ueber platzfurcht

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377 XXV. Ueber Platzfurcht. Briefliche Mittheilungen. I. Folgende Selbstschilderung eines seiner Patienten hatte Herr Dr. Herz in Wt~rzburg im Jahre 1873 die Gef~lligkeit, uns mitzutheilen: Schon iu fr~iher .lugend-~eigten sich bei mir die Spuren dieses Leidens, ieh konnte schon in meinem 16. Altersjahre nicht allein ~iber einen grossen freien Platz gehen, ebensowenig einen grSsseren freien Raum in der Kirche oder in einem Concert- oder Ballsaale aberschreiten, ohne dass reich ein dr~ickendes Gefiihl der Angst, ob ieh wohl die offene Strecke ohne Gefahr des Starzens oder Umfallens zurticklegen k0nne~ tiberfallen h~tte. Namentlich vermochte ieh es nicht, fiber den freilich sehr grossen, ganz gepflasterten Schloss- oder Residenzplatz mniner Vaterstadt zu gehen, ich musste vielmehr meinen Weg an den Hhusern der Seite entlang nehmen. Waren jedoch Personen in meiner Begleitung, in deren Mitre ich gehen konnte, und war ich hierbei im Gespr~che begriffen, so kam ich ohne Anstand tiber den Platz: -- dies gelang mir jedech stets schwerer, wenn nur eine Person an meiner Seite war, well hierbei die andere Seite mir keinen An- haltspunkt bet. Dieser Zustand blieb sich viele Jahre hindurch gleich, steigerte sich aber, als sich hierzu in meinem 5~. Lebensjahre, in Veranlassung fortgesetzter zu anstrengender geistiger Arbeiten ein Nervenleiden gesellte, in dessen Folge ich keine rauschende l~Iusik, ja selbst nicht einmal das Klappern yon Tellern, das Zuschlagen yon Thfiren, Tisch- und Sttihler~;~cken l~ngere Zeit hindurch vertragen konnte. In diesem Zustande konnte ich aueh nicht- ohne erheblichen Anfall yon Schwindel -- zum Fenster der im ersten Stocke befindliehen Wohnung hinaussehen, sowie es mir denn auch heute noch unm0glich ist, yon einem Bergkamme, einem Thurme, oder sonst einem hoeh gelegenen Punkte die Umgegend zu fiberblicken, selbt dann nicht, wenn ich 10 und mehr Schritte yon der Galerie des Thurmes entfernt war.

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377

XXV.

Ueber Platzfurcht.

Briefl iche Mittheilungen.

I.

Folgende Selbstschilderung eines seiner Patienten hatte Herr Dr. Herz in Wt~rzburg im Jahre 1873 die Gef~lligkeit, uns mitzutheilen:

Schon iu fr~iher .lugend-~eigten sich bei mir die Spuren dieses Leidens, ieh konnte schon in meinem 16. Altersjahre nicht allein ~iber einen grossen freien Platz gehen, ebensowenig einen grSsseren freien Raum in der Kirche oder in einem Concert- oder Ballsaale aberschreiten, ohne dass reich ein dr~ickendes Gefiihl der Angst, ob ieh wohl die offene Strecke ohne Gefahr des Starzens oder Umfallens zurticklegen k0nne~ tiberfallen h~tte.

Namentlich vermochte ieh es nicht, fiber den freilich sehr grossen, ganz gepflasterten Schloss- oder Residenzplatz mniner Vaterstadt zu gehen, ich musste vielmehr meinen Weg an den Hhusern der Seite entlang nehmen.

Waren jedoch Personen in meiner Begleitung, in deren Mitre ich gehen konnte, und war ich hierbei im Gespr~che begriffen, so kam ich ohne Anstand tiber den Platz: - - dies gelang mir jedech stets schwerer, wenn nur e ine Person an meiner Seite war, well hierbei die andere Seite mir keinen An- haltspunkt bet.

