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Un ive rs i t y o f He ide lbe rg
Discussion Paper Series No. 645
Department of Economics
Kapitalismus versus Marktwirtschaft.
Karl Marx und Fernand Braudel
Malte Faber und Thomas Petersen
Axel Drehera (Heidelberg University, University of
Goettingen, KOF, CEPR, CESifo)
Sarah Langlotzb (Heidelberg University)
February 2018
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Kapitalismus versus Marktwirtschaft.
Karl Marx und Fernand Braudel
Malte Faber und Thomas Petersen*
February 12, 2018
Abstract Since the beginning of the finance crisis, the notion of capitalism and the adjective
capitalistic are more and more employed in public discourse without making an
attempt to define it. In contrast, the concept of market economy is less used. We try
in this paper to differentiate both concepts by going back to the approaches by Karl
Marx (1818-1883) and Fernand Braudel (1902-1985). Marx does not use the term
capitalism but only capitalistic production, while Braudel argues on the basis of a
wealth of empirical evidence that one has to differentiate between capitalism and
market economy, because he sees a contrast between them. For this reason, he has
different view of a capitalistic economy as Marx has.
JEL classification: B14, B24, P10, P16, P5 Keywords: capitalism, capitalistic production, market economy, political economy
* Malte Faber war von 1973 bis 2004 Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor am
Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg. Thomas Petersen ist Privatdozent für
Philosophie an der Universität Heidelberg. – Dieser Beitrag verdankt sich zweier Seminare
über das Thema „Gerechtigkeit im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“, die die Autoren
gemeinsam mit Hans Friedrich Fulda 2016 und 2017 am Philosophischen Seminar der
Universität Heidelberg durchgeführt haben. Er ist ein Vorabdruck eines Kapitels aus dem
Buch Thomas Petersen/Malte Faber: Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft.
Unbehagen am Kapitalismus und die Macht der Politik, 4. revidierte und erweiterte Auflage,
Alber, Freiburg, erscheint März 2018.
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Seit Beginn der Finanzkrise wird der Begriff Kapitalismus sowie das Adjektiv
kapitalistisch immer häufiger verwendet. In der Regel wird kaum der Versuch
unternommen, ihn differenziert einzuschränken. So spricht Thomas Piketty zum
Beispiel ganz unbefangen von Kapitalismus. Anders als den Begriff Kapital definiert
er den Begriff Kapitalismus nicht. Kapitalismus wird von ihm offenbar vage als eine
entwickelte Marktwirtschaft verstanden, in der das Kapital eine dominierende Rolle
spielt.
Im Gegensatz zu Kapitalismus wird der Begriff Marktwirtschaft gegenwärtig immer
seltener verwendet. In diesem Beitrag versuchen wir, eine Abgrenzung beider
Begriffe vorzunehmen, in dem wir auf Arbeiten von Karl Marx und Fernand Braudel
zurückgreifen.
Marx verwendet den Begriff des Kapitalismus nicht, sondern spricht immer nur von
der kapitalistischen Produktionsweise oder kapitalistischen Gesellschaft. Anders
liegen die Dinge bei Fernand Braudel. Braudel denkt wie Piketty aus einer Fülle
empirischen Materials heraus, doch verwendet er den Begriff Kapitalismus nicht naiv.
Braudel definiert nicht nur diesen Begriff, sondern er gibt uns auch Gründe, warum er
von Kapitalismus und nicht wie Marx von kapitalistischer Produktionsweise spricht.
Und weil er überdies nicht nur Kapitalismus und Marktwirtschaft voneinander
unterscheidet, sondern in bestimmter Hinsicht einen Gegensatz zwischen beiden
erkennt, enthält sein Werk eine zu dem marxschen Verständnis alternative
Konzeption der kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Fernand Braudel (1902-1985) ist ein französischer Historiker und ein Vertreter der
sogenannten Annales-Schule, benannt nach der geschichtswissenschaftlichen
Zeitschrift, die heute Annales. Histoire. Sciences Sociales heißt. Die Annales-Schule
hat einen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Schwerpunkt und widmet
langfristigen Entwicklungen vorrangige Aufmerksamkeit. Braudels epochales
dreibändiges Hauptwerk Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts steht
paradigmatisch für diese Ausrichtung; die Titel seiner drei Bände lauten: Der Alltag,
der Handel und Aufbruch zur Weltwirtschaft.
