university of zurich - zora.uzh.ch · warum schweizer politiker am gesundheitswesen scheitern:...

4
University of Zurich Zurich Open Repository and Archive Winterthurerstr. 190 CH-8057 Zurich http://www.zora.uzh.ch Year: 2009 Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins Zweifel, P Zweifel, P. Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. http://www.zora.uzh.ch Originally published at: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25.

Upload: trinhnhu

Post on 14-Aug-2019

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: University of Zurich - zora.uzh.ch · Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins Abstract Die Gesundheitsausgaben

University of ZurichZurich Open Repository and Archive

Winterthurerstr. 190

CH-8057 Zurich

http://www.zora.uzh.ch

Year: 2009

Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern:Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins

Zweifel, P

Zweifel, P. Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zumRücktritt Pascal Couchepins. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich.http://www.zora.uzh.ch

Originally published at:Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25.

Zweifel, P. Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zumRücktritt Pascal Couchepins. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich.http://www.zora.uzh.ch

Originally published at:Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152, 04 July 2009, p.25.

Page 2: University of Zurich - zora.uzh.ch · Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins Abstract Die Gesundheitsausgaben

Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern:Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins

Abstract

Die Gesundheitsausgaben steigen seit langem zügig, und alle Versuche der Politik, dies zu dämpfen,erscheinen mehr oder weniger erfolglos. Der Gesundheitsökonom Peter Zweifel legt dar, wie diegrundlegenden Kräfte bei der Entwicklung des Gesundheitssektors wirken, welche Rolle Bundes- undKantonspolitiker spielen können und wie sich die Konflikte zwischen Bürgern und Politikern in jüngererZeit verschärft haben.

Page 3: University of Zurich - zora.uzh.ch · Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins Abstract Die Gesundheitsausgaben

nzz 04.07.09 Nr. 152 Seite 25 fw Teil 01

Warum Schweizer Politiker am Gesund-heitswesen scheitern

Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal CouchepinsVon Peter Zweifel *

Die Gesundheitsausgaben steigen seit lan-gem zügig, und alle Versuche der Politik,dies zu dämpfen, erscheinen mehr oderweniger erfolglos. Der Gesundheits-ökonom Peter Zweifel legt dar, wie diegrundlegenden Kräfte bei der Entwick-lung des Gesundheitssektors wirken, wel-che Rolle Bundes- und Kantonspolitikerspielen können und wie sich die Konfliktezwischen Bürgern und Politikern in jün-gerer Zeit verschärft haben. (Red.)

Es ist kaum Zufall, dass Bundesrat Couchepinden Rücktritt einreichte, nachdem seine Vor-schläge zur Eindämmung der Gesundheitskosteneinmal mehr auf verbreitete Ablehnung gestossenwaren. Schon von seinen Vorgängern im Amt,Flavio Cotti und Ruth Dreifuss, verlangte das Ge-sundheits-Dossier besondere Sorgfalt und Um-sicht. Vieles spricht dafür, dass dies Ausdruckeines grundsätzlichen Konflikts zwischen Bür-gern und Politikern (namentlich in der Bundes-exekutive) ist, der durch noch so gescheiteLösungsvorschläge höchstens entschärft, abernicht aus der Welt geschafft werden kann.

Anreize durch die KrankenversicherungWir alle haben die Tendenz, uns unter dem Ein-fluss des Versicherungsschutzes leicht anders zuverhalten als sonst. Dieser Effekt ist unter demBegriff des moralischen Risikos (moral hazard) inder Versicherungsbranche wohlbekannt. Er führtdazu, dass versicherte Güter öfter Schaden neh-men und bei der Reparatur mehr kosten, als wennes keine Versicherung gäbe. Im Falle des Gutes«Gesundheit» und der Krankenversicherungnimmt das moralische Risiko nicht weniger alsdrei Formen an.

Als Erstes untergräbt die Krankenversiche-rung das Interesse an der Prävention, man gehtalso ein leicht höheres Risiko mit der Gesundheitein als ohne Absicherung. Diese Spielart desmoralischen Risikos kann man im Einzelfallkaum nachweisen, weil so viele andere Einflüssemit darüber entscheiden, ob wir gesund bleibenoder krank werden. Immerhin kann der Bereichder Zahnmedizin als instruktives Beispiel dienen.Vor dreissig Jahren gab die Weltgesundheitsorga-nisation (WHO) eine vergleichende Studie überdie Zahngesundheit in Auftrag. Sie erwartete,dass die Australier (deren Krankenversicherungdie Zahnversorgung ausschloss) eine schlechtereZahngesundheit aufweisen würden als die Deut-schen (deren Krankenversicherung sie damals invollem Umfang deckte).

Zum Erstaunen der WHO war das Gegenteilder Fall: Die erfassten Deutschen hatten deutlichschlechtere Zähne als die Australier. Eine Zusatz-frage über die Prävention brachte einen wichtigenUnterschied an den Tag. Während die Australierbereits damals von der Zahnseide wussten und siemindestens zum Teil auch verwendeten, war sieden Deutschen kaum bekannt. Unter ihnen gabes auch nur wenige, die ganz allgemein an die prä-ventive Wirkung der Zahnpflege glaubten. Offen-

bar funktioniert bereits nicht einmal die Informa-tion über Prävention – von ihrer effektivenDurchführung ganz zu schweigen –, wenn daseigene Portemonnaie nicht davon betroffen wird.

Mit fremdem Geld rechnenDas moralische Risiko kommt zweitens imKrankheitsfall zum Tragen, indem die Kranken-versicherung die Zahlungsbereitschaft des Pa-tienten bei Gesundheitsleistungen massiv ver-stärkt. Dies kann man an folgendem Beispielsehen: Jemand sei als Patient auf ein Medikamentangewiesen und deshalb bereit, bis zu 100 Fr. ausder eigenen Tasche zu bezahlen. Bei der gelten-den Kostenbeteiligung von 20% darf indessen dasMedikament in der Apotheke bis zu 500 Fr. kos-ten, denn 20% von 500 entsprechen genau derZahlungsbereitschaft von 100 Fr.

Ohne eine prozentuale Kostenbeteiligungkönnte demnach die Pharmaindustrie zusammenmit den Apothekern für die Medikamente sogarunbeschränkt viel verlangen. Dies gilt auch für dieSpitäler bei Aufenthalt und Behandlung in der all-gemeinen Abteilung, da es dort gar keine solcheKostenbeteiligung gibt. Doch die verstärkte Zah-lungsbereitschaft treibt nicht nur die Preise, son-dern auch die Mengen in die Höhe. Schliesslichkann man sich so mehr von den versicherten Leis-tungen wie Medikamente, Arztbesuche, Physio-therapien, ja Spitaltage leisten; und für die Phar-maindustrie, Ärzte und Apotheker, Physiothera-peuten und Spitalleitungen sind höhere Preise einAnreiz, grössere Leistungsmengen bereitzustellen.

Um zu verhindern, dass das ganze Gesund-heitswesen aus den Angeln gehoben wird, bietensich zwei Lösungen an. Die eine – im Krankenver-sicherungsgesetz (KVG) 96 an sich vorgesehen,aber nicht wirklich umgesetzt – besteht darin, dieKrankenversicherer zu Einkäufern der Gesund-heitsleistungen zu machen, die im Wettbewerbauch über Preise verhandeln. Die andere zieltdarauf ab, die Verbände der Krankenversichererund der Leistungserbringer mit der Aushandlungvon Einheitspreisen zu beauftragen.