Dieser Zustand blieb sich viele Jahre hindurch gleich, steigerte sich aber, als sich hierzu in meinem 5~. Lebensjahre, in Veranlassung fortgesetzter zu anstrengender geistiger Arbeiten ein Nervenleiden gesellte, in dessen Folge ich keine rauschende l~Iusik, ja selbst nicht einmal das Klappern yon Tellern, das Zuschlagen yon Thfiren, Tisch- und Sttihler~;~cken l~ngere Zeit hindurch vertragen konnte.

In diesem Zustande konnte ich aueh n i c h t - ohne erheblichen Anfall yon Schwindel - - zum Fenster der im ersten Stocke befindliehen Wohnung hinaussehen, sowie es mir denn auch heute noch unm0glich ist, yon einem Bergkamme, einem Thurme, oder sonst einem hoeh gelegenen Punkte die Umgegend zu fiberblicken, selbt dann nicht, wenn ich 10 und mehr Schritte yon der Galerie des Thurmes entfernt war.

378 Briefliche Mittheilungen,

Bei verschiedenen Reisen in der Schweiz, im Schwarzwalde und im Bayrischen Gebirge kam ich nur dann fort~ wenn ich am Arm eines Begleiters~ und den Blick yon der Tiefe abgewendet~ oder mit einem aufgespannten, gegen die Tiefe gehaltenen Regenschirme die W e g e passirte.

Selbst im Wagen auf breiter Chaussee war es wir un~nSg]ich~ yon einer bergigen HShe aus die Gegend zu fiberblieken.

Dieser Zustand mag nun allerdings mehr durch wirkliehe Schwindel- AnfMle, mit Neigung zum Erbrechen und Uebelwerden~ hervorgerufen worden sein.

Allein heute noch, zu einer Zeit~ zu weleher ieh bereits das 66. Lebens- jahr zurtiekgelegt, bin ieh nieht im Stande, in der Stadt einen nur einiger- massen grOsseren P]atz frei zu fiberschreiten.

�9 leh muss in diesem Falle irgend einen grSsseren Gegenstand, z, B. einen in der Mflte stehenden Wagen, eine Droschke oder mehrere beisammen stehende Personen zum Zielpunkte nehmen, und so yon einem Gegenstande zum andern zu kommen trachten, bis ich wieder an die W~nde der Hhuser gelange.

Mitunter aber steigert sich die Fureht, ob ich wirklich fiber den freien Platz ohne Unfall gelange, so sehr, dass mich gar oft Angstschweiss fiber- fhllt, bis ieh an der Thfire meines Hauses anlange: - - ohne Gehstoek, den ieh stets trage, wfirde es mir abet ganz unmSglich sein.

Eigenthfimlich ist es indessen, dass diese Angst reich verli~sst, sobald ich aus den Thoren der Stadt in den Parkanlagen um die Stadt, auf der Chaussee, iiberhaupt im Freien reich befinde, - - hier kann ieh ohne je'gliches Angst- geffihl meinen Weg dureh die Alleen und Anlagen allein fortsetzen.

In frfiheren Zeiten pflegte ieh h{tufige lhngere Excursionen fiber Land zu Pferde zu machen, allein so oft ieh in die Stadt zurfickkehrte, wurde mir hngstlich zu Muthe und ich musste zeitweise in der Stadt yore Pferde steigen und solches nach Hause ffihren, weil mir zu Muthe war, als mfisste ieh yore Pferde stfirzen.

In Folge meines Berufes Ms Anwalt musste ich, namentlich in den 1850er und 1860er Jahren, oft als Vertheidiger bei den Schwurgerichtssitzungen auf- t r e t e n : - in dem grossen, hhufig fiberfiillten SaMe war e s mir nur dann mSglieh, das Plaidoyer durchzuft~hren, wenn ieh einen Stuhl vor reich hin- schob~ dessert Lehne ich mit einer oder beiden H~nden ergriff, und einen der mir gegeniiber sitzenden Geschworenen lest im Auge behielt: - - aui diese Weise konnte ieh, mit Benutzung kleiner sehriftlicher 2,otizen, halbe und ganze Stunden hindureh fortsprechen~ - - ~owie ich es aber versuchte~ den Blick abzuwenden und frei im Saaie herumzuschauen, so befiel reich das Ge- ffihl des Schwindels, ich konnte den Gedankengang nicht festhalten, und be- elite reich stets~ auf den vom Anfang der Vertheidigung an als Zielpunkt gewhhlten Geschworenen wieder lest hinzublicken.

Gegen dieses Leiden suchte ieh schon vor vielen Jahren ~rztliche H(ilfe, allein mit keinem oder jedenfalls keinem besonderen Erfolge.

Anfhnglich wurde solches als Schwindel betrachtet, ich nahm h~ui]g Fusstiiider mit Salz, Asche~ Senf oder K0nigswasser~ ich. liess mir zu Zeiten

Ueber Platzfurcht. 379

SchrSpfki)pfe in den Nacken setzen, gebrauchte abffihrende Mittel und nahm Jahre lang t~glieh kalte Waschungen des ganzen K0rpers~ namentlieh des Kopfes vor: - - ebenso enthielt ieh reich 5fters mebrere Monate hindurch des Genusses yon Wein und Bier, beobachtete strenge Diat, allein wenn auch die kalten Waschungen" einigerma~sen yon Wirkung waren, so war dies doch nur ftir ganz kurze Zeit der Fall.

Der jeweilige Aufenthalt in verschiedenen Bi~dern, z. B. Kissingen, Briiekenau~ Reichenhall, Wildbad war nut in sofern yon Erfolg, als ich nicht sowoh| bie Trink- und Eadekur, als den Aufenthalt in freier, gesunder C-e- birgs- und Waldgegend benutzte.

Sowie ich aber in die HLdmathsstadt zur(iekkehrte, so kam auch sofort das Leiden wieder, and ich konnte und kann naeh wie vet einen freien Platz nieht allein tiherschreiten, ohne dass die Angs Lob es mir uuch m6glich, sieh meiner bem~chtigte.

Mein langji~hriger bewhhrter Hausarzt hatte sieh schon frtiher dahin aus- gesproehen, d~ss dem Leiden ein Fehler in den Augen zu Grunde liegen m(~ge: dass z.B. die Strahlenf6rmigkeit des Pilasters auf einem grossen freien Platze das Auge beirre, - - allein meines Erachtens d~;~rfte es damit nieht im Einklange stehen, (lass ich gut und ziemlich weit sehe, den kleinsten Druck lesen kann und noch nie einer Brille bedurft babe; jedoeh habe ich bei etwas kalter oder windiger Witterung stets mit dem Uebelstande zu ki~mpfen, dass mir fortwahrend (lie Augen thranen.

Ich habe mir sehon alle Mt~he gegeben, das Geftihl der Furcht zu tlber- winden, allein der feste Wille wurde dutch die sofort eintretende Furcht unterdrtickt.

Zum Schlusse bemerke ich noch, dass meine Ettern in hohen Altersjahren verstorben sind, dass aber beide frei yon einem i~hnliehen Leiden gewesea, und dass mithin yon einer erblichee Anlage keine Bede sein kann.

Ich selbst, der ieh nun nahezu 40 Jahre den anwaltschaftlichen Beruf ausget~bt, hatte wohl in frtiherer Zeit mehrere Jabre hindurch mit den Folgen eines mehrmonatlichen Sehleimfiebers, mit Magenleiden, vor mehreren Jahren auch mit einem ziemlich stark aufgetretenen Rothlaufe zu kiimpfen, babe reich abet zur Zeit einer ziemlich guten Gesundheit zu erfreuen und pflege meinem obigen Leiden dadurch zu begegnen, dass ich allein auszugehen m0g- lich meide, und wenn es der Fall, stets nur die engeren Str&ssen auszu- wi~hlen pflege.

Vorstehende Zeilen enthalten also meine an mir selbt gemachten Wahr- nehmungen fiber einen Zustand, welchen man in fraherer Zeit unter den allgemeinen Begriff 5 T e r v e n l e i d e n oder S e h w i n d e l eingereiht hat, wel- chert Zustand man abet neuerdings mit dem Ausdrucke , P l a t z f u r c h t " meiner unvorgreiflichen ~Ieinung zufolge wohl am Richtigsten bezeichnet.

380 Briefliche Mittheilungen,

I I .

Herr Dr. G. berichtete mir im Jahre 1871 folgenden Fall (Einzelnheiten fiber neuropathische und psychopathische Zust~nde bei mehreren Familien- mitgliedern, so wie fiber die ~ussere Stellung des Patienten ki~nuen nicht mitgetheilt werden) :

In diesen Tagen theilte mir zufMlig und ungefragt einer meiner Kranken mit~ dass er ~or ein paar Jahren eine Zeit lang an Agoraphobie gelitten habe . . . . . In den Jahren 1866 and 1867 habe ich ihn an Darmkatarrh be- handelt. Im Herbst 1868 klagte er fiber 5fteres Schwindelgeffihl und will dies zuerst im Sommer desselben Jahres bemerkt haben~ als er seiner Nei- Hung zn Darmkatarrhen wegen auf meinen Rath in Kissingen war. Octobor 1868 stfirzte er beim Gehen einmal plOtzlich in die Kniee. Das Bewusstsein war ungetrtibt. Er bezeichnete es als ein unwillkfirliches Zusammensinken. Von da an mied er Verkehr mit Menschen~ well er sich immer ffirchtet% er kSnne einmal wieder umfaller. Je tz t nachtr~glich erst hat er mir erz~ihlt, dass er damals slch gescheut habel fiber einen freien Platz zu gehen, weil er sich geffirchtet, er k5nne dort umfallen. A u c h ihm gewahrte es Erleich- terung, wenn ein Wagen fiber den Platz fuhr, hinter dem e r hergehen kornte. Wegen seiner Neigung za SchwindelanfMlen gab ich' ihm damals ein paar Wochen lang Zinkoxyd in steigender Dosis und liess mehrmals ein paar bht ige SchrSpfkSpfe in den Nacken setzen. Die Erscheinungen besserten sich allmiihlich so, dass er seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Im Winter 1869 machte er sein Examen, erzi~hlte mir aber naehtrgtglich, dass er damals nieht im Stande gewesen w~re, fiber die Elbbrticke zu gehe.n, wegen Schwiudel, und dass er auch deft vermieden hi~tte, fiber freie Pliitze zu gehen. Im Mhrz 1870 machte er eine Krankheit durch, die ich ftir nichts als ein leiehtes Typhusfieber halten konnte. Das Sensorium war immer nur wenig getrfibt, die charakteristischen Ausleerungen waren nicht sehr frequent, die Abendtemperaturen iiberstiegen ~)ie 32 o R., die Morgenremissionen waren immer betrhchtlich~ Bronchial-Katarrh war unbedeutend, Milz m~ssig ge- schwollen, Roseola spiiriich.

Nach 5 Wochen etwa war er wieder reeonvaleseent, Schwindel und Agora- phobie waren geschwunden und sind bis heute nicht wiedergekehrt, nut seit den heissen Tagen fiingt er an, fiber ein Geffihl yon Unsieherheit zu klagen. Ich habe ihn in~s Seebad gesehickt~ hauptsi~ehlieh der Luft wegen. B~der nut ad libitum.

. . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . . . . . . .

Naehdem der Kranke aus dem Seebade zurfickgekehrt, babe ich deu- selben in der yon Ihnen gewfinschten Richtung ausgefragt und dabei die Ueberzeugung gewonnen, dass die yon ihm immer gebrauchte Bezeichnung ,Sehwindel" keine richtige gewesen, sondern dass er immer nur ein Geffihl yon Unsicherheit empfunden~ welches sich gesteigert~ wenn er habe tiber freie Plhtze, die Dresdener Brficke u. s. w. gehen sollen, so dass auch in diesem Falle wieder die Bezeichnung ,,Platzschwindel" nicht, zutreffend wiire.

