versuche über unwirklichkeit
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Wie der neoliberale Fetischismus sich zu einer imaginren Welt
verdoppelt und dadurch das Land Utopia besetzt
Gerhard Stapelfeldt
Zitation: Stapelfeldt, Gerhard (2012): Versuche ber Unwirklichkeit. Wie der neoliberale Fetischismus sich zu einer imaginren Weltverdoppelt und dadurch das Land Utopia besetzt, in: Kritiknetz Zeitschrift fr Kritische Theorie der Gesellschaft
2012 bei www.kritiknetz.de, Hrsg. Heinz Gess, ISSN 1866-4105
Fr Anregungen zum folgenden Text danke ich den ungezhlten Handy- und Smartphone-NutzerInnen
auf der Strae und in ffentlichen Verkehrsmitteln, deren gebannt-schtiger Blick auf das Display
verrt, da sie sich innerhalb der realen lngst in eine virtuelle Welt verabschiedet haben. Dieses aus
ethnologischer Sicht verwunderliche Verhalten, deutliches Symptom einer fortgeschrittenen kommu-
nikativen Verelendung, ntigt zum Versuch, die Frage zu klren: welche gesellschaftlichen Verhlt-
nisse dieses Bedrfnis und Verhalten produzieren und worin das Bedrfnis genauer besteht. Thema-
tisch ist mithin nicht die Technik, sondern deren gesellschaftliche Funktion.
Louisa Gonzales gewidmet
I. Einleitung.
Nur das Land Ou Tpos ist wirklich: Was
vernnftig ist, das ist wirklich; und was wirk-lich ist, das ist vernnftig. (Hegel: Bd. 7, 24)
Was als wirklich gilt, ist das Unwirkli-
che. Als solches ist es erkennbar nur vom
Wirklichen her, in dem nie ein Mensch war,
auf das sich alle Phantasie und Hoffnung rich-
tete. Der bergang vom Unwirklichen zur
Wirklichkeit erfolgt durch Aufklrung undweltverndernde Praxis.
Ist das Wirkliche das Vernnftige, so ist
alle bisherige Gesellschaftsgeschichte das Un-
wirkliche: die Menschen handelten ohne Be-
wutsein ihrer selbst, ohne Bewutsein ihrer
Welt, ohne bewuten Willen (vgl. Marx: MEW
8, 115). Daher imaginierten sie mythologische
und metaphysische Mchte als herrschende
Subjekte der Geschichte und fetischisierten die
Objektivitt. Die Entdeckung Giambattista
Vicos (1725), da der Mensch seine Geschich-
te gemacht habe, allerdings bewutlos, war ein
epochaler Fortschritt im weltgeschichtlichen
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Aufklrungsprozess: der uralte Mythos war
entzaubert. Denn die gesellschaftlich unwirkli-
che konnte nun als fetischistische Welt aufge-
fat werden; die Vernunft-Utopie einer Welt,
in der die Menschen ihrer selbst und ihrer Ver-
hltnisse bewut sind, war offen. Freilich kann
diese Wirklichkeit erst betreten werden, wenn
die Unwirklichkeit der Geschichte und der
gesellschaftlichen Gegenwart aufgeklrt: zu
Bewutsein gebracht ist. So hlt das Unwirkli-
che die Menschen, mit ihren Bedrfnissen, mit
ihrem Bewutsein, mit ihren Verhltnissen:
mit ihrer individuellen und kollektiven Iden-
titt, in seinem Bann. Alle bisherige Aufkl-
rung hat das Gesellschaftlich-Unbewute nicht
abgeschafft, nur rationalisiert.
Die neueste Gestalt des kollektiven Un-
bewuten, des Unwirklichen, ist das Gesell-schaftlich-Imaginre. Das Unwirkliche wird
imaginr, wenn es, unter der Voraussetzung
einer Herrschaft der Verhltnisse (Marx), zur
Konsequenz einer ent-stofflichten Weltverln-
gert wird. Die imaginre Unwirklichkeit ist die
Welt des Denkens, das sich absolut gegen das
Nicht-Denken verselbstndigt whnt: das seine
Genese nicht zu erinnern vermag, das sichabsolute Herrschaft vindiziert. Diese Welt der
losgelassenen Omnipotenzphantasie des Intel-
lekts ist die Welt des rationalisierten, von Gt-
tern gereinigten Fetischismus: solches Denken
ist totalitr. Das Subjekt begibt sich seiner
Fhigkeit, das Unwirkliche, das Imaginre,
durch utopische Erinnerung zu transzendieren,
beim Namen zu nennen.
Ohne Utopie kein Bewutsein des Be-
stehenden, keine Erinnerung. Fhrt nichts aus
dem Daseienden immanent hinaus, ist jede
Einsicht in das, was die Welt im Innersten
zusammenhlt, verloren. Das Unbewute er-
scheint als unendliche Hufung atomistischer
Sachverhalte, das Denken verliert seine Fhig-
keit zur Aufklrung: zum Bewutsein der Ein-
heit des Verselbstndigten (vgl. Marx: MEW
26.2, 510, 514).
II Mythos, brgerliche Aufklrung,
Dialektik der Aufklrung
Der theoretische und praktische Weg zur Wirk-
lichkeit ist vielfach beschrieben und beschrit-
ten worden; es war ein immer anderer Weg.
Die gesamte europische Philosophiegeschich-
te kann als Entdeckungsgeschichte des Landes
Nirgendwo dargestellt werden; der Fortschritt
der Gesellschaftsgeschichte war ein Fortschritt
ber Krisen und Revolutionen, getrieben von
der Suche des Ou Tpos.
In der mythologischen, scheinbar von
Gttern durchdrungenen Welt wird Erkenntnisauf eine gttliche Offenbarung zurckgefhrt,
die den sