Über die verschiedenheit der leistungen der deskriptiven und der experimentellen forschungsmethode

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Ober die Verschiedenheit der Leistungen der deskriptiven und der experimentellen Forschungsmethode. Von Wilhelm Roux. In einer interessanten und in mancher Hinsicht fSrdernden und scharfsinnigen Schrift tiber die >~organbildenden Substanzen~< und ihre Bedeutung f|ir die Vererbung schildert CARL RABL 1) klar und bestimmt seine, Ubrigens nicht ltiekenlose Auffassung yon der Bildung der organbildenden Substanzen, worauf wir hier nicht im einzelnen ein- gehen wollen. Es sei nur erwShnt, dab sein Urteil mehrfach zu bestimmt ist; statt des >~muB sein~ und :~es ist,< entspr~iche dem Stande des derzeitigen Wissens, richtiger ~Nichtwissens, besser ein: es kann seine,, ~,es ist denkbar,,. Zugleich nimmt der Autor AnlaB, sieh gegen die yon mir und andern vertretene Auffassung zu wenden, dab auch die genaueste Beobaehtung des sichtbaren typischen Entwieklupgsgeschehens eines Lebewesens keine sicheren SehlUsse auf die Ursachen der einzelnen BildungsvorgUmge gestattet, sondern hSchstens zu ~>Vermutungen, be- rechtigt, welche aber erst noch der experimentellen Prtifung auf ihre Richtigkeit bedtirfen. Er knlipft an eine beztigliche Xugerung yon mir21 tiber eine frtiher yon ihm getane AuBerung an und faBt seine Ansicht jetzt folgendermagen zusammen: Die Beobachtung hatte reich gelehrt, da[~ die eine der beiden ersten Furchungszellen (der Tellersehneeke) nur Ectoderm- und Ento- dermzellen liefert, und dab sie an der Bildung des Mesoderms und aller daraus hervorgehenden Organe unbeteiligt ist., Daraus wurde yon ihm der SehluB abgeleitet,. >>dab dieser Zelle das Material zur tl Leipzig 1906. 80 S. -' Die Entwieklung'smech~nikder Organismen, ein neuer Zweig der biolo- gisehen Wissenschaft. Leipzig 1905. S. 197.

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Page 1: Über die Verschiedenheit der Leistungen der deskriptiven und der experimentellen Forschungsmethode

Ober die Verschiedenheit der Leistungen der deskriptiven und der experimentellen Forschungsmethode.

Von

Wilhelm Roux.

In einer interessanten und in mancher Hinsicht fSrdernden und scharfsinnigen Schrift tiber die >~organbildenden Substanzen~< und ihre Bedeutung f|ir die Vererbung schildert CARL RABL 1) klar und bestimmt seine, Ubrigens nicht ltiekenlose Auffassung yon der Bildung der organbildenden Substanzen, worauf wir hier nicht im einzelnen ein- gehen wollen. Es sei nur erwShnt, dab sein Urteil mehrfach zu bestimmt ist; statt des >~muB sein~ und :~es ist,< entspr~iche dem Stande des derzeitigen Wissens, richtiger ~Nichtwissens, besser ein: �9 es kann seine,, ~,es ist denkbar,,.

Zugleich nimmt der Autor AnlaB, sieh gegen die yon mir und andern vertretene Auffassung zu wenden, dab auch die genaueste Beobaehtung des sichtbaren typischen Entwieklupgsgeschehens eines Lebewesens keine s i che ren SehlUsse auf die Ursachen der einzelnen BildungsvorgUmge gestattet, sondern hSchstens zu ~>Vermutungen, be- rechtigt, welche aber erst noch der experimentellen Prtifung auf ihre Richtigkeit bedtirfen. Er knlipft an eine beztigliche Xugerung yon mir21 tiber eine frtiher yon ihm getane AuBerung an und faBt seine Ansicht jetzt folgendermagen zusammen:

�9 Die B e o b a c h t u n g hatte reich gelehrt, da[~ die eine der beiden ersten Furchungszellen (der Tellersehneeke) nur Ectoderm- und Ento- dermzellen liefert, und dab sie an der Bildung des Mesoderms und aller daraus hervorgehenden Organe u n b e t e i l i g t ist., Daraus wurde yon ihm der SehluB abgeleitet,. >>dab dieser Zelle das Material zur

tl Leipzig 1906. 80 S. -' Die Entwieklung'smech~nik der Organismen, ein neuer Zweig der biolo-

gisehen Wissenschaft. Leipzig 1905. S. 197.

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Bildung des Mesoderms, das Mesoplasma, fehlt,,, u n d e r folgert weiter: )~Enthiilt sie aber kein Mesoplasma, so ist es ganz und gar ausgeschlossen, dab sie, wie Roux meint, spiiter dureh ,abhanffige Differenzierung' wieder Mesodermzellen produzieren kSnnte.,,

Zun~ichst sei hier gleich bericbtigt, dab ich nirgends dic Meinung ge~tuBert habe, dab diese Zelle ~Mesodermzellen produzierenr kSnnte; sondern ich vertrat vollkommen andres: indem ich sagte (1905, S. 198): ~Daraus, dab typischerweise aus dem Mate r i a l nur der einen der beiden ersten Furchungszellen das Mesoderm gebildet wird, ist n i c h t schon zu folgern, dab diese Bildung auch ffanz oder grSBtenteils aus in dieser Zelle liegenden d e t c r m i n i e r e n d e n E n e r g i e n geschehe, dab also die U r s a c h e n , welche die Gestaltung bestimmen, ig ihr ent- ha l t en seien. Es kiinnte sehr wohl auch anders sein.r

Auf e x p e r i m e n t e l l e m Wege hatte nun CRAMPTON unter ED- MUND WILSON gleichfalls an einer Schnecke (Ilyanassa) ermittelt, erstens, dab jede der beiden ersten Furchungszellen nach ihrer Iso- la t ion sich eine Strecke weit als Halbgebilde wie im normalen Ver- bande zu entwickeln vermag, und zweitens, dab nach Abtrennung des (nut an einer yon ihnen beiden haftenden) sog. Dotterlappens die Mesoblastbildung unterbleibt (letzteres ist nicht ganz der Fall; doeh ist die etwas kompliziertere Sachlage ftir unsre jetzige, rein methodo- logische ErSrterung unerheblieh). Zu letzterem Befund bemerkte ieh (1905, S. 199), dab es bei diesem Ergebnis noch unermittelt ist, ob in dem entfernten Dotterlappen blow das Mesodermmaterial vorliegt, oder ob auBer dem Material auch die Differenzierungsursaehen zur Meso- dermbildung in ihm enthalten sind. Und ich fligte allgemeine GrUnde hinzu, welehe daftir sprechen, dab die Differenzierung des Mittelblattes teilweise yon Einwirkungen der beiden andern Bl~ttter abhiingig sei.

Von CaAMPTO~S experimentellen Ergebnissen sagte RABL nun, sie seien nut eine Bes t i i t igung der Folgerung, welche er, RABL, arts

seinen d i r e k t e n B e o b a e h t u n g e n der t y p i s c h e n Entwicklung des Eies dieser Tiere gezogen hatte, und nur wenn seine deskriptiven Er- mittelungen >)schlecht,, gewesen waren, hatte das Experiment etwas andres, als CRAMPTON gefunden hat, ergeben k(innen. RABL fugt hinzu: ,Ich behaupte aueh heute noeh, dab es in diesem Falle ganz und gar g le ichgt i l t ig ist, ob wir yon Mater ia l oder yon Ver- mSgen sprechen. FUr reich gibt es eben ke in Verm(igen ohne m a t e r i e l l e G r u n d l a g e , k e i n e F u n k t i o n o h n e O r g a n . Fehl tdas Material, so fehlt aueh das VermSgen, und keine ,Umdifferenzierung', ,abh~tngige Differenzierung', oder wie man aueh sagen mag, ist

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imstande, bei fehlendem Material das verloren gegangene VermSgen wieder zu ersetzen.r

Nach meiner Meinung dagegen ist daraus, dab dem s i c h t b a r e n Gesehehen nach kein M~tterial der einen Furchungszelle in den Meso- blast Ubertritt, nicht zu folgern, dab diese Zelle auch keine' diffe= r e n z i e r e n d e E i n w i r k u n g auf das den Mesoblast in sichtbarer Weise reprKsentierende Material ausUbt. Sichtbares Bildungsmaterial eines Organs und BildungsvermSgen dieses Materials sind auch in diesem Falle streng zu seheiden und nur durch verschiedene Methoden zu erforsehen; denn das sichtbare Bildungsmaterial tines Organs braueht keineswegs eo ipso auch das VermSgen "zu dieser Bildung zu besitzen.

Der "Kern unsrer Differenz ist ein wichtiger und yon groBer methodologischer Tragweite. Er berUhrt~ wie ieh vermnte, eine der Ursachen des teils offenen, tei]s geheimen Widerstandes und der Abneigung mancher (oder vieler?) deskriptiver Forscher gegen die Entwieklungsmeehanik. Daher scheint es mir zweekm~iBig~ diese Saehlage ausFtihrlieh zu behandeln.