Ueber Pl~tzfurcht. 381

III.

Die folgende Schilderuug r0hrt yon einem meiner Patienten aus dem Jahre 1873 her:

Mit einem doppelten Leistenbrueh geboren, war ich als Kind etwas schw~chlich, wurde jedoch yon meinem 11. Jahre an sehr kr~ftig und stark. Von dem Bruch blieb keine Spur. Im 16. Jahre bekam ich pl5tzlich, bei einer sehr starken Anstrengung der Stimme beim Singen, sin Nervenziehen auf tier linken 8eite des Gesichts, des Halses, -- wobei auch die Zunge in Mitleidenschaft gezogen wurde, - - im l%cken und endlich in den Fingern der linken Hand. So war die Reihenfolge. Dcr Anfall dauerte etwa 5 bis 6 Minuten. Besinnung und Bewegungsf~higkeit war vollst~ndig vorhanden. Die Anfhlle kehrten wieder in Pausen yon einigen Tagen bis 3, 4 Wochen; im Allgemeinen bef~nd ich reich dabei sonst ganz kr~ftig und wohl. Nach etwa einem Jahre wurden aus diessn Anf~tlen convulsivische Krhmpfe, die mit dem Nervenziehen anfingen, zuerst die links Hand, den linken Arm, die linke KSrperseite und sehliesslich den ganzen KSrper ergriffcn uad mit einer Ohnmacht endeten. Die Dauer des Anfalles stieg auf etwa 8 bis 9 ]~Iinuten. Solcher Kr~mpfe habe ich f0nf gehabt, der erste war der st~,rkste, der letzte - - vom ersten ab abnehmend --- der schw~chste, der kaum zum Ausbruch kam, und diese f0nf Krhmpfe erschicncn in einem Zeitraum yon hSchstens 3 ~Ionaten. Nach ~lem ersteli Anfall hatte ich starkes Erbrechen, das sich noeh 2 Mal wiederholte, war sehr angegriffen und hatte, nachdem ich die Be- sinnung verloren, wohl 11/2 bis '2 8tunden scblal'end gelegen. Da die st~rksten Medicamente Nichts fruchteten, so gebrauchte ich eine Kalt-Wasser-Kur bei Dr. P , der mir zugleich drei Monate lang Zincum lacticum gab. �9 Drei Woehen nach Beginn der Wasser-Kur -- also seit Ende Mai 1862 -- ist kein Anfall mehr gekommen. Es blicb aber sine gewisse nervSse Reizbarkeit, Erregung, ein Eing~nommensein, eine Schwere des Kopfes, namentlich des Hinterkopfes, und diese Erscheinungen waren starker bei grosser Hitze, Khlte, Ge- witter, starkem Winds, bedecktem Himmel. Auch begann nach etwa einem his anderthalb Jahren ein nervSses Magen|eiden, das his he u t e reich hie g a n z verlassen hat und das ich gleich schilder~ werde. Im April 1865 wurde ich Soldat, die kSperliche Anstrengung that wohl; ich machte den Feldzug 1866 in BShmen als 0ffizier mit und kam sehr gesund und krhftig zurtick. Im tterbst 67 bekam ich die Gelbsueht, wie mir schien dadurch, dass ich mir oft und lange dea Stuhlgang verhielt, so dass ich zuweilen 2, 3, selbst 4 Tags keinen Stuhlgang hatte. Hierdurch trat auch mein Magenleiden starker auf und 69 musste ich wieder eine 3monatliche Kalt~asserkur gebrauchen, die sehr guts Wirkung hatte, ohne reich jedoeh ganz gesund zu machen. 1870/71 machte ich den l%ldzug in Frankreich mit, ertrug die grSssten Anstrengungen mit Leichtigkeit und befand reich selbst bei einer ziemtich schweren Verwun- dung ~ Schuss durch den Oberschenkel - - verh~ltnissmhssig sehr wohl. Im Sommer 72, bei vielen Bureau-Arbeiten und dienstlichen Anstrengungen, so- wie zum Theil hierdurch hervorgerufener und bedingter nicht sehr regel- mg.ssigen Lebensweise trat das Mageuleiden sehr stark auf, so stark, dass ich

