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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel Über die Grenzen der Menschenrechte „An welche Grenzen geraten universelle Menschen- rechte in einem System national- staatlicher Souveränität?“ Autor_innen: Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

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Page 1: Über die Grenzen der Menschenrechte - weiterdenken.de · Arendt hat Grundlegendes zu diesem Thema im zweiten Band von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Kapitel

Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel

Über die Grenzen der Menschenrechte

„An welche Grenzen geraten universelle Menschen-

rechte in einem System national-

staatlicher Souveränität?“

Autor_innen: Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

1 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

I. Einleitung

Zusammengepfercht auf engstem Raum - perspektivloses Leben in Flüchtlingscamps -

Lebensgefahren an der Grenzüberschreitung - stete Erwartung der Abschiebung - miserable

Wohnsituationen - Kriminalisierung und Ressentiments von allen Seiten.

Die Assoziationen beim Begriff „Flüchtling“ sind alles andere als positiv. Dabei kann man sie wohl

kaum als übertriebene Panikmache oder realitätsferne Vorstellungen deuten. Diese Gedanken sind

vielmehr Ausdruck eines Unbehagens, dass einfach etwas nicht stimmt. Dennoch hat dieses

Unbehagen noch nicht dazu geführt, dass sich die Umstände signifikant verbessert haben. Ein

Aspekt ist hierbei wohl die Zuständigkeit. Welches Land muss die Rechte der Flüchtlinge

gewährleisten? Zwar gelten Menschenrechte als universell, doch wer garantiert sie Menschen, die

sich in mehrfacher Hinsicht an der Grenze befinden? Wo liegen die Schranken der Menschenrechte

und welche Einschränkungen führen diese mit sich?

Der vorliegende Aufsatz befasst sich daher mit der Frage, an welche Grenzen die universellen

Menschenrechte in einem System nationalstaatlicher Souveränität geraten. Dabei soll das Wesen

der Konzeption der Menschenrechte beschrieben und Bruchstellen anhand der Flüchtlingsfigur

aufgedeckt werden. Die Forschungsfrage an sich scheint in Zeiten, in denen der Flüchtlings- und

Menschenrechtsdiskurs wieder eine hohe Präsenz hat, auch in der Medienberichterstattung, an

Brisanz zugenommen zu haben. Aktuelle Ereignisse wie der Flüchtlingsmarsch nach Berlin und fast

tägliche Berichte über Übergriffe auf Flüchtlinge oder Todesfälle an den Staatsgrenzen, führen uns

diese Thematik immer wieder vor Augen. In der Politischen Theorie, fernab der medialen Präsenz,

besitzt das Thema auch dahingehend eine gewisse Relevanz, da Menschenrechte beziehungsweise

deren Sicherung, eine tragende Säule demokratischer Verfassungen sind. Die urliberale Idee der

universellen Menschenrechte wird aber immer öfter in unterschiedlichsten Facetten der Kritik

unterzogen. Neben marxistischer oder feministischer Kritik spielen auch postkoloniale

Betrachtungsweisen eine wichtige Rolle in dieser Debatte.

Anhand einer vergleichenden Analyse soll die Forschungsfrage dieser Projektarbeit beantwortet

werden. Als Vergleichsfälle dienen die politischen Philosophien von Hannah Arendt und Giorgio

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2 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Agamben. Beide haben sich aus unterschiedlichen Motivationen heraus mit dem Thema der

Menschenrechte im Rahmen der Flüchtlingsproblematik beschäftigt und diese einer Kritik

unterzogen.

Arendt hat Grundlegendes zu diesem Thema im zweiten Band von „Elemente und Ursprünge

totaler Herrschaft“ im Kapitel über die „Aporien der Menschenrechte“ verfasst. Und Agamben

formulierte im ersten Band seines Hauptwerkes „Homo sacer“ seine Hauptthesen zu dieser

Problematik. Im Anschluss dieser Analyse sollen die herausgearbeiteten Befunde in einer anderen

Theorie aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Die in Yale lehrende Politikwissenschaftlerin

und Philosophin Seyla Benhabib hat dies in ihrem Konzept des kosmopolitischen Föderalismus

getan und soll daher als Anknüpfungspunkt dienen. Als Grundlage wurde vor allem ihr

einflussreiches Werk „Die Rechte der Anderen“ genutzt, weil es als Anstoß für zahlreiche weitere

Beiträge zu dem Thema gilt. Benhabib bezieht sich in ihren Studien auf demokratische Staaten, da

diese die Menschenrechte im moralischen Sinne aufstellen, diese für sich beanspruchen und in der

Praxis aber ihrem Anspruch nicht gerecht werden.

Daraus ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Zunächst sollen die Menschenrechtskritiken von

Arendt und Agamben herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt ist hierbei die Flüchtlingsfigur, die

in beiden Fällen anhand souveränitätstheoretischer Überlegungen gedacht wird, sodass diese auch

kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran werden die Menschenrechtskritiken von der Analyse

der drei Konzepte abgeleitet, das heißt durch die Zusammenführung und Aufeinanderbeziehung der

drei Teile werden die Brüche klar und die Kritik entfaltet sich. Es folgt ein Zusammenführen der

Ergebnisse aus beiden Analysen anhand eines Vergleichs. Durch die zugespitzte Darstellung wird

der zweite Teil der Arbeit vorbereitet. Damit die Kritik nicht unbeantwortet im Raum stehen bleibt,

wird ein Konzept angeführt, welches genau diese Kritik aufgreift - die Überlegungen Benhabibs

zum kosmopolitischen Föderalismus. Auch hier soll die Flüchtlingsfigur zunächst im

Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und Souveränität beschrieben werden. Danach

wird das Konzept des kosmopolitischen Föderalismus vorgestellt und eine konkrete Ausgestaltung

anhand des Fallbeispiels der EU präsentiert. Abschließend soll auch diese Einschätzung bewertet

werden.

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II. Universelle Menschenrechte in der Kritik

1. Hannah Arendt

1.1 Die Flüchtlingsfigur als Belanglosigkeit

Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der Situation von Flüchtlingen und das

Zustandekommen ihres Status gründet auf ihre ganz persönliche Erfahrung als Flüchtling

während des Zweiten Weltkrieges. Als Jüdin musste sie sich der Unterdrückung durch das

totalitäre NS-Regime stellen und floh letztendlich über Frankreich in die USA, wo sie sich als

Migrantin eine neue Existenz aufbauen musste. In ihrem berühmten Aufsatz „Wir

Flüchtlinge“ (Arendt 1989: 7ff.) schildert sie ihre Erlebnisse, in denen immer wieder die

Tatsache eine Rolle spielt, dass ihr als Flüchtling ständig eine neue Identität zugewiesen

wurde, der sie sich fügen musste. Lange Zeit besaß sie keine Staatsbürgerschaft und wurde

entweder als Opfer oder als „feindliche Ausländerin“ in Internierungslagern untergebracht.

Diese wechselnde Einordnung, unter der alle Flüchtlinge zu leiden haben führt bei Arendt zu

einer sogenannten „Weltlosigkeit“ (vgl. Meints-Stender 2007: 256). Das bedeutet, dass

Flüchtlingen ihre Heimat entzogen wird, sie keinerlei Zugehörigkeit besitzen und somit aus

jeglicher Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Durch diesen Ausschluss verlieren sie auch die

Rechte, die einem Menschen in einer politischen Gemeinschaft zugeschrieben werden.

Genauer betrachtet heißt das nicht, dass ihnen zum Beispiel durch den Verlust des Rechts auf

Redefreiheit grundsätzlich untersagt wird sich zu äußern. Vielmehr liegt der Verlust darin,

dass Bedingungen geschaffen wurden, die ihre Rede zu einer belanglosen machen, die nicht

gehört wird. Hannah Arendt orientiert sich hierbei an Aristoteles Sicht des Menschen als

politisches und in Gesellschaft lebendes Wesen und schreibt:

„der Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen involviert in gewissem Sinne den

Verlust der Sprache, zwar nicht in in einem physischen Sinne, wohl aber in dem Sinne, in dem Aristoteles

den Menschen als ein Lebewesen definierte, das sprechen kann; […] die Fähigkeit, im Zusammenleben

durch Sprechen und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen […] Lebens zu

regeln“ (Arendt 1968: 260f.).

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In letzter Instanz führt dieser Ausschluss und die Irrelevanz eines Flüchtlings zu dessen Verlust

der Menschenwürde (vgl. Arendt 1968: 262). Er wird zu einer Figur außerhalb der Zivilisation,

den Hannah Arendt mit einem Barbaren wie im Naturzustand vergleicht (vgl. Arendt 1968:

267).

An diesen Umständen, wie Hannah Arendt sie beschreibt, hat sich auch für Flüchtlinge im 21.

Jahrhundert nichts geändert. Auszeichnend für diese, wie auch schon für die Flüchtlinge des

20. Jahrhunderts ist, dass sie in einen Status, der der Vogelfreiheit gleicht, lediglich durch ihre

Geburt geraten sind. Somit sind sie Unschuldige die mit Rechtlosigkeit bestraft werden (vgl.

Arendt 1968: 257). Ein weiteres Merkmal dieser „modernen Flüchtlinge“ beider Jahrhunderte

ist, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befinden, da ihnen die Anerkennung in einer

neuen Heimat erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Im Sinne Arendts können

Flüchtlinge also bis heute als Staatenlose und Entrechtete definiert werden, die auf ihr bloßes

Leben reduziert wurden. Da sich kein politischer Körper für sie interessiert und für das, was

ihr wahres menschliches Leben ausmacht, sollen sie an dieser Stelle als Belanglosigkeit

bezeichnet werden.

1.2 Nationalstaatliche Souveränität

Der Ausschluss von Flüchtlingen aus der „Familie der Nationen“ (Arendt 1968: 256) ist

bedingt durch ein System von souveränen Nationalstaaten, das sich weltweit etabliert hat.

Seit der Emanzipation der Menschheit können weder Gott noch die Natur als gültige

Rechtsquellen angesehen werden, schreibt Arendt. Der Nationalstaat nimmt stattdessen

diese Aufgaben wahr (vgl. Arendt 1968: 264). Er kann über Zugehörigkeit bestimmen und

garantiert seinen Mitgliedern, als Souverän, gewisse Rechte. Er verfügt jedoch ebenso über

die Macht, anderen das Recht nicht zuzugestehen. Mit dem Begriff „nationalstaatliche

Souveränität“ gibt es jedoch für Arendt gleich zweierlei Probleme. Zum einen sieht sie den

Staat, der Gleichheit unter seinen Mitgliedern garantieren sollte, diese Funktion verlieren,

sobald er zum Nationalstaat wird. Das würde bedeuten, dass das Zugehörigkeitskriterium

kein politisches mehr ist, sondern durch die Hervorhebung der Nation ein ethnisches werden

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würde. Damit wäre die zuvor garantierte Gleichheit aufgehoben (vgl. Cohen 2007). Zum

anderen stößt sich Hannah Arendt an dem Konzept von Souveränität. Sie hielt den ganzen

Diskurs darüber für antipolitisch. Genauso wie Nationalität schaltet Souveränität Pluralismus

aus und zielt nur auf Kontrolle und Machtansprüche ab (vgl. Cohen 2007: 299).

1.3 Universelle Menschenrechte

Durch die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg versuchte man nun den Anspruch auf universell

geltendes Recht von der Rechtsgarantie der Nationalstaaten abzukoppeln. Seit der

französischen Revolution sollen die Menschenrechte das garantieren „was politisch nicht

garantierbar war“ (Arendt 1968: 251). 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der

Menschenrechte verkündet, um dieser Idee einen formellen Rahmen zu geben. Für Hannah

Arendt war das Konzept der universellen Menschenrechte jedoch keine Garantie für eine

zukünftige Gewährung essentieller Rechte für die Ausgeschlossenen und Entrechteten. Allein

der Titel des Aufsatzes in dem sie dies behandelt, die „Aporien der Menschenrechte“ (Arendt

1968: 250ff.) weist auf ihren Konflikt mit dem Konstrukt hin. Menke bezeichnet Arendts

Verständnis zusammenfassend, als

„Verständnis der Menschenrechtsidee [...], das in seinen Prämissen nicht von den Traditionen des

neuzeitlichen Naturrechts oder Liberalismus abhängig ist, sondern wesentliche Grundannahmen dieser

Tradition in Frage stellt“ (Menke 2008: 133).

Besonders durch ihre eigene Erfahrung mit dem Terror im Zweiten Weltkrieg hatte die

Begründung als vorstaatliche und vorpositive Menschenrechte, die sich also rein auf die

Vernunft eines Menschen berufen, für Arendt keinen Halt (vgl. Gosepath 2007: 280). Wie

bereits erläutert sind für sie Gott, die Natur und die menschliche Moral in der emanzipierten

Welt keine Rechtsautorität mehr, das heißt, Rechte können nicht durch das bloße Menschsein

garantiert werden. Daher merkt sie so wie bereits Edmund Burke zur Französischen

Revolution an, dass die Menschenrechte, obwohl sie als Gegensatz zu den Bürgerrechten

aufgestellt wurden, diesen gleichen, sodass sie letztendlich wieder nur für diejenigen gelten,

die sich bereits in einer bestehenden Rechtsordnung befinden (vgl. Anlauf 2007: 302). So

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wären sie positive Rechte innerhalb einer politischen Gemeinschaft, was auch bedeuten

würde, dass sie wiederum territorial begrenzt sind und ihren großgeschriebenen universalen

Anspruch verlieren (vgl. Gosepath 2007: 281). Ein weiteres Funktionsproblem der

Menschenrechte sieht Arendt darin, dass diese als unveräußerlich proklamiert wurden, also

keiner Autorität zur Durchsetzung bedürfen und selbst ohne eine solche immer Geltung

behalten. Sie sieht den Menschen jedoch als Wesen in einer politischen Gemeinschaft und

somit auch nicht isoliert und losgelöst von Autoritäten, die Recht durchsetzen können (vgl.

Arendt 1968: 252).

So stellte Hannah Arendt mehrere Widersprüchlichkeiten heraus, die aufzeigen sollen, an

welche Grenzen das Konzept universeller Menschenrechte stößt und seinem Anspruch nicht

gerecht werden kann. Deutlich muss in ihrer Kritik gemacht werden, dass sie nicht darauf

abzielte die Existenz von Menschenrechten als solche abzulehnen. Ihrer Aussage, es gäbe

keine Menschenrechte schließt sie an, dass es nur ein einziges Menschenrecht geben könne.

Dieses sei das „Recht auf Rechte“ (Arendt 1949: 760). Konkreter stellt das „Recht auf

Rechte“ ein Recht auf Zugehörigkeit dar, also die Zugehörigkeit zu einer politischen

Gemeinschaft. Menschenrechte sind für Arendt eine Artikulation, die ein Mensch in einem

politischen Gemeinwesen haben soll und auch nur dort haben kann (vgl. Menke 2008: 136).

1.4 Nationalstaat – Menschenrechte – Flüchtling

Dass Hannah Arendt sich in ihrer Kritik an den universellen Menschenrechten immer wieder

auf das Beispiel von Flüchtlingen und Staatenlosen beruft, die in einem System aus

Nationalstaaten generiert werden, mag selbstverständlich an der Verarbeitung ihrer eigenen

Erlebnisse liegen. An Aktualität hat das Beispiel jedoch bis heute nichts eingebüßt. Die

Situation der Flüchtlinge zeigt deutlich, wie weit der Anspruch der Menschenrechte und die

Realität auseinanderklaffen. Selbst einer der zentralen Inhalte der Menschenrechte, die

Garantie der Würde, ist nach Arendt durch die Ausgrenzung von Flüchtlingen verloren

gegangen (vgl. Arendt 1968). Ebenso die Gleichheit, mit der laut der

Menschenrechtserklärung ein jeder geboren wurde. Sie wird sowohl durch Ausschluss aus der

Gemeinschaft als auch durch die Zugehörigkeit zu Nationalitäten missachtet. Flüchtlinge

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stellen eine Paradoxie des modernen Nationalstaates dar, der eine einheitliche

Rechtsgemeinde darstellen will, sich aber ebenso innerhalb seiner Grenzen Personen

aufhalten, die aus dieser Gemeinschaft ausgegrenzt sind (vgl. Meints-Stender 2007: 256).