Zun~ehst ist zu bemerken, dab ich nirgends die Auffassung ver- treten habe~ es g~be Funktion ohne Organe sowie GestaltungsvermSgen der Organismen ohne materielle Grundlage. Indem RABL dieses als eine yon mir vertretene Auffassung erscheinen 15Bt, bekundet er, dab er den wesentlichen Kern der zwisehen uns bestehenden Differenz nicht erkannt hat und wiederum eine unrichtige Vorstellung yon meiner Auffassung besitzt.

Die Kernfrage der Differenz ist dagegen die, ob alle an einer W i r k u n g beteiligten Teilchen ftir uns s i ch tba r sein miissen oder nicht, und wo sie sitzen mUssen, ob alle innerhalb des >~in siehtbarer Weise geformten Gebildes,, (wonach die Entwicklung dieses Gebildes >>Selbs td i f ferenzierung desselben, ist) oder aueh auBerhalb des- selben (wobei dann die Entwicklung des Gebildes soweit ~von auBen a b h ~ n g i g e D i f f e r e n z i e r u n g desselben~ ist).

Aus RABLS AuBerungen mUssen wir folgern, dab er die Auffassung hegt und fur selbstverstandlich h~lt, nur s i ch tba re Partikelchen der ersten Furchungszellen vermSchten einen differenzierenden EinfluB bei der Bildung des mittleren Keimblattes auszuUben~ und solche Teilchen kSnnten dies nur tun, wenn sie in denjenigen Zellen, welche den Mesoblast s i c h t b a r darstellen, enthalten sind. Damit werden zweierlei MSg l i chke i t en des Geschehens, mit denen die c ausa l e F o r s c h u n g s te t s bis zum B e w e i s e des G e g e n t e i l s zu r e c h n e n hat, yon vornherein als unmSglich ausg'eschlossen:

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1) dab Teilehen in u n s i c h t b a r e r Weise aus der einen Zelle in die andre tibertreten kSnnen (ein Geschehen, wie es z. B. bei der Diffusion stattfindet), so dab die erstere Zelle auf die andre einen materiellen EinfluB ausabt, den wit aber n ich t sehen kSnnen, und

2) dab Teilehen, welehe in der einen Zelle enthalten sind, auf eine andre, dieser anliegenden (oder aueh yon ihr entferntere) Zelle differenzierend wirken k~nnen, ohne selber in diese aberzutreten. RABL nimmt bei seiner Behauptung stillsehweigend an, dab es ohne l~Tbertritt des Mate r i a l s auch ke in L :be rg re i f en der W i r k u n g dieses Materials auf ein andres Gebiet gitbe. Damit werden bei tier Entwicklung der Organismen ~thnliche Wirkungsweisen, wie sie bei tier Ausbreitung des Schalles, des Lichtes, der Elektrizitlit, oder bei der elektrisehen Induktion stattfinden, yon vornherein ausgeschaltet. Wenn die T(ine einer menschliehen Stimme in uns tiefe seelisehe Er- regungen hervorrufen, so gesehieht dies nieht durch in nns eindrin- gende Stimmbandsubstanzteilehen; und selbst, wenn dies doeh ge- sehahe, so kSnnte es in unsiehtbar gering'er Menge gesehehen nnd daher dutch direkte Beobachtung, also dureh die deskriptive Methode nieht erkannt werden.

Auch den katalytischen Wirkungen und den Emanationen des Radiums gleiehe oder i~hnliche Wirkungen wtirden naeh dieser Auf- fassung an der Entwieklung" der Organismen night beteiligt sein dUrfen.

Warum aber soll es alle solche oder iihnliche unsichtbare Wirkun- gen, z.B. Ubertragung yon Energie wie bei der Ausbreitung tier Wiirme yore Ofen ohne Ubertritt des ursitehliehen Ausgangsmaterials in tier Ontogenese nieht geben? Oder speziell, warum son derartiges Ge- schehen nicht bei der Differenzierung des Mesoblast beteiligt sein kSnnen, so dab es yon vornherein ausgesehlossen werden darfte? Das maBte doeh wohl erst sorgfaltig gepraft werden. Wenn aber solehe Wirkungen stattfinden, kSnnen wir sie mit dem Mikroskop nieht sehen; kiinnen sie, allein naeh demjenigen zn urteilen, was wir bei dem t y p i s e h e n Entwieklungsgesehehen sehen warden, kaum nur vermuten, weshalb RABr. sic aueh nieht vermutet und nieht a n - genommen hat; wit kSnnen sic nur auf Grand yon geeigneten Experi. nienten sicher als beteiligt ersehlieBen oder als nieht beteiligt aus- schlieBen.