382 Briefliche Mittheflungen~

sofort wieder in die Kaltwasseranstalt eilte. Ich konnte nur 6 Wochen dort bleiben~ da ieh nach B. commandirt war, so class sich das Leiden wohl besserte, ich aber doch den ganzen Winter leidend blieb und namentlich die Haupt- e'rscheinung des Leidens nicht verlor. Das Leiden i~ussert sicht folgt:

~Eine h~ufige Magenleere, fast:ein Heisshunger, zwingt reich, oft etwas zu essen. Kr~ftige Speisen, mit Bier oder Wein genossen~ mi~ehen reich auf einige Zeit wohler. Die :Nerven sind sehr erregt, die Gesiehtsnerven h~ufig gespannt; zuweilen fiihle ich selbst ein leises Ziftern an versehiedenen Stellen des Gesichts, was reich sehr ~ngstlich macht und aufregt. Der Kopf, nament- lich die untere Partie des Hinterkopfes, ist meist sehr eingenommen, gedriickt wenn ich reich unwohl fiihle, ist mir jedes stii.rkere Gerhusch, jede Erschfit-

.terung, selbst das Fahren im Wagen sehr unangenehm, peinlieh: aufregend. Die Verdauung ist zu rasch, der Stuhlgang unregelm~ssig und oft am Tage, Kommt er 5fter, so greift er m~ch sehr an, erzeugt die Magenleere, die Er- regung der Kopfnerven, Beiingstigung, selbst Herzklopfen~ und ieh kann reich nur retten, wenn ieh etwas esse, etwas Wein oder Bier dazu trinke. Jede kOrperliche oder geistige Anstrengung ruft sehr bald die nervSse Auf~ regung und die Magenleere~ hervor, greift reich dann sehr an. F~lfle ich diese " Besehwerden starker, so bin ich des Kopfes und der sich spannenden ~erven im Gesicht wegen nicht im Stande, zu gehen, wenigstens keine l~tngere Strecke und namentlieh nicht bei bewegter Luft. Endlieh kann ich fiber keinen freien~ ganz ebenen Platz gehen~ namentlich nicht, wenn hohe Hhuser ihn einfassen; bin ich unwohl, kann ich kaum auf der Strasse gehen. Ich ffihle dann im Hinterkopf and im ganzen Kopf~ ja im ganzen K6rper dutch alle Nerven eine solche Macht- und Haltlosigkeit, als fiele ich urn, eine sehreekliehe Bei~ngsti- gung erfasst reich, siedend heiss schiesst es durch alle Nerven, tier Sehweiss br[cht aus, ich werde blass und fahl im Gesicht und ich babe genau das Ge- f~ihl, als wollten die alten Kri~mpfe wiederkommen, oder als bek~me ich einen Sehlaganfall. Dieser Zustand kommt auch, aber nicht so stark, wenn die Magenleere stark wird. Es ist ein Drang, der dem Geftihl naeh aus dem ~dagen zum Herzen und zum Kopf steigt and sich namentlich auch im Halse und dem Gaumen festsetzt. Diese sogenannte Platzangst babe ieh friiher bei dem Magenleiden nicht gehabt~ wenn es mir auch zuweilen unangenehm war, bei leerem Magen grosse Plgttze zu fiberschreiten oder an s ehr hohen Ge- b~uden vorfiber zu gehen. Zum ersten Male bekam ich diesen Anfall im vo- rigen Sommer auf der Mtfiheimer tteide zu KSln zu Pferde~ mitten auf dem grossen freien Raum, whhrend iel~ noch ganz ntichtern war; die iibrigen Er- scheinun~gen, auch die Bei~ngstigung, das Geft~hl der Wiederkehr der alten Krhmpfe etc. habe ieh schon frfiher bei dem Magenleiden~ verbanden mit dem Auftreten der Magenleere gehabt, wenn aueh wohl kaum so stark, als seit dem vorigen Sommer. In letzter Zeit hat sich selbst bei Naeht einige Male das Gefilhl der Magenleere gezeigt, mit allen Erseheinungen~ und hat mich aufgeweekt~ und ich konnte es nur bezwingen, wenn ich etwas ass und trank. Sonst ist der Schlat meist gut und ruhig. - - Schliesslich babe ich noeh an- zufiihren, dass Abfiihren reich sehr angreift, meist sofort die Magenleere er- zeugt~ namentlieh wenn es durch irgend ein Mittel hervorgerufen ist; dagegen ftihle ich reich yon den vielen Stuhlgangsbeschwerden befreit, wenn ich Mor- gens tin grosses warmes Klystier nehme und so die ganze Enfleerung auf