Um Hannah Arendts Kritik an den Menschenrechten und ihr Drängen auf ein „Recht auf

Rechte“ besser begreifen zu können, ist es unabdingbar, ihren Politikbegriff genauer zu

beleuchten. Dieser steht stark im Bezug auf eine gemeinschaftliche Konstitution der

Menschen. Durch ihr Verständnis von Politik bricht Arendt mit der abendländischen Tradition,

indem sie diese als Handeln und nicht als Herrschaft definiert (vgl. Heuer 2006: 7). Diese

Ansicht impliziert auch ihre Ablehnung von Souveränität. So besitzen nicht einzelne

Individuen die Macht, sondern das Handeln zwischen den Menschen führt zur Entstehung

eines öffentlichen, politischen Raums. Gleichzeitig wird durch dieses gemeinsame Handeln

Pluralität geschaffen (vgl. Anlauf 2007: 300f.). Das agieren untereinander bedeutet für Arendt

die Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben. Somit begründet sie auch die

Notwendigkeit, Flüchtlinge in dieses Handeln einzubeziehen und damit auch dem Anspruch

der Menschenrechte auf eine Garantie von Würde gerecht zu werden. Nur gibt es auch bis in

die heutige Zeit keinen Akteur, der Flüchtlingen die Aufnahme in eine Gemeinschaft gewährt

(vgl. Gosepath 2007: 282f.). Diese können durch ihren kompletten Ausschluss nicht

selbstständig einen Ausweg aus ihrer Situation finden.

2. Giorgio Agamben

2.1 Flüchtlingsfigur als Grenzfigur

„Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne

für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist“ (Agamben

2002: 140).

Die Flüchtlingsfigur nimmt bei Agamben eine zentrale Rolle in der Beschreibung von Souveränität

und Politik ein. Aus dem vorangegangenen Zitat lässt sich ablesen, dass der Flüchtling das nackte

Leben verkörpert und somit eine moderne Form des „homini sacri“ darstellt. Dieser ursprünglich

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8 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

aus dem römischen Recht stammende Begriff beschreibt ein Wesen, was getötet, aber nicht

geopfert werden darf. Sein Leben ist heilig, weil es weder in den Bereich des ius humanum noch in

den Bereich des ius divinum fällt. Von beidem ausgenommen, eröffnet sich diesem Wesen die

sacratio als doppelte Ausnahme. Der homo sacer führt ein paradoxes Leben, er bewegt sich auf

einer Schwelle, die weder zur Welt der Lebenden noch zur Welt der Toten gehört. Er ist ein

Todgeweihter, ein überlebender Toter oder ein lebender Toter (vgl. Agamben 2002: 92 f.).

Im Grunde ist das nackte Leben eine Folgeerscheinung der von Aristoteles eingeleiteten

Unterscheidung zwischen zoé (dem natürlichen Leben) und bíos (dem qualifizierten Leben). Zoé,

vergleichbar mit dem nackten Leben des homo sacers, war ursprünglich von der Politik

ausgeschlossen und reiner Gegenstand des oîkos. Ursprünglich außerhalb der Politik, wird das

nackte Leben, so Agamben, in der Moderne in den politischen Körper eingeschlossen (vgl.

Agamben 2002: 19). Die Nacktheit des homo sacers lässt sich davon ableiten, dass er bar aller

Rechte ist und somit ein von der rechtlichen Ordnung ausgeschlossenes menschliches Leben

darstellt. Er kann weder eine gültige Rechtshandlung vollziehen noch politisch mitbestimmen (vgl.

Agamben 2002: 192). Daniel Loick, der sich vor allem mit Agambens Konzept der Souveränität

beschäftigt, fasst den homo sacer als Figur des Ausschlusses zusammen. Andererseits ist der homo

sacer im Paradox der Einschließung durch Ausschließung gefangen (vgl. Loick 2012: 217). Obwohl

er außerhalb des Rechtes steht, ist er doch in diesem eingeschlossen, weil er zumindest

Gegenstand des Rechtes ist, so ist seine Tötung juristisch autorisiert. Er steht außerhalb des

Gesetzes und konstituiert es zugleich. In diesem Widerspruch steckt auch die Bedeutung dieser

scheinbar unbedeutenden Rechtsfigur. Der moderne homo sacer in Form der Flüchtlingsfigur ist

somit die „einzig denkbare Gestalt des Volks und angesichts der Veränderungen, die einzige

Kategorie, in der es vertretbar erscheint, die Formen und Grenzen zukünftiger politischer

Gemeinwesen zu reflektieren“ (Agamben 2001).

Daher kann vom Flüchtling nicht als total Exkludierter gesprochen werden, sondern in Agambens

Sicht nimmt dieser die Rolle der Grenzfigur ein. Ein Wesen, das an der Grenze zum Recht steht,

aber vor allem auch die Grenzen von gewissen Konzepten aufzeigt: von nationalstaatlicher

Souveränität und von Menschenrechten.

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2.2 Nationalstaatliche Souveränität

Agamben stellt weniger ein eigenes Souveränitätskonzept auf, sondern versucht das herkömmliche

Konzept zu erklären und hinter die Geheimnisse zu gelangen, die in diesem verborgen liegen. Sein

Ziel ist es den wahren Kern dieser zu entdecken (vgl. Kalyvas 2005: 107), sodass er eine Kritik der

Souveränität verfasst.

„Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer

zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in dieser Sphäre

eingeschlossen ist“ (Agamben 2002: 93). Das bedeutet, Souveränität ist die Entscheidung über das

nackte Leben, über den homo sacer und somit die Instanz, die dieses nackte Leben produziert.

Agamben formuliert noch schärfer, dass das nackte Leben das stumme Objekt der Souveränität ist,

welches sich in einem Ausnahmezustand befindet, an dem es untergeht (vgl. Agamben 2006: 98).

Der Souverän und der homo sacer sind symmetrisch zueinander und weisen die gleiche Struktur

auf, es besteht eine gewisse Nähe beider. Sie sind vom ius humanum und vom ius divinum

ausgeschlossen, gehören also weder dem menschlichen noch dem göttlichen Recht an und stehen

außerhalb der rechtlichen Sphäre, jedoch auf unterschiedlichen Ebenen. Homo sacer und Souverän

bilden das Kontinuum der Souveränität, dessen Pole einerseits „Leben“ (homo sacer) und

andererseits „Macht“ (Souverän) sind. Loick beschreibt die Interaktion folgendermaßen: Der Status

der Souveränität muss immer wieder durch Gewalt und Anerkennung untermauert werden. Dabei

nimmt der Souverän sein Außen ein, er ergreift es und setzt damit das, was aus der rechtlichen

Ordnung ausgeschlossen ist, in Beziehung zur Souveränität. Jenes, das nicht Gegenstand des

Rechts ist, unterliegt nun dessen Regelungskompetenz (vgl. Loick 2012: 224). Souveränität wird

nicht nur durch Repression oder Zwang ausgeübt, sondern souveräne Macht geht über die

rechtliche Sphäre und juristische Instrumente hinaus und beeinflusst die elementare Beschaffenheit

des Lebens (vgl. Kalyvas 2005: 109). Der Souverän entscheidet über das (nackte) Leben, Kalyvas

spricht daher in Anlehnung an den Begriff der Biopolitik von „bio-sovereignty“ (Kalyvas 2005:

109). Durch die Tatsache, dass das Leben der Menschen in einem politischen Referenzbereich

eingeschlossen ist, besitzt der moderne Staat ein „biopolitisches Fundament“ (Agamben 2001).

Biopolitische Maßnahmen und Eingriffe fungieren als Kern der souveränen Macht und das Leben,

vormals im nichtpolitischen Raum anzusiedeln, rückt nun ins Zentrum des staatlichen Kalküls.

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Dabei geraten die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie durcheinander und es ist genau diese

Zone der Ununterscheidbarkeit, in der sich die eigentliche Stätte der Souveränität manifestiert (vgl.

Kalyvas 2005: 108). Die Frage die sich dabei stellt, ist die nach dem Beginn dieses Prozesses. Wann

hat die Einschreibung des Lebens in die politisch-juridische Ordnung stattgefunden? Agamben sieht

dieses Moment in der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte zur Zeit der Französischen

Revolution von 1789.