U n s i e h t b a r e E i n w i r k u n g e n mit oder chne entspreehenden Materialabertritt haben wit zudem in der Biologic bereits sieher er- sehlcssen, z. B. die extracapillare Ausbreitung der :Nahrung im Paren- ehym, die Fortpflanzung des funktionellen Erregungszustandes im

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348 Wilhelm Roux

N e r v e n oder die t roph i sche N e b e n w i r k u n g v ie ler funkt ionel len Reize;

die d i f f e renz ie rende W i r k u n g , we lche nach SPEMANN: A. FISCHEL 11. a.

yon dem A u g e n b e c h e r a u f den Ec tob la s t ausgei ib t werden k a n n und

an e iner a t y p i s c h e n BerUhrungss te l le des Augenbechers am Ec tob la s t

die B i ldung e iner Kr i s t a l l l inse vc ran laBt ; den Cyto t ropismus: die

Anz i ehung yon Zel len au fe inande r ; fe rner d ie mannigfachen regu la -

tor isch ge s t a l t enden W i r k u n g e n z. B. bei der Erg~inzung eines a b g e -

schni t tenen A r m e s eines Tr i ton aus dem Rests t t ick. Le tz te ren F a l l e s

muB das noch v o r h a n d e n e St i ick dazu mi tw i rken , dab ge rade das zu

dem n ich t m e h r in en twicke l t em Z u s t a n d e v o r h a n d e n e n Ganzen feh-

l ende StUck neu geb i lde t wird . Das gesch ieh t alles, ohnc dab wir

e twas yon dem urs~ichlichen Gesehehen s e h e n k i i n n e n . Dahe r reicht

auch zu dem N a c h w e i s i h r e s N i c h t v o r k o m m e n s die d i rek te

Beobach tung des t yp i s chen Geschehens , d ie d e s k r i p t i v e Fo r schung

n icht aus ~).

1~ Der Autor arbeitet also bei seiner Ableitung des mittleren Keimblattes mit der auch bei andern Forschern verbreiteten, wenn auch nirgends ausge- sprochenen und wohl nicht voll bewuBt gewordenen, sowie auch von I~ABL nicht konsequent festgehaltenen Annahme, dab sichtbare Gestaltungen durch sichtbare Ver~nderungen hervorgebracht werden mtil3ten. Das wtirde heil3en : ,S i c h t b a r e s nu r aus S i c h t b a r e m , . In Wirklichkeit ist aber a l l e s p r imi / re E n t w i c k - l u n g s g e s c h e h e n d e r O r g a n i s m e n u n s i c h t b a r ; und aus solchem Ge- schehen geht erst durch l'Xngere Dauer, Zunahme der r:,iumlichen Ausdehnung oder Wandlung tier Art des unsiehtbaren Wirkens das sichtbare Geschehen her- vor. Also bei der Entstehung allen sichtbaren Entwicklungsgeschehens muB e r s t d ie G r e n z e des U n s i c h t b a r e n i i b e r s e h r i t t e n werden. In welchen Perioden des Wirkens dies geschieht, dartiber ist noch nichts formuliert.

Als eine andre Anwendung der nicht zutreffenden Annahme ist, wie mir scheint, RABLS bestimmte Behauptung aufzufassea, dab das Chromatin des Kerns n u r in dem netzfiirmigen, sog'. Ruhestadium mit dem Plasma des Zellleibes in Stoffaustausch treten k/inne. RABL stimmt zun~ichst der yon mir und BOVERI geSul3erten Auffassung zu, dab der Zellleib auf die (NB. bei der indirekten Kern- teilung quatitativ gleich geteilte) Kernsubstanz, sowie diese auf ihn alterierend einwirken k~nne. Solche Wirkung habe ieh fiir besonders leicht m~glich zu der Zeit erkl~irt, ehe nach der Kernteilung die neue Kernmembran fertig gebildet. also gesehlossen ist, unter Hinweis, da~3 aueh sp~iter solehe Wirkungen noch vorkommen kSnnen !Anatom. Anzeiger. 1903. S. 141).

