abzulassen scheint von seinem starren Eigensinn, denn wie ich

höre, arbeitet er jetzt fleißiger als je, und liefert seine Arbeit ab auf der Stelle, jedoch noch

immer mit tiefem Verdruß und weggewandtem Gesicht. Die Scuderi, der auch viel daran

gelegen, daß, sei es noch möglich, der Schmuck bald in die Hände des rechtmäßigen

Eigentümers komme, meinte, daß man dem Meister Sonderling ja gleich sagen lassen könne,

wie man keine Arbeit, sondern nur sein Urteil über Juwelen verlange. Das billigte die

Marquise. Es wurde nach Cardillac geschickt, und, als sei er schon auf dem Wege gewesen, trat

er nach Verlauf weniger Zeit in das Zimmer.

Er schien, als er die Scuderi erblickte, betreten und wie einer, der, von dem Unerwarteten

plötzlich getroffen, die Ansprüche des Schicklichen, wie sie der Augenblick darbietet, vergißt,

neigte er sich zuerst tief und ehrfurchtsvoll vor dieser ehrwürdigen Dame und wandte sich

dann erst zur Marquise. Die frug ihn hastig, indem sie auf das Geschmeide wies, das auf dem

dunkelgrün behängten Tisch funkelte, ob das seine Arbeit sei? Cardillac warf kaum einen Blick

darauf und packte, der Marquise ins Gesicht starrend, Armbänder und Halsschmuck schnell ein

in das Kästchen, das daneben stand, und das er mit Heftigkeit von sich wegschob. Nun sprach

er, indem ein häßliches Lächeln auf seinem roten Antlitz gleißte: In der Tat, Frau Marquise,

man muß René Cardillacs Arbeit schlecht kennen, um nur einen Augenblick zu glauben, daß

irgend ein anderer Goldschmied in der Welt solchen Schmuck fassen könne. Freilich ist das

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meine Arbeit. So sagt denn, fuhr die Marquise fort, für wen Ihr diesen Schmuck gefertigt habt.

Für mich ganz allein, erwiderte Cardillac, ja Ihr möget, fuhr er fort, als beide, die Maintenon

und die Scuderi ihn ganz verwundert anblickten, jene voll Mißtrauen, diese voll banger

Erwartung, wie sich nun die Sache wenden würde, ja Ihr möget das nun seltsam finden, Frau

Marquise, aber es ist dem so. Bloß der schönen Arbeit willen suchte ich meine besten Steine

zusammen und arbeitete aus Freude daran fleißiger und sorgfältiger als jemals. Vor weniger

Zeit verschwand der Schmuck aus meiner Werkstatt auf unbegreifliche Weise. Dem Himmel

sei es gedankt, rief die Scuderi, indem ihr die Augen vor Freude funkelten und sie rasch und

behende wie ein junges Mädchen von ihrem Lehnstuhl aufsprang, auf den Cardillac losschritt,

und beide Hände auf seine Schultern legte, empfangt, sprach sie dann, empfangt, Meister

René, das Eigentum, das Euch verruchte Spitzbuben raubten, wieder zurück. Nun erzählte sie

ausführlich, wie sie zu dem Schmuck gekommen. Cardillac hörte alles schweigend mit

niedergeschlagenen Augen an. Nur mitunter stieß er ein unvernehmliches Hm! – So! – Ei! –

Hoho! – aus und warf bald die Hände auf den Rücken, bald streichelte er leise Kinn und Wange.

Als nun die Scuderi geendet, war es, als kämpfe Cardillac mit ganz besonderen Gedanken, die

währenddessen ihm gekommen, und als wolle irgend ein Entschluß sich nicht fügen und

fördern. Er rieb sich die Stirne, er seufzte, er fuhr mit der Hand über die Augen, wohl gar um

hervorbrechende Tränen zu steuern. Endlich ergriff er das Kästchen, das ihm die Scuderi

darbot, ließ sich auf ein Knie langsam nieder und sprach: Euch, edles, würdiges Fräulein! hat

das Verhängnis diesen Schmuck bestimmt. Ja nun weiß ich es erst, daß ich während der Arbeit

an Euch dachte, ja für Euch arbeitete. Verschmäht es nicht, diesen Schmuck als das Beste, was

ich wohl seit langer Zeit gemacht, von mir anzunehmen und zu tragen. Ei, ei, erwiderte die

Scuderi anmutig scherzend, wo denkt Ihr hin, Meister René, steht es mir denn an, in meinen

Jahren mich noch so herauszuputzen mit blanken Steinen? – Und wie kommt Ihr denn dazu,

mich so überreich zu beschenken? Geht, geht, Meister René, wär' ich so schön wie die

Marquise de Fontange und reich, in der Tat, ich ließe den Schmuck nicht aus den Händen, aber

was soll diesen welken Armen die eitle Pracht, was soll diesem verhüllten Hals der glänzende

Putz? Cardillac hatte sich indessen erhoben und sprach, wie außer sich, mit verwildertem

Blick, indem er fortwährend das Kästchen der Scuderi hinhielt: Tut mir die Barmherzigkeit,

Fräulein, und nehmt den Schmuck. Ihr glaubt es nicht, welche tiefe Verehrung ich für Eure

Tugend, für Eure hohen Verdienste im Herzen trage! Nehmt doch mein geringes Geschenk

nur für das Bestreben an, Euch recht meine innerste Gesinnung zu beweisen. – Als nun die

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Scuderi immer noch zögerte, nahm die Maintenon das Kästchen aus Cardillacs Händen,

sprechend: Nun, beim Himmel, Fräulein, immer redet Ihr von Euern hohen Jahren, was haben

wir, ich und Ihr mit den Jahren zu schaffen und ihrer Last! – Und tut Ihr denn nicht eben wie

ein junges verschämtes Ding, das gern zulangen möchte nach der dargebotnen süßen Frucht,

könnte das nur geschehen ohne Hand und ohne Finger. – Schlagt dem wackern Meister René

nicht ab, das freiwillig als Geschenk zu empfangen, was tausend andere nicht erhalten können,

alles Goldes, alles Bittens und Flehens unerachtet. –

Die Maintenon hatte der Scuderi das Kästchen währenddessen aufgedrungen und nun stürzte

Cardillac nieder auf die Knie – küßte der Scuderi den Rock – die Hände – stöhnte – seufzte –

weinte, schluchzte – sprang auf – rannte wie unsinnig, Sessel – Tische umstürzend, daß

Porzellan, Gläser zusammenklirrten, in toller Hast von dannen. –

Ganz erschrocken rief die Scuderi: Um aller Heiligen willen, was widerfährt dem Menschen!

Doch die Marquise, in besonderer heiterer Laune bis zu sonst ihr ganz fremdem Mutwillen,

schlug eine helle Lache auf und sprach: Da haben wir's, Fräulein, Meister René ist in Euch

sterblich verliebt und beginnt nach richtigem Brauch und bewährter Sitte echter Galanterie

Euer Herz zu bestürmen mit reichen Geschenken. Die Maintenon führte diesen Scherz weiter

aus, indem sie die Scuderi ermahnte, nicht zu grausam zu sein gegen den verzweifelten

Liebhaber, und diese wurde, Raum gebend angeborner Laune, hingerissen in den

sprudelnden Strom tausend lustiger Einfälle. Sie meinte, daß sie, stünden die Sachen nun

einmal so, endlich besiegt wohl nicht werde umhin können, der Welt das unerhörte Beispiel

einer dreiundsiebzigjährigen Goldschmieds-Braut von untadeligem Adel aufzustellen. Die

Maintenon erbot sich, die Brautkrone zu flechten und sie über die Pflichten einer guten

Hausfrau zu belehren, wovon freilich so ein kleiner Kickindiewelt von Mädchen nicht viel

wissen könne.

Da nun endlich die Scuderi aufstand, um die Marquise zu verlassen, wurde sie alles lachenden

Scherzes ungeachtet doch wieder sehr ernst, als ihr das Schmuckkästchen zur Hand kam. Sie

sprach: Doch, Frau Marquise! werde ich mich dieses Schmuckes niemals bedienen können. Er

ist, mag es sich nun zugetragen haben wie es will, einmal in den Händen jener höllischen

Gesellen gewesen, die mit der Frechheit des Teufels, ja wohl gar in verdammtem Bündnis mit

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ihm, rauben und morden. Mir graust vor dem Blute, das an dem funkelnden Geschmeide zu

kleben scheint. – Und nun hat selbst Cardillacs Betragen, ich muß es gestehen, für mich etwas

sonderbar Ängstliches und Unheimliches. Nicht erwehren kann ich mich einer dunklen

Ahnung, daß hinter diesem allem irgend ein grauenvolles, entsetzliches Geheimnis

verborgen, und bringe ich mir die ganze Sache recht deutlich vor Augen mit jedem Umstand,

so kann ich doch wieder gar nicht auch nur ahnen, worin das Geheimnis bestehe, und wie

überhaupt der ehrliche, wackere Meister René, das Vorbild eines guten, frommen Bürgers, mit

irgend etwas Bösem, Verdammlichem zu tun haben soll. So viel ist aber gewiß, daß ich niemals

mich unterstehen werde, den Schmuck anzulegen.

Die Marquise meinte, das hieße die Skrupel zu weit treiben; als nun aber die Scuderi sie auf ihr

Gewissen fragte, was sie in ihrer, der Scuderi Lage, wohl tun würde, antwortete sie ernst und

fest: weit eher den Schmuck in die Seine werfen, als ihn jemals tragen.

Den Auftritt mit dem Meister René brachte die Scuderi in gar anmutige Verse, die sie den

folgenden Abend in den Gemächern der Maintenon dem Könige vorlas. Wohl mag es sein, daß

sie auf Kosten Meister Renés, alle Schauder unheimlicher Ahnung besiegend, das ergötzliche

Bild der dreiundsiebzigjährigen Goldschmieds-Braut von uraltem Adel mit lebendigen Farben

darzustellen gewußt. Genug, der König lachte bis ins Innerste hinein und schwur, daß Boileau

Despréaux seinen Meister gefunden, weshalb der Scuderi Gedicht für das Witzigste galt, das

jemals geschrieben.

Mehrere Monate waren vergangen, als der Zufall es wollte, daß die Scuderi in der Glaskutsche

der Herzogin von Montansier über den Pontneuf fuhr. Noch war die Erfindung der zierlichen

Glaskutschen so neu, daß das neugierige Volk sich zudrängte, wenn ein Fuhrwerk der Art auf

den Straßen erschien. So kam es denn auch, daß der gaffende Pöbel auf dem Pentneuf die

Kutsche der Montansier umringte, beinahe den Schritt der Pferde hemmend. Da vernahm die

Scuderi plötzlich ein Geschimpfe und Gefluche und gewahrte, wie ein Mensch mit

Faustschlägen und Rippenstößen sich Platz machte durch die dickste Masse. Und wie er näher

kam, trafen sie die durchbohrenden Blicke eines todbleichen, gramverstörten Jünglings-

Antlitzes. Unverwandt schaute der junge Mensch sie an, während er mit Ellbogen und Fäusten

rüstig vor sich wegarbeitete, bis er an den Schlag des Wagens kam, den er mit stürmender

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Hastigkeit aufriß, der Scuderi einen Zettel in den Schoß warf, und Stöße, Faustschläge

austeilend und empfangend, verschwand wie er gekommen. Mit einem Schrei des Entsetzens

war, sowie der Mensch am Kutschenschlage erschien, die Martiniere, die sich bei der Scuderi

befand, entseelt in die Wagenkissen zurückgesunken. Vergebens riß die Scuderi an der

Schnur, rief dem Kutscher zu, der, wie vom bösen Geiste getrieben, peitschte auf die Pferde

los, die den Schaum von den Mäulern wegspritzend, um sich schlugen, sich bäumten, endlich

in scharfem Trab fortdonnerten über die Brücke. Die Scuderi goß ihr Riechfläschchen über die

ohnmächtige Frau aus, die endlich die Augen aufschlug und zitternd und bebend, sich

krampfhaft festklammernd an die Herrschaft, Angst und Entsetzen im bleichen Antlitz,

mühsam stöhnte: Um der heiligen Jungfrau willen! was wollte der fürchterliche Mensch? –

Ach! er war es ja, er war es, derselbe, der Euch in jener schauervollen Nacht das Kästchen

brachte! – Die Scuderi beruhigte die Arme, indem sie ihr vorstellte, daß ja durchaus nichts

Böses geschehen, und daß es nur darauf ankomme, zu wissen, was der Zettel enthalte. Sie

schlug das Blättchen auseinander und fand die Worte:

»Ein böses Verhängnis, das Ihr abwenden konntet, stößt mich in den Abgrund! – Ich beschwöre

Euch, wie der Sohn die Mutter, von der er nicht lassen kann, in der vollsten Glut kindlicher

Liebe, den Halsschmuck und die Armbänder, die Ihr durch mich erhieltet, unter irgend einem

Vorwand – um irgend etwas daran bessern – ändern zu lassen, zum Meister René Cardillac zu

schaffen; Euer Wohl, Euer Leben hängt davon ab. Tut Ihr es nicht bis übermorgen, so dringe ich

in Eure Wohnung und ermorde mich vor Euren Augen!«

Nun ist es gewiß, sprach die Scuderi, als sie dies gelesen, daß, mag der geheimnisvolle Mensch

auch wirklich zu der Bande verruchter Diebe und Mörder gehören, er doch gegen mich nichts

Böses im Schilde führt. Wäre es ihm gelungen, mich in jener Nacht zu sprechen, wer weiß,

welches sonderbare Ereignis, welch dunkles Verhältnis der Dinge mir klar worden, von dem

ich jetzt auch nur die leiseste Ahnung vergebens in meiner Seele suche. Mag aber auch die

Sache sich nun verhalten, wie sie will, das was mir in diesem Blatt geboten wird, werde ich tun,

und geschähe es auch nur, um den unseligen Schmuck los zu werden, der mir ein höllischer

Talisman des Bösen selbst dünkt. Cardillac wird ihn doch wohl nun, seiner alten Sitte getreu,

nicht so leicht wieder aus den Händen geben wollen.

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Schon andern Tages gedachte die Scuderi, sich mit dem Schmuck zu dem Goldschmied zu

begeben. Doch war es, als hätten alle schönen Geister von ganz Paris sich verabredet, gerade

an dem Morgen das Fräulein mit Versen, Schauspielen, Anekdoten zu bestürmen. Kaum hatte

la Chapelle die Szene eines Trauerspiels geendet und schlau versichert, daß er nun wohl

Racine zu schlagen gedenke, als dieser selbst eintrat und ihn mit irgend eines Königs

pathetischer Rede zu Boden schlug, bis Boileau seine Leuchtkugeln in den schwarzen

tragischen Himmel steigen ließ, um nur nicht ewig von der Kolonnade des Louvre schwatzen

zu hören, in die ihn der architektische Doktor Perrault hineingeengt.

Hoher Mittag war geworden, die Scuderi mußte zur Herzogin Montansier, und so blieb der

Besuch bei Meister René Cardillac bis zum andern Morgen verschoben.