2.3 Universelle Menschenrechte

Die französische Menschenrechtserklärung gilt als Verschmelzung des biologischen Lebens mit der

staatlichen Gewalt, weil hierbei zum ersten Mal der Mensch an sich zum irdischen Fundament der

staatlichen Legitimität und der Souveränität gemacht wird und diese nicht mehr von Gottes

Gnaden abzuleiten ist. Alle staatliche Macht leitet sich von den Menschen ab, die frei und gleich an

Rechten geboren werden. Damit wird gleichzeitig auch das biologische Kriterium der Nativität ins

Spiel gebracht. Nicht mehr eine genuin politische Entscheidung, sondern der Umstand der Geburt

bestimmt über die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Das ist die, im wahrsten Sinne

des Wortes, Geburtsstunde der Nation. Damit ist das Schicksal der Menschenrechte unweigerlich an

das des Nationalstaates gebunden, Agamben spricht vom „Nexus Nativität-

Nationalität“ (Agamben 2002: 141) und Loick sieht in diesem Moment gar die „Juridifizierung des

Körpers“ (Loick 2012: 220).

Die Idee des modernen Nationalstaats und damit auch die der Menschenrechte basiert somit auf

der Ursprungsfiktion von der Einheit zwischen Geburt und Nation, von biologischer Abstammung

und politischer Repräsentation (vgl. Heister/ Schwarz 2004: 7). Agamben stellt eine Asymmetrie

zwischen Menschen- und Bürgerrechten fest. So sind Menschenrechte bar und ohne jeglichen

Schutz, wenn sie nicht Rechte eines Staatsbürgers sind, weil sie nur von einem Nationalstaat

garantiert werden können. Die angebliche Vorausschaltung der Menschenrechte den Bürgerrechten

geht nicht auf, erst aus den Bürgerrechten lassen sich universelle Rechte ableiten. Diese Trennung

findet ihr Extrem in der Trennung von Politischen und Humanitären, welche Agamben in der

Tätigkeit von internationalen Hilfsorganisationen sieht (vgl. Agamben 2002: 142).

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11 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Nun ist das Subjekt der Menschenrechte nicht ein mit Würde ausgestatteter Mensch, sondern das

nackte Leben. Dieses soll vor der souveränen Macht geschützt werden, jedoch bewirken

Menschenrechte die „Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ (Agamben 2002: 93).

Der Flüchtling gilt heute als Mensch der Menschenrechte, denn er verkörpert jene, die die

Menschenrechte am nötigsten haben. Dennoch muss der Begriff des Flüchtlings entschlossen von

den Menschenrechten abgelöst werden. Wie es zu diesem Paradox kommt, beschreibt Agamben

durch eine Kritik der Menschenrechte.

2.4 Nationalstaat- Menschenrechte - Flüchtling

Alle pathetischen Flüchtlingsorganisationen haben es nicht geschafft, Flüchtlinge zu schützen und

ihnen gewisse Rechte zu gewähren. Nicht nur, dass diese Organisationen scheitern, sie unterhalten

zudem auch eine „geheime Solidarität mit den Kräften, die sie bekämpfen sollten“ (Agamben

2002: 142). Agamben übt hierbei eine radikale Kritik der Menschenrechte, die nur verständlich

wird, wenn man sich die Konstellation von nationalstaatlicher Souveränität und Menschenrechten

anschaut und die Flüchtlingsfigur darin verortet. Auf einer darstellerischen Ebene könnte die

Konstellation folgendermaßen aussehen. Menschenrechte sind von der Flüchtlingsfigur

abzukoppeln. Sie bilden als Paar ein Paradox und sind voneinander getrennt. Um diese Beziehung

legt sich die nationalstaatliche Souveränität, die scheinbar beide widersprüchlichen Elemente

vereinigt, da sie über die Flüchtlingsfigur bestimmt und die Menschenrechte garantiert. Dennoch

geht die Gleichung „Flüchtlingsfigur = Souveränität = Menschenrechte“ nicht auf. Der Flüchtling

erscheint hierbei als Fundament aber zugleich auch als Krise beider Konzepte.

Welche Bedeutung die Flüchtlingsfigur für die Souveränität einer Nation besitzt, zeigt Agambens

Aussage, dass kein Leben auf der Welt politischer als das des Flüchtlings, also des modernen

hominis sacri, ist. Ausgehend von Agambens Souveränitätskonzeptes ist die Entscheidung über das

nackte Leben die erste Handlung der Politik, und somit die politischste Handlung überhaupt. Diese

Tatsache „macht die Figur des Flüchtlings zur einzig denkbaren Gestalt des Volks und angesichts

der Veränderungen, die einzige Kategorie, in der es vertretbar erscheint, die Formen und Grenzen

zukünftiger politischer Gemeinwesen zu reflektieren“ (Agamben 2001). Agamben geht sogar einen

Schritt weiter und sieht den modernen homo sacer als jene Instanz, die die Grenze zwischen

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Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität und zwischen Geburt und Volk aufbricht.

Damit wird klar, dass der Flüchtling zwar das Begründungsmoment moderner nationalstaatlicher

Souveränität ist, aber gleichzeitig auch deren Bruch darstellt. Ein Beispiel in der Geschichte für

genau diesen Fall ist die Totalität des nationalsozialistischen Regimes, welche deshalb entstanden

ist, weil „Ausnahmefiguren“ im Innern existierten, sei es in Form von Juden und Jüdinnen oder

Homosexuellen, die nicht repräsentiert werden konnten. Deshalb wurden sie staatlich eliminiert

und offenbarten den Bruch der Souveränität dieses totalen Systems.

Auch das Konzept der Menschenrechte gerät durch die Figur des Flüchtlings in eine Krise. In diesem

sollten sich die Vorstellungen der Menschenrechte verkörpern, doch der Begriff des Flüchtlings

muss nun entschlossen von den Menschenrechten abgelöst werden. Diese können ihren Zweck

nicht erfüllen, weil ihre Konzeption im Wesen schon nicht konsistent ist. So rechnen sie mit dem

"Menschen überhaupt" und unterstellen dessen Existenz. Agamben erachtet das als unhaltbare

Annahme. Dies zeigt sich in der Wirkungslosigkeit der Menschenrechte, die nun zum ersten Mal mit

dem „Menschen überhaupt“ konfrontiert sind, die tatsächlich „ jedes andere Recht und jeden

spezifischen Zusammenhang verloren hatten außer ihrem bloßen Menschsein“ (Agamben 2001).

Auch der staatliche Umgang von Nationalstaaten mit dem Status des Flüchtlings widerlegt die

Behauptung der Existenz eines Menschen an sich. Der Flüchtlingsstatus wird immer nur als

vorübergehender gehandhabt, dem früher oder später eine Naturalisierung folgen muss. Diese

Atomisierung des Menschen kritisierte auch schon Karl Marx, welcher von einer Atomisierung des

Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Menschenrechte sprach. Ergänzt wird diese

marxistische Kritik, die sich auf das Innere der Gemeinschaft fokussierte, durch den Aspekt der

Grenzziehung, also durch den Blick auf die Grenzen der Gemeinschaft. Die Entscheidung über die

Mitglieder einer politischen Gemeinschaft geht hierbei mit einer gewaltförmigen Grenzziehung

einher (vgl. Loick 2012: 212). Der Ruf nach der verstärkten Durchsetzung von Menschenrechten gilt

als naiv, weil dabei genau jene als Problemlöser angerufen werden, die das Leben der Flüchtlinge

bedrohen: die Nationalstaaten. Dieses Bestreben ist auch höchst kontraproduktiv, weil es die

tatsächliche Funktionsweise der menschenrechtlichen Konzeption verdeckt. Schließlich muss es den

Moment der Exklusion geben, der überhaupt erst das Recht konstituieren kann (vgl. Loick 2012:

222). Das Verhältnis von Menschenrechten zur Souveränität ist eine weitere Säule in der

Menschenrechtskritik von Agamben. In Tradition zu Marx und Foucault sieht auch Agamben die

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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

13 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Funktion der Menschenrechte nicht als Schutz vor willkürlicher Macht des Souveräns, sondern als

Instrument von diesem. Anhand solcher Rechte, soll die biopolitische Macht ausgeübt und

manifestiert werden (vgl. Schaap 2008: 1). Dementsprechend würde das stärkere Bestreben nach

Menschenrechten die Auslieferung der Menschheit an biopolitische Mächte bewirken.