RABL bezeichnet ersteres fiir falseh und behauptet, wie gesagt, solehe Ein- wirkung kSnne nur nach der Umbildung der Chromatinsehleifen zum netzf~rmigen Kerngeriist stattfinden. Vielleieht ist letztere Anordnung in der Tat ein die Weehselwirkung zwisehen Kern und Plasma etwas begiinstigendes Moment. Aber woher weil~ RABL sieher, dab vorher eine solehe Einwirkung nicht m~glich sei oder nieht vorkiime? Warum sollen die eylindrisch gestalteten Chromosomen nieht Stoffe abgeben und aufnehmen k~nnen, oder auch ohne Stoffabgabe Energie

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W e n n diese aus der e ineu Zelle in uns ich tbarer Weise in die

andre i iber t retende Subs tanz oder Energ ie zur Differenzierung der

:~bgeben, Erregung nach auBen veranlassen oder auch yon aul3en erregt werden kiinnen? Wenn auch ihre ~iasse anscheinend zu dieser Zeit gleich groB blcibt, so ist dies kein Beweis dafiir, daB nicht ein Stoffwechsel stattfindet, wie dies .ja bei ganzen Zellen und Individuen auch ohne sichtbare Gr[iBen- und Gestalt- iinderung (z. B. Atnmng) vorkommt. Wenn ferner die Oberfl~che der Chromosomen relativ kleiner ist und glatter erscheint, als es nach der netzfi~rmigen Aufteilung des Chromatins der Fall ist, so ist dies k e i n Bewei s dafiir, dab die Oberfl':iche so lest geschlossen w~ire, dal~ p b y s i k a l i s c h e Moleke l und selbst grSBere. zu spezifisch organischen Gestaltungsleistungen befiihigte i d i o p l a s t i s c h e Moleke l nicht aus- und eintreten kSnnten, da beide Arten yon Molekeln als unter der Gr0Be des optisch Wahrnehinbaren liegend angenommen werden kiin- nen. Die sichtbaren Gestaltverhgltnisse der Chromosomen lassen also das Vor- kommen solcher Wirkungen nicht unmiiglicl~ erseheinen. Wir diirfen aber unsern bisherigen Kenntnissen nach D e n k m i i g l i c h e s n i c h t y o n v o r n h e r e i n , a lso u n g e p r t i f t , au s sch l i eBen .

Bei den von mir damals berticksichtigten Wirkungen. handelte es sich allein um die g e s t a l t e n d e n Wechselwirkungen zwischen Zellleib und Zellkern, also um Wirkungen, welche zu den ) ) E n t w i c k l u n g s f u n k t i o n e n r gehSren. Diese Wirkungen beginnen vielleicht schon am Ende der Metaphase und gehen wohl auch leichter vor sich, wenn die Kernmembran noch nicht geschlossen ist.

In bezug auf die ) ) E r h a l t n n g s f u n k t i o n e n ( , (meiner Distinction). yon denen ich damals nicht sprach, liegt aber die Sachc vielleicht erheblich anders. Es scheint miiglich, dab sie durch die Kernmembran nicht erschwert, sondern sogar gefSrdert werden. Diese Funktionen kehren andauernd in ganz oder anniihernd derselben Weise im Leben einer Zelle, wenn auch in jedem Gewebe in andrer Weise. wieder. Es ist daher annehmbar, dab die K e r n m e m b r a n an den Durchtritt immer derselben Snbstanzen in :,ihnlicher Weise a n g e p a B t is t , wie ich dies yon den Capillarw:~inden der verschiedenen Organe seinerzeit 11881 und Ges. Abh. I. S. 314) als wahrscheinlich gefolgert habe. Die Qualitgt des den verschiedenen Organen, z. B. NIuskeln, Driisen, Gehirn, zugefiihrten Blutes ist dieselbe. Ander- seits haben die Physiologen ermittelt, dab auch die aus diesen Organen abge- fiihrte (NB. langsam flieBende) Lymphe trotz des in diesen Organen notwendig qualitativ erheblieh verschiedenen Stoffverbrauches nur unwesentliche Verschie- denheiten der Zusammensetzung erkennen l~iBt. Daher ist zu schlieBen, dab durcl~ die Capillarwand der verschiedenen Organe dem besonderen Verbranch jedes Organs entsprechend Verschiedenes in das Parenchym tritt (wobei dann das iibrig bleibende Blut, also das Venenblut der verschiedenen Organe ent- sprechend verschieden zusammengesetzt sein mnl~; das kann aber bei der Rasch- heit der Blutcirculation prozentisch so gering bleiben, dab es sich nicht oder kaum nachweisen liiBt). Die C a p i l l a r w i i n d e j e d e s O r g a n s s i n d also wohl an den b e s o n d e r e n V e r b r a u c h d e s s e l b e n d e r a r t i g angepaI~t , dab die mehr g e b r a u c h t e n S tof fe l e i c h t e r d u r c h die C a p i l l a r w a n d h in- d u r c h t r e t e n kSnnen. Vielleicht ist die Capillarwand derartig beschaffen, dab sie den Durchtritt dieser Stoffe sogar d i r e k t b e f i i r d e r t , wie iiberhaupt Mem- branen bei der Diosmose eine Scheidung komplizierter Stoffgemische bewirken. In ~ihnlich f ( i r d c r l i c h e r W e i s e k i i n n t e auch die K e r n m e m b r a a an

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letzteren Zelle nSt ig ist, so hat diese Zelle also ohne die Mitwirkuag der ersteren n ieh t das VermSgen, sich in der typisehen Weise zu entwickeln.