Die Scuderi fühlte sich von einer besonderen Unruhe gepeinigt. Beständig vor Augen stand

ihr der Jüngling und aus dem tiefsten Innern wollte sich eine dunkle Erinnerung aufregen, als

habe sie dies Antlitz, diese Züge schon gesehen. Den leisesten Schlummer störten ängstliche

Träume, es war ihr, als habe sie leichtsinnig, ja strafwürdig versäumt, die Hand hilfreich zu

erfassen, die der Unglückliche, in den Abgrund versinkend, nach ihr emporgestreckt, ja als sei

es an ihr gewesen, irgend einem verderblichen Ereignis, einem heillosen Verbrechen zu

steuern! – Sowie es nur hoher Morgen, ließ sie sich ankleiden, und fuhr, mit dem

Schmuckkästchen versehen, zu dem Goldschmied hin.

Nach der Straße Nicaise, dorthin, wo Cardillac wohnte, strömte das Volk, sammelte sich vor der

Haustüre – schrie, lärmte, tobte – wollte stürmend hinein, mit Mühe abgehalten von der

Marechaussee, die das Haus umstellt. Im wilden, verwirrten Getöse riefen zornige Stimmen:

Zerreißt, zermalmt den verfluchten Mörder! – Endlich erscheint Desgrais mit zahlreicher

Mannschaft, die bildet durch den dicksten Haufen eine Gasse. Die Haustüre springt auf, ein

Mensch mit Ketten belastet, wird hinausgebracht und unter den greulichsten

Verwünschungen des wütenden Pöbels fortgeschleppt. – In dem Augenblick, als die Scuderi

halb entseelt vor Schreck und furchtbarer Ahnung dies gewahrt, dringt ein gellendes

Jammergeschrei ihr in die Ohren. Vor! – weiter vor! ruft sie ganz außer sich dem Kutscher zu,

der mit einer geschickten, raschen Wendung den dicken Haufen auseinanderstäubt und dicht

vor Cardillacs Haustüre hält. Da sieht die Scuderi Desgrais und zu seinen Füßen ein junges

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Mädchen, schön wie der Tag, mit aufgelösten Haaren, halb entkleidet, wilde Angst, trostlose

Verzweiflung im Antlitz, die hält seine Knie umschlungen und ruft mit dem Ton des

entsetzlichsten, schneidendsten Todesschmerzes: Er ist ja unschuldig! – er ist unschuldig!

Vergebens sind Desgrais', vergebens seiner Leute Bemühungen, sie loszureißen, sie vom

Boden aufzurichten. Ein starker, ungeschlachter Kerl ergreift endlich mit plumpen Fäusten die

Arme, zerrt sie mit Gewalt weg von Desgrais, strauchelt ungeschickt, läßt das Mädchen fahren,

die hinabschlägt die steinernen Stufen und lautlos – wie tot auf der Straße liegen bleibt.

Länger kann die Scuderi sich nicht halten. In Christus Namen, was ist geschehen, was geht hier

vor? ruft sie, öffnet rasch den Schlag, steigt aus. – Ehrerbietig weicht das Volk der würdigen

Dame, die, als sie sieht, wie ein paar mitleidige Weiber das Mädchen aufgehoben, auf die

Stufen gesetzt haben, ihr die Stirne mit starkem Wasser reiben, sich dem Desgrais nähert und

mit Heftigkeit ihre Frage wiederholt. Es ist das Entsetzliche geschehen, spricht Desgrais, René

Cardillac wurde heute Morgen durch einen Dolchstich ermordet gefunden. Sein Geselle

Olivier Brußon ist der Mörder. Eben wurde er fortgeführt ins Gefängnis. Und das Mädchen? ruft

die Scuderi, ist, fällt Desgrais ein, ist Madelon, Cardillacs Tochter. Der verruchte Mensch war ihr

Geliebter. Nun weint und heult sie, und schreit einmal übers andere, daß Olivier unschuldig

sei, ganz unschuldig. Am Ende weiß sie von der Tat und ich muß sie auch nach der

Conciergerie bringen lassen. Desgrais warf, als er dies sprach, einen tückischen, schadenfrohen

Blick auf das Mädchen, vor dem die Scuderi erbebte. Eben begann das Mädchen leise zu

atmen, doch keines Lauts, keiner Bewegung mächtig, mit geschlossenen Augen lag sie da, und

man wußte nicht, was zu tun, sie ins Haus bringen, oder ihr noch länger beistehen bis zum

Erwachen. Tief bewegt, Tränen in den Augen, blickte die Scuderi den unschuldsvollen Engel

an, ihr graute vor Desgrais und seinen Gesellen. Da polterte es dumpf die Treppe herab, man

brachte Cardillacs Leichnam. Schnell entschlossen rief die Scuderi laut: Ich nehme das

Mädchen mit mir, Ihr möget für das übrige sorgen, Desgrais! Ein dumpfes Murmeln des Beifalls

lief durch das Volk. Die Weiber hoben das Mädchen in die Höhe, alles drängte sich hinzu,

hundert Hände mühten sich, ihnen beizustehen, und wie in den Lüften schwebend wurde das

Mädchen in die Kutsche getragen, indem Segnungen der würdigen Dame, die die Unschuld

dem Blutgericht entrissen, von allen Lippen strömten.

Serons, des berühmtesten Arztes in Paris, Bemühungen gelang es endlich, Madelon, die

stundenlang in starrer Bewußtlosigkeit gelegen, wieder zu sich selbst zu bringen. Die Scuderi

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vollendete, was der Arzt begonnen, indem sie manchen milden Hoffnungsstrahl leuchten ließ

in des Mädchens Seele, bis ein heftiger Tränenstrom, der aus ihren Augen stürzte, ihr Luft

machte. Sie vermochte, indem nur dann und wann die Übermacht des durchbohrendsten

Schmerzes die Worte in tiefem Schluchzen erstickte, zu erzählen, wie sich alles begeben.

Um Mitternacht war sie durch leises Klopfen an ihrer Stubentüre geweckt worden und hatte

Oliviers Stimme vernommen, der sie beschworen, doch nur gleich aufzustehen, weil der Vater

im Sterben liege. Entsetzt sei sie aufgesprungen und habe die Tür geöffnet. Olivier, bleich und

entstellt, von Schweiß triefend, sei, das Licht in der Hand, mit wankenden Schritten nach der

Werkstatt gegangen, sie ihm gefolgt. Da habe der Vater gelegen mit starren Augen und

geröchelt im Todeskampfe. Jammernd habe sie sich auf ihn gestürzt und nun erst sein blutiges

Hemde bemerkt. Olivier habe sie sanft weggezogen und sich dann bemüht, eine Wunde auf

der linken Brust des Vaters mit Wundbalsam zu waschen und zu verbinden. Währenddessen sei

des Vaters Besinnung zurückgekehrt, er habe zu röcheln aufgehört und sie, dann aber Olivier

mit seelenvollem Blick angeschaut, ihre Hand ergriffen, sie in Oliviers Hand gelegt und beide

heftig gedrückt. Beide, Olivier und sie, wären bei dem Lager des Vaters auf die Knie gefallen,

er habe sich mit einem schneidenden Laut in die Höhe gerichtet, sei aber gleich wieder

zurückgesunken und mit einem tiefen Seufzer verschieden. Nun hätten sie beide laut

gejammert und geklagt. Olivier habe erzählt, wie der Meister auf einem Gange, den er mit

ihm auf sein Geheiß in der Nacht habe machen müssen, in seiner Gegenwart ermordet

worden, und wie er mit der größten Anstrengung den schweren Mann, den er nicht auf den

Tod verwundet gehalten, nach Hause getragen. Sowie der Morgen angebrochen, wären die

Hausleute, denen das Gepolter, das laute Weinen und Jammern in der Nacht aufgefallen,

heraufgekommen und hätten sie noch ganz trostlos bei der Leiche des Vaters kniend

gefunden. Nun sei Lärm entstanden, die Marechaussee eingedrungen und Olivier als Mörder

seines Meisters ins Gefängnis geschleppt worden. Madelon fügte nun die rührendste

Schilderung von der Tugend, der Frömmigkeit, der Treue ihres geliebten Olivier hinzu. Wie er

den Meister, als sei er sein eigener Vater, hoch in Ehren gehalten, wie dieser seine Liebe in

vollem Maß erwidert, wie er ihn trotz seiner Armut zum Eidam erkoren, weil seine

Geschicklichkeit seiner Treue, seinem edlen Gemüt gleichgekommen. Das alles erzählte

Madelon aus dem innersten Herzen heraus und schloß damit, daß wenn Olivier in ihrem

Beisein dem Vater den Dolch in die Brust gestoßen hätte, sie dies eher für ein Blendwerk des

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Satans halten, als daran glauben würde, daß Olivier eines solchen entsetzlichen, grauenvollen

Verbrechens fähig sein könne.

Die Scuderi, von Madelons namenlosen Leiden auf das tiefste gerührt und ganz geneigt, den

armen Olivier für unschuldig zu halten, zog Erkundigungen ein und fand alles bestätigt, was

Madelon über das häusliche Verhältnis des Meisters mit seinem Gesellen erzählt hatte. Die

Hausleute, die Nachbarn rühmten einstimmig den Olivier als das Muster eines sittigen,

frommen, treuen, fleißigen Betragens, niemand wußte Böses von ihm, und doch, war von der

gräßlichen Tat die Rede, zuckte jeder die Achseln und meinte, darin liege etwas

Unbegreifliches.

Olivier, vor die Chambre ardente gestellt, leugnete, wie die Scuderi vernahm, mit der größten

Standhaftigkeit, mit dem hellsten Freimut die ihm angeschuldigte Tat und behauptete, daß

sein Meister in seiner Gegenwart auf der Straße angefallen und niedergestoßen worden, daß

er ihn aber noch lebendig nach Hause geschleppt, wo er sehr bald verschieden sei. Auch dies

stimmte also mit Madelons Erzählung überein.

Immer und immer wieder ließ sich die Scuderi die kleinsten Umstände des schrecklichen

Ereignisses wiederholen. Sie forschte genau, ob jemals ein Streit zwischen Meister und

Gesellen vorgefallen, ob vielleicht Olivier nicht ganz frei von jenem Jähzorn sei, der oft wie

ein blinder Wahnsinn die gutmütigsten Menschen überfällt und zu Taten verleitet, die alle

Willkür des Handelns auszuschließen scheinen. Doch je begeisterter Madelon von dem

ruhigen häuslichen Glück sprach, in dem die drei Menschen in innigster Liebe verbunden

lebten, desto mehr verschwand jeder Schatten des Verdachts wider den auf den Tod

angeklagten Olivier. Genau alles prüfend, davon ausgehend, daß Olivier unerachtet alles

dessen, was laut für seine Unschuld spräche, dennoch Cardillacs Mörder gewesen, fand die

Scuderi im Reich der Möglichkeit keinen Beweggrund zu der entsetzlichen Tat, die in jedem

Fall Oliviers Glück zerstören mußte. – Er ist arm, aber geschickt. – Es gelang ihm, die

Zuneigung des berühmtesten Meisters zu gewinnen, er liebt die Tochter, der Meister

begünstigt seine Liebe, Glück, Wohlstand für sein ganzes Leben wird ihm erschlossen! – Sei es

aber nun, daß, Gott weiß, auf welche Weise gereizt, Olivier vom Zorn übermannt, seinen

Wohltäter, seinen Vater mörderisch anfiel, welche teuflische Heuchelei gehört dazu, nach der

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Tat sich so zu betragen, als es wirklich geschah! – Mit der festen Überzeugung von Oliviers

Unschuld faßte die Scuderi den Entschluß, den unschuldigen Jüngling zu retten, koste es, was

es wolle.

Es schien ihr, ehe sie die Huld des Königs selbst vielleicht anrufe, am geratensten, sich an den

Präsidenten la Regnie zu wenden, ihn auf alle Umstände, die für Oliviers Unschuld sprechen

mußten, aufmerksam zu machen, und so vielleicht in des Präsidenten Seele eine innere, dem

Angeklagten günstige Überzeugung zu erwecken, die sich wohltätig den Richtern mitteilen

sollte.

La Regnie empfing die Scuderi mit der hohen Achtung, auf die die würdige Dame, von dem

Könige selbst hochgeehrt, gerechten Anspruch machen konnte. Er hörte ruhig alles an, was sie

über die entsetzliche Tat, über Oliviers Verhältnisse, über seinen Charakter vorbrachte. Ein

feines, beinahe hämisches Lächeln war indessen alles, womit er bewies, daß die Beteurungen,

die von häufigen Tränen begleiteten Ermahnungen, wie jeder Richter nicht der Feind des

Angeklagten sein, sondern auch auf alles achten müsse, was zu seinen Gunsten spräche, nicht

an gänzlich tauben Ohren vorüberglitten. Als das Fräulein nun endlich ganz erschöpft, die

Tränen von den Augen wegtrocknend, schwieg, fing la Regnie an: Es ist ganz Eures

vortrefflichen Herzens würdig, mein Fräulein, daß Ihr, gerührt von den Tränen eines jungen,

verliebten Mädchens, alles glaubt, was sie vorbringt, ja daß Ihr nicht fähig seid, den Gedanken

einer entsetzlichen Untat zu fassen, aber anders ist es mit dem Richter, der gewohnt ist,

frecher Heuchelei die Larve abzureißen. Wohl mag es nicht meines Amtes sein, jedem, der

mich frägt, den Gang eines Kriminalprozesses zu entwickeln. Fräulein! ich tue meine Pflicht,

wenig kümmert mich das Urteil der Welt. Zittern sollen die Bösewichter vor der Chambre

ardente, die keine Strafe kennt als Blut und Feuer. Aber von Euch, mein würdiges Fräulein,

möcht' ich nicht für ein Ungeheuer gehalten werden an Härte und Grausamkeit, darum

vergönnt mir, daß ich Euch mit wenigen Worten die Blutschuld des jungen Bösewichts, der,

dem Himmel sei es gedankt! der Rache verfallen ist, klar vor Augen lege. Euer scharfsinniger

Geist wird dann selbst die Gutmütigkeit verschmähen, die Euch Ehre macht, mir aber gar nicht

anstehen würde. – Also! – Am Morgen wird René Cardillac durch einen Dolchstoß ermordet

gefunden. Niemand ist bei ihm, als sein Geselle Olivier Brußon und die Tochter. In Oliviers

Kammer, unter anderem, findet man einen Dolch von frischem Blute gefärbt, der genau in die

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Wunde paßt. Cardillac ist, spricht Olivier, in der Nacht vor meinen Augen niedergestoßen

worden. – Man wollte ihn berauben? Das weiß ich nicht! – Du gingst mit ihm, und es war dir

nicht möglich, dem Mörder zu wehren? – ihn festzuhalten? um Hilfe zu rufen? Fünfzehn, wohl

zwanzig Schritte vor mir ging der Meister, ich folgte ihm. Warum in aller Welt so entfernt? –

Der Meister wollt' es so. Was hatte überhaupt Meister Cardillac so spät auf der Straße zu tun? –

Das kann ich nicht sagen. Sonst ist er aber doch niemals nach neun Uhr abends aus dem Hause

gekommen? – Hier stockt Olivier, er ist bestürzt, er seufzt, er vergießt Tränen, er beteuert bei

allem, was heilig, daß Cardillac wirklich in jener Nacht ausgegangen sei und seinen Tod

gefunden habe. Nun merkt aber wohl auf, mein Fräulein. Erwiesen ist es bis zur

vollkommensten Gewißheit, daß Cardillac in jener Nacht das Haus nicht verließ, mithin ist

Oliviers Behauptung, er sei mit ihm wirklich ausgegangen, eine freche Lüge. Die Haustüre ist

mit einem schweren Schloß versehen, welches bei dem Auf- und Zuschließen ein

durchdringendes Geräusch macht, dann aber bewegt sich der Türflügel widrig knarrend und

heulend in den Angeln, so daß, wie es angestellte Versuche bewährt haben, selbst im

obersten Stock des Hauses das Getöse widerhallt. Nun wohnt in dem untersten Stock, also

dicht neben der Haustür, der alte Meister Claude Patru mit seiner Aufwärterin, einer Person

von beinahe achtzig Jahren, aber noch munter und rührig. Diese beiden Personen hörten, wie

Cardillac nach seiner gewöhnlichen Weise an jenem Abend Punkt neun Uhr die Treppe

hinabkam, die Türe mit vielem Geräusch verschloß und verrammelte, dann wieder hinaufstieg,

den Abendsegen laut las und dann, wie man es an dem Zuschlagen der Türe vernehmen

konnte, in sein Schlafzimmer ging. Meister Claude leidet an Schlaflosigkeit, wie es alten

Leuten wohl zu gehen pflegt. Auch in jener Nacht konnte er kein Auge zutun. Die Aufwärterin

schlug daher, es mochte halb zehn Uhr sein, in der Küche, in die sie über den Hausflur gehend

gelangt, Licht an und setzte sich zum Meister Claude an den Tisch mit einer alten Chronik, in

der sie las, während der Alte seinen Gedanken nachhängend bald sich in den Lehnstuhl setzte,

bald wieder aufstand, und um Müdigkeit und Schlaf zu gewinnen, im Zimmer leise und

langsam auf und ab schritt. Es blieb alles still und ruhig bis nach Mitternacht. Da hörten sie

über sich scharfe Tritte, einen harten Fall, als stürze eine schwere Last zu Boden, und gleich

darauf ein dumpfes Stöhnen. In beide kam eine seltsame Angst und Beklommenheit. Die

Schauer der entsetzlichen Tat, die eben begangen, gingen bei ihnen vorüber. – Mit dem

hellen Morgen trat dann ans Licht, was in der Finsternis begonnen. – Aber, fiel die Scuderi ein,

aber um aller Heiligen willen, könnt Ihr bei allen Umständen, die ich erst weitläufig erzählte,

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Euch denn irgend einen Anlaß zu dieser Tat der Hölle denken? – Hm, erwiderte la Regnie,

Cardillac war nicht arm – im Besitz vortrefflicher Steine. Bekam, fuhr die Scuderi fort, bekam

denn nicht alles die Tochter? – Ihr vergeßt, daß Olivier Cardillacs Schwiegersohn werden

sollte. Er mußte vielleicht teilen oder gar nur für andere morden, sprach la Regnie. Teilen, für

andere morden? fragte die Scuderi in vollem Erstaunen. Wißt, fuhr der Präsident fort, wißt

mein Fräulein! daß Olivier schon längst geblutet hätte auf dem Greveplatz, stünde seine Tat

nicht in Beziehung mit dem dicht verschleierten Geheimnis, das bisher so bedrohlich über

ganz Paris waltete. Olivier gehört offenbar zu jener verruchten Bande, die alle

Aufmerksamkeit, alle Mühe, alles Forschen der Gerichtshöfe verspottend ihre Streiche sicher

und ungestraft zu führen wußte. Durch ihn wird – muß alles klar werden. Die Wunde Cardillacs

ist denen ganz ähnlich, die alle auf den Straßen, in den Häusern Ermordete und Beraubte

trugen. Dann aber das Entscheidendste, seit der Zeit, daß Olivier Brußon verhaftet ist, haben

alle Mordtaten, alle Beraubungen aufgehört. Sicher sind die Straßen zur Nachtzeit wie am

Tage. Beweis genug, daß Olivier vielleicht an der Spitze jener Mordbande stand. Noch will er

nicht bekennen, aber es gibt Mittel, ihn sprechen zu machen wider seinen Willen. Und

Madelon, rief die Scuderi, und Madelon, die treue, unschuldige Taube. – Ei, sprach la Regnie

mit einem giftigen Lächeln, ei wer steht mir dafür, daß sie nicht mit im Komplott ist. Was ist ihr

an dem Vater gelegen, nur dem Mordbuben gelten ihre Tränen. Was sagt Ihr, schrie die

Scuderi, es ist nicht möglich; den Vater! dieses Mädchen! – O! fuhr la Regnie fort, o! denkt doch

nur an die Brinvillier! Ihr möget es mir verzeihen, wenn ich mich vielleicht bald genötigt sehe,

Euch Euren Schützling zu entreißen und in die Conciergerie werfen zu lassen. – Der Scuderi

ging ein Grausen an bei diesem entsetzlichen Verdacht. Es war ihr, als könne vor diesem

schrecklichen Manne keine Treue, keine Tugend bestehen, als spähe er in den tiefsten,

geheimsten Gedanken Mord und Blutschuld. Sie stand auf. Seid menschlich, das war alles, was

sie beklommen, mühsam atmend hervorbringen konnte. Schon im Begriff, die Treppe

hinabzusteigen, bis zu der der Präsident sie mit zeremoniöser Artigkeit begleitet hatte, kam

ihr, selbst wußte sie nicht wie, ein seltsamer Gedanke. Würd' es mir wohl erlaubt sein, den

unglücklichen Olivier Brußon zu sehen? So fragte sie den Präsidenten, sich rasch umwendend.

Dieser schaute sie mit bedenklicher Miene an, dann verzog sich sein Gesicht in jenes widrige

Lächeln, das ihm eigen. Gewiß, sprach er, gewiß wollt Ihr nun, mein würdiges Fräulein, Eurem

Gefühl, der innern Stimme mehr vertrauend als dem, was vor unsern Augen geschehen, selbst

Oliviers Schuld oder Unschuld prüfen. Scheut Ihr nicht den düstern Aufenthalt des

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Verbrechens, ist es Euch nicht gehässig, die Bilder der Verworfenheit in allen Abstufungen zu

sehen, so sollen für Euch in zwei Stunden die Tore der Conciergerie offen sein. Man wird Euch

diesen Olivier, dessen Schicksal Eure Teilnahme erregt, vorstellen.

In der Tat konnte sich die Scuderi von der Schuld des jungen Menschen nicht überzeugen.

Alles sprach wider ihn, ja kein Richter in der Welt hätte anders gehandelt, wie la Regnie, bei

solch entscheidenden Tatsachen. Aber das Bild häuslichen Glücks, wie es Madelon mit den

lebendigsten Zügen der Scuderi vor Augen gestellt, überstrahlte jeden bösen Verdacht, und

so mochte sie lieber ein unerklärliches Geheimnis annehmen, als daran glauben, wogegen ihr

ganzes Inneres sich empörte.

Sie gedachte sich von Olivier noch einmal alles, wie es sich in jener verhängnisvollen Nacht

begeben, erzählen zu lassen und so viel wie möglich in ein Geheimnis zu dringen, das

vielleicht den Richtern verschlossen geblieben, weil es wertlos schien, sich weiter darum zu

bekümmern.

In der Conciergerie angekommen, führte man die Scuderi in ein großes, helles Gemach. Nicht

lange darauf vernahm sie Kettengerassel. Olivier Brußon wurde gebracht. Doch sowie er in die

Türe trat, sank auch die Scuderi ohnmächtig nieder. Als sie sich erholt hatte, war Olivier

verschwunden. Sie verlangte mit Heftigkeit, daß man sie nach dem Wagen bringe, fort,

augenblicklich fort wollte sie aus den Gemächern der frevelnden Verruchtheit. Ach! – auf den

ersten Blick hatte sie in Olivier Brußon den jungen Menschen erkannt, der auf dem Pontneuf

jenes Blatt ihr in den Wagen geworfen, der ihr das Kästchen mit den Juwelen gebracht hatte. –

Nun war ja jeder Zweifel gehoben, la Regnies schreckliche Vermutung ganz bestätigt. Olivier

Brußon gehört zu der fürchterlichen Mordbande, gewiß ermordete er auch den Meister! –

Und Madelon? – So bitter noch nie vom innern Gefühl getäuscht, auf den Tod angepackt von

der höllischen Macht auf Erden, an deren Dasein sie nicht geglaubt, verzweifelte die Scuderi

an aller Wahrheit. Sie gab Raum dem entsetzlichen Verdacht, daß Madelon mit verschworen

sein und teil haben könne an der gräßlichen Blutschuld. Wie es denn geschieht, daß der

menschliche Geist, ist ihm ein Bild aufgegangen, emsig Farben sucht und findet, es greller und

greller auszumalen, so fand auch die Scuderi, jeden Umstand der Tat, Madelons Betragen in

den kleinsten Zügen erwägend, gar vieles, jenen Verdacht zu nähren. So wurde manches, was

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ihr bisher als Beweis der Unschuld und Reinheit gegolten, sicheres Merkmal freveliger

Bosheit, studierter Heuchelei. Jener herzzerreißende Jammer, die blutigen Tränen konnten

wohl erpreßt sein von der Todesangst, nicht den Geliebten bluten zu sehen, nein – selbst zu

fallen unter der Hand des Henkers. Gleich sich die Schlange, die sie im Busen nähre, vom Halse

zu schaffen; mit diesem Entschluß stieg die Scuderi aus dem Wagen. In ihr Gemach

eingetreten, warf Madelon sich ihr zu Füßen. Die Himmelsaugen, ein Engel Gottes hat sie

nicht treuer, zu ihr emporgerichtet, die Hände vor der wallenden Brust zusammengefaltet,

jammerte und flehte sie laut um Hilfe und Trost. Die Scuderi sich mühsam zusammenfassend,

sprach, indem sie dem Ton ihrer Stimme so viel Ernst und Ruhe zu geben suchte, als ihr

möglich: Geh' – geh' – tröste dich nur über den Mörder, den die gerechte Strafe seiner

Schandtaten erwartet. – Die heilige Jungfrau möge verhüten, daß nicht auf dir selbst eine

Blutschuld schwer laste. Ach nun ist alles verloren! – Mit diesem gellenden Ausruf stürzte

Madelon ohnmächtig zu Boden. Die Scuderi überließ die Sorge um das Mädchen der

Martiniere und entfernte sich in ein anderes Gemach. –

Ganz zerrissen im Innern, entzwei mit allem Irdischen wünschte die Scuderi, nicht mehr in

einer Welt voll höllischen Truges zu leben. Sie klagte das Verhängnis an, das in bitterm Hohn

ihr so viele Jahre gegönnt, ihren Glauben an Tugend und Treue zu stärken und nun in ihrem

Alter das schöne Bild vernichte, welches ihr im Leben geleuchtet.

Sie vernahm, wie die Martiniere Madelon fortbrachte, die leise seufzte und jammerte: Ach! –

auch sie – auch sie haben die Grausamen betört. – Ich Elende – armer, unglücklicher Olivier! –

Die Töne drangen der Scuderi ins Herz, und aufs neue regte sich aus dem tiefsten Innern

heraus die Ahnung eines Geheimnisses, der Glaube an Oliviers Unschuld. Bedrängt von den

widersprechendsten Gefühlen, ganz außer sich rief die Scuderi: Welcher Geist der Hölle hat

mich in die entsetzliche Geschichte verwickelt, die mir das Leben kosten wird! – In dem

Augenblick trat Baptiste hinein, bleich und erschrocken, mit der Nachricht, daß Desgrais

draußen sei. Seit dem abscheulichen Prozeß der la Voisin war Desgrais' Erscheinung in einem

Hause der gewisse Vorbote irgend einer peinlichen Anklage, daher kam Baptistes Schreck,

deshalb fragte ihn das Fräulein mit mildem Lächeln: Was ist dir, Baptiste? – Nicht wahr! – der

Name Scuderi befand sich auf der Liste der la Voisin? Ach um Christus willen, erwiderte

Baptiste, am ganzen Leibe zitternd, wie möget Ihr nur so etwas aussprechen, aber Desgrais –

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der entsetzliche Desgrais, tut so geheimnisvoll, so dringend, er scheint es gar nicht erwarten

zu können, Euch zu sehen! – Nun, sprach die Scuderi, nun Baptiste, so führt ihn nur gleich

herein den Menschen, der Euch so fürchterlich ist und der mir wenigstens keine Besorgnis

erregen kann. – Der Präsident, sprach Desgrais, als er ins Gemach getreten, der Präsident la

Regnie schickt mich zu Euch, mein Fräulein, mit einer Bitte, auf deren Erfüllung er gar nicht

hoffen würde, kennte er nicht Eure Tugend, Euern Mut, läge nicht das letzte Mittel, eine böse

Blutschuld an den Tag zu bringen, in Euern Händen, hättet Ihr nicht selbst schon teil

genommen an dem bösen Prozeß, der die Chambre ardente, uns alle in Atem hält. Olivier

Brußon, seitdem er Euch gesehen hat, ist halb rasend. So sehr er schon zum Bekenntnis sich zu

neigen schien, so schwört er doch jetzt aufs neue bei Christus und allen Heiligen, daß er an

dem Morde Cardillacs ganz unschuldig sei, wiewohl er den Tod gern leiden wolle, den er

verdient habe. Bemerkt, mein Fräulein, daß der letzte Zusatz offenbar auf andere Verbrechen

deutet, die auf ihm lasten. Doch vergebens ist alle Mühe, nur ein Wort weiter

herauszubringen, selbst die Drohung mit der Tortur hat nichts gefruchtet. Er fleht, er

beschwört uns, ihm eine Unterredung mit Euch zu verschaffen, Euch nur, Euch allein will er

alles gestehen. Laßt Euch herab, mein Fräulein, Brußons Bekenntnis zu hören. Wie! rief die

Scuderi ganz entrüstet, soll ich dem Blutgericht zum Organ dienen, soll ich das Vertrauen des

unglücklichen Menschen mißbrauchen, ihn aufs Blutgerüst zu bringen? – Nein Desgrais! mag

Brußon auch ein verruchter Mörder sein, nie wär' es mir doch möglich, ihn so spitzbübisch zu

hintergehen. Nichts mag ich von seinen Geheimnissen erfahren, die wie eine heilige Beichte

in meiner Brust verschlossen bleiben würden. Vielleicht, versetzte Desgrais mit einem feinen

Lächeln, vielleicht, mein Fräulein, ändert sich Eure Gesinnung, wenn Ihr Brußon gehört habt.

Batet Ihr den Präsidenten nicht selbst, er sollte menschlich sein? Er tut es, indem er dem

törichten Verlangen Brußons nachgibt und so das letzte Mittel versucht, ehe er die Tortur

verhängt, zu der Brußon längst reif ist. Die Scuderi schrak unwillkürlich zusammen. Seht, fuhr

Desgrais fort, seht, würdige Dame, man wird Euch keineswegs zumuten, noch einmal in jene

finsteren Gemächer zu treten, die Euch mit Grausen und Abscheu erfüllen. In der Stille der

Nacht, ohne alles Aufsehen bringt man Olivier Brußon wie einen freien Menschen zu Euch in

Euer Haus. Nicht einmal belauscht, doch wohl bewacht, mag er Euch dann zwanglos alles

bekennen. Daß Ihr für Euch selbst nichts von dem Elenden zu fürchten habt, dafür stehe ich

Euch mit meinem Leben ein. Er spricht von Euch mit inbrünstiger Verehrung. Er schwört, daß

nur das düstre Verhängnis, welches ihm verwehrt habe, Euch früher zu sehen, ihn in den Tod

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gestürzt. Und dann steht es ja bei Euch, von dem, was Euch Brußon entdeckt, so viel zu sagen,

als Euch beliebt. Kann man Euch zu mehrerem zwingen?

Die Scuderi sah tief sinnend vor sich nieder. Es war ihr, als müsse sie der höheren Macht

gehorchen, die den Aufschluß irgend eines entsetzlichen Geheimnisses von ihr verlange, als

könne sie sich nicht mehr den wunderbaren Verschlingungen entziehen, in die sie willenlos

geraten. Plötzlich entschlossen sprach sie mit Würde: Gott wird mir Fassung und

Standhaftigkeit geben; führt den Brußon her, ich will ihn sprechen.

So wie damals, als Brußon das Kästchen brachte, wurde um Mitternacht an die Haustür der

Scuderi gepocht. Baptiste, von dem nächtlichen Besuch unterrichtet, öffnete. Eiskalter

Schauer überlief die Scuderi, als sie an den leisen Tritten, an dem dumpfen Gemurmel

wahrnahm, daß die Wächter, die den Brußon gebracht, sich in den Gängen des Hauses

verteilten.

Endlich ging leise die Türe des Gemachs auf. Desgrais trat herein, hinter ihm Olivier Brußon,

fesselfrei, in anständigen Kleidern. Hier ist, sprach Desgrais, sich ehrerbietig verneigend, hier

ist Brußon, mein würdiges Fräulein! und verließ das Zimmer.

Brußon sank vor der Scuderi nieder auf beide Knie, flehend erhob er die gefalteten Hände,

indem häufige Tränen ihm aus den Augen rannen.

Die Scuderi schaute erblaßt, keines Wortes mächtig, auf ihn herab. Selbst bei den entstellten,

ja durch Gram, durch grimmen Schmerz verzerrten Zügen strahlte der reine Ausdruck des

treusten Gemüts aus dem Jünglingsantlitz. Je länger die Scuderi ihre Augen auf Brußons

Gesicht ruhen ließ, desto lebhafter trat die Erinnerung an irgend eine geliebte Person hervor,

auf die sie sich nur nicht deutlich zu besinnen vermochte. Alle Schauer wichen von ihr, sie

vergaß, daß Cardillacs Mörder vor ihr kniee, sie sprach mit dem anmutigen Tone des ruhigen

Wohlwollens, der ihr eigen: Nun Brußon, was habt Ihr mir zu sagen? Dieser, noch immer

kniend, seufzte auf vor tiefer, inbrünstiger Wehmut und sprach dann: O mein würdiges, mein

hochverehrtes Fräulein, ist denn jede Spur der Erinnerung an mich verflogen? Die Scuderi, ihn

noch aufmerksamer betrachtend, erwiderte, daß sie allerdings in seinen Zügen die

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Ähnlichkeit mit einer von ihr geliebten Person gefunden, und daß er nur dieser Ähnlichkeit es

verdanke, wenn sie den tiefen Abscheu vor dem Mörder überwinde und ihn ruhig anhöre.

Brußon, schwer verletzt durch diese Worte, erhob sich schnell und trat, den finstern Blick zu

Boden gesenkt, einen Schritt zurück. Dann sprach er mit dumpfer Stimme: Habt Ihr denn Anne

Guiot ganz vergessen? – ihr Sohn Olivier – der Knabe, den Ihr oft auf Euren Knien schaukeltet,

ist es, der vor Euch steht. O um aller Heiligen willen! rief die Scuderi, indem sie mit beiden

Händen das Gesicht bedeckend in die Polster zurücksank. Das Fräulein hatte wohl Ursache

genug, sich auf diese Weise zu entsetzen. Anne Guiot, die Tochter eines verarmten Bürgers,

war von klein auf bei der Scuderi, die sie, wie die Mutter das liebe Kind, erzog mit aller Treu

und Sorgfalt. Als sie nun herangewachsen, fand sich ein hübscher sittiger Jüngling, Claude

Brußon geheißen, ein, der um das Mädchen warb. Da er nun ein grundgeschickter Uhrmacher

war, der sein reichliches Brot in Paris finden mußte, Anne ihn auch herzlich liebgewonnen

hatte, so trug die Scuderi gar kein Bedenken, in die Heirat ihrer Pflegetochter zu willigen. Die

jungen Leute richteten sich ein, lebten in stiller, glücklicher Häuslichkeit, und was den

Liebesbund noch fester knüpfte war die Geburt eines wunderschönen Knaben, der holden

Mutter treues Ebenbild.

Einen Abgott machte die Scuderi aus dem kleinen Olivier, den sie stunden-, tagelang der

Mutter entriß, um ihn zu liebkosen, zu hätscheln. Daher kam es, daß der Junge sich ganz an sie

gewöhnte und ebensogern bei ihr war, als bei der Mutter. Drei Jahre waren vorüber, als der

Brotneid der Kunstgenossen Brußons es dahin brachte, daß seine Arbeit mit jedem Tage

abnahm, so daß er zuletzt kaum sich kümmerlich ernähren konnte. Dazu kam die Sehnsucht

nach seinem schönen heimatlichen Genf, und so geschah es, daß die kleine Familie dorthin

zog, des Widerstrebens der Scuderi, die alle nur mögliche Unterstützung versprach,

unerachtet. Noch ein paarmal schrieb Anne an ihre Pflegemutter, dann schwieg sie, und diese

mußte glauben, daß das glückliche Leben in Brußons Heimat das Andenken an die früher

verlebten Tage nicht mehr aufkommen lasse.

Es waren jetzt gerade dreiundzwanzig Jahre her, als Brußon mit seinem Weibe und Kinde Paris

verlassen und nach Genf gezogen.

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O entsetzlich, rief die Scuderi, als sie sich einigermaßen wieder erholt hatte, o entsetzlich! –

Olivier bist du? – der Sohn meiner Anne! – Und jetzt! – Wohl, versetzte Olivier ruhig und

gefaßt, wohl, mein würdiges Fräulein, hättet Ihr nimmermehr ahnen können, daß der Knabe,

den Ihr wie die zärtlichste Mutter hätscheltet, dem Ihr, auf Eurem Schoß ihn schaukelnd,

Näscherei auf Näscherei in den Mund stecktet, dem Ihr die süßesten Namen gabt, zum

Jüngling gereift dereinst vor Euch stehen würde, gräßlicher Blutschuld angeklagt! – Ich bin

nicht vorwurfsfrei, die Chambre ardente kann mich mit Recht eines Verbrechens zeihen; aber,

so wahr ich selig zu sterben hoffe, sei es auch durch des Henkers Hand, rein bin ich von jeder

Blutschuld, nicht durch mich, nicht durch mein Verschulden fiel der unglückliche Cardillac! –

Olivier geriet bei diesen Worten in ein Zittern und Schwanken. Stillschweigend wies die

Scuderi auf einen kleinen Sessel, der Olivier zur Seite stand. Er ließ sich langsam nieder.

Ich hatte Zeit genug, fing er an, mich auf die Unterredung mit Euch, die ich als die letzte Gunst

des versöhnten Himmels betrachte, vorzubereiten und so viel Ruhe und Fassung zu gewinnen

als nötig, Euch die Geschichte meines entsetzlichen, unerhörten Mißgeschicks zu erzählen.

Erzeigt mir die Barmherzigkeit, mich ruhig anzuhören, so sehr Euch auch die Entdeckung

eines Geheimnisses, das Ihr gewiß nicht geahnt, überraschen, ja mit Grausen erfüllen mag. –

Hätte mein armer Vater Paris doch niemals verlassen! – So weit meine Erinnerung an Genf

reicht, finde ich mich wieder, von den trostlosen Eltern mit Tränen benetzt, von ihren Klagen,

die ich nicht verstand, selbst zu Tränen gebracht. Später kam mir das deutliche Gefühl, das

volle Bewußtsein des drückenden Mangels, des tiefen Elends, in dem meine Eltern lebten.

Mein Vater fand sich in allen seinen Hoffnungen getäuscht. Von tiefem Gram niedergebeugt,

erdrückt, starb er in dem Augenblick, als es ihm gelungen war, mich bei einem Goldschmied

als Lehrjungen unterzubringen. Meine Mutter sprach viel von Euch, sie wollte Euch alles

klagen, aber dann überfiel sie die Mutlosigkeit, welche vom Elend erzeugt wird. Das und auch

wohl falsche Scham, die oft an dem todwunden Gemüte nagt, hielt sie von ihrem Entschluß

zurück. Wenige Monden nach dem Tode meines Vaters folgte ihm meine Mutter ins Grab.

Arme Anne! arme Anne! rief die Scuderi von Schmerz überwältigt. Dank und Preis der ewigen

Macht des Himmels, daß sie hinüber ist und nicht fallen sieht den geliebten Sohn unter der

Hand des Henkers, mit Schande gebrandmarkt. So schrie Olivier laut auf, indem er einen

wilden entsetzlichen Blick in die Höhe warf. Es wurde draußen unruhig, man ging hin und her.

Ho, ho, sprach Olivier mit einem bittern Lächeln, Desgrais weckt seine Spießgesellen, als ob

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ich hier entfliehen könnte. – Doch weiter! – Ich wurde von meinem Meister hart gehalten,

unerachtet ich bald am besten arbeitete, ja wohl endlich den Meister weit übertraf. Es begab

sich, daß einst ein Fremder in unsere Werkstatt kam, um einiges Geschmeide zu kaufen. Als

der nun einen schönen Halsschmuck sah, den ich gearbeitet, klopfte er mir mit freundlicher

Miene auf die Schulter, indem er, den Schmuck beäugelnd, sprach: Ei, ei! mein junger Freund,

das ist ja ganz vortreffliche Arbeit. Ich wüßte in der Tat nicht, wer Euch noch anders

übertreffen sollte als René Cardillac, der freilich der erste Goldschmied ist, den es auf der Welt

gibt. Zu dem solltet Ihr hingehen; mit Freuden nimmt er Euch in seine Werkstatt, denn nur Ihr

könnt ihm beistehen in seiner kunstvollen Arbeit und nur von ihm allein könnt Ihr dagegen

noch lernen. Die Worte des Fremden waren tief in meine Seele gefallen. Ich hatte keine Ruhe

mehr in Genf, mich zog es fort mit Gewalt. Endlich gelang es mir, mich von meinem Meister los

zu machen. Ich kam nach Paris. René Cardillac empfing mich kalt und barsch. Ich ließ nicht

nach, er mußte mir Arbeit geben, so geringfügig sie auch sein mochte. Ich sollte einen kleinen

Ring fertigen. Als ich ihm die Arbeit brachte, sah er mich starr an mit seinen funkelnden

Augen, als wollt' er hineinschauen in mein Innerstes. Dann sprach er: Du bist ein tüchtiger,

wackerer Geselle, du kannst zu mir ziehen und mir helfen in der Werkstatt. Ich zahle dir gut,

du wirst mit mir zufrieden sein. Cardillac hielt Wort. Schon mehrere Wochen war ich bei ihm,

ohne Madelon gesehen zu haben, die, irr' ich nicht, auf dem Lande bei irgend einer Muhme

Cardillacs damals sich aufhielt. Endlich kam sie. O du ewige Macht des Himmels, wie geschah

mir, als ich das Engelsbild sah! – Hat je ein Mensch so geliebt als ich! Und nun! – O Madelon!

Olivier konnte vor Wehmut nicht weiter sprechen. Er hielt beide Hände vors Gesicht und

schluchzte heftig. Endlich mit Gewalt den wilden Schmerz, der ihn erfaßt, niederkämpfend

sprach er weiter.

Madelon blickte mich an mit freundlichen Augen. Sie kam öfter und öfter in die Werkstatt. Mit

Entzücken gewahrte ich ihre Liebe. So streng der Vater uns bewachte, mancher verstohlne

Händedruck galt als Zeichen des geschlossenen Bundes, Cardillac schien nichts zu merken. Ich

gedachte, hätte ich erst seine Gunst gewonnen, und konnte ich die Meisterschaft erlangen,

um Madelon zu werben. Eines Morgens, als ich meine Arbeit beginnen wollte, trat Cardillac

vor mich hin, Zorn und Verachtung im finstern Blick. Ich bedarf deiner Arbeit nicht mehr, fing

er an, fort aus dem Hause noch in dieser Stunde und laß dich nie mehr vor meinen Augen

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sehen. Warum ich dich hier nicht mehr dulden kann, brauche ich dir nicht zu sagen. Für dich

armen Schlucker hängt die süße Frucht zu hoch, nach der du trachtest! Ich wollte reden, er

packte mich aber mit starker Faust und warf mich zur Türe hinaus, daß ich niederstürzte und

mich hart verwundete an Kopf und Arm. – Empört, zerrissen vom grimmen Schmerz verließ

ich das Haus und fand endlich am äußersten Ende der Vorstadt St. Martin einen gutmütigen

Bekannten, der mich aufnahm in seine Bodenkammer. Ich hatte keine Ruhe, keine Rast. Zur

Nachtzeit umschlich ich Cardillacs Haus, wähnend, daß Madelon meine Seufzer, meine Klagen

vernehmen, daß es ihr vielleicht gelingen werde, mich vom Fenster herab unbelauscht zu

sprechen. Allerlei verwegene Pläne kreuzten in meinem Gehirn, zu deren Ausführung ich sie

zu bereden hoffte. An Cardillacs Haus in der Straße Nicaise schließt sich eine hohe Mauer mit

Blenden und alten, halb zerstückelten Steinbildern darin. Dicht bei einem solchen Steinbilde

stehe ich in einer Nacht und sehe hinauf nach den Fenstern des Hauses, die in den Hof gehen,

den die Mauer einschließt. Da gewahre ich plötzlich Licht in Cardillacs Werkstatt. Es ist

Mitternacht, nie war sonst Cardillac zu dieser Stunde wach, er pflegte sich auf den Schlag neun

Uhr zur Ruhe zu begeben. Mir pochte das Herz vor banger Ahnung, ich denke an irgend ein

Ereignis, das mir vielleicht den Eingang bahnt. Doch gleich verschwindet das Licht wieder. Ich

drücke mich an das Steinbild, in die Blende hinein, doch entsetzt pralle ich zurück, als ich

einen Gegendruck fühle, als sei das Bild lebendig worden. In dem dämmernden Schimmer der

Nacht gewahre ich nun, daß der Stein sich langsam dreht und hinter demselben eine finstre

Gestalt hervorschlüpft, die leisen Trittes die Straße hinabgeht. Ich springe an das Steinbild

hinan, es steht wie zuvor dicht an der Mauer. Unwillkürlich, wie von einer innern Macht

getrieben, schleiche ich hinter der Gestalt her. Gerade bei einem Marienbilde schaut die

Gestalt sich um, der volle Schein der hellen Lampe, die vor dem Bilde brennt, fällt ihr ins

Antlitz. Es ist Cardillac! Eine unbegreifliche Angst, ein unheimliches Grauen überfällt mich.

Wie durch Zauber fest gebannt muß ich fort – nach – dem gespenstischen Nachtwanderer.

Dafür halte ich den Meister, unerachtet nicht die Zeit des Vollmonds ist, in der solcher Spuk

die Schlafenden betört. Endlich verschwindet Cardillac seitwärts in den tiefen Schatten. An

einem kleinen, mir wohlbekannten Räuspern gewahre ich indessen, daß er in die Einfahrt

eines Hauses getreten ist. Was bedeutet das, was wird er beginnen? – So frage ich mich selbst

voll Erstaunen und drücke mich dicht an die Häuser. Nicht lange dauert's, so kommt singend

und trillerierend ein Mann daher mit leuchtendem Federbusch und klirrenden Sporen. Wie

ein Tiger auf seinen Raub, stürzt sich Cardillac aus seinem Schlupfwinkel auf den Mann, der in

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demselben Augenblick röchelnd zu Boden sinkt. Mit einem Schrei des Entsetzens springe ich

heran, Cardillac ist über den Mann, der zu Boden liegt, her. Meister Cardillac was tut Ihr, rufe

ich laut. Vermaledeiter! brüllt Cardillac, rennt mit Blitzesschnelle bei mir vorbei und

verschwindet. Ganz außer mir, kaum der Schritte mächtig, nähere ich mich dem

Niedergeworfenen. Ich knie bei ihm nieder, vielleicht, denk' ich, ist er noch zu retten, aber

keine Spur des Lebens ist mehr in ihm. In meiner Todesangst gewahre ich kaum, daß mich die

Marechaussee umringt hat. Schon wieder einer von den Teufeln niedergestreckt – he, he –

junger Mensch, was machst du da – bist einer von der Bande? – fort mit dir! So schrien sie

durcheinander und packen mich an. Kaum vermag ich zu stammeln, daß ich solche gräßliche

Untat ja gar nicht hätte begehen können, und daß sie mich in Frieden ziehen lassen möchten.

Da leuchtet mir einer ins Gesicht und ruft lachend: Das ist Olivier Brußon, der

Goldschmiedsgeselle, der bei unserm ehrlichen, braven Meister René Cardillac arbeitet! – ja –

der wird die Leute auf der Straße morden! – sieht mir recht danach aus – ist recht nach der Art

der Mordbuben, daß sie beim Leichnam lamentieren und sich fangen lassen werden. – Wie

war's Junge? – erzähle dreist. Dicht vor mir, sprach ich, sprang ein Mensch auf den dort los,

stieß ihn nieder und rannte blitzschnell davon, als ich laut aufschrie. Ich wollt' doch sehen, ob

der Niedergeworfene noch zu retten wäre. Nein, mein Sohn, ruft einer von denen, die den

Leichnam aufgehoben, der ist hin, durchs Herz, wie gewöhnlich, geht der Dolchstich. Teufel,

spricht ein anderer, kamen wir doch wieder zu spät wie vorgestern; damit entfernen sie sich

mit dem Leichnam.

Wie mir zumute war, kann ich gar nicht sagen; ich fühlte mich an, ob nicht ein böser Traum

mich necke, es war mir, als müßt' ich nun gleich erwachen und mich wundern über das tolle

Trugbild. – Cardillac – der Vater meiner Madelon, ein verruchter Mörder! – Ich war kraftlos auf

die steinernen Stufen eines Hauses gesunken. Immer mehr und mehr dämmerte der Morgen

herauf, ein Offiziershut, reich mit Federn geschmückt, lag vor mir auf dem Pflaster. Cardillacs

blutige Tat, auf der Stelle begangen, wo ich saß, ging vor mir hell auf. Entsetzt rannte ich von

dannen.

Ganz verwirrt, beinahe besinnungslos sitze ich in meiner Dachkammer, da geht die Tür auf und

René Cardillac tritt herein. Um Christus willen! was wollt Ihr? schrie ich ihm entgegen. Er, das

gar nicht achtend, kommt auf mich zu und lächelt mich an mit einer Ruhe und Leutseligkeit,

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die meinen innern Abscheu vermehrt. Er rückt einen alten, gebrechlichen Schemel heran und

setzt sich zu mir, der ich nicht vermag, mich von dem Strohlager zu erheben, auf das ich mich

geworfen. Nun Olivier, fängt er an, wie geht es dir, armer Junge? Ich habe mich in der Tat

garstig übereilt, als ich dich aus dem Hause stieß, du fehlst mir an allen Ecken und Enden. Eben

jetzt habe ich ein Werk vor, das ich ohne deine Hilfe gar nicht vollenden kann. Wie wär's, wenn

du wieder in meiner Werkstatt arbeitetest? – Du schweigst? – Ja ich weiß, ich habe dich

beleidigt. Nicht verhehlen wollt' ich's dir, daß ich auf dich zornig war, wegen der Liebelei mit

meiner Madelon. Doch recht überlegt habe ich mir das Ding nachher und gefunden, daß bei

deiner Geschicklichkeit, deinem Fleiß, deiner Treue ich mir keinen bessern Eidam wünschen

kann als eben dich. Komm also mit mir und siehe zu, wie du Madelon zur Frau gewinnen magst.

Cardillacs Worte durchschnitten mir das Herz, ich erbebte vor seiner Bosheit, ich konnte kein

Wort hervorbringen. Du zauderst, fuhr er nun fort mit scharfem Ton, indem seine funkelnden

Augen mich durchbohrten, du zauderst? – du kannst vielleicht heute noch nicht mit mir

kommen, du hast andere Dinge vor! – du willst vielleicht Desgrais besuchen oder dich gar

einführen lassen bei d'Argenson oder la Regnie. Nimm dich in acht, Bursche, daß die Krallen,

die du hervorlocken willst zu anderer Leute Verderben, dich nicht selbst fassen und zerreißen.

Da macht sich mein tief empörtes Gemüt plötzlich Luft. Mögen die, rufe ich, mögen die, die

sich gräßlicher Untat bewußt sind, jene Namen fühlen, die Ihr eben nanntet, ich darf das nicht

– ich habe nichts mit ihnen zu schaffen. Eigentlich, spricht Cardillac weiter, eigentlich, Olivier,

macht es dir Ehre, wenn du bei mir arbeitest, bei mir, dem berühmten Meister seiner Zeit,

überall hochgeachtet wegen seiner Treue und Rechtschaffenheit, so daß jede böse

Verleumdung schwer zurückfallen würde auf das Haupt des Verleumders. – Was nun Madelon

betrifft, so muß ich dir nur gestehen, daß du meine Nachgiebigkeit ihr allein verdankest. Sie

liebt dich mit einer Heftigkeit, die ich dem zarten Kinde gar nicht zutrauen konnte. Gleich als

du fort warst, fiel sie mir zu Füßen, umschlang meine Knie und gestand unter tausend Tränen,

daß sie ohne dich nicht leben könne. Ich dachte, sie bilde sich das nur ein, wie es denn bei

jungen verliebten Dingern zu geschehen pflegt, daß sie gleich sterben wollen, wenn das erste

Milchgesicht sie freundlich anblickt. Aber in der Tat, meine Madelon wurde siech und krank,

und wie ich ihr denn das tolle Zeug ausreden wollte, rief sie hundertmal deinen Namen. Was

konnt' ich endlich tun, wollt' ich sie nicht verzweifeln lassen. Gestern Abend sagt' ich ihr, ich

willige in alles und werde dich heute holen. Da ist sie über Nacht aufgeblüht wie eine Rose

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und harrt nun auf dich ganz außer sich vor Liebessehnsucht. – Mag es mir die ewige Macht des

Himmels verzeihen, aber selbst weiß ich nicht, wie es geschah, daß ich plötzlich in Cardillacs

Hause stand, daß Madelon laut aufjauchzend: Olivier – mein Olivier – mein Geliebter – mein

Gatte! auf mich gestürzt, mich mit beiden Armen umschlang, mich fest an ihre Brust drückte,

daß ich im Übermaß des höchsten Entzückens bei der Jungfrau und allen Heiligen schwor, sie

nimmer, nimmer zu verlassen!«

Erschüttert von dem Andenken an diesen entscheidenden Augenblick mußte Olivier

innehalten. Die Scuderi, von Grausen erfüllt über die Untat eines Mannes, den sie für die

Tugend, die Rechtschaffenheit selbst gehalten, rief: Entsetzlich! – René Cardillac gehört zu der

Mordbande, die unsere gute Stadt so lange zur Räuberhöhle machte? Was sagt Ihr, mein

Fräulein, sprach Olivier, zur Bande? Nie hat es eine solche Bande gegeben. Cardillac allein war

es, der mit verruchter Tätigkeit in der ganzen Stadt seine Schlachtopfer suchte und fand. Daß

er es allein war, darin liegt die Sicherheit, womit er seine Streiche führte, die unüberwundene

Schwierigkeit, dem Mörder auf die Spur zu kommen. – Doch laßt mich fortfahren, der Verfolg

wird Euch die Geheimnisse des verruchtesten und zugleich unglücklichsten aller Menschen

aufklären. – Die Lage, in der ich mich nun bei dem Meister befand, jeder mag die sich leicht

denken. Der Schritt war geschehen, ich konnte nicht mehr zurück. Zuweilen war es mir, als sei

ich selbst Cardillacs Mordgehilfe geworden, nur in Madelons Liebe vergaß ich die innere Pein,

die mich quälte, nur bei ihr konnt' es mir gelingen, jede äußere Spur namenlosen Grams

wegzutilgen. Arbeitete ich mit dem Alten in der Werkstatt, nicht ins Antlitz vermochte ich

ihm zu schauen, kaum ein Wort zu reden vor dem Grausen, das mich durchbebte in der Nähe

des entsetzlichen Menschen, der alle Tugenden des treuen, zärtlichen Vaters, des guten

Bürgers erfüllte, während die Nacht seine Untaten verschleierte. Madelon, das fromme,

engelsreine Kind, hing an ihm mit abgöttischer Liebe. Das Herz durchbohrt' es mir, wenn ich

daran dachte, daß, träfe einmal die Rache den entlarvten Bösewicht, sie ja, mit aller höllischen

List des Satans getäuscht, der gräßlichsten Verzweiflung unterliegen müsse. Schon das

verschloß mir den Mund, und hätt' ich den Tod des Verbrechers darum dulden müssen.

Unerachtet ich aus den Reden Marechaussee genug entnehmen konnte, waren mir Cardillacs

Untaten, ihr Motiv, die Art, sie auszuführen, ein Rätsel: die Aufklärung blieb nicht lange aus.

Eines Tages war Cardillac, der sonst, meinen Abscheu erregend, bei der Arbeit in der

heitersten Laune, scherzte und lachte, sehr ernst und in sich gekehrt. Plötzlich warf er das

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Geschmeide, woran er eben arbeitete, beiseite, daß Stein und Perlen auseinander rollten,

stand heftig auf und sprach: Olivier! – es kann zwischen uns beiden nicht so bleiben, dies

Verhältnis ist mir unerträglich. – Was der feinsten Schlauheit Desgrais' und seiner

Spießgesellen nicht gelang zu entdecken, das spielte dir der Zufall in die Hände. Du hast mich

geschaut in der nächtlichen Arbeit, zu der mich mein böser Stern treibt, kein Widerstand ist

möglich. – – Auch dein böser Stern war es, der dich mir folgen ließ, der dich in

undurchdringliche Schleier hüllte, der deinem Fußtritt die Leichtigkeit gab, daß du unhörbar

wandeltest wie das kleinste Tier, so daß ich, der ich in der tiefsten Nacht klar schaue wie der

Tiger, der ich Straßen weit das kleinste Geräusch, das Sumsen der Mücke vernehme, dich nicht

bemerkte. Dein böser Stern hat dich, meinen Gefährten, mir zugeführt. An Verrat ist, so wie du

jetzt stehst, nicht mehr zu denken. Darum magst du alles wissen. Nimmermehr werd' ich dein

Gefährte sein, heuchlerischer Bösewicht. So wollt' ich aufschreien, aber das innere Entsetzen,

das mich bei Cardillacs Worten erfaßt, schnürte mir die Kehle zu. Statt der Worte vermochte

ich nur einen unverständlichen Laut auszustoßen. Cardillac setzte sich wieder in seinen

Arbeitsstuhl. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne. Er schien, von der Erinnerung des

Vergangenen hart berührt, sich mühsam zu fassen. Endlich fing er an: Weise Männer sprechen

viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem

wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. Von

meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als sie mit mir im ersten

Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu, das in

Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Kavalier in spanischer Kleidung mit einer

blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden

konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein

überirdisches Gut dünkten. Derselbe Kavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter

noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit Abscheu zurückgewiesen

worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sei er im Glanz der

strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier

bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu

sein als vormals. Er wußte sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen

einsamen Ort zu locken. Dort schlug er sie brünstig in seine Arme, meine Mutter faßte nach

der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riß meine Mutter mit

sich zu Boden. Sei es, daß ihn der Schlag plötzlich getroffen, oder aus einer andern Ursache;

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genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskrampf

erstarrten Armen des Leichnams zu entwinden. Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen,

auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes Hilfegeschrei

drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten und sie retteten aus den

Armen des grausigen Liebhabers. Das Entsetzen warf meine Mutter auf ein schweres

Krankenlager. Man gab sie, mich verloren, doch sie gesundete und die Entbindung war

glücklicher, als man je hätte ahnen können. Aber die Schrecken jenes fürchterlichen

Augenblicks hatten mich getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken

hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften

entzündet. Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes

Geschmeide über alles. Man hielt das für gewöhnliche kindische Neigung. Aber es zeigte sich

anders, denn als Knabe stahl ich Gold und Juwelen, wo ich ihrer habhaft werden konnte. Wie

der geübteste Kenner unterschied ich aus Instinkt unechtes Geschmeide von echtem. Nur

dieses lockte mich, unechtes sowie geprägtes Gold ließ ich unbeachtet liegen. Den

grausamsten Züchtigungen des Vaters mußte die angeborne Begierde weichen. Um nur mit

Gold und edlen Steinen hantieren zu können, wandte ich mich zur Goldschmieds-Profession.

Ich arbeitete mit Leidenschaft und wurde bald der erste Meister dieser Art. Nun begann eine

Periode, in der der angeborne Trieb, so lange niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und

mit Macht wuchs, alles um sich her wegzehrend. Sowie ich ein Geschmeide gefertigt und

abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit –

Lebensmut raubte. – Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person, für die ich gearbeitet,

mir vor Augen, geschmückt mit meinem Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die

Ohren: Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten! –

Da legt' ich mich endlich auf Diebeskünste. Ich hatte Zutritt in den Häusern der Großen, ich

nützte schnell die Gelegenheit, kein Schloß widerstand meinem Geschick und bald war der

Schmuck, den ich gearbeitet, wieder in meinen Händen. – Aber nun vertrieb selbst das nicht

meine Unruhe. Jene unheimliche Stimme ließ sich dennoch vernehmen und höhnte mich und

rief: Ho ho, dein Geschmeide trägt ein Toter! – Selbst wußte ich nicht, wie es kam, daß ich

einen unaussprechlichen Haß auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern

regte sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. – In dieser Zeit kaufte ich

dieses Haus. Ich war mit dem Besitzer handelseinig geworden, hier in diesem Gemach saßen

wir erfreut über das geschlossene Geschäft beisammen und tranken eine Flasche Wein. Es war

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Nacht geworden, ich wollte aufbrechen, da sprach mein Verkäufer: Hört, Meister René, ehe Ihr

fortgeht, muß ich Euch mit einem Geheimnis dieses Hauses bekannt machen. Darauf schloß er

jenen in die Mauer eingeführten Schrank auf, schob die Hinterwand fort, trat in ein kleines

Gemach, bückte sich nieder, hob eine Falltür auf. Eine steile, schmale Treppe stiegen wir

hinab, kamen an ein schmales Pförtchen, das er aufschloß, traten hinaus in den freien Hof. Nun

schritt der alte Herr, mein Verkäufer, hinan an die Mauer, schob an einem nur wenig

hervorragenden Eisen, und alsbald drehte sich ein Stück Mauer los, so daß ein Mensch bequem

durch die Öffnung schlüpfen und auf die Straße gelangen konnte. Du magst einmal das

Kunststück sehen, Olivier, das wahrscheinlich schlaue Mönche des Klosters, welches ehemals

hier lag, fertigen ließen, um heimlich aus- und einschlüpfen zu können. Es ist ein Stück Holz,

nur von außen gemörtelt und getüncht, in das von außenher eine Bildsäule, auch nur von Holz,

doch ganz wie Stein, eingefügt ist, welches sich mitsamt der Bildsäule auf verborgenen

Angeln dreht. – Dunkle Gedanken stiegen in mir auf, als ich diese Einrichtung sah, es war mir,

als sei vorgearbeitet solchen Taten, die mir selbst noch ein Geheimnis blieben. Eben hatt' ich

einem Herrn vom Hofe einen reichen Schmuck abgeliefert, der, ich weiß es, einer

Operntänzerin bestimmt war. Die Todesfolter blieb nicht aus – das Gespenst hing sich an

meine Schritte – der lispelnde Satan an mein Ohr! – Ich zog ein in das Haus. In blutigem

Angstschweiß gebadet, wälzte ich mich schlaflos auf dem Lager! Ich seh' im Geiste den

Menschen zu der Tänzerin schleichen mit meinem Schmuck. Voller Wut springe ich auf –

werfe den Mantel um – steige herab die geheime Treppe – fort durch die Mauer nach der

Straße Nicaise. – Er kommt, ich falle über ihn her, er schreit auf, doch von hinten festgepackt

stoße ich ihm den Dolch ins Herz – der Schmuck ist mein! – Dies getan fühlte ich eine Ruhe,

eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die

Stimme des Satans schwieg. Nun wußte ich, was mein böser Stern wollte, ich mußt' ihm

nachgeben oder untergehen! – Du begreifst jetzt mein ganzes Tun und Treiben, Olivier! –

Glaube nicht, daß ich darum, weil ich tun muß, was ich nicht lassen kann, jenem Gefühl des

Mitleids, des Erbarmens, was in der Natur des Menschen bedingt sein soll, rein entsagt habe.

Du weißt, wie schwer es mir wird, einen Schmuck abzuliefern; wie ich für manche, deren Tod

ich nicht will, gar nicht arbeite, ja wie ich sogar, weiß ich, daß am morgenden Tage Blut mein

Gespenst verbannen wird, heute es bei einem tüchtigen Faustschlage bewenden lasse, der

den Besitzer meines Kleinods zu Boden streckt und mir dieses in die Hand liefert. – Dies alles

gesprochen führte mich Cardillac in das heimliche Gewölbe und gönnte mir den Anblick

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seines Juwelen-Kabinetts. Der König besitzt es nicht reicher. Bei jedem Schmuckstück war auf

einem kleinen daran gehängten Zettel genau bemerkt, für wen es gearbeitet, wann es durch

Diebstahl, Raub oder Mord genommen worden. An deinem Hochzeitstage, sprach Cardillac

dumpf und feierlich, an deinem Hochzeitstage, Olivier, wirst du mir, die Hand gelegt auf des

gekreuzigten Christus Bild, einen heiligen Eid schwören, sowie ich gestorben, alle diese

Reichtümer in Staub zu vernichten durch Mittel, die ich dir bekannt machen werde. Ich will

nicht, daß irgend ein menschliches Wesen und am wenigsten Madelon und du, in den Besitz

des mit Blut erkauften Horts komme. Gefangen in diesem Labyrinth des Verbrechens,

zerrissen von Liebe und Abscheu, von Wonne und Entsetzen, war ich dem Verdammten zu

vergleichen, dem ein holder Engel mild lächelnd hinaufwinkt, aber mit glühenden Krallen

festgepackt hält ihn der Satan, und des frommen Engels Liebeslächeln, in dem sich alle

Seligkeit des hohen Himmels abspiegelt, wird ihm zur grimmigsten seiner Qualen. – Ich

dachte an Flucht – ja an Selbstmord – aber Madelon! – Tadelt mich, tadelt mich, mein

würdiges Fräulein, daß ich zu schwach war, mit Gewalt eine Leidenschaft niederzukämpfen,

die mich an das Verbrechen fesselte; aber büße ich nicht dafür mit schmachvollem Tode? –

Eines Tages kam Cardillac nach Hause ungewöhnlich heiter. Er liebkoste Madelon, warf mir die

freundlichsten Blicke zu, trank bei Tische eine Flasche edlen Weins, wie er es nur an hohen

Fest- und Feiertagen zu tun pflegte, sang und jubilierte. Madelon hatte uns verlassen, ich

wollte in die Werkstatt: Bleib sitzen, Junge, rief Cardillac, heut' keine Arbeit mehr, laß uns

noch eins trinken auf das Wohl der allerwürdigsten, vortrefflichsten Dame in Paris. Nachdem

ich mit ihm angestoßen und er ein volles Glas geleert hatte, sprach er: Sag' an, Olivier! wie

gefallen dir die Verse:

Un amant qui craint les voleurs

n'est point digne d'amour.

Er erzählte nun, was sich in den Gemächern der Maintenon mit Euch und dem König begeben

und fügte hinzu, daß er Euch von jeher verehrt habe, wie sonst kein menschliches Wesen, und

daß Ihr, mit solch hoher Tugend begabt, vor der der böse Stern kraftlos erbleiche, selbst den

schönsten von ihm gefertigten Schmuck tragend, niemals ein böses Gespenst, Mordgedanken

in ihm erregen würdet. Höre, Olivier, sprach er, wozu ich entschlossen. Vor langer Zeit sollt'

ich Halsschmuck und Armbänder fertigen für Henriette von England und selbst die Steine

dazu liefern. Die Arbeit gelang mir wie keine andere, aber es zerriß mir die Brust, wenn ich

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daran dachte, mich von dem Schmuck, der mein Herzenskleinod geworden, trennen zu

müssen. Du weißt der Prinzessin unglücklichen Tod durch Meuchelmord. Ich behielt den

Schmuck und will ihn als ein Zeichen meiner Ehrfurcht, meiner Dankbarkeit dem Fräulein von

Scuderi senden im Namen der verfolgten Bande. – Außerdem, daß die Scuderi das sprechende

Zeichen ihres Triumphs erhält, verhöhne ich auch Desgrais und seine Gesellen, wie sie es

verdienen. – Du sollst ihr den Schmuck hintragen. Sowie Cardillac Euren Namen nannte,

Fräulein, war es, als würden schwarze Schleier weggezogen und das schöne, lichte Bild meiner

glücklichen Kinderzeit ginge wieder auf in bunten, glänzenden Farben. Es kam ein

wunderbarer Trost in meine Seele, ein Hoffnungsstrahl, vor dem die finstern Geister

schwanden. Cardillac mochte den Eindruck, den seine Worte auf mich gemacht, wahrnehmen

und nach seiner Art deuten. Dir scheint, sprach er, mein Vorhaben zu behagen. Gestehen kann

ich wohl, daß eine tief' innere Stimme, sehr verschieden von der, welche Blutopfer verlangt

wie ein gefräßiges Raubtier, mir befohlen hat, daß ich solches tue. – Manchmal wird mir

wunderlich im Gemüte – eine innere Angst, die Furcht vor irgend etwas Entsetzlichem,

dessen Schauer aus einem fernen Jenseits herüber wehen in die Zeit, ergreift mich

gewaltsam. Es ist mir dann sogar, als ob das, was der böse Stern begonnen durch mich, meiner

unsterblichen Seele, die daran keinen Teil hat, zugerechnet werden könne. In solcher

Stimmung beschloß ich, für die heilige Jungfrau in der Kirche St. Eustache eine schöne

Diamanten-Krone zu fertigen. Aber jene unbegreifliche Angst überfiel mich stärker, so oft ich

die Arbeit beginnen wollte, da unterließ ich's ganz. Jetzt ist es mir, als wenn ich der Tugend

und Frömmigkeit selbst demutsvoll ein Opfer bringe und wirksame Fürsprache erflehe, indem

ich der Scuderi den schönsten Schmuck sende, den ich jemals gearbeitet. – Cardillac, mit Eurer

ganzen Lebensweise, mein Fräulein, auf das genaueste bekannt, gab mir nun Art und Weise

sowie die Stunde an, wie und wann ich den Schmuck, den er in ein sauberes Kästchen schloß,

abliefern solle. Mein ganzes Wesen war Entzücken, denn der Himmel selbst zeigte mir durch

den frevelichen Cardillac den Weg, mich zu retten aus der Hölle, in der ich, ein verstoßener

Sünder, schmachte. So dacht' ich. Ganz gegen Cardillacs Willen wollt' ich bis zu Euch dringen.

Als Anne Brußons Sohn, als Euer Pflegling gedacht' ich, mich Euch zu Füßen zu werfen und

Euch alles – alles zu entdecken. Ihr hättet, gerührt von dem namenslosen Elend, das der

armen, unschuldigen Madelon drohte bei der Entdeckung, das Geheimnis geachtet, aber Euer

hoher, scharfsinniger Geist fand gewiß sichre Mittel, ohne jene Entdeckung der verruchten

Bosheit Cardillacs zu steuern. Fragt mich nicht, worin diese Mittel hätten bestehen sollen, ich

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weiß es nicht – aber daß Ihr Madelon und mich retten würdet, davon lag die Überzeugung fest

in meiner Seele, wie der Glaube an die trostreiche Hilfe der heiligen Jungfrau. – Ihr wißt,

Fräulein, daß meine Absicht in jener Nacht fehlschlug. Ich verlor nicht die Hoffnung, ein

andermal glücklicher zu sein. Da geschah es, daß Cardillac plötzlich alle Munterkeit verlor. Er

schlich trübe umher, starrte vor sich hin, murmelte unverständliche Worte, focht mit den

Händen, Feindliches von sich abwehrend, sein Geist schien gequält von bösen Gedanken. So

hatte er es einen ganzen Morgen getrieben. Endlich setzte er sich an den Werktisch, sprang

unmutig wieder auf, schaute durchs Fenster, sprach ernst und düster: Ich wollte doch,

Henriette von England hätte meinen Schmuck getragen! – Die Worte erfüllten mich mit

Entsetzen. Nun wußt' ich, daß sein irrer Geist wieder erfaßt war von dem abscheulichen

Mordgespenst, daß des Satans Stimme wieder laut worden vor seinen Ohren. Ich sah Euer

Loben bedroht von dem verruchten Mordteufel. Hatte Cardillac nur seinen Schmuck wieder in

Händen, so war't Ihr gerettet. Mit jedem Augenblick wuchs die Gefahr. Da begegnete ich Euch

auf dem Pontneuf, drängte mich an Eure Kutsche, warf Euch jenen Zettel zu, der Euch

beschwor, doch nur gleich den erhaltenen Schmuck in Cardillacs Hände zu bringen. Ihr kamt

nicht. Meine Angst stieg bis zur Verzweiflung, als andern Tags Cardillac von nichts anderm

sprach, als von dem köstlichen Schmuck, der ihm in der Nacht vor Augen gekommen. Ich

konnte das nur auf Euern Schmuck deuten und es wurde mir gewiß, daß er über irgend einem

Mordanschlag brüte, den er gewiß schon in der Nacht auszuführen sich vorgenommen. Euch

retten mußt' ich, und sollt' es Cardillacs Leben kosten. Sowie Cardillac nach dem Abendgebet

sich wie gewöhnlich eingeschlossen, stieg ich durch ein Fenster in den Hof, schlüpfte durch

die Öffnung in der Mauer und stellte mich unfern in den tiefen Schatten. Nicht lange dauerte

es, so kam Cardillac heraus und schlich leise durch die Straße fort. Ich hinter ihm her. Er ging

nach der Straße St. Honoré, mir bebte das Herz. Cardillac war mit einemmal mir

entschwunden. Ich beschloß, mich an Eure Haustüre zu stellen. Da kommt singend und

trillernd, wie damals, als der Zufall mich zum Zuschauer von Cardillacs Mordtat machte, ein

Offizier bei mir vorüber, ohne mich zu gewahren. Aber in demselben Augenblick springt eine

schwarze Gestalt hervor und fällt über ihn her. Es ist Cardillac. Diesen Mord will ich hindern,

mit einem lauten Schrei bin ich in zwei – drei Sätzen zur Stelle. – Nicht der Offizier – Cardillac

sinkt zum Tode getroffen röchelnd zu Boden. Der Offizier läßt den Dolch fallen, reißt den

Degen aus der Scheide, stellt sich, wähnend ich sei des Mörders Geselle, kampffertig mir

entgegen, eilt aber schnell davon, als er gewahrt, daß ich, ohne mich um ihn zu kümmern, nur

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den Leichnam untersuche. Cardillac lebte noch. Ich lud ihn, nachdem ich den Dolch, den der

Offizier hatte fallen lassen, zu mir gesteckt, auf die Schultern und schleppte ihn mühsam fort

nach Hause und durch den geheimen Gang hinauf in die Werkstatt. – Das übrige ist Euch

bekannt, Ihr seht, mein würdiges Fräulein, daß mein einziges Verbrechen nur darin besteht,

daß ich Madelons Vater nicht den Gerichten verriet und so seinen Untaten ein Ende machte.

Rein bin ich von jeder Blutschuld. – Keine Marter wird mir das Geheimnis von Cardillacs

Untaten abzwingen. Ich will nicht, daß der ewigen Macht, die der tugendhaften Tochter des

Vaters gräßliche Blutschuld verschleierte, zum Trotz, das ganze Elend der Vergangenheit,

ihres ganzen Seins noch jetzt tötend auf sie einbreche, daß noch jetzt die weltliche Rache den

Leichnam aufwühle aus der Erde, die ihn deckt, daß noch jetzt der Henker die vermoderten

Gebeine mit Schande brandmarke. – Nein! – mich wird die Geliebte meiner Seele beweinen

als den unschuldig Gefallenen, die Zeit wird ihren Schmerz lindern, aber unüberwindlich

würde der Jammer sein über des geliebten Vaters entsetzliche Taten der Hölle! –

Olivier schwieg, aber nun stürzte plötzlich ein Tränenstrom aus seinen Augen, er warf sich der

Scuderi zu Füßen und flehte: Ihr seid von meiner Unschuld überzeugt – gewiß Ihr seid es! –

Habt Erbarmen mit mir, sagt, wie steht es um Madelon? – Die Scuderi rief die Martiniere, und

nach wenigen Augenblicken flog Madelon an Oliviers Hals. Nun ist alles gut, da du hier bist –

ich wußt' es ja, daß die edelmütigste Dame dich retten würde! So rief Madelon ein Mal über

das andere, und Olivier vergaß sein Schicksal, alles was ihm drohte, er war frei und selig. Auf

das rührendste klagten beide sich, was sie umeinander gelitten und umarmten sich dann aufs

neue und meinten vor Entzücken, daß sie sich wiedergefunden.

Wäre die Scuderi nicht von Oliviers Unschuld schon überzeugt gewesen, der Glaube daran

müßte ihr jetzt gekommen sein, da sie die beiden betrachtete, die in der Seligkeit des

innigsten Liebesbündnisses die Welt vergaßen und ihr Elend und ihr namenloses Leiden. Nein,

rief sie, solch seliger Vergessenheit ist nur ein reines Herz fähig.