Schließlich lässt sich Agambens explizite Menschenrechtskritik im Rahmen seiner allgemeinen

Rechtskritik betrachten. So ist das Gewähren von Rechten allgemein eine grundlegende Operation,

bei der Biomacht über das nackte Leben ausgeübt wird (vgl. Kalyvas 2005: 116). Rechte sind allein

ein Phänomen des souveränen Staates. Ohne ihn verlieren sie ihre Legitimität und

Existenzgrundlage. Universelle Menschenrechte, die keinen übergeordneten Nationalstaat haben,

können dementsprechend auch nicht entfaltet werden. Zudem kann man Agamben eine allgemeine

Abneigung gegen formales und prozedurales Recht unterstellen. Dieses sei durch seine Starrheit

nicht in der Lage sich an gesellschaftliche Veränderungen anzupassen und so die ethischen

Vorstellungen einer Gemeinschaft wiederzugeben (vgl. Kalyvas 2005: 117).

3. Vergleich der Menschenrechtskritik bei Arendt und Agamben

Die vorangegangenen Analysen sollen nun zusammengetragen werden. Mit Fokus auf die

Fragestellung nach den Grenzen der Menschenrechte werden Arendts und Agambens

Menschenrechtskritiken vergleichend gegenübergestellt.

Es lassen sich zahlreiche Parallelen im politischen Denken von Agamben und Arendt nachweisen.

Die bedeutenden Unterschiede im Denken beider kommen besonders in ihrer Kritik der

Menschenrechte zum Ausdruck. Hier zeigt sich, dass ausgehend von ähnlichen Prämissen, Arendt

und Agamben dennoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Zuallererst soll die

unterschiedliche Kritik an den Menschenrechten bei beiden herausgestellt werden. Arendt hebt die

Aporien der Menschenrechte hervor, die zum einen in dem Widerspruch zwischen universaler

Geltung und partikularer Durchsetzung besteht und zum anderen in den Menschenrechten selbst

strukturell angelegt sind. Dennoch hält sie am Recht fest. (vgl. Menke 2008: 140). Agambens Kritik

besteht dagegen in einer fundamentalen Kritik am Recht überhaupt. Seine Kritik schließt jegliches

Recht mit ein.

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14 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Der Schwerpunkt bei Arendt liegt vor allem auf der von der Menschenrechtserklärung postulierten

Universalität dieser Rechte. In ihrem Essay „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“ , übt sie

heftige Kritik an der philosophischen Absurdität und politischen Unrealisierbarkeit der Allgemeinen

Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948. Mit deutlichem Sarkasmus stellt sie

fest, dass diese Erklärung jedem Menschen auf der Welt eine Arbeitslosenversicherung und

Altersversicherung garantieren würde (vgl. Arendt 1949: 766). Dieser Erklärung liegt eine nicht

realisierbare normative Forderung nach der Gleichheit aller Menschen zu Grunde, der es an

Realitätssinn mangelt. Zwar geht auch Agamben auf die Erklärung der Menschenrechte (in seinem

Fall die französische Menschenrechtserklärung von 1789) ein, jedoch beleuchtet er diese unter dem

Fokus der Verknüpfungen von Menschenrecht und Souveränität. Vor allem biopolitische

Überlegungen, die bei Arendt kaum eine Rolle spielen, stehen hier im Vordergrund, wenn die Rede

von den Menschenrechten als Verfestigung des biopolitischen Fundaments des Souveräns ist. So sei

dies der Moment in dem das natürliche Leben in die politisch-juridische Ordnung eingeschrieben,

damit politisiert und ins Zentrum der irdischen Souveränität gerückt wurde. Er kritisiert diesen

Moment nicht, sondern hebt seine Bedeutung für die Rolle des nackten Lebens hervor. Seine Kritik

besteht darin, dass die Menschenrechte vom Menschen überhaupt ausgehen, der mit gewissen

unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurde. Das nackte Leben besteht bei Agamben in der Figur

des hominis sacri, jedoch ist dieser nicht mit Rechten ausgestattet, sondern ganz im Gegenteil, von

allen Rechten entkleidet. Und genau diese Figur ist der eigentliche Mensch der Menschenrechte.

Das Paradoxon, was hierbei nun besteht, ist aber, dass dieser Mensch entscheidend von den

Menschenrechten abgekoppelt werden muss, weil diese nur ihre Gültigkeit finden, wenn sie

zugleich auch Bürgerrechte sind. Ohne diese ist der Mensch aus der rechtlichen Sphäre exkludiert

und zugleich durch dieselbe rechtliche Vergegenwärtigung inkludiert (einschließender Ausschluss).

Arendt bezieht ihre Ausführungen stark auf ihren Begriff von Politik. So sind Menschen ohne

Bürgerrechte im Grunde entpolitisert, sie haben kein Recht zu sprechen und sind somit aus der

politischen Sphäre ausgeschlossen. Dieses als inhuman aufgefasste Unvermögen verleitet den Rest

der Welt, sie nicht mehr als menschliche Wesen zu betrachten. Solche Menschen können nur noch

ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies nachweisen, welche jedoch auf der gleichen

reproduktiven Ebene der Tiere steht (vgl. Schaap 2008: 10). Der Mensch der Menschenrechte ist

laut Arendt der Staatsbürger.

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15 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Einen weiteren Kritikpunkt sieht sie im Gleichheitsgedanken. Menschenrechte postulieren, dass

Menschen von Natur aus gleich sind. Sie seien ein „ernsthafter Versuch, das Politische auf die

Natur zu reduzieren“ (Arendt 1974: 138). Diese Naturalisierung entspricht aber nicht den

Grundgedanken der politischen Gemeinschaft, denn Gleichheit ist nur in dieser möglich, wofür sich

Individuen Kraft ihres Willens entschieden haben (vgl. Menke 2008: 136). Eine weitere

Gemeinsamkeit ist die zentrale Rolle der Flüchtlinge beziehungsweise der Staatenlosen in beiden

Theorien. Anhand des Schicksals dieser Menschen haben Arendt als auch Agamben wichtige

Schlüsse für ihr Denken gezogen. Arendt charakterisiert diese Figuren als Belanglosigkeit, weil sie

unfähig zu sprechen keine Rolle in der politischen Sphäre spielen. Ihre Not hat gezeigt, dass die

Welt nichts Heiliges mehr in ihnen gesehen hat, sondern nur noch ihre schiere Existenz. Hingegen

sieht Agamben diese als Grenzfiguren des Rechts, die aber den Kern der Souveränität darstellen.

Ihre Not offenbart die eigentliche Heiligkeit des Lebens.

Doch was bieten Arendt und Agamben als Alternativen an? Arendt spricht vom Recht, Rechte zu

haben als einziges Menschenrecht, was jedem Menschen gewährt werden muss. Dieses Recht lässt

sich als Recht auf Mitgliedschaft zu einer politischen Gemeinschaft beschreiben (vgl. Arendt 1949:

760). Es ist deshalb das einzige Menschenrecht, weil es genau das ist, was die Menschen der

Menschenrechte wirklich brauchen. Solch ein Recht würde tatsächlich einen Unterschied zu den

Bürgerrechten machen und nicht wie die herkömmlichen Menschenrechte einen Unterschied

vortäuschen. Arendt legt damit ein alternatives Menschenrechtsverständnis zu Grunde, das in

seinen Grundprämissen nicht von Traditionen des neuzeitlichen Naturrechts abhängig ist, sondern

die Grundannahmen dieser in Frage stellt (vgl. Menke 2008: 133). Bei Agamben ist die Antwort auf

eine Alternative weniger eindeutig. Seine Kritik ist tiefgründiger, weil seine Kritik der

Menschenrechte Teil einer umfassenderen allgemeinen Rechtskritik ist. Konkrete

Ausgestaltungsformen eines neuen Menschenrechtsverständnis lassen sich nicht interpretieren.

Schaap schreibt dazu „Agamben’s critique of human rights presupposes a messianic appeal to a

radically new form of politics in which the separation or fracture between zoe and bios would be

healed“ (Schaap 2008: 2). Die Radikalität seiner Kritik zeigt sich auch bei der Feststellung, dass

Menschenrechte das Fundament bilden, wonach Demokratien zu totalitären Staaten werden

konnten. Denn diese haben mit totalitären Regimen die Gemeinsamkeit des nackten Lebens als

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16 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

einziger Gegenstand der Souveränität. Der einzige Unterschied zwischen beiden läge dabei nur

noch in der Organisationsform (vgl. Schaap 2008: 13).

III. Neue Perspektiven: Seyla Benhabib

1. Flüchtlinge im Spannungsverhältnis zwischen Souveränität und Menschenrechten

Der Konflikt zwischen nationalstaatlicher Souveränität und dem Anspruch universaler

Menschenrechte, wie ihn Hannah Arendt und Giorgio Agamben Mitte und Ende des 20.