RABL hat somit, indem er dutch die Beobaehtung des siehtbaren typischen Gesehehens aueh das typische entwieklungsmechanische VermSffen (s. Potenz) flit ermittelt erachtet, die beiderlei ganz ver- schiedenen Feststellungen fiir gleichbedeutend erachtet und sie in diesem Sinne verwechselt, - - wean er auch die Konstatierung solcher Verwechslunffen dutch Hohn zurtickzuweisen versucht.

Durch sein folgendes erstes Beispiel yon der Ectodermzelle und der Propagationszelle BOVEaIS (S. 54) wird dieser die Grundlage unsrer Differenz bildende Irrtum nicht berichtigt. Wir ersehen aus ihm nut, dab der Autor weniffstens nicht konsequent die Auffassung vertritt, dab das sichtbare typische Geschehen s te t s schon auch ausreichende Auskunft tiber das entwicklungsmechanisehe VermSgen der einzelnen Zellen g~be.

Aber bereits bei dem weiteren Beispiele angeblich sicherer cau- saler SehluBfolgerung aus rein deskriptiven Beobachtungen des t yp i - schen Entwicklungsg'eschehens (S. 55), der Bildung des Herzens aus den Wurzeln der Venae omphalomesentericae, wiederholt sich die Verweehselung der Bedeutung deskriptiven und quasi experimentelleu Ergebnisses aufs neue. Denn auch wenn sicher gesehen ist, dab das Herz aus den Wurzeln der Venae omphalomesentericae hervorffeht, so folgt daraus keineswegs, dab die Wurzel jeder dieser Venen auch das vollst~tndige entwicklungsmechanische Vermiigen znr Bildung eines Herzens in sich hat. Oder um die zumeist yon auBen geliefertea �9 Ausfiihrungsursachen((: Nahrung, Warme nicht unberUcksichfigt zu lassen, so ist nicht zu schlieBen, dab diese Wurzeln auch nur das Verm(igen der vollstiindigen S e l b s t d e t e r m i n a t i o n zur Bildung des Herzens besitzen. Zu dieser Bildung kSnnten auBer der Vereinigung der Venen noch mannigfache materielle und energetische ~tul~ere Ein- wirkangen auf das sichtbare Substrat nStig seia. Erst das ange- fUhrte, e inem a n a l y t i s c h e n E x p e r i m e n t fas t g l e i chwer t i f f e a t y p i s c h e V o r k o m m n i s der Bildung mehrerer Herzen laBt den SehluB als wahrseheinlieh zu, dab jede dieser Venenwurzeln der Selbst- differenzierunff zu Herzen fiihiff ist (genauer nut, dab jede das VermSgen

den reselmSl3igen S tof faus tausch zwischen Zellkern undZe]l le ib angepai3t sein, also an den Stoffaustausch. welcher zu den Erhaltungs- funktionen n~itig ist, die das Gewebe fiir sich selber und fiir den Organismus austibt.

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der ~Selbstdetermination~ eines Herzens besitzt) (Weiteres s. Roux, 1905. S. 39). Da dieser SchluB nicht aus der Beobachtung des t y p i s c h e n Geschehens ableitbar ist~ ist er also auch nicht, wie RABL meint~ ein Beweis ftir das causale LeistungsvermSgen der rein deskriptiven For- schung; sondern das Beispiel ist bloB ein Beweis~ wie fSrderlich, ja wie nStig so genaue deskriptive Forschungen, wie wit sie RABL und vielen andern verdanken, zugleich als Unterlag'e ft|r die causale Forschunff sind.

Wenn RABL nunmehr sagen wUrde, er vertrete diese ihm oben unterstellten beiden Auffassungen nicht, dann w~re unsre Differenz beseitigt, damit w:,tren aber auch seine zitierten Einwendungen gegen meine Auffassang gegenstandslos.

RABL "trbeitet bei seiner obigen Behauptung mit der Annahme~ dab die Differenzierung jener einen Furchungszelle, welche das mittlere Keimblatt liefert~ soweit S e l b s t d i f f e r e n z i e r u n g sei, als diese Differenzierung ohne s i ch tba re Aufnahme oder ohne sichtbare Einwirkung ~uBeren Materials erfolgt.

