Über das wesen des metastabilen zustandes

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Page 1: Über das Wesen des metastabilen Zustandes

Uber das Wesen des metastabilen Zustandes. Von

F. W. XUSTER.

Unter den ubersattigten Losungen giebt es solche, wclche sich beim Ausschluls von Keimen der Phase, in Bezug auf welche Uber- sattigung vorliegt , unter bestimmten Bedingungen anscheinend unbegrenzt lange aufbewahren lassen. ohne jemals freiwillig diese Phase auszuscheiden. Solche Losungen nennt OSTTYALD metastabi1e.l Daneben giebt es konzentriertere ubersattigte Losungen, in welchen nach kiirzerer oder langerer Zeit auch beini Ausschlufs von K eiuien die fragliche Phase erscheint. Das sind die labilen Losungen. Analoges gilt gewiis auch fur unterkiihlte Fliissigkeiten, Dampfe und der Um- waiidlung fahige krystallisierte Stoffe. Es unterliegt nun lieinem Zweifel, ads obige Definitionen fur die beiden Arten der ubersattigten Losungen eine scharfe Abgrenzung nicht zulassen, wodurch die Be- rechtigung dieser Unterscheidung uberhaupt in Frage gestellt wird. Es hindert nichts, zwischen beiden Arten der Ubersiittiguiig keiiien wesentlichen Unterschied zu sehen , soiidern nur eiiien solchen des Grades. Das Prinzip der Einfachheit verlangt , niclit erforderliche Unterschiecle auch nicht aufzustellen. Es ist deshalb wiederholt und von verschiedenen Seiten ausgesprochen worden, cl;ifs es uberflussig erscheine, den Begriff der metastabileii Systeme in

1 Zei/schr. phys. Chem. 22, 302. - Lehrbuch der allgemeinen Chemie It . 2, 783. - GrundriQ der allgemeinen Chemie (3. Aufl.), S. 329 u. s. n-.

OSTWALD, Lehrbuch 11, 2, 784.

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cler Ciiemie weiterzufuhren.l Auch ich vertrat bis zum Herbst vorigen Jahres diesen Standpunkt, glaube jedoch damals die scharfe Definition fur die metastabile Lijsung und damit ihre Abgrenzung gegen die labile gefunden zu haben.

l3s ist eine bekannte und im Laufe der letzten Jahre wieder- liolt experinientell nachgewiesene Thatsache, dafs die Loslichkeit fester Stoffe (und die analoge Verdampfung von Flussigkeiten) von dem Grade der Verteilung abhangig ist, so zwar, d a k dem feiner 1-erteilten Stoffe die grijlsere Lijslichkeit zukommt. Solange die Zerkleinerung des Stoffes noch keine sehr weitgehende ist , solange der Dnrchmesser der Pulverteilchen noch mehr als einige Mikrons (rnehr als etwa 2 p ) betragt, so lange sind Unterschiede in der Lijslichkeit der verschieden feinen Pulver nicht nachweisbar. Sinkt aber der Durchmesser der Pulverteilchen noch weiter , so nimmt die Lijslichkeit mit fortschreitender Zerteilung melsbar zu, so dafs bei Pulverdurchmessern von 0.1 -0.3 p Loslichkeitszunahmeii von 20-200°/, beobachtet wurden.3 Sollte man auch mit dieseni Feinheitsgrade an das Ende des praktiscli Erreichbaren gekonimen sein, so ist doch anzunehmen, dafs im allgemeinen die Zerkleineruiig der Stoffe noch fortgesetzt gedacht werden konnte, ohne dafs der Stoff aufhijrt zu sein, was er war - und mit fortschreitender Ver- teilung wird auch die Loslichkeit weiter wachsen. Aber die Zer- teilung eines Stoffes wird doch bei einem ganz bestimmten Feinheits- grade Halt machen mussen, wenn nicht der Stof'E als solcher mit scinen ganz bestimmten, ihn charakterisierenden Eigenschaften ver- schwinden soll. Denn zu diesen integrierenden Eigenschaften gehiirt auch eine bestimmte Krystallstruktur, und eine Krystallstruktur kann an eine raumliche Dimension gebunden sein, die von den Dimensionen der feinsten, praktisch erreichbaren Pulver (1 0-4 cm) nicht gar so entfernt zu sein braucht.

Wenn man sich einen Krystall weiter und weiter geteilt denkt, so muls man schlielslich zu einem Krystallchen kommen, von dem sich nichts mehr fortnehmen lafst, ohne drth das Zuriickbleibende

Siehe z. B. L. C. DE COPPET, Bull. SOP. Chim. Prrris [3] 26-26, 358;

W. OSTWALD, Zeitsckr. phys. Chesn. 34 (1900), 495; G. A. HULKTT,

Zeitsclar. phys. Chem. 37 (1901), 406.