Jahrhunderts bereits diskutiert haben, verliert auch nicht an Relevanz im 21. Jahrhundert.

Besonders die Figur des Flüchtlings spielt dabei weiterhin eine zentrale Rolle. Noch immer ist

dessen Position geprägt von Ausschluss aus jeglichen Gemeinschaften und bestehenden

Rechtsordnungen. Seyla Benhabib ist eine Denkerin, die sich mit dieser Thematik

auseinandergesetzt hat. Ein besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Gegensätzlichkeit

moralischer Ansprüche liberaler Demokratien und der fehlenden Umsetzung dieser Ansprüche in der

Praxis, insbesondere im Bezug auf die Flüchtlingsproblematik. Damit illustriert sie das Bild eines

demokratischen Paradox, oder nach ihrer Bezeichnung eines liberalen Paradox. Das bedeutet, dass

es einen Souverän gibt, der an Vorverpflichtungen gebunden ist, die für alle gelten müssen aber

eigene Souveränitätsansprüche verhindern, dass diese Rechte für alle gelten können (Vgl. Bevc

2007: 281). Mit Blick auf die heutigen, modernen Demokratien kann gesagt werden, dass diese im

Namen universeller Prinzipien handeln. Dennoch besteht ein Volk aus Gliedern, die eine partikulare

Identität für sich beanspruchen (vgl. Benhabib 2008: 38).

In ihrer Analyse stellt Benhabib fest, dass sich die Souveränität des Volkes gewandelt hat. Die drei

klassischen Säulen der Souveränität in der Staatenlehre, das Staatsvolk, das Staatsterritorium und

die Staatsgewalt bestehen heute nicht mehr im ursprünglichen Sinne (vgl. Benhabib 2009: 209).

Das Idealbild des einheitlichen Volkes, des demos besteht nicht mehr und es durchläuft eine

fortlaufende Selbstkonstituierung. Außerdem wurde der territoriale Anspruch durch globale

Interdependenzen aufgeweicht, die zu internationalen Rechtsnormen führen. Durch die

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17 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Veränderung der ersten beiden Säulen ist auch eine veränderte Form demokratischer

Repräsentation nötig. Doch bis es zu einer solchen veränderten Form kommt, bleibt die

Territorialität und die Bindung von Gesetzen an einen Souverän zentral und oberste Kompetenz der

Gesetzgebung. Somit bleibt vorerst das „Paradox demokratischer Legitimität“ bestehen, in dem

Benhabib eine entscheidende Folge erkennt:

„We the people, die wir darin übereinkommen, uns durch diese Gesetze zu binden, definieren uns im Akt der

Selbstgesetzgebung zugleich unmittelbar als ein Wir. […] die Gemeinschaft, die sich durch diese Gesetze

bindet, definiert sich gleichermaßen dadurch, dass sie Grenzen zieht, Grenzen territorialer und

bürgerschaftlicher Art“ (Benhabib 2008: 39).

Damit bleibt es auch in der Kompetenz eines Nationalstaates, über den Ausschluss und Einschluss

von Personen in sein Territorium selbst zu verfügen. Die Menschenrechte bieten zwar ein Recht auf

Emigration, aber können in dem bestehenden Gefüge kein Recht auf Immigration bieten. Benhabib

ist der Meinung, dass jedoch in demokratischen Staaten niemandem auf Dauer Bürgerrechte

verwehrt werden dürfen. Die Staaten dürften zwar die Kriterien für die Einbürgerung aufstellen,

aber sie müssen unbedingt eine Zugehörigkeit garantieren (vgl. Benhabib 2009: 134). Es ist also

eine Herausforderung der heutigen Zeit die Möglichkeit der Aufnahme von Flüchtlingen und die

Einbindung in die demokratische Gesellschaft in einem modernen Staatengefüge gerecht zu regeln.

Auch Hannah Arendt war sich des Dilemmas bewusst. Sie plädierte zwar auf „das Recht auf

Rechte“, konnte aber keine Lösung bieten, wie dieses von der Zugehörigkeit zum partikularen

Gemeinwesen abgekoppelt werden kann (vgl. Benhabib 2004: 68). Seyla Benhabib will dagegen

ein Konzept entwerfen, das zur Wahrung der Menschenrechte für Flüchtlinge in einem souveränen

Nationalstaat führten kann. Sie nennt es „kosmopolitischer Föderalismus“. Das

Spannungsverhältnis, mit dem Arendt und Agamben die Menschenrechtskonzeption kritisieren,

kann so in gewissem Maße verringert werden. Im folgenden Abschnitt sollen ihre Ideen dazu

genauer erörtert werden.

2. Das Konzept des kosmopolitischen Föderalismus

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18 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Die Menschenrechte betrachtet Benhabib im Gegensatz zu Arendt und Agamben nicht als

funktionslosen Rechtekatalog. Sie findet durchaus, dass diese eine relevante Aufgabe erfüllen und

das Verhalten souveräner Staaten lenken können. Durch sie können internationale und nationale

Rechtsordnungen ineinanderfließen und Interdependenzen zwischen diesen verursachen (vgl.

Benhabib 2008: 33). Mit dieser Möglichkeit soll gelernt werden umzugehen, ohne die Idee der

Menschenrechte und deren universelle Geltung grundsätzlich in Frage zu stellen. Benhabib fordert

neue Begründungsstrategien der Menschenrechte und eine veränderte Ableitung deren Inhalte (vgl.

Benhabib 2007: 504). Dabei soll die Idee von Hannah Arendts Forderungen nach einem „Recht auf

Rechte“ eingebunden werden.

Speziell auf Flüchtlinge bezogen erkennt Benhabib selbstverständlich Schwächen der Allgemeinen

Erklärung für Menschenrechte. Sie kritisiert eine fehlende verpflichtende Formulierung einer

Einreiseerlaubnis oder der Gewährung von Staatsbürgerschaft. Auch die Genfer

Flüchtlingskonvention könne laut ihr keine in die Praxis gut umgesetzte Lösung für diese

Personengruppe darstellen (vgl. Benhabib 2008: 36). Wie bereits vorher beschrieben, ist die

Forderung nach einem umsetzbaren Recht auf Staatsangehörigkeit in Benhabibs Argumentation

essentiell. Diese dürfe weder aufgrund der liberalen Tradition der Freiheit eines Menschen

missachtet, noch aufgrund von ethischen oder religiösen Identitäten entsagt werden (vgl. Benhabib

2009: 136ff.). Das Verfahren einer Einbürgerung kann nach Benhabib Angelegenheit einer jeden

Nation selbst bleiben, bisher fehlte es jedoch an der Möglichkeit eines Verfahrens zum Erwerb der

Bürgerrechte (vgl. Benhabib 2009: 139ff.). Durch den kosmopolitischen Föderalismus könne dies

neu entwickelt werden. Um diese Konzeption genauer zu erklären bedarf es einer Erläuterung des

Begriffs und seiner Implikationen.

Der Begriff „Kosmopolitismus“ wird zuweilen sehr verschieden interpretiert. Seyla Benhabib

möchte sich damit Denkern wie James Bohman und Jürgen Habermas anschließen, die aus der

kritischen Theorie stammen. Sie sehen Kosmopolitismus als „eine normative Philosophie, die

diskursethische universalistische Normen über die Grenzen des Nationalstaats

hinausträgt“ (Benhabib 2008: 24). Bei der Entwicklung ihres Konzepts möchte sich Benhabib

jedoch insoweit von der kritischen Theorie abgrenzen, als diese das Paradox umgrenzter

Gemeinwesen vernachlässigt (vgl. Benhabib 2008: 24). Sie bezieht sich, wie es im

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19 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, eindeutig auf diese.