Diese Annahme ist, wie wir aus den erw~thnten Vorkomm- nissen sehen~ ohne besondere, nur experimentell mSg'liche Prtifung nicht bewiesen. Sie wird es erst, wenn dutch Isolation dieser Zelle sich ergeben hat, dab die Zelle wirklich ftir sich allein sich in der typischen Weise zu differeuzieren vermag.

Die Experimente haben nun ftir viele Stadien der t y p i s c h e n Entwicklung vieler Tiere die S e l b s t d i f f e r e n z i e r u n g yon Ze l l en- komplexen und e inze lnen Ze l l en dargetan. Dadurch ist der vordem logisch unzuliissige SchluI~ in diesen F:~illen nachtri~g'lich als sachlich zutreffend anerkannt worden. Diese vielfache Ubereinstim- mung" hat RABL vielleicht veranlaBt, sie als eine Notwendigkeit aufzufassen, obschon diese l~bereinstimmung nut die Folge einer be- sonderen Art des Entwicklungsgeschehens ist~ niimlich der Verteilang der speziellen EntwieklungsvermSgen (Potenzen) auf kleine Bezirke bis herab zu einzelnen Zellen. Diese Selbstdifferenzierung kleiner Zellkemplexe und einzelner Zellen ist zudem nur far die t y p i s e h e E n t w i c k l u n g als vorhanden konstatiert. Bei S t S r u n g e n de r En t - w i c k l u n g , sei es durch Substanzverluste oder StSrungen der Anord- nungen der Teile, wird dagegen hliufig S e l b s t r e g u l a t i o n aktiviert, welche mit w e i t g r e i f e n d e n d i f f e r e n z i e r e n d e n C o r r e l a t i o n e n unter den typischerweise sich selbstiindig entwickelnden Teilen ver- lauft.

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352 Wilhelm Roux

RABL erklart, dab er der Entwicklungsmechanik wohlwollend gegenUber steht und fiigt hinzu, dab er den Weft des Experiments nie verkannt und untersch~itzt, sondern stets seine hohe Bedeutung fUr die entwieklungsgesehiehtliehe Forsehung nachdrUckliehst betont habe. Gleiehwohl aber hat er, wie wir sahen, die Notwendigkeit des analytischen Experiments und seine wahre Bedeutung nieht ro l l e rkannt . Dies allein maeht es mSglieh, dab er in unsrer Betonung der absoluten Notwendig'keit dieses Experiments ftir die Gewinnung s ich erer urs:,iehlicher Erkenntnis (soweit solehe Uberhaupt mSglieh ist) eine [~berhebung des causalen Forsehers Uber den deskriptiven Forscher und ein ~Siindigen~ erblickt. RABL deutet die yon mir stets geheg'te und oft ge:,iuBerte Hochschatzung der deskriptiven Forsehnng unriehtig, indem er sie auf die c a u s a l e n Leistungen dieser Forsehung bezieht. Sie bezieht sieh meiner klaren und dcutliehen Ausspraehe nach darauf, dab die deskriptive Forsehung uns tiberhaupt mit dem bekannt maeht, was sichtbar gesehieht, womit sie auch der eausalen Forsehung" erst die Aufgaben stellt. Und sie wird dadurch gesteig'ert, daB, je ffenauer und vollst~ndig'er die deskriptive Forsehung" onto- ~enetiseh und vergleichend gearbeitet hat, um so mehr auch schon die ursachliehen DeutungsmSgliehkeiten yon vornherein einffeeng't wer- den. Damit wird es der causalen Forsehung erleichtert~ angemessenere causale Fragestellunffen zu formulieren, um sie dann der experimen- tellen PrUfung zu unterziehen.

Das Aussprechen dieser Notwendigkeit des Experiments fiir die ursachliche Forschung ist zwar ein VerstoB gegen RABLS irrtUmliche Auffassung. Ist das aber tin >~Stindigem<: also einem VerstoBe gegen gSttliehes Gebot vergleiehbar?

RABL vermengt die verschiedenen Kompetenzen der versehie- denen Forsehungsmethoden.

Wenn es Uberhaupt angebraeht ware, yon einer ,persSnlichen,< l~berhebung zu reden, wenn ein Autor die Leistungen der yon ibm angewandten Methode tiber-, die Methode andrer untersehatzt, so trafe dieser Vorwurf wohl eher auf RABL ZU, da er behauptet, durch die B e s i e h t i g u n g des t y p i s e h e n Entwieklungsgesehehens auBer dem siehtbaren Tell dieses Gesehehens aueh einen Teil des uns ieh t - b a r e n Gesehehens ebenso sieher erforsehen zu k(innen, wie es in Wirkliehkeit nur dutch das Experiment (und aueh (lurch dieses leider nur teilweise) ermittelt, ersehlossen werden kann. Die weiteren Sehwierigkeiten dieser Kompetenzkonflikte sind yon mir in dem oben zitierten Buehe ~1905, S. 13 u. f.) behandelt.