RICHARD ABEGG, Zeitschr. phys. Chern. 7, 1100.

Ebendas. 37 (1901), 385.

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aufhort, ein Krystall der fraglichen Art mit allen ihm zukommenden physikalischen Eigenschaften zu sein. Wir wollen diesen denkbar kleinsten und einfachsten Krystall seiner Art einen ,, P r i mi t i v - k r y s t a l l " nerinen. Es wird eine Mindestzahl von Molekeln er- forderlich sein, um einen solchen Primitivkrystall zusammenzusetzen. Diese fur letzteren erforderliche Mindestzahl von Molekeln wird fur die verschiedenen Stoffe sehr verschieden grofs sein. Es wird das nicht nur davon abhangen , welcher Krystallklasse der fragliche Krystall angehort, es wird vor allen Dingen auch darauf ankommen, ob bei dem Aufbau des Krystalles (im Sinne SOHNCRE'S) n u r e i n Punktsystem beteiligt ist, oder ob, wie bei den Krystallstruktur- verbindungen (Doppelsalze, Krystallwasserverbindungen u. s. w.), m e h r e r e oder gar v ie le Punktsysteme (verschiedener Stoffe) in- einandergestellt erscheinen. Wahrend die einfachsten Primitivkrystalle nur einige Molekeln (z. B. sechs oder acht) enthalten, werden zuni Aufbau der kompliziertesten (Alaune u. dergl.) mehrere Hundert erforderlich sein. Da nun die Dimension der einzelnen Molekel von der Gr6lsenordnung 10-8 bis 10-7 cm ist, so wird der koni- pliziert zusammengesetzte Primitivkrystall mit eiriem Durchmesser von 10-7 bis 10-6 cm den feinsten, in Rezug auf ihre Loslichkeit untersuchten Pulvern schon merklich nahe kommen. Denken wir uns nun das Pulverisieren so weit fortgesetzt, bis die game Substanz in lauter Primitivkrystalle verwandelt ist, so sind wir bei der maximalen Loslichkeit des Stoffes , der ,,Lijslichkeit der Primitiv- krystalle", angelangt. Werden durch weiteres Zerkleinern aucli noch letztere zerstort, so steigt zwar die Loslichkeit noch, aber es ist jetzt ein anderer Stoff als Bodenkorper vorhanden, denn der erste Stoff ist zugleich mit der fur ihn weventlichen und charak- teristischen Krystallstruktur verschwunden.

Das Gebiet der ,,metastabilen Losung" ist nun einerseits be- grenzt von der gewohnlichen Laslichkeit, der Loslichkeit der grofseren Krystalle oder - exakter - der unbegrenzten Krystallflache, anderer- seits von der Loslichkeit der Primitivkrystalle. Die metastabilen Losungen sind also fur grofsere Krystalle iibersattigt, so dafs letztere in ihnen wachsen, fur Primitivkrystalle aber sind sie ungesattigt, so dals diese in ihnen verschwinden.1 Da nun der Anfang jeder Kry-

Analoges gilt fur Schmelzen, die dicht unterhalb der Schmelztemperatur fur ausgedehnte Krystalle ubersattigt, fur Prirnitivkrystalle aber ungesfittigt sind. Die nbertragung auf der Urnwandlung flibige feste Stoffe dicht unter- halb der Ummandlungstemperetur ergiebt sich von selbst.

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stallisation ein Primitivkrystall sein muk, letzterer sicli aber in iler metastabilen Losung iiicht halten kann, so kann in solcher Losung spontane Krystallisation nicht eintreten, wahrend eingesiite Krystdl- splitter von genugender Dimension durch Fortwachseii die Losung in eine stnbil gesattigte verwandeln.

Wenn liierdurch die Alogrenzung der labilen yon den meta- stabilen Losungeii theoretisch eine scliarfe wird, so ist das praktisch nicht der Fall. Denn gerade so wenig wie in einem Gasraume an tillen Punkten gleiche Xonzeritration des Gases herrscht, gerade so wenig ist eine Losung an allen Punkten gleich konzentriert. Kine Losung, die im Durchschnitt gerade fur die Primitivkrystalle ge- sgttigt ist , wird deshalb fur diese an unendlich vie1 Punkten iiber- sattigt sein, so dals hier znfallig entstandene Prirnitivkrystalie weiter wachsen. Fur diese weitergewachsenen I<ryslllchen ist dann die 1)urchschnittslosung ubersattigt , so dafs die bereits gewachseiien Krystallchen weiter wachsen konnen , auch wenn in ihrer unmittel- txtren Umgebung die vorubergehende iiberdurchschnittliche Konzen- triltion der durclischnittlichen oder einer auch noch ctwas kleineren Platz gemacht hat.