Braudel verarbeitet in diesen Bänden eine Fülle empirischen Materials, wobei er
bewusst begriffliche Unschärfen in Kauf nimmt. Neben diesem voluminösen Werk hat
Braudel (1986) drei Vorlesungen unter dem Titel Die Dynamik des Kapitalismus
publiziert, die ein Resümee seiner Forschungsarbeit in den genannten drei Bänden
darstellen und prägnante Thesen daraus ableiten. Vor allem diese Vorlesungen
zeigen deutlich, wie sich Braudel einerseits an Marx orientiert und andererseits in
vielfacher Hinsicht zu Marx ganz konträren Schlussfolgerungen gelangt.
1. Braudel und die aristotelische Trias
In Braudels großem Werk wird Aristoteles nur an einer einzigen Stelle erwähnt. Doch
Braudels Grundunterscheidung kann ihre Herkunft aus der aristotelischen Lehre von
der Wirtschaft nicht verleugnen. Aristoteles unterscheidet im Wirtschaftsleben drei
Bereiche (siehe Petersen/Faber 2015, Kapitel 11):
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einmal die weitgehend an der Selbstversorgung der einzelnen Haushalte
orientierte landwirtschaftliche und handwerkliche Produktion,
eine periphere Tauschwirtschaft, in der sich Mangel und Überfluss an
einzelnen Gütern zwischen den einzelnen Haushalten über einen Markt
austauschen, wobei bei Aristoteles vom Markt in unserem Sinne gar nicht die
Rede ist, und
drittens eine auf Tauschhandlung beruhende künstliche Erwerbswirtschaft
(Chrematistik), in der es am Ende nicht um den Erwerb von Gütern zur
Bedürfnisbefriedigung, sondern um den unbegrenzten Erwerb von Geld und
Reichtum geht.
In analoger Weise unterscheidet Braudel (1986: 15, 43)
einen Bereich des materiellen Lebens mit der materiellen Produktion,
eine Marktwirtschaft als Sphäre des Gütertausches und
schließlich den Bereich des Kapitalismus, in dem es um Gewinnerzielung und
Geldvermehrung geht.
Die besondere Pointe dieser letztlich auf Aristoteles zurückgehenden
Unterscheidung der Wirtschaftslehre ist, dass Braudel anders als Marx Kapitalismus
und Marktwirtschaft als unterschiedliche, in einzelnen Aspekten sogar gegensätzliche
Phänomene betrachtet. Und außerdem wird sich zeigen, dass Braudel anders als
Marx ohne weiteres bereit ist, auch den Kaufmann des Aristoteles, der sich dem
unbegrenzten Gelderwerb hingibt, durchaus als Kapitalisten zu bezeichnen.
2. Kapital, Kapitalist, Kapitalismus
Während Braudel (1985-6, Band 2: 248-256) in seinem Hauptwerk vor allem die
Begriffshistorie des „Kapitalismus“ dokumentiert, gibt er in seinen Vorlesungen eine
Definition der Begriffe Kapital, Kapitalist, Kapitalismus:
„Das Kapital ist eine greifbare Realität, es umfaßt die leicht identifizierbare Masse der
finanzierbaren Ressourcen, die ständig eingesetzt werden; ein Kapitalist ist ein
Mann, der die Verwertung des Kapital in dem ununterbrochenen Produktionsprozess,
zu dem jede Gesellschaft verurteilt ist, dirigiert oder zu dirigieren versucht; und der
Kapitalismus ist, grob gesprochen (aber nur grob gesprochen), die Art und Weise, in
der – meist aus wenig altruistischen Gründen – dieser ständige Verwertungsprozess
vorangetrieben wird.“ (Braudel 1986: 48).
Damit werden Kapital und Kapitalist ebenso definiert, wie es Marx im ersten
Abschnitt des Kapitels 4 des Bandes 1 des Kapitals tut. Das entscheidende Kriterium
ist der unaufhörliche Verwertungsprozess. Von einer Bindung dieses
Verwertungsprozesses an den „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“ will Braudel
allerdings nichts wissen. Was aber ist dann für Braudel die Quelle des Gewinns oder
des Profits?
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3. Zwei Typen von Tausch
Es ist heute weitgehend üblich, entwickelte Tauschbeziehungen generell unter dem
Begriff einer Marktwirtschaft zu subsumieren. Im Gegensatz hierzu unterscheidet
Braudel (1986: 51 ff.) zwei Formen von Tausch, A und B, und nur mit einer Form von
Tausch will er den Begriff „Marktwirtschaft“ assoziieren. Formen dessen, was Braudel
als Marktwirtschaft bezeichnet, sind der „lokale oder im näheren Umkreis
stattfindende Handel mit Weizen oder Holz […], die zur nächsten Stadt geschafft
werden; ebenso der Handel über größere Entfernungen, wenn er regelmäßig
stattfindet und geplant ist, also routinemäßig abläuft und sowohl den großen wie den
kleinen Händlern Möglichkeiten bietet.“ (ibid.: 49) Diese Form des Tauschs vom Typ
A ist ein „transparenter“ Austausch, „bei dem jede Partei schon im Voraus die Regeln
und den Ausgang kennt und die stets bescheidenen Profite ungefähr einkalkulieren
kann.“ (ibid.: 50) Der Tausch setzt eine arbeitsteilige Produktion voraus, er besteht
zwischen vielen, etwa gleichen Markteilnehmern, folglich herrscht hier im Ideal
vollkommene Konkurrenz. Die Norm der vollkommenen Konkurrenz spielt auch in
den Modellen der Wirtschaftswissenschaften, wie der Mikroökonomie, der
Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und der Wohlfahrtstheorie, eine zentrale Rolle.
Dem gegenüber steht die Tauschform B, „welche Transparenz und Kontrolle meidet“
(ibid.: 50). Die Tauschakte der Form B vollziehen sich nicht auf dem „traditionellen
public market“ der Marktwirtschaft, sondern auf einem private market, den Braudel
sogar einen counter market (ibid.: 51) nennen möchte. Das eigentümliche Feld dieser
undurchsichtigen privaten Märkte ist in der frühen Neuzeit der Fernhandel (ibid.: 52),
dessen ausgedehnte Handelsbeziehungen sich „den üblichen Regeln und
Kontrollen“ entziehen können. Im Fernhandel können sich nur vermögende
Großkaufleute engagieren, die dank der Intransparenz des Marktes auch die
Konkurrenz fernhalten können. Dieser Fernhandel eröffnet die Möglichkeit
exorbitanter Gewinne – natürlich bei hohen Risiken und Unsicherheiten. Bei diesem
Tausch geht es nicht um Bedürfnisbefriedigung, sondern nur um den Gewinn.
Deswegen spezialisieren sich die Großkaufleute nicht auf bestimmte Warengruppen,
sondern suchen sich immer die Bereiche aus, in denen „die wirklich großen Gewinne
winken“ (ibid.: 57). Die Großkaufleute beschränken sich nicht auf den Warenhandel,
sondern betätigen sich auch in Geldwirtschaft, Grundbesitzspekulation, Immobilien,
Agrarwirtschaft sowie anderen gewinnträchtigen Produktionssektoren, wobei sie sich
auffälliger Weise fast „nie für das Produktionsverfahren“ selbst interessieren (ibid.:
57). Weil dieses vielfältige Engagement ein immer größeres Geldvermögen verlangt,
bilden sich bei den Großkaufleuten Dynastien, also Familien, heraus, die über
Generationen und damit lange Zeiträume stetig Vermögen akkumulieren (ibid.: 63).
Diese Tauschform B ist für Braudel die typische Tauschform des Kapitalismus, und
die darin tätigen Kaufleute sind Kapitalisten (ibid.: 55, 57). Aber wie wir schon
angedeutet haben, treten in dieser Parallele große Unterschiede zu Marx hervor.
Wie Marx unterscheidet Braudel also einen einfachen Warentausch, den er als
Marktwirtschaft bezeichnet, von einem kapitalistischen Austausch, bei dem es nicht
um Bedürfnisbefriedigung, sondern nur um den Gewinn geht. Doch für Braudel ist
der Kapitalismus nicht wie für Marx an die Industrieproduktion und an eine dort
stattfindende Ausbeutung der Arbeitskraft gebunden. Vielmehr ist der Kapitalismus
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ursprünglich ein Handelskapitalismus (ibid.: 42). Dieser Handelskapitalismus ist
bereits im Treiben der athenischen Kaufleute am Werke, das Aristoteles (1994) im
ersten Buch der Politik kritisch beleuchtet, während Marx solche Zuschreibungen für
ein völlig verfehltes Quidproquo hält.1 Außerdem würde Braudel die moderne
Gesellschaft nicht als kapitalistische Gesellschaft bezeichnen, weil der Kapitalismus
in seinen Augen bisher „weit davon entfernt [war], die gesamte Marktwirtschaft zu
erfassen oder zu dirigieren, obwohl er sich auf sie als unerläßliche Vorbedingung
stützen mußte.“ (ibid.: 42)
Braudel unterscheidet in seiner Schlussfolgerung „zwei Typen von Austausch. Der
eine ist alltäglich und basiert auf Konkurrenz, weil er einigermaßen transparent ist;
der andere – die höhere Form – ist komplex und an Herrschaft orientiert. Diese
beiden Typen werden weder durch die gleichen Mechanismen noch durch die
gleichen Individuen bestimmt. Nicht im ersten, sondern im zweiten Typus liegt die
Sphäre des Kapitalismus.“ (ibid.: 58)
4. Kapitalismus und Staat
Braudel sieht den Kapitalismus in einer Sphäre von intransparenten
Tauschstrukturen lokalisiert. Darin profitiert er von der Möglichkeit, andere von
lukrativen Geschäften auszuschließen sowie von faktischen wie rechtlichen
Monopolen. Mit anderen Worten, der Kapitalismus umgeht den Markt bzw. die
Marktwirtschaft mit ihrem mehr oder weniger transparenten Tausch. Dazu muss sich
der Kapitalismus aber, wie Braudel ausführt, mit der staatlichen Gewalt verbünden.
Für Braudel ist die Gesellschaft nicht durch ihre ökonomische Struktur allein
determiniert. Sie wird daneben auch durch kulturelle, religiöse und vor allem
politische Hierarchien bestimmt. Diese Hierarchien lassen sich im Allgemeinen nicht
auf die ökonomischen Strukturen zurückführen. Insbesondere ist der Staat nicht „die
Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach Außen als nach
innen [sic im Original, die Verfasser] hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums
und ihrer Interessen notwendig geben“ (MEW 3: 62), und zwar auch dann nicht,
wenn die Bourgeois tatsächlich die staatliche Macht kontrollieren.
„Jede ‚dichte‘ Gesellschaft läßt sich in mehrere ‘Einheiten‘ unterteilen: in den Bereich
des Ökonomischen, des Politischen, des Kulturellen und des Hierarchisch-
Gesellschaftlichen. Das Ökonomische ist nur im Zusammenhang mit den anderen
‘Einheiten‘ zu begreifen, in denen es sich verteilt und denen es zugleich seine Tore
öffnet. Es kommt zur Aktion und Interaktionen. Der Kapitalismus als besondere,
partielle Form des Ökonomischen läßt sich aufgrund dieser Nachbarschaften und
dieser Überlappungen erklären; nur auf diese Weise erkennt man sein wahres
Gesicht.“ (Braudel 1986: 60)
Braudel weist darauf hin, dass der Staat sich gegenüber dem Kapitalismus sowohl
unterstützend und fördernd oder im Gegenteil auch abweisend verhalten kann. So
habe etwa in China der Kapitalismus aufgrund der ablehnenden Haltung des Staates
1 „In Realencyclopädien des klassischen Altertums kann man den Unsinn lesen, dass in der antiken Welt das Kapital völlig entwickelt war, `außer dass der freie Arbeiter und das Kreditwesen fehlten.´ Auch Herr Mommsen in seiner `Römischen Geschichte ´begeht ein quidproquo über das andre.“ Marx (MEW 23: 182)
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keinerlei Chancen gehabt.2 „So agierte der moderne Staat manchmal zugunsten und
manchmal zuungunsten des Kapitalismus, den er nicht geschaffen, sondern geerbt
hat. Einmal ermöglicht er die Ausdehnung des Kapitalismus, ein andermal zerstört er
seine Triebkräfte. Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat
identifiziert wurde, wenn er der Staat war.“ (ibid.: 60)3
Nicht der Kapitalismus bestimmte also die Entwicklung der Gesellschaft, vielmehr
hing er umgekehrt von den gesellschaftlichen Hierarchien ab: „Der Staat stand also
der Finanzwelt entweder wohlwollend oder feindlich gegenüber – je nach seinem
eigenen Gleichgewicht und seiner eigenen Widerstandskraft.“ (ibid.: 60-61). So
wurde „das wirkliche Schicksal des Kapitalismus durch dessen Konfrontation mit den
sozialen Hierarchien entschieden.“ (ibid.: 62)
In den Zeiten vor den modernen Massendemokratien waren solche Beziehungen zur
politischen Macht nur einer kleinen Gruppe von den Vermögenden an der Spitze der
Gesellschaft möglich. Nur diese Gruppe konnte „immer auch Freunde des jeweiligen
Fürsten und Verbündete und Nutznießer des Staates“ (ibid.: 54) sein. Deshalb stellt
Braudel fest: „[I]m Grunde entfaltet sich der Kapitalismus an der obersten Spitze der
Gesellschaft. Hier wurde seine ganze Kraft wirksam und sichtbar. Nur auf der Ebene
der Bardis, der Jacques Coeur, der Jakob Fugger, der John Law oder der Joseph
Necker haben wir eine Chance, ihn zu entdecken “ (ibid.: 59).
5. Kapitalismus oder kapitalistische Produktionsweise
Wir haben im letzten Abschnitt gezeigt, dass Braudel im Unterschied zu Marx das
Politische und den Staat als etwas Eigenständiges ansieht, dessen Aktionen sich
nicht als nur abhängige Funktion des Kapitalverhältnisses begreifen lassen. Dies ist
indessen nur ein Aspekt der tiefgreifenden Differenzen, die zwischen Marx und
Braudel im Verständnis des modernen Kapitalismus bestehen. Dass nämlich Braudel
von Kapitalismus und Marx nur von kapitalistischer Produktionsweise oder
kapitalistischer Gesellschaft spricht, ist weit mehr als nur eine terminologische
Differenz.
Im Grunde stimmen Braudel und Marx nur im Verständnis der Begriffe des Kapitals
und des Kapitalisten überein (siehe oben 2. Abschnitt). Kapital ist ein Gut, Geld oder
allgemeiner ein Finanztitel, das sich in einem ständigen Prozess der Verwertung
befindet, der nur um der Gewinnerzielung willen betrieben wird. Der Eigentümer des
Kapitals und Interessent des Verwertungsprozesses ist der Kapitalist. Der Kapitalist
kann diesen Prozess selbst betreiben oder das auch einem Agenten überlassen.
2 Braudel hat seine Forschung im Jahr 1979 publiziert und konnte daher die Reformen von Deng Hsiao Ping und ihre Auswirkungen nicht mehr berücksichtigen. 3„Während seiner [i.e. des Kapitalismus] ersten großen Phase, in den italienischen Stadtstaaten Venedig, Genua und Florenz, befand sich die Macht in den Händen der Geldaristokratie. In Holland des 17. Jahrhunderts herrschte die Aristokratie der Regenten im Interesse und sogar der Direktiven der Geschäftsleute, der Kaufherren oder Kreditgeber. Die englische Revolution von 1668 markierte ebenfalls den Machtantritt der Geschäftswelt im holländischen Sinne. Frankreich dagegen lag um ein ganzes Jahrhundert zurück: Erst nach der Juli-Revolution von 1830 richtete sich die Handelsbourgeoisie bequem in der Regierung ein.“ (ibid.: 60)
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Die Differenzen zwischen Marx und Braudel liegen im Verständnis des Kapitalismus
bzw. des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Sie betreffen einmal die Stellung
dieses Prozesses zur Marktwirtschaft, das andere Mal seine Stellung zur materiellen
Wirtschaft. Das wollen wir in den nächsten beiden Abschnitten zeigen.
Kapital und Marktwirtschaft
Marx ist sich zwar der Tatsache bewusst, dass es Tauschbeziehungen und Märkte
auch schon vor der Zeit gegeben hat, die sich für ihn als kapitalistische Epoche
darstellt. Marx unterscheidet auf der analytischen Ebene den einfachen Warentausch
von einem kapitalistischen Tausch, in welchem es nicht primär um die Befriedigung
von Bedürfnissen, sondern um die Erzielung von Gewinn geht. Doch es ist Marx´
zentrale These, dass eine entwickelte Tauschwirtschaft stets eine kapitalistische
Tauschwirtschaft ist. Diese These haben wir in Petersen/Faber (2015: Abschnitt 7.2)
hinsichtlich der Analyse der warentauschenden Gesellschaft herausgearbeitet. Wir
haben dort auch darauf hingewiesen, dass Marx in diesem Zusammenhang eine
hegelsche Denkfigur, „Aufhebung im realphilosophischen Kontext“, variiert und sie in
einen anderen Zusammenhang transponiert. Wie Hegels Rechtsphilosophie (1969)
mit dem „abstrakten Recht“ der individuellen Person beginnt, das doch nur in den
konkreten Institutionen von Gesellschaft und Staat sowohl wirklich als auch darin
„aufgehoben“ und bewahrt ist, so ist bei Marx die entfaltete Marktwirtschaft, mit der
Das Kapital beginnt, nur in einer kapitalistischen Gesellschaft möglich. Deshalb gibt
es bei Marx nur eine analytische und keine reale Trennung zwischen Marktwirtschaft
und kapitalistischem Prozess.
Wir wollen das kurz erläutern. Die ersten drei Kapitel des Kapital beschreiben
eine warentauschende Gesellschaft oder eine Marktwirtschaft mit
einfachem Tausch,
allseitigem Tausch unter Vermittlung des Geldes und
schließlich Tauch mit Kredit.
Doch Marx will damit keine historische Abfolge von einfachem und entwickeltem
Tausch zur Kreditwirtschaft behaupten, und auch nicht, dass solche Formen der
Wirtschaft unabhängig vom kapitalistischen Austausch bestehen könnten. Marx’
These ist also, dass es eine solche Marktwirtschaft für sich alleine gar nicht gibt,
sondern sie nur in „kapitalistischer Produktionsweise“ existieren kann. Kapitalistische
Produktionsweise und Marktwirtschaft bilden eine notwendige Einheit. Marx sagt
damit: Es gibt nur kapitalistische Markwirtschaften und was als nichtkapitalistische
Marktwirtschaft erscheint, ist eigentlich gar keine, sondern nur ein Randphänomen.