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g'ber die Verschiedenheit der Leistungen usw. 353

Als Anhang sei noch etwas zur Bezeichnung der Gesamtauffassung RABLS yon der Ontogencse, seine Darstellung berichtigend, bemerkt. Er sagt (S. 49): ,Die hier vorgetragene Ansicht tiber das Wesen und die Grundprobleme der Entwieklung und Vererbung ist eine durch- aus ep igene t i s che . Mit E v o l u t i o n in i rgend e ine r Fo rm hat sie n ich ts zu tun. , Der yon mir gesperrt gedruckte Tell dieser "~uBerung ist jedoeh nicht zutreffend.

Indem ich die alten Probleme der Evolution und Epigenese im Jahre 1885 erneuerte und zngleich vertiefte, habe ieh als Epigenese die Produktion yon Mannigfaltigkeit, als Evolution die Umbildung you pr~iexistierender unsichtbarer Mannigfaltigkeit in sichtbare be- zeichnet. Diese Definitionen haben weite Verbreitung gefunden. Da ]~ABL: in prinzipieller [lbereinstimmung mit mir, annimmt, dab der Eikern und der Spermakern schon mehrere oder viele QualitSten enthMt, und dab auch das Eiplasma schon mehrere Qualitiiten be- sitzt, ist sein Ausgangsstadium ein kompliziertes und seine Auffas- sung also eine evolutionistische nach dieser Definition der Evolution. Indem RABL ferner, wieder im Prinzipiellen mit mir tibereinstimmend, annimmt, dab im Laufe der Entwicklung" dureh Wechselwirkung der verschiedenen Teile einer Zelle neue Qualit~ten gebildet werden 7 vertritt er anderseits auch INeubildung yon Mannigfaltigkeit, somit Epigenesis. Seine Auffassung der Entwicklung des Individuums klassifiziert sich also wie die meinige als eine K o m b i n a t i o n yon E v o l u t i o n und Ep igenes i s . Er Ubersch~itzt aber dabei sehr die chemische Epigenesis gegentiber der physikalischen. Letztere bekun- det sieh dentlich in der Bildung millionenfach verschiedener typiseher feiuer Gestaltungen aus denselben Geweben, also auch aus denselben diese Gewebe zusammensetzenden chemischen Qualit~ten, so z. B. in der Bildung der typisch verschieden gestalteten und gelagerten Mus- keln aus den quergestreiften Muskelfasern. Diese gestaltenden Lei- stungen Ubersteigen weit die rein ehemischen gestaltenden Leistungen, wie ieh entgegen dem verbreiteten Irrtum HOFMEISTERS U. a.~ dab die tierisehe Entwieklung wesentlieh nur ehemisehes Gesehehen sei, bereits anderweit er(irtert habe (s. 1905, S. 118).

Als Allgemeinstes mSehte ieh noehmals betonen, dab wir auf unserm neuen Gebiete yon zumeist noeh unbekannten gestaltenden Wirkungsweisen und deren unbekannten Kombinationen uns vor un- geprtiften, also vorzeitig einsehrankenden Annahmen htiten mUssen. Solehe Annahmen, yon denen wir vorstehend einige kennen lernten, verleihen zwar dem Argumentieren eine imponierende Bestimmtheit,

Page 11: Über die Verschiedenheit der Leistungen der deskriptiven und der experimentellen Forschungsmethode

354 Wilhelm Roux, Uber die Verschiedenheit der Leistungen usw.

fiihren aber leieht irr; und sic sind methodologische Fehler, selbst wenn sich spi~ter bei exakter PrUfung zufi~llig ihre saehliche Richtig- keit. ergeben sollte. So ist es mit den vielfachen Folgerungen aus der vorzeitigen unbewuBten Annahme der Selbstdifferenzierung kleiner Zellkomplexe und einzelner Zellen.

Ebenso ist stets besonders zu prtifen, wie weit eine urs~chliche Folgerun~ als gesichert aufzufassen ist. Es sei daran erinnert, dab zur Gewinnung eines sicheren Schlusses auf eine Gestaltungsursache oft meh re r e v e r s c h i e d e n a r t i g e V e r s u c h e niitig sind (s. Ges. Abh. II. S. 89 u. 1015 und Arch. f. Entw.-Mech. I. S. 14).