Ein Denker, der sich bereits mit der Thematik von Aufenthaltsrechten und einer republikanischen

Weltordnung beschäftigte, ist Immanuel Kant. Seinen Entwurf nutzt Benhabib als Grundstock ihrer

Argumentation und stellt immer wieder Bezüge dazu her. Kant stellte drei Rechtsebenen auf: das

Staatsrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. Letzteres ist wohl vergleichbar mit unserem

heutigen Menschenrecht, das ein Individuum vor Staatsgewalt schützen soll. Doch zu Kants Zeiten

fand dieses Weltbürgerrecht im Gegensatz zu heute wenig institutionelle Verankerung. Vielmehr

wurde auf die Moral der Menschen plädiert. Kant unterschied zwischen Gastrecht und Besuchsrecht

und nur letzteres wollte er in den Rechten verankert wissen. Die Verpflichtung zur Gastfreundschaft

konnte lediglich moralischen Aspekten zu Grunde liegen. Auch wenn Benhabib sich auf die Ideen

Kants stützt, kann er für sie keine klare Antwort für die heutige Zeit bieten. Das Recht auf

Gastfreundschaft ist in Kants Verständnis nur ein moralischer Anspruch, mit möglichen rechtlichen

Folgen (vgl. Benhabib 2008: 29). Ein Souverän ist also nicht verpflichtet, Gastfreundschaft

anzubieten und erst recht gibt es keine Autorität die dieses Recht durchsetzen kann. Zudem schließt

die Begrifflichkeit Gastfreundschaft eine zeitlich begrenzte Dauer der Zugehörigkeit ein. Das

Besuchsrecht ist vergleichbar mit der heutigen „non-refoulment“ Formel. Somit ist Kants Entwurf

nahe an der heutigen Situation, bietet aber keine Fortschritte. Eine wichtige Begrifflichkeit hat Kant

für Benhabib jedoch geprägt: die Weltföderation im Sinne republikanischer Souveränität (vgl.

Benhabib 2009: 50). Kant war sich dem Potenzial kosmopolitischer Rechte durchaus bewusst und

setzte sich für eine republikanische Konstitution ein. Diese könnte zu einem Zusammenschluss der

Weltrepubliken führen (vgl. Benhabib 2004: 176). Das impliziert, dass weder Kant noch Benhabib

auf eine Weltregierung plädieren, denn das würde gegen sämtliche liberalen und demokratischen

Werte sprechen (vgl. Benhabib 2009: 82). Für Benhabib ist der Erhalt demokratischer Staaten

vorrangig. Sie begründet das damit, dass demokratische Ansprüche auch schnell in transnationalen

Netzwerken verlorengehen können. Die Definition von Staatsbürgerschaft könne sich auch

innerhalb eines Systems eigenständiger demokratischer Staaten wandeln, jedoch nur wenn

Institutionen und Autoritäten sich dabei mit verändern (vgl. Benhabib 2004: 175). Dazu bedarf es

einer aktiven politischen Kultur im Sinne einer deliberativen Demokratie. Bestandteil davon müssen

nach Benhabib demokratische Iterationen sein.

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20 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Demokratische Iterationen sollen als „komplexe Arten der Vermittlung der Willens- und

Meinungsbildung demokratischer Mehrheiten mit kosmopolitischen Normen“ verstanden werden

(Benhabib 2008: 43). Der Begriff „Iteration“ geht auf Jacques Derridas Arbeiten im Bezug auf die

Sprache zurück. Er impliziert, dass ein Begriff bei jeder Wiederholung sich in seiner Bedeutung

verändert und es keine ursprüngliche Bedeutung eines Begriffes geben kann. Demokratische

Iterationen sind somit Wiederholungen politischer, rechtlicher und kultureller Art, die etablierte

Auffassungen transformieren können (vgl. Benhabib 2008: 46). So werden in demokratischen

Gesellschaften Prinzipien in den Willensbildungsprozess einbezogen und können dabei hinterfragt

und neu definiert werden. Dadurch kann auch eine Ausweitung von Rechten diskutiert und

begründet werden. Besonders zwischen internationalen und nationalen Normen sind diese

Iterationen nötig, da heutzutage immer mehr kosmopolitische Normen in demokratischen Staaten

verankert sind (Benhabib 2004: 176). Somit könne auch eine neue Bedeutung von

nationalstaatlicher Souveränität entworfen werden und die Definition von Grenzen im alten Sinne

aufheben. Benhabib sieht die Chance der Iterationen hierbei:

„Das demokratische Volk kann sich durch solche Akte demokratischer Iteration, die beispielsweise die

Möglichkeiten demokratischer Mitsprache erweitern, rekonstituieren. Fremde können zu Einwohnern,

Einwohner zu Bürgern werden. Demokratien brauchen durchlässige Grenzen“ (Benhabib 2008: 65).

Die Diskurse führen also folglich dazu, dass der demokratische demos sich immer wieder neu

bestimmen kann und die Möglichkeit besteht, dass gewisse Menschengruppen eingegliedert

werden und damit politische Rechte erhalten (vgl. Benhabib 2009: 212). Gleichzeitig kommt es zu

einer Neubestimmungen über die Reichweite von Gesetzen. Kosmopolitische Normen dagegen sind

nicht von demokratischen Iterationen abhängig. Sie haben Geltung als rein normative Grundlagen

(vgl. Benhabib 2008: 47). Durch demokratische Iterationen können Menschen jedoch in die Lage

versetzt werden, sich kosmopolitische Normen zu eigen zu machen (vgl. Benhabib 2008: 159). Dass

nicht alle dieser Iterationen zu gerechten und gut zu heißenden Ergebnissen führen ist Benhabib bei

ihrer Argumentation bewusst. Sie weist jedoch darauf hin, dass sich durch den Einbezug

kosmopolitischer Normen dabei die Rechtfertigungsschwelle enorm erhöht, vor allem auf

internationaler Ebene (vgl. Benhabib 2008: 68). Mithilfe demokratischer Iterationen in Staaten soll

die Umwandlung in ein System des kosmopolitischen Föderalismus erreicht werden. So kann die

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21 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Gesetzgebungsmacht bezüglich der Ausgestaltung der Mitgliedschaft weiterhin in der Hand von

Nationalstaaten liegen, aber Grenzüberschreitungen und die Suche nach Zuflucht entkriminalisiert

werden.

Mittlerweile führt der Trend in der Weltgesellschaft zu einer langsamen Auflösung der traditionellen

Form von Staatsbürgerschaft, zumindest in bestimmten Gebieten und für bestimmte

Personengruppen. Als Beispiele können die „flexible Staatsbürgerschaft“ in Zentralamerika oder die

Möglichkeiten in der EU eine Zugehörigkeit zu einer anderen Stadt oder Region zu erlangen (vgl.

Benhabib 2009: 218ff.) genannt werden. Dort können Migranten politische oder sogar soziale

Rechte erlangen, ohne dass der Staat in dem das praktiziert wird, seine Souveränität aufgeben

muss. Die Abschaffung von Staatsbürgerschaft an sich bringt für Benhabib keinen Mehrwert. Die

Theoretiker die dies fordern, würden ganz im Gegenteil die Formation von politischen

Gemeinschaften vernachlässigen und sich stattdessen nur auf kulturelle Identitäten fokussieren

(vgl. Benhabib 2004: 115).

In ihrem Buch „Die Rechte der Anderen“, das sich eingehend mit der vorhergegangenen Thematik

beschäftigt und ihr Grundlagenwerk bildet, stellt Benhabib noch einmal zusammenfassend heraus,

dass sie für moralischen Universalismus und kosmopolitischen Föderalismus eintrete. Nationale

Identifikation muss für sie immer mit dem Bekenntnis zu demokratischen Idealen und

Verfassungsrechtlichkeit einhergehen (vgl. Benhabib 2009: 213). Dabei stellt sie klar, dass sie nicht

offene Grenzen verteidigt, sondern durchlässige Grenzen. Dass soll zu einem Recht auf

Einbürgerung, der Zugehörigkeit, zu Informationsfreiheit und schließlich auf einen Rechtsanspruch

unabhängig der eigenen kulturellen Identität führen. Kosmopolitischer Föderalismus bietet somit

eine Art Entwicklungstendenz des modernen Staatsbürgerkonzepts an.

Um noch einmal auf die Menschenrechte und deren Funktion zurück zu kommen, erläutert

Benhabib ihr Verständnis von Kant: „Rechte beziehen sich nicht auf das was ist, sondern auf jene

Welt in der wir vernünftigerweise wünschen sollten zu leben“ (Benhabib 2007: 507). In einer

kosmopolitischen und föderalen Staatenwelt sind sie Voraussetzung für den Dialog in und zwischen

Gesellschaften und haben keine Schwäche darin, moralische Rechte zu sein.

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3. Die EU als Vorbild?