In einer Losung, deren Konzentration der ,,Loslichkeit tier Primitirkrystalle" entspricht, wird demnach stets spontane Krystnlli- sation eintreten. Geht die Konzentration larigsam zuriick, so wird die Zeit langer und bald beobachtbar, welche durclischnittlich wr- streicht, bis an oiner Stelle der Liisung Krystallisation begiimt. Zwischen dieser Zeit und der Konzentration besteht ein Zusammen- hang, der clureh die I V ~ A X W E L L ' S ~ ~ ~ Kurve aus der kinetischen Gas- theorie dargestellt sein diirfte. Theoretisch hart also die Moglich- keit der spontanen Krystallisation hei dauernd fortschreitender Ver- dunnung iiberliaupt nicht suf.

Weiter Itifst sich ein Zusammenhmg nngeben, der nach diesen Torstellungen zwischen der Kompliziertheit des Baues der Primitiv- krystalle unci der Ausdehnung des Gebietes der metastabilen LBsung bestehen mulk Ein Primitivkrystall entsteht dadurch, dak eine gewisse Anzahl von Molekeln in einer ganz bestimmten Stellung zusammentrifft. Diese gewisse Anzahl muk um so gr6lser sein, je komplizierter der Bau des Krystallchens ist. Damit ein Primitiv-

Sielie z. B. OSTWALD, Lehrb. d. allg. Chemie 1, 209.

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krystall weiter wachse, mufs eine Molekel - vielleicht auch einige Molekeln - in ganz bestimmter Stellung auf das Krysvallchen treffen, ehe es im ewigen Werden und Vergehen wieder verschwunden ist. Das Zahlenverhaltnis der Molekeln, welche zur Entstehung des Primitivkrystalles zusammentreffen miissen, zur Molekel - bezm. zu den Molekeln -, welche zum Fortwachsen des Krystallchens giinstig auftreffen mufs, wird nun im allgemeinen um so grolser sein, jc mehr Molekeln der Primitivkrystall enthklt. J e grijfser dieses Zahlen- verhaltnis ist, um so breiter ist aber die Zone der metastsbilen Lijsung. Es miissen also im allgemeinen diejeiiigen Stoffe am leichtesten metastabile Losungen geben, welche die komplixiertesten Primitivkrystalle besitzen.

Hier beginnt die Moglichkeit, die gemachteii Annahmen uiid die a m ihncn hergeleiteten Schliisse durch das Experiment zu prufen. Stoffe, welchen man ihrer chemischen Formel und ihrer Krystallform nach die einfitchst gebauten Primitivkrystalle zuschreiben muf's , mussen a m schwierigsten nietastabil ubersattigte Losungen geben, wahrend bei Stoffen mit sehr komplizierter chemischer Formel, d s o namentlich bei kompliziert zusammangesetzten Krystallstruktur- yerbindungen, dereii Krystalle durch Kombination zahlreicher Punkt- systeme aufgebaut sind, die Zone der metastabil ubersattigten Losung breit sein m u k Die Breite der metastabilen Zone ist naturlich relativ zu messen, bezogen auf die Gesamtkonzentration. 1st eine gesattigte Losung z. B. 6fach normal uiid reicht das Gebiet der metastabilen Ubersattigung bis 6.2fach normal, wahrend eine andere gesattigte Losung einfach normal ist und metastabile Ubersattigung his 1.lfach normal aufweist, so ist bei letzterer Losung die Zone der metastabilen Ubersattigung augenscheinlich verhaltnismaf'sig be- trachtlich grof'ser, als bei ersterer, ohwohl der absolute Konzen- trationsunterschied nur halb so grols ist.

So weit nun das zur Zeit noch sehr luclrenhafte experimentelle Material ein Urteil zulafst, scheint obiger Schluls mit den That- sacheii in bester Ubereinstimmung zu sein. Denn in einfach ge- bauten Krystallen auftretende Stoffe einfacher Zusammensetzung, wie z. B. Chlornatrium, bilden kaum ubersattigte Lasungen, wahrend die Stoffe, von welchen ubersattigte Losungen, die sich gut und lange halten, bekannt sind, durchweg kompliziert krystallisierende, meist Krystallwasser enthaltende Verbindungen sind. Es fehlt, mir

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an Zeit und Neigung, diesen augenscheinlich vorhandenen Be- ziehungen naher nachzuforschen. Vielleicht tritt einer der Fach- genossen , welche der Hrystallographie naher stehen, der Frage naher, ob zwischen der Kompliziertheit im Bau der Primitivkrystalle und der relativen Ausdehnung der Zone der metastabil iibersattigten Losungen der vermutete Zusammenhang besteht.

Clausthal, Laboratorium der Bergakademie, November 1902.

Bei der Redaktion eingegangen am 9. Dezember 1902.