Ein solches Randphänomen bildet für Marx der periphere Tausch in der
„feudalistischen Produktionsweise“, welche auf der direkten nichttauschmäßigen
Ausbeutung der Bauern durch den Grundherrn beruht.
Braudel (1986: 43) dagegen unterscheidet Kapitalismus und Marktwirtschaft real: Die
Marktwirtschaft ist „nur das Verbindungsglied zwischen Produktion und Konsumtion,
und bis ins 19. Jahrhundert hinein bildete sie nur eine mehr oder weniger dicke und
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resistente – manchmal jedoch auch sehr dünne – Schicht zwischen dem unter ihr
liegenden Ozean des Alltagslebens und den Entstehungsprozessen des
Kapitalismus“.
Braudel hebt hervor, dass es in der Vergangenheit immer wieder entwickelte
Marktwirtschaften gab, die sich nicht zu kapitalistischen Marktwirtschaften entwickelt
haben – wie in China vor dem 20. Jahrhundert. Auch Braudel sieht, dass der
Kapitalismus eine Art von Tausch voraussetzt, doch dies ist typischerweise nicht der
transparente Tausch einer Marktwirtschaft, sondern ein intransparenter Tausch, der
durch asymmetrische Information, faktische und rechtliche Monopole sowie durch
politische Macht dominiert wird. Braudel geht sogar so weit zu sagen, die
kapitalistische Gewinnerzielung vertrage sich mit der Transparenz der
Marktwirtschaft nicht.
Auf der klaren Trennung zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft basiert Braudels
These, der Kapitalismus sei, jedenfalls historisch, nur ein Phänomen an der Spitze
von Wirtschaft und Gesellschaft, das nicht das Ganze der Wirtschaft prägt.
Durchdringt der Kapitalismus so einerseits nicht die Wirtschaft im Ganzen, so ist er
andererseits auch nicht an eine bestimmte Produktionsweise gebunden. Dazu mehr
im Folgenden.
Kapitalismus und kapitalistische Produktionsweise
Für Marx ist die Quelle des Gewinns bzw. des Profits die Mehrwertproduktion durch
die Ausbeutung der Lohnarbeit. Die Ausbeutungs- bzw. Mehrwertrate kann der
Kapitalist durch fortschreitende Mechanisierung und technischen Fortschritt steigern.
Daher ist die dem Kapitalismus eigentümliche Wirtschafts- und Produktionsform die
„große Industrie“, deren Ausbildung und Entwicklung das Gewinninteresse
vorantreibt. Das kapitalistische Produktionsverhältnis mit Privatbesitz der
Produktionsmittel und privater Aneignung der Profite ist so die entscheidende
Triebkraft (siehe Petersen/Faber 2015 Abschnitt 7.6) der Entwicklung der
Produktivkräfte (siehe ibid.: Kapitel 4) und der industriellen Innovation. Die
industrielle Produktion ist die dem Kapitalismus eigentümliche Produktionsform, und
der Kapitalismus ist genuin immer Industriekapitalismus. Dagegen neigt Marx dazu,
Finanz- und Handelskapitalismus als bloße Derivate oder parasitäre Formen dies
Industriekapitalismus anzusehen. Deshalb spricht er niemals von „Kapitalismus“,
sondern von kapitalistischer Produktionsweise, die sich nicht nur durch ihre rechtliche
Verfassung, sondern auch in ihrer materiellen Gestalt der Produktion von anderen
Produktionsweisen wie zum Beispiel der feudalistischen Produktionsweise
unterscheidet. Die feudalistische Produktionsweise beruht nach Marx wiederum
notwendig auf Agrarproduktion.