Teure InnovationenDies beiden genannten Arten des moralischenRisikos erklären, warum das Gesundheitswesenviel kostet; sie erklären jedoch nicht, weshalb esüber die Zeit hinweg immer teurer wird. Dafürbraucht es Einsicht in die dritte Spielart des mora-lischen Risikos, die für die Dynamik der Innova-tion im Gesundheitswesen verantwortlich ist. Dasobengenannte Beispiel möge wieder zur Illustra-tion dienen. Es komme ein neues Medikament mitverbesserten Eigenschaften auf den Markt; diesmöge die Zahlungsbereitschaft unseres Patientenauf 150 Fr. erhöhen. Falls Industrie und Apothekersie voll ausschöpfen, steigt der Preis des Präparatsim Extremfall von 500 Fr. auf 750 Fr. Der Netto-preis für den Versicherten nimmt bei einer20%igen Kostenbeteiligung von 100 Fr. auf 150 Fr.zu. Das ist gewiss eine massive Verteuerung. Dochneuartige Entscheidungs-Experimente, die in derökonomischen Forschung durchgeführt wurden,1

führen zum Befund, dass den Schweizer Versicher-ten rund ein Viertel der Durchschnittsprämie er-

Page 4: University of Zurich - zora.uzh.ch · Warum Schweizer Politiker am Gesundheitswesen scheitern: Grundsätzliche Überlegungen zum Rücktritt Pascal Couchepins Abstract Die Gesundheitsausgaben

nzz 04.07.09 Nr. 152 Seite 25 fw Teil 02

lassen werden müsste, damit sie freiwillig einenVertrag wählten, der nur schon eine Wartefrist vonzwei Jahren für die neuesten therapeutischenMöglichkeiten vorsieht. Dies lässt auf eine hoheZahlungsbereitschaft für neue Behandlungsmög-lichkeiten schliessen. Zudem kann ein neues Prä-parat oder Verfahren für die Patienten insgesamtbilliger werden, sobald man die Zeitkosten miteinrechnet. Angenommen, das Medikament spartdrei Stunden, da beispielsweise der Gang zumArzt oder in die Klinik entfällt. Für jemanden, derseine Zeit mit 25 Fr. pro Stunde bewertet, gehendie Gesamtkosten um 25 Fr. (Kostenbeteiligung+50 Fr., Zeitkosten –75 Fr.) zurück. Nur eben: DerKrankenversicherer zahlt statt 400 Fr. (80% von500 Fr.) ab sofort 600 Fr. (80% von 750 Fr.).

Die Sicht des PolitikersSo wie jeder Bürger, so verfolgen auch Politikerihre eigenen Ziele. Der sogenannte Public-Choice-Ansatz der Wirtschaftswissenschaften geht ver-nünftigerweise von dieser Annahme aus und istdamit in der Lage, das politische Geschehen eingutes Stück weit zu erklären. Die Politiker müs-sen die Macht allerdings auch massgeblich zumWohle der Bürger einsetzen, um in einer Demo-kratie im Amt bleiben zu können. Für einMitglied der Exekutive besteht ein wichtigesMittel zum Gewinnen der nötigen Stimmen (desParlaments auf Bundesebene) in der Gestaltungdes Budgets. Nach dem Zweiten Weltkrieg undbis in die achtziger Jahre hinein war der WHO-Slogan «Health for All» ein probates Mittel,Wahlen zu gewinnen.

So wurde mit der Revision des Krankenver-sicherungsgesetzes von 1964 die Kostenbeteili-gung von 25% auf 10% gesenkt – mit den obenbeschriebenen Folgen. Dazu kamen die konti-nuierliche Ausweitung des Leistungskatalogs derKrankenversicherung und der Bau neuer oderzumindest die Modernisierung bestehenderSpitäler. Der letzte Ausbauschritt war die KVG-Revision von 1996 mit dem Obligatorium derKrankenversicherung; im Gegenzug muss derBundesrat (unterstützt durch die Kantone) seit-her Milliardenbeträge für die Prämienverbilli-gung reservieren.* Peter Zweifel führt am Sozialökonomischen Institut der Uni-versität Zürich den Lehrstuhl für angewandte Mikroökonomie,Gesundheitsökonomie, Versicherungsökonomie, Energieökono-mie und Aussenwirtschaft. Der vorliegende Text entstand wäh-rend eines Forschungsaufenthalts an der Fondation Brocher,Hermance (GE).1 H. Telser et al.: Was leistet unser Gesundheitswesen? VerlagRüegger, Zürich 2004.