Ueber Platzfureht. 353

einmal h e r b e i f i i h r e . - Seit etwa sieben Wochen hat sieh mein Zustand so verschlimmert, wi~hrend er bisher bier zu ertragen war und sich namentlich in den ersten Monaten meines Hierseins bedeutend besserte.

Ich beabsichtige hier nicht, die Frage nach dem Wesen der ,Platz- furcht" yon Neuem zu discutiren (es ist dies u. A. kfirzlich in der Pariser Soei6t5 m~dico-psyehologique geschehen - - vergl. Annal. m~d.-psych. ]876 Novemb. S. 405); dagegen daft ieh nieht unerw~hnt lassen, dass Herr B e n e di et im 2. Theile seiner ,Nervenpathologie und Elektrotherapie", Leipzig 1876 S. 553, bei Besprechung des in Rede stehenden Zustandes meine Ein- wendungen gegen die frfiher yon ihm gegebene Deutung desselben nicht be- rficksichtigt hat~ geschweige denn, dass er sie widerlegt h~tte. Zwar tr~igt er seine frfihere Anschauung etwas modificirt und mehr tier meinigen sich n~hernd vor~ jedoch, wie mir scheinen will, nicht ohne Widerspruch mit sich selbst. Wenn er trotzdem gegen die ,Phobie" polemisirt und durch die dabei angefiihrten Beispiele der Schein erweckt wird, als widerlegten sie die yon mir vertretene Ansicht, so muss ich ausdriicklieh darauf hinweisen, dass diese Ansicht selbst yon seinen Ausftihrungen gar nicht berfihrt wird, und dass er besten Falls gegen das Wort streitet. Meine ganze AusfShrung geht ia - - und ich glaube doeh recht deatlich gewesen zu sein - - darauf hinaus, dass es sieh bei der Platzfurcht um ein plStzlich entstehendes A n g s t g e f f i h l han- delt: ,Die Angst ist da~ yon selbst, din plStzlich auftretendes fremdartiges Etwas, so wie der Platz iiberschritten werden s o l l . . . ; mit dem Angstgeffihl gleichzeitig, nicht etwa dasselbe begrfindend, sondern durch einen and den- selben Vorgang hervorgerufen~ gleichsam als integrirender Bestandtheil des Angstgefiihls im Bereiche des Vorstellens, springt der Gedanke in dem Pa- tienten auf, nicht fiber den Platz hinfiber zu kSnnen" u. s. w.

Der wesentliche Unterschied zwischen Herrn B e n e d i c t T s Ansicht und der meinigen ist eben der, dass nach ihm ,kein Zweifel darfiber ist~ dass diesem Zustande wesentlich derselbe Mechanismus wie dem Hi~henschwindel zu Grunde liegt" uud ,dass bei manchen Individuen dieser Zustand zweifellos mit Mangelhaftigkeit der seitlichen Excursionsfahigkeit der Augen zusammen- hhngt", w~thrend ich Beides bestreite und bewiesen zu haben glaube~ dass es sich um einen spontanen~ nicht dutch Schwindelgeffihl bedingten Angstzustand handelt. Die neueren Mittheilungen Herrn ]3 e n e d ictus scheinen mir keines- wegs geeignet, diese Ansicht zu erschiittern.

W e s t p h a l .