Die Sicht von Braudel auf den Kapitalismus ist ganz anders. Für Braudel (1986: 47)
gibt es keinen intrinsischen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und industrieller
Revolution. Der Kapitalismus hat die industrielle Revolution nicht hervorgebracht,
sondern nur in besonderem Maße von ihr profitiert. Kapitalismus kann sich überall
dort herausbilden, wo die materielle Wirtschaft das erlaubt, d.h. wo es ein
Mehrprodukt gibt. Braudel nimmt aber nicht wie Marx an, dass der Kapitalismus
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dieses Mehrprodukt in jedem Falle steigert. Der Kapitalismus sorgt nur für dessen
besondere und in der Regel immer ungleicher werdende Verteilung. Der
Kapitalismus prägt nicht die Gestalt der materiellen Wirtschaft. Für Braudel gibt es
daher keine besondere kapitalistische Produktionsweise. Und ebenso wenig
akzeptiert Braudel die marxsche These, dass unterschiedliche Produktionsweisen
eine historische Abfolge bildeten. Typisch für den Kapitalismus sei viel mehr „eine
Gleichzeitigkeit, eine Synchronie“ (ibid.: 84) verschiedener Produktionsweisen. „Der
Kapitalismus ist die Erfindung einer ungleichen Welt“ (ibid.: 83). Deswegen kann er
zugleich auf industrieller Produktion in Westeuropa, Leibeigenschaft in Osteuropa
und Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent beruhen (ibid.: 83-83).
Marx betrachtet kapitalistische Verwertung, entfaltete Marktwirtschaft und industrielle
Produktion als eine Einheit. Braudel aber nimmt diese Einheit in seiner
Unterscheidung zwischen Kapitalismus, Marktwirtschaft und materiellem Leben
auseinander und betont, dass diese drei unterschiedenen Sphären jeweils ihrer
eigenen Dynamik folgen.
Zusammenfassend können wir feststellen: Der Begriff des Kapitalismus bei Braudel
ist zugleich weiter als auch enger als der der kapitalistischen Produktionsweise bei
Marx. Der Kapitalismus ist ein Phänomen, das sich „an der obersten Spitze der
Gesellschaft“ (ibid.: 59) entfaltet hat und das lange Zeit nicht die Wirtschaft als Ganze
prägte, anders als das nach Marx die kapitalistische Produktionsweise tut.
Umgekehrt ist für Braudel der Kapitalismus im eigentlichen Sinne nicht auf die
Epoche der Industrieproduktion beschränkt, sondern er ist ein Phänomen, das zu
allen Zeiten auftreten kann. Anders als Marx sieht Braudel keine Schwierigkeit darin,
die antiken römischen und griechischen Plantagenbesitzer und Großkaufleute als
Kapitalisten zu bezeichnen.
Zudem sieht Braudel den Kapitalismus nicht als treibende Kraft der Entwicklung der
Produktivkräfte. Im Manifest der Kommunistischen Partei haben Marx und Engels
dagegen die Bourgeoisie, also die Kapitalistenklasse, für Ihre „höchst revolutionäre
Rolle in der Geschichte“ (MEW 4: 464) gelobt. Diesem Lob hätte sich Braudel kaum
angeschlossen. Braudel neigt vielmehr dazu, den Kapitalismus nicht als treibende
Kraft, sondern als bloßen Profiteur der gesellschaftlichen Entwicklung der
Produktivkräfte zu sehen. „In der langfristigen Perspektive der Geschichte ist der
Kapitalismus ein später Gast. Er tritt erst ein, wenn der Tisch schon gedeckt ist.“ Er
ist also kein Adler, der die Beute schlägt, sondern eher ein Geier, der das Aas frisst
Braudel 1986: 68).
6. Marx´ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft – eine partikulare und keineswegs
selbstverständliche Position
Braudel stimmt, wie oben erwähnt, in einem wesentlichen Punkt mit Marx überein.
Die Begriffe Kapital, Kapitalist und Kapitalismus sind wie bei Marx auf einen
Verwertungsprozess bezogen, dessen einziger Zweck die Erzielung von Gewinn ist.
Doch sonst formuliert Braudel vor allem Thesen, die Marx widersprechen.
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(i) Braudel macht einen systematischen Unterschied zwischen Marktwirtschaft und
Kapitalismus und will sogar einen Gegensatz erkennen. Denn der Kapitalismus setze
notwendig intransparente Tauschstrukturen und Monopole voraus, die
Marktwirtschaft als solche sei wesentlich transparent.
(ii) Weiter legt Braudel dar, dass der Kapitalismus nur ein Phänomen an der Spitze
der Gesellschaft sei und nicht die Wirtschaft als ganze präge, dass
(iii) er nicht die typische Form der Industriegesellschaft sei und
(iv) dass er nicht die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreibe, sondern nur
parasitär von dieser Entwicklung profitiere.
(v) Schließlich zeigt Braudel durch empirische Forschung, dass der Kapitalismus
immer von gesellschaftlichen und politischen Hierarchien abhängig war, und dass
insbesondere Staat und Politik eine gegenüber ihm eigenständige Sphäre bilden.