Das Konzept, das Seyla Benhabib zeichnet, muss natürlich in erster Linie als theoretisches Konstrukt

gesehen werden, dessen Funktionstüchtigkeit in der Praxis durchaus kritisiert werden darf. Blickt

man auf den Zusammenschluss einer wachsenden Anzahl an europäischen Ländern zur

Europäischen Union lassen sich jedoch Ähnlichkeiten erkennen. Die Staaten behalten

weitestgehend ihre Souveränität bei, während Regeln und Institutionen für gemeinsame Politiken

geschaffen werden. Somit hat jeder dazugehörige Bürger zusätzlich zu seiner nationalen Identität

eine EU-Identität. Selbstverständlich muss in Betracht gezogen werden, dass die europäischen

Länder von Beginn an eine Geschichte, ähnliche Kulturen und gemeinsame Werte teilen, die einen

solchen Zusammenschluss erleichtern. Zudem haben wirtschaftliche Interessen ein großes Gewicht

bei der Zusammenarbeit zwischen den Ländern. Trotzdem lässt sich in vielen Aspekten ein Bedarf

an gegenseitiger Solidarität erkennen, dem versucht wird gerecht zu werden.

Auch Seyla Benhabib würdigt die Fortschritte in der EU in Richtung „kosmopolitischer

Gerechtigkeitsnormen“ (Benhabib 2008: 45). Die Bürger haben mit ihrer Staatsbürgerschaft eines

EU-Mitgliedslandes automatisch eine Unionsbürgerschaft inne. Für alle Bürger von EU-Staaten gilt

mittlerweile über die internen Grenzen hinweg das Recht auf uneingeschränkte Freizügigkeit bis hin

zu der möglichen Teilnahme an Regionalwahlen und der Gewährung von bestimmten Sozialrechten

in bestimmten Ländern. Somit besitzen diese Bürger dort politische und soziale Rechte und damit

auch eine gewisse Zugehörigkeit. Das gleiche gilt für Eingereiste aus Drittstaaten, die eine offizielle

Aufenthaltsgenehmigung besitzen. Diese Prozesse führen zu einer Entstehung neuer

Nationalstaatlichkeit mit demokratischeren und pluralistischeren Elementen (vgl. Benhabib 2004:

172). Benhabib kritisiert nur, dass lediglich die politischen Rechte weiter ausgebaut werden müssen

um eine Entfremdung vom Gastland zu vermeiden (vgl. Benhabib 2009: 145).

Ein gänzlich gegensätzliches Bild zeichnet sich im Umgang der EU mit Flüchtlingen und

Asylbewerbern und Asylbewerberinnen ab, die einen ungeklärten Status besitzen und so gut wie

keine Rechte zugesprochen bekommen. Diese Praxis ist auf institutioneller Ebene der EU geregelt

und bietet wenig Lücken für Einwanderer oder für individuelle nationalstaatliche Interpretation.

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Seyla Benhabib kritisiert diesen Zustand immens. Das demokratische Paradox wurde nun auf die

Ebene eines supranationalen Systems gehoben und findet auch hier Anwendung bei allen, die nicht

offiziell Teil dieses Systems sind. Zwar sollte eine gemeinsame EU-Identität nicht auf kulturelle oder

etnische Faktoren, sondern auf freiheitlich-demokratische Werte zurück gehen, aber schon am

Beispiel der Diskussion über den Türkei-Beitritt kann erkannt werden dass sich danach in der

Realität nicht gerichtet wird (vgl. Benhabib 2009: 2008).

So schenkt Benhabib den internen Erfolgen der EU Zuspruch, weist dabei aber unaufhörlich auf die

gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber Drittstaatenangehörigen hin. Selbst zwischen den EU-

Bürgern untereinander gibt es diese Vorbehalte (vgl. Benhabib 2009: 152). So ist die EU ein

durchaus interessantes System, das in der Zukunft vielleicht auch in anderen Regionen der Welt

eingeführt werden kann. Problematisch ist aber deren Umgang mit den Menschenrechten.

Universelle Normen, die ja für einen kosmopolitischen Föderalismus eine tragende moralische Rolle

spielen, finden auch nicht zwingendermaßen in einem föderalen Zusammenschluss Platz. So gibt es

in der EU weiterhin Flüchtlinge, deren Präsenz nicht erwünscht und kriminalisiert wird.

IV. Fazit

Die Kritiken von Hannah Arendt und Giorgio Agamben konnten zu Beginn dieser Arbeit deutlich

aufzeigen, dass die von der internationalen Gemeinschaft aufgestellten Menschenrechte schnell an

ihre Grenzen geraten. Insbesondere dann, wenn sie auf nationalstaatliche Grenzen treffen. Daran

ändert auch der Anspruch demokratischer Staaten, diese universellen, unveräußerlichen und

moralischen Rechte in ihre nationalen Politiken mit einzubeziehen nichts. In der Realität können sie,

wie es anhand der Figur des Flüchtlings gezeigt wurde, ihren eigenen Tugenden nicht gerecht

werden. Besonders mit ihrer Universalität tun sich die Menschenrechte schwer. Sie werden nach

wie vor nur auf bestimmte Gruppen angewendet. Bei Arendt dienen sie nur den in einer

Gemeinschaft eingeschlossenen, die ohnehin schon Bürgerrechte besitzen. Agamben schließt sich

diesem an und sieht das Schicksal der Menschenrechte unweigerlich an das des Nationalstaats

gebunden.

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24 Die Grenzen der Menschenrechte Über die Grenzen der Menschenrechte/ Ngoc Huyen Vu Thi, Lena Herzog

Seyla Benhabib kritisiert zwar ebenso wie Agamben und Arendt den fehlenden

menschenrechtlichen Umgang mit Flüchtlingen, sieht aber die Chancen eher in der Veränderung der

Voraussetzungen in dem System demokratischer Nationalstaaten in dem sie Anwendung finden,

anstatt das Konzept der Menschenrechte in seinem Grundsatz zu hinterfragen. Ihr entwickeltes

Konzept des kosmopolitischen Föderalismus soll dabei einen Beitrag leisten, einen Ausweg aus dem

Dilemma zwischen nationalstaatlicher Souveränität und universell gültigen Menschenrechten zu

entwickeln. Natürlicherweise gerät auch dieses Konzept an Grenzen und Benhabib selbst ist sich

bewusst, dass nicht alle Prozesse, und scheinen sie noch so fortschrittlich, zu letztendlich guten

Lösungen führen. Bonnie Honig kritisiert Benhabib insofern, dass sie ihr vorwirft, sich zu sehr auf

formales Recht zu konzentrieren (vgl. Honig 2008: 98). Sie würde die Situation von Flüchtlingen

somit rein von Rechten abhängig machen. Nach Honig könnten diese aber auch Zugang zu

Bürgerrechte erhalten, wenn ganz im Gegenteil das Recht, vor allem von Verwaltungsbeamten

nicht immer durchgesetzt werden würde. Dazu bedarf es der Möglichkeit Schutz und Zuflucht zu

finden und an Menschen, die sich für Papiere der bereits im Land lebenden Migranten einsetzen.

(vgl. Honig 2008: 107). Daher kommt es also nicht nur darauf an, wie unsere Gesetze formuliert

sind, sondern auch darauf, wie wir uns Flüchtlingen gegenüber verhalten. Gerade das, was Arendt

kritisiert, dass Menschenrechte nur von sentimentalen und politisch bedeutungslosen Vereinen

vertreten werden (vgl. Arendt 1968: 251), kann letztendlich zu einer Akzeptanz in der Gesellschaft

führen und durch demokratische Iterationen eine gewisse Gesetzesänderung herbeiführen, der

kosmopolitische Normen impliziert sind.

Eine Entwicklung, die sich positiv auf eine kosmopolitische Ordnung auswirkt ist diese, dass sich

Iterationen nicht mehr nur auf nationalstaatlicher, sondern auch auf supranationaler und

internationaler Ebene stattfinden. Somit werden neue Gesetze geschaffen, die sich früher oder

später auch auf die bestehenden nationalen Ordnungen auswirken können. Als Beispiel dafür kann

die Erklärung des Rechts auf Zugang zu sauberem Trinkwasser als Menschenrecht im Jahr 2010

genannt werden. Dieses Ereignis zeigt, dass Menschenrechte kein starres Gefüge sind, sondern

dass sie offen für Veränderungen und Diskurse innerhalb der Gemeinschaft sind.

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