Die hellen Strahlen des Morgens brachen durch das Fenster. Desgrais klopfte leise an die Türe

des Gemachs und erinnerte, daß es Zeit sei, Olivier Brußon fortzuschaffen, da ohne Aufsehen

zu erregen das später nicht geschehen könne. Die Liebenden mußten sich trennen. –

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Die dunklen Ahnungen, von denen der Scuderi Gemüt befangen seit Brußons erstem Eintritt

in ihr Haus, hatten sich nun zum Leben gestaltet auf furchtbare Weise. Den Sohn ihrer

geliebten Anne sah sie schuldlos verstrickt auf eine Art, daß ihn vom schmachvollen Tod zu

retten kaum denkbar schien. Sie ehrte des Jünglings Heldensinn, der lieber schuldbeladen

sterben, als ein Geheimnis verraten wollte, das seiner Madelon den Tod bringen mußte. Im

ganzen Reiche der Möglichkeit fand sie kein Mittel, den Ärmsten dem grausamen

Gerichtshofe zu entreißen. Und doch stand es fest in ihrer Seele, daß sie kein Opfer scheuen

müsse, das himmelschreiende Unrecht abzuwenden, das man zu begehen im Begriffe war. –

Sie quälte sich mit allerlei Entwürfen und Plänen, die bis an das Abenteuerliche streiften und

die sie ebenso schnell verwarf als auffaßte. Immer mehr verschwand jeder

Hoffnungsschimmer, so daß sie verzweifeln wollte. Aber Madelons unbedingtes kindliches

Vertrauen, die Verklärung, mit der sie von dem Geliebten sprach, der nun bald, freigesprochen

von jeder Schuld, sie als Gattin umarmen werde, richtete die Scuderi in eben dem Grad

wieder auf, als sie davon bis tief ins Herz gerührt wurde.

Um nun endlich etwas zu tun, schrieb die Scuderi an la Regnie einen langen Brief, worin sie

ihm sagte, daß Olivier Brußon ihr auf die glaubwürdigste Weise seine völlige Unschuld an

Cardillacs Tode dargetan habe, und daß nur der heldenmütige Entschluß, ein Geheimnis in das

Grab zu nehmen, dessen Enthüllung die Unschuld und Tugend selbst verderben würde, ihn

zurückhalte, dem Gericht ein Geständnis abzulegen, das ihn von dem entsetzlichen Verdacht

nicht allein, daß er Cardillac ermordet, sondern, daß er auch zur Bande verruchter Mörder

gehöre, befreien müsse. Alles was glühender Eifer, was geistvolle Beredsamkeit vermag, hatte

die Scuderi aufgeboten, la Regnies hartes Herz zu erweichen. Nach wenigen Stunden

antwortete la Regnie, wie es ihn herzlich freue, wenn Olivier Brußon sich bei seiner hohen,

würdigen Gönnerin gänzlich gerechtfertigt habe. Was Oliviers heldenmütigen Entschluß

betreffe, ein Geheimnis, das sich auf die Tat beziehe, mit ins Grab nehmen zu wollen, so tue es

ihm leid, daß die Chambre ardente dergleichen Heldenmut nicht ehren könne, denselben

vielmehr durch die kräftigsten Mittel zu brechen suchen müsse. Nach drei Tagen hoffe er im

Besitz des seltsamen Geheimnisses zu sein, das wahrscheinlich geschehene Wunder an den

Tag bringen werde.

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Nur zu gut wußte die Scuderi, was der fürchterliche la Regnie mit jenen Mitteln, die Brußons

Heldenmut brechen sollten, meinte. Nun war es gewiß, daß die Tortur über den

Unglücklichen verhängt war. In der Todesangst fiel der Scuderi endlich ein, daß, um nur

Aufschub zu erlangen, der Rat eines Rechtsverständigen dienlich sein könne. Pierre Arnaud

d'Andilly war damals der berühmteste Advokat in Paris. Seiner tiefen Wissenschaft, seinem

umfassenden Verstande war seine Rechtschaffenheit, seine Tugend gleich. Zu dem begab sich

die Scuderi und sagte ihm alles, so weit es möglich war, ohne Brußons Geheimnis zu verletzen.

Sie glaubte, daß d'Andilly mit Eifer sich des Unschuldigen annehmen werde, ihre Hoffnung

wurde aber auf das bitterste getäuscht. D'Andilly hatte ruhig alles angehört und erwiderte

dann lächelnd mit Boileaus Worten: Le vrai peut quelque fois n'être pas vraisemblable. – Er

bewies der Scuderi, daß die auffallendsten Verdachtsgründe wider Brußon sprächen, daß la

Regnies Verfahren keineswegs grausam und übereilt zu nennen, vielmehr ganz gesetzlich sei,

ja daß er nicht anders handeln könne, ohne die Pflichten des Richters zu verletzen. Er,

d'Andilly, selbst getraue sich nicht durch die geschickteste Verteidigung Brußon von der

Tortur zu retten. Nur Brußon selbst könne das entweder durch aufrichtiges Geständnis oder

wenigstens durch die genaueste Erzählung der Umstände bei dem Morde Cardillacs, die dann

vielleicht erst zu neuen Ausmittelungen Anlaß geben würden. So werfe ich mich dem Könige

zu Füßen und flehe um Gnade, sprach die Scuderi außer sich mit von Tränen halb erstickter

Stimme. Tut das, rief d'Andilly, tut das nun um des Himmels willen nicht, mein Fräulein! – Spart

Euch dieses letzte Hilfsmittel auf, das, schlug es einmal fehl, Euch für immer verloren ist. Der

König wird nimmer einen Verbrecher der Art begnadigen, der bitterste Vorwurf des

gefährdeten Volks würde ihn treffen. Möglich ist es, daß Brußon durch Entdeckung seines

Geheimnisses oder sonst Mittel findet, den wider ihn streitenden Verdacht aufzuheben. Dann

ist es Zeit, des Königs Gnade zu erflehen, der nicht danach fragen, was vor Gericht bewiesen

ist, oder nicht, sondern seine innere Überzeugung zu Rate ziehen wird. – Die Scuderi mußte

dem tieferfahrnen d'Andilly notgedrungen beipflichten. – In tiefem Kummer versenkt,

sinnend und sinnend, was um der Jungfrau und aller Heiligen willen sie nun anfangen solle,

um den unglücklichen Brußon zu retten, saß sie am späten Abend in ihrem Gemach, als die

Martiniere eintrat und den Grafen von Miossens, Obristen von der Garde des Königs, meldete

der dringend wünsche, das Fräulein zu sprechen.

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Verzeiht, sprach Miossens, indem er sich mit soldatischem Anstande verbeugte, verzeiht,

mein Fräulein, wenn ich Euch so spät, so zu ungelegener Zeit überlaufe. Wir Soldaten machen

es nicht anders, und zudem bin ich mit zwei Worten entschuldigt. – Olivier Brußon führt mich

zu Euch. Die Scuderi, hochgespannt, was sie jetzt wieder erfahren werde, rief laut: Olivier

Brußon? der Unglücklichste aller Menschen? – was habt Ihr mit dem? – Dacht' ich's doch,

sprach Miossens lächelnd weiter, daß Eures Schützlings Namen hinreichen wurde, mir bei

Euch ein geneigtes Ohr zu verschaffen. Die ganze Welt ist von Brußons Schuld überzeugt. Ich

weiß, daß Ihr eine andere Meinung hegt, die sich freilich nur auf die Beteurungen des

Angeklagten stützen soll, wie man gesagt hat. Mit mir ist es anders. Niemand als ich kann

besser überzeugt sein von Brußons Unschuld an dem Tode Cardillacs. Redet, o redet, rief die

Scuderi, indem ihr die Augen glänzten vor Entzücken. Ich, sprach Miossens mit Nachdruck, ich

war es selbst, der den alten Goldschmied niederstieß in der Straße St. Honoré unfern Eurem

Hause. Um aller Heiligen willen Ihr – Ihr! rief die Scuderi. Und, fuhr Miossens fort, und ich

schwöre es Euch, mein Fräulein, daß ich stolz bin auf meine Tat. Wisset, daß Cardillac der

verruchteste, heuchlerische Bösewicht, daß er es war, der in der Nacht heimtückisch mordete

und raubte und so lange allen Schlingen entging. Ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ein

innerer Verdacht sich in mir gegen den alten Bösewicht regte, als er voll sichtbarer Unruhe

den Schmuck brachte, den ich bestellt, als er sich genau erkundigte, für wen ich den Schmuck

bestimmt und als er auf recht listige Art meinen Kammerdiener ausgefragt hatte, wann ich

eine gewisse Dame zu besuchen pflege. – Längst war es mir aufgefallen, daß die unglücklichen

Schlachtopfer der abscheulichen Raubgier alle dieselbe Todeswunde trugen. Es war mir

gewiß, daß der Mörder auf den Stoß, der augenblicklich töten mußte, eingeübt war und darauf

rechnete. Schlug der fehl, so galt es den gleichen Kampf. Dies ließ mich eine

Vorsichtsmaßregel brauchen, die so einfach ist, daß ich nicht begreife, wie andere nicht längst

darauf fielen und sich retteten von dem bedrohlichen Mordwesen. Ich trug einen leichten

Brustharnisch unter der Weste. Cardillac fiel mich von hinten an. Er umfaßte mich mit

Riesenkraft, aber der sicher geführte Stoß glitt ab an dem Eisen. In demselben Augenblick

entwand ich mich ihm und stieß ihm den Dolch, den ich in Bereitschaft hatte, in die Brust. Und

Ihr schwiegt, fragte die Scuderi, Ihr zeigtet den Gerichten nicht an, was geschehen? Erlaubt,

sprach Miossens weiter, erlaubt, mein Fräulein, zu bemerken, daß eine solche Anzeige mich,

wo nicht geradezu ins Verderben, doch in den abscheulichen Prozeß verwickeln konnte.

Hätte la Regnie, überall Verbrechen witternd, mir's denn geradehin geglaubt, wenn ich den

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rechtschaffenen Cardillac, das Muster aller Frömmigkeit und Tugend, des versuchten Mordes

angeklagt? Wie, wenn das Schwert der Gerechtigkeit seine Spitze wider mich selbst gewandt?

Das war nicht möglich, rief die Scuderi. Eure Geburt – Euer Stand – O, fuhr Miossens fort, denkt

doch an den Marschall von Luxemburg, den der Einfall, sich von le Sage das Horoskop stellen zu

lassen, in den Verdacht des Giftmordes und in die Bastille brachte. Nein, beim St. Dionys, nicht

eine Stunde Freiheit, nicht meinen Ohrzipfel geh' ich preis dem rasenden la Regnie, der sein

Messer gern an unser aller Kehlen setzte. Aber so bringt Ihr ja den unschuldigen Brußon aufs

Schaffott? fiel die Scuderi ins Wort. Unschuldig, erwiderte Miossens, unschuldig, mein Fräulein,

nennt Ihr des versuchten Cardillacs Spießgesellen? – der ihm beistand in seinen Taten? der

den Tod hundertmal verdient hat? – Nein in der Tat, der blutet mit Recht, und daß ich Euch,

mein hochverehrtes Fräulein, den wahren Zusammenhang der Sache entdeckte, geschah in

der Voraussetzung, daß Ihr, ohne mich in die Hände der Chambre ardente zu liefern, doch

mein Geheimnis auf irgend eine Weise für Euren Schützling zu nützen verstehen würdet.

Die Scuderi, im Innersten entzückt, ihre Überzeugung von Brußons Unschuld auf solch

entscheidende Weise bestätigt zu sehen, nahm gar keinen Anstand, dem Grafen, der Cardillacs

Verbrechen ja schon kannte, alles zu entdecken und ihn aufzufordern, sich mit ihr zu d'Andilly

zu begeben. Dem sollte unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles entdeckt werden, der

sollte dann Rat erteilen, was nun zu beginnen.

D'Andilly, nachdem die Scuderi ihm alles auf das genaueste erzählt hatte, erkundigte sich

nochmals nach den geringfügigsten Umständen. Insbesondere fragte er den Grafen Miossens,

ob er auch die feste Überzeugung habe, daß er von Cardillac angefallen, und ob er Olivier

Brußon als denjenigen würde wieder erkennen können, der den Leichnam fortgetragen.

Außerdem, erwiderte Miossens, daß ich in der mondhellen Nacht den Goldschmied recht gut

erkannte, habe ich auch bei la Regnie selbst den Dolch gesehen, mit dem Cardillac

niedergestoßen wurde. Es ist der meinige, ausgezeichnet durch die zierliche Arbeit des Griffs.

Nur einen Schritt von ihm stehend, gewahrte ich alle Züge des Jünglings, dem der Hut vom

Kopf gefallen, und würde ihn allerdings wieder erkennen können.

D'Andilly sah schweigend einige Augenblicke vor sich nieder, dann sprach er: Auf

gewöhnlichem Wege ist Brußon aus den Händen der Justiz nun ganz und gar nicht zu retten.

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Er will Madelons halber Cardillac nicht als Mordräuber nennen. Das mag er tun, denn selbst,

wenn es ihm gelingen würde, durch Entdeckung des heimlichen Ausgangs, des

zusammengeraubten Schatzes dies nachzuweisen, müßte ihn doch als Mitverbundenen der

Tod treffen. Dasselbe Verhältnis bleibt stehen, wenn der Graf Miossens die Begebenheit mit

dem Goldschmied, wie sie wirklich sich zutrug, den Richtern entdecken sollte. Aufschub ist

das einzige, wonach getrachtet werden muß. Graf Miossens begibt sich nach der Conciergerie,

läßt sich Olivier Brußon vorstellen und erkennt ihn für den, der den Leichnam Cardillacs

fortschaffte. Er eilt zu la Regnie und sagt: In der Straße St. Honoré sah ich einen Menschen

niederstoßen, ich stand dicht neben dem Leichnam, als ein anderer hinzusprang, sich zum

Leichnam niederbückte, ihn, da er noch Leben spürte, auf die Schultern lud und forttrug. In

Olivier Brußon habe ich diesen Menschen erkannt. Diese Aussage veranlaßt Brußons

nochmalige Vernehmung, Zusammenstellung mit dem Grafen Miossens. Genug, die Tortur

unterbleibt und man forscht weiter nach. Dann ist es Zeit, sich an den König selbst zu wenden.

Euerm Scharfsinn, mein Fräulein! bleibt es überlassen, dies auf die geschickteste Weise zu tun.

Nach meinem Dafürhalten würd' es gut sein, dem Könige das ganze Geheimnis zu entdecken.

Durch diese Aussage des Grafen Miossens werden Brußons Geständnisse unterstützt. Dasselbe

geschieht vielleicht durch geheime Nachforschungen in Cardillacs Hause. Kein Rechtsspruch,

aber des Königs Entscheidung, auf inneres Gefühl, das da, wo der Richter strafen muß, Gnade

ausspricht, gestützt, kann das alles begründen. – Graf Miossens befolgte genau, was d'Andilly

geraten, und es geschah wirklich, was dieser vorhergesehen.

Nun kam es darauf an, den König anzugehen, und dies war der schwierigste Punkt, da er gegen

Brußon, den er allein für den entsetzlichen Raubmörder hielt, welcher so lange Zeit hindurch

ganz Paris in Angst und Schrecken gesetzt hatte, solchen Abscheu hegte, daß er, nur leise

erinnert an den berüchtigten Prozeß, in den heftigsten Zorn geriet. Die Maintenon, ihrem

Grundsatz, dem Könige nie von unangenehmen Dingen zu reden, getreu, verwarf die

Vermittlung, und so war Brußons Schicksal ganz in die Hand der Scuderi gelegt. Nach langem

Sinnen faßte sie einen Entschluß ebenso schnell als sie ihn ausführte. Sie kleidete sich in eine

schwarze Robe von schwerem Seidenzeug, schmückte sich mit Cardillacs köstlichem

Geschmeide, hing einen langen, schwarzen Schleier über und erschien so in den Gemächern

der Maintenon zur Stunde, da oben der König zugegen. Die edle Gestalt des ehrwürdigen

Fräuleins in diesem feierlichen Anzuge hatte eine Majestät, die tiefe Ehrfurcht erwecken

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mußte selbst bei dem losen Volk, das gewohnt ist, in den Vorzimmern sein leichtsinnig nichts

beachtendes Wesen zu treiben. Alles wich scheu zur Seite, und als sie nun eintrat, stand selbst

der König ganz verwundert auf und kam ihr entgegen. Da blitzten ihm die köstlichen

Diamanten des Halsbands, der Armbänder ins Auge und er rief: Beim Himmel, das ist Cardillacs

Geschmeide! Und dann sich zur Maintenon wendend, fügte er mit anmutigem Lächeln hinzu:

Seht, Frau Marquise, wie unsere schöne Braut um ihren Bräutigam trauert. Ei, gnädiger Herr,

fiel die Scuderi wie den Scherz fortsetzend ein, wie würd' es ziemen einer schmerzerfüllten

Braut, sich so glanzvoll zu schmücken? Nein, ich habe mich ganz losgesagt von diesem

Goldschmied und dächte nicht mehr an ihn, träte mir nicht manchmal das abscheuliche Bild,

wie er ermordet dicht bei mir vorübergetragen wurde, vor Augen. Wie, fragte der König, wie!

Ihr habt ihn gesehen, den armen Teufel? Die Scuderi erzählte nun mit kurzen Worten, wie sie

der Zufall (noch erwähnte sie nicht der Einmischung Brußons) vor Cardillacs Haus gebracht, als

eben der Mord entdeckt worden. Sie schilderte Madelons wilden Schmerz, den tiefen

Eindruck, den das Himmelskind auf sie gemacht, die Art, wie sie die Arme unter Zujauchzen

des Volks aus Desgrais' Händen gerettet. Mit immer steigendem und steigendem Interesse

begannen nun die Szenen mit la Regnie – mit Desgrais – mit Olivier Brußon selbst. Der König,

hingerissen von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in der Scuderi Rede glühte,

gewahrte nicht, daß von dem gehässigen Prozeß des ihm abscheulichen Brußons die Rede

war, vermochte nicht ein Wort hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf

Luft machen der innern Bewegung. Ehe er sich's versah, ganz außer sich über das Unerhörte,

was er erfahren und noch nicht vermögend alles zu ordnen, lag die Scuderi schon zu seinen

Füßen und flehte um Gnade für Olivier Brußon. Was tut Ihr, brach der König los, indem er sie

bei beiden Händen faßte und in den Sessel nötigte, was tut Ihr, mein Fräulein! – Ihr überrascht

mich auf seltsame Weise! – Das ist ja eine entsetzliche Geschichte! – Wer bürgt für die

Wahrheit der abenteuerlichen Erzählung Brußons?« Darauf die Scuderi: Miossens' Aussage –

die Untersuchung in Cardillacs Hause – innere Überzeugung – ach! Madelons tugendhaftes

Herz, das gleiche Tugend in dem unglücklichen Brußon erkannte! – Der König, im Begriff,

etwas zu erwidern, wandte sich auf ein Geräusch um, das an der Türe entstand. Louvois, der

eben im andern Gemach arbeitete, sah hinein mit besorglicher Miene. Der König stand auf

und verließ, Louvois folgend, das Zimmer. Beide, die Scuderi, die Maintenon hielten diese

Unterbrechung für gefährlich, denn einmal überrascht, mochte der König sich hüten, in die

gestellte Falle zum zweitenmal zu gehen. Doch nach einigen Minuten trat der König wieder

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hinein, schritt rasch ein paarmal im Zimmer auf und ab, stellte sich dann, die Hände über den

Rücken geschlagen, dicht vor der Scuderi hin und sprach, ohne sie anzublicken, halb leise:

Wohl möcht' ich Eure Madelon sehen! – Darauf die Scuderi: O mein gnädiger Herr, welches

hohen – hohen Glücks würdigt Ihr das arme, unglückliche Kind – ach, nur Eures Winks bedurft'

es ja, die Kleine zu Euren Füßen zu sehen. Und trippelte dann, so schnell sie es in den

schweren Kleidern vermochte, nach der Tür und rief hinaus, der König wolle Madelon

Cardillac vor sich lassen, und kam zurück und weinte und schluchzte von Entzücken und

Rührung. Die Scuderi hatte solche Gunst geahnt, und daher Madelon mitgenommen, die bei

der Marquise Kammerfrau wartete mit einer kurzen Bittschrift in den Händen, die ihr d'Andilly

aufgesetzt. In wenigen Augenblicken lag sie sprachlos dem Könige zu Füßen. Angst –

Bestürzung – scheue Ehrfurcht – Liebe und Schmerz – trieben der Armen rascher und rascher

das siedende Blut durch alle Adern. Ihre Wangen glühten in hohem Purpur – die Augen

glänzten von hellen Tränenperlen, die dann und wann hinabfielen durch die seidenen

Wimpern auf den schönen Lilienbusen. Der König schien betroffen über die wunderbare

Schönheit des Engelskindes. Er hob das Mädchen sanft auf, dann machte er eine Bewegung, als

wolle er ihre Hand, die er gefaßt, küssen. Er ließ sie wieder und schaute das holde Kind an mit

tränenfeuchtem Blick, der von der tiefsten innern Rührung zeugte. Leise lispelte die

Maintenon der Scuderi zu: Sieht sie nicht der la Valliere ähnlich auf ein Haar, das kleine Ding? –

Der König schwelgt in den süßesten Erinnerungen. Euer Spiel ist gewonnen. – So leise dies

auch die Maintenon sprach, doch schien es der König vernommen zu haben. Eine Röte

überflog sein Gesicht, sein Blick streifte bei der Maintenon vorüber, er las die Supplik, die

Madelon ihm überreicht, und sprach dann mild und gütig: Ich wills wohl glauben, daß du, mein

liebes Kind, von deines Geliebten Unschuld überzeugt bist, aber hören wir, was die Chambre

ardente dazu sagt! – Eine sanfte Bewegung mit der Hand verabschiedete die Kleine, die in

Tränen verschwimmen wollte. – Die Scuderi gewahrte zu ihrem Schreck, daß die Erinnerung

an die Valliere, so ersprießlich sie anfangs geschienen, des Königs Sinn geändert hatte, sowie

die Maintenon den Namen genannt. Mocht' es sein, daß der König sich auf unzarte Weise

daran erinnert fühlte, daß er im Begriff stehe, das strenge Recht der Schönheit aufzuopfern,

oder vielleicht ging es dem Könige wie dem Träumer, dem, hart angerufen, die schönen

Zauberbilder, die er zu umfassen gedachte, schnell verschwinden. Vielleicht sah er nun nicht

mehr seine Valliere vor sich, sondern dachte nur an die Soeur Louise de la miséricorde (der

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Valliere Klostername bei den Karmeliternonnen), die ihn peinigte mit ihrer Frömmigkeit und

Buße. – Was war jetzt anders zu tun, als des Königs Beschlüsse ruhig abzuwarten.

Des Grafen Miossens Aussage vor der Chambre ardente war indessen bekannt geworden, und

wie es zu geschehen pflegt, daß das Volk leicht getrieben wird von einem Extrem zum andern,

so wurde derselbe, den man erst als den verruchtesten Mörder verfluchte und den man zu

zerreißen drohte, noch ehe er die Blutbühne bestiegen, als unschuldiges Opfer einer

barbarischen Justiz beklagt. Nun erst erinnerten sich die Nachbarsleute seines tugendhaften

Wandels, der großen Liebe zu Madelon, der Treue, der Ergebenheit mit Leib und Seele, die er

zu dem alten Goldschmied gehegt. – Ganze Züge des Volks erschienen oft auf bedrohliche

Weise vor la Regnies Palast und schrien: Gib uns Olivier Brußon heraus, er ist unschuldig, und

warfen wohl gar Steine nach den Fenstern, so daß la Regnie genötigt war, bei der

Marechaussee Schutz zu suchen vor dem erzürnten Pöbel.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß der Scuderi von Olivier Brußons Prozeß nur das mindeste

bekannt wurde. Ganz trostlos begab sie sich zur Maintenon, die aber versicherte, daß der

König über die Sache schweige, und es gar nicht geraten scheine, ihn daran zu erinnern.

Fragte sie nun noch mit sonderbarem Lächeln, was denn die kleine Valliere mache? so

überzeugte sich die Scuderi, daß tief im Innern der stolzen Frau sich ein Verdruß über eine

Angelegenheit regte, die den reizbaren König in ein Gebiet locken konnte, auf dessen Zauber

sie sich nicht verstand. Von der Maintenon konnte sie daher gar nichts hoffen.

Endlich mit d'Andillys Hilfe gelang es der Scuderi, auszukundschaften, daß der König eine

lange geheime Unterredung mit dem Grafen Miossens gehabt. Ferner, daß Bontems, des

Königs vertrautester Kammerdiener und Geschäftsträger in der Conciergerie gewesen und

mit Brußon gesprochen, daß endlich in einer Nacht ebenderselbe Bontems mit mehreren

Leuten in Cardillacs Hause gewesen und sich lange darin aufgehalten. Claude Patru, der

Bewohner des untern Stocks, versicherte, die ganze Nacht habe es über seinem Kopfe

gepoltert und gewiß sei Olivier dabei gewesen, denn er habe seine Stimme genau erkannt. So

viel war also gewiß, daß der König selbst dem wahren Zusammenhange der Sache

nachforschen ließ, unbegreiflich blieb aber die lange Verzögerung des Beschlusses. La Regnie

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mochte alles aufbieten, das Opfer, das ihm entrissen werden sollte, zwischen den Zähnen

festzuhalten. Das verdarb jede Hoffnung im Aufkeimen.

Beinahe ein Monat war vergangen, da ließ die Maintenon der Scuderi sagen, der König

wünsche sie heute Abend in ihren, der Maintenon, Gemächern zu sehen.

Das Herz schlug der Scuderi hoch auf, sie wußte, daß Brußons Sache sich nun entscheiden

würde. Sie sagte es der armen Madelon, die zur Jungfrau, zu allen Heiligen inbrünstig betete,

daß sie doch nur in dem König die Überzeugung von Brußons Unschuld erwecken möchten.

Und doch schien es, als habe der König die ganze Sache vergessen, denn wie sonst, weilend in

anmutigen Gesprächen mit der Maintenon und der Scuderi, gedachte er nicht mit einer Silbe

des armen Brußons. Endlich erschien Bontems, näherte sich dem Könige und sprach einige

Worte so leise, daß beide Damen nichts davon verstanden. – Die Scuderi erbebte im Innern. Da

stand der König auf, schritt auf die Scuderi zu und sprach mit leuchtenden Blicken: Ich

wünsche Euch Glück, mein Fräulein! – Euer Schützling, Olivier Brußon, ist frei! – Die Scuderi,

der die Tränen aus den Augen stürzten, keines Wortes mächtig, wollte sich dem Könige zu

Füßen werfen. Der hinderte sie daran, sprechend: Geht, geht! Fräulein, Ihr solltet

Parlamentsadvokat sein und meine Rechtshändel ausfechten, denn, beim heiligen Dionys,

Eurer Beredsamkeit widersteht niemand auf Erden. – Doch, fügte er ernster hinzu, doch, wen

die Tugend selbst in Schutz nimmt, mag der nicht sicher sein vor jeder bösen Anklage, vor der

Chambre ardente und allen Gerichtshöfen in der Welt! – Die Scuderi fand nun Worte, die sich

in den glühendsten Dank ergossen. Der König unterbrach sie, ihr ankündigend, daß in ihrem

Hause sie selbst viel feurigerer Dank erwarte, als er von ihr fordern könne, denn

wahrscheinlich umarme in diesem Augenblick der glückliche Olivier schon seine Madelon.

Bontems, so schloß der König, Bontems soll Euch tausend Louis auszahlen, die gebt in meinem

Namen der Kleinen als Brautschatz. Mag sie ihren Brußon, der solch ein Glück gar nicht

verdient, heiraten, aber dann sollen beide fort aus Paris. Das ist mein Wille.

Die Martiniere kam der Scuderi entgegen mit raschen Schritten, hinter ihr her Baptiste, beide

mit vor Freude glänzenden Gesichtern, beide jauchzend, schreiend: Er ist hier – er ist frei! – o

die lieben jungen Leute! Das selige Paar stürzte der Scuderi zu Füßen. O ich habe es ja

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gewußt, daß Ihr, Ihr allein mir den Gatten retten würdet, rief Madelon. Ach der Glaube an

Euch, meine Mutter, stand ja fest in meiner Seele, rief Olivier, und beide küßten der würdigen

Dame die Hände und vergossen tausend heiße Tränen. Und dann umarmten sie sich wieder

und beteuerten, daß die überirdische Seligkeit dieses Augenblicks alle namenlosen Leiden

der vergangenen Tage aufwiege und schworen, nicht voneinander zu lassen bis in den Tod.

Nach wenigen Tagen wurden sie verbunden durch den Segen des Priesters. Wäre es auch

nicht des Königs Wille gewesen, Brußon hätte doch nicht in Paris bleiben können, wo ihn alles

an jene entsetzliche Zeit der Untaten Cardillacs erinnerte, wo irgend ein Zufall das böse

Geheimnis, nun noch mehreren Personen bekannt worden, feindselig enthüllen und sein

friedliches Leben auf immer verstören konnte. Gleich nach der Hochzeit zog er, von den

Segnungen der Scuderi begleitet, mit seinem jungen Weibe nach Genf. Reich ausgestattet

durch Madelons Brautschatz, begabt mit seltener Geschicklichkeit in seinem Handwerk, mit

jeder bürgerlichen Tugend, ward ihm dort ein glückliches, sorgenfreies Leben. Ihm wurden

die Hoffnungen erfüllt, die den Vater getäuscht hatten bis in das Grab hinein.

Ein Jahr war vergangen seit der Abreise Brußons, als eine öffentliche Bekanntmachung

erschien, gezeichnet von Harloy de Chauvalon, Erzbischof von Paris, und von dem

Parlamentsadvokaten Pierre Arnaud d'Andilly, des Inhalts, daß ein reuiger Sünder unter dem

Siegel der Beichte, der Kirche einen reichen geraubten Schatz an Juwelen und Geschmeide

übergeben. Jeder, dem etwa bis zum Ende des Jahres 1680 vorzüglich durch mörderischen

Anfall auf öffentlicher Straße ein Schmuck geraubt worden, solle sich bei d'Andilly melden

und werde, treffe die Beschreibung des ihm geraubten Schmucks mit irgend einem

vorgefundenen Kleinod genau überein, und finde sonst kein Zweifel gegen die

Rechtmäßigkeit des Anspruchs statt, den Schmuck wieder erhalten. – Viele, die in Cardillacs

Liste als nicht ermordet, sondern bloß durch einen Faustschlag betäubt aufgeführt waren,

fanden sich nach und nach bei dem Parlamentsadvokaten ein, und erhielten zu ihrem nicht

geringen Erstaunen das ihnen geraubte Geschmeide zurück. Das übrige fiel dem Schatz der

Kirche zu St. Eustache anheim.