Braudels Position macht indirekt deutlich, dass die marxsche Analyse der
kapitalistischen Gesellschaft eine partikulare und keineswegs selbstverständliche
Position ist. Ja sie ist viel weniger selbstverständlich, als die konventionelle
Wirtschaftswissenschaft meint, die ebenso wenig wie Marx Kapitalismus und
Marktwirtschaft unterscheidet und ebenso wie er von der innovativen Rolle des
Kapitalismus bzw. des „freien Unternehmertums“ überzeugt ist.
7. Fragen an Braudel
Braudels Position ermöglicht neue Perspektiven. So ist es in seinem Verständnis
ohne weiteres möglich, den zeitgenössischen chinesischen „Staatskapitalismus“ als
eine durchaus reguläre Form des Kapitalismus zu deuten. Die Nähe vieler
Kapitalisten zur kommunistischen Partei in China ist bekannt; sie ist offenbar
unabdingbar, will man gewinnträchtige Geschäfte größeren Ausmaßes tätigen.
Ebenso bekannt ist das Phänomen der „verdeckten Interessen“: Funktionäre von
Staat oder Partei betätigen sich zugleich als kapitalistische Unternehmer und nutzen
ihre (im Sinne Braudels) hierarchische Macht, um unliebsame Konkurrenten
auszuschalten. Wer Kapitalismus und Marktwirtschaft für identisch hält, wird derlei für
„systemfremd“ halten. Braudel muss das nicht. Er hat beobachtet, dass die
Kapitalisten „immer auch Freunde des jeweiligen Fürsten“ waren, und in China sind
sie nun offenbar gleichsam dieser Fürst selbst.
Freilich mag man sich fragen, ob Braudel seine Thesen nicht überpointiert. François
Bourguignon (2013) weist darauf hin, dass gerade eine entfaltete globale (und
durchaus transparente) Marktwirtschaft Chancen eröffnet, große Gewinne zu erzielen
(auch wenn es dann den Gewinnern wiederum zuweilen gelingt, Quasimonopole
oder Oligopole zu errichten).
Übertrieben scheint auch die Betonung der parasitären Rolle des Kapitalismus.
Braudel (z.B. 1986: 59) begegnet der schumpeterschen Figur des kapitalistischen
Unternehmers als einer Triebkraft des wirtschaftlichen Fortschritts (Schumpeter
1964) mit großer Reserve, weil er der Auffassung ist, dass dieser Unternehmer sich
nur einen übergroßen Anteil des von der materiellen Wirtschaft erzeugten Reichtums
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aneignet. Doch scheint es nicht abwegig, auch dem im Fernhandel tätigen
Großkaufmann die Pionierleistung zu attestieren, unter großen Risiken neue
Handelswege erschlossen zu haben. Wir haben außerdem in Petersen/Faber 2015:
Kapitel 18, http://blogs.faz.net/fazit/2013/10/07/karl-marx-und-gegenwaertige-
finanzkrise-2734/) unter anderem gezeigt, dass die berüchtigten „neuen
Finanzinstrumente“, die in der Finanzkrise von 2008 eine zentrale Rolle spielten,
nicht nur Instrumente zur Bereicherung der Finanzakteure sind, sondern auch eine
produktivitätssteigernde Funktion haben.
Dies führt zu einem weiteren Punkt. Die mit dem Fernhandel verbundenen Risiken
kann nur der vermögende Großkaufmann auf sich nehmen, und nur er vermag die
lange Frist zu überbrücken, die zwischen der Investition und dem schließlich
anfallenden Gewinn liegt. Das leugnet Braudel nicht. Ebenso ist aber zu bedenken,
ob nicht auch die Kapitalakkumulation Voraussetzung für Innovationen in der
materiellen Produktion ist und unter Umständen auch der konzentrierte Reichtum von
Familiendynastien (Braudel 1986: 63-65) in besonderer Weise risikoreiche und nur
langfristig rentierende wirtschaftliche Unternehmungen erlaubt.
Literatur
Aristoteles, (1994) Politik, Reinbek, Rowohlt.
Bourguignon, François (2013), Die Globalisierung der Ungleichheit, Hamburger
Edition, Hamburg.
Braudel, Fernand. (1985-86) Die Dynamik des Kapitalismus, übersetzt aus dem
Französischen, Klett-Cotta, Stuttgart.
Braudel, Fernand. (1985a) Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3 Bände,
übersetzt aus dem Französischen, Kindler, München.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969) Grundlinien der Philosophie des Rechts oder
Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1921), Band 7, Suhrkamp,
Frankfurt am Main.
Marx, Karl, Das Kapital (1867), Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß, MEW
23.
Petersen, Thomas und Malte Faber (2015) Karl Marx und die Philosophie der
Wirtschaft. Bestandsaufnahme – Überprüfung -Neubewertung. 3. Auflage, Alber,
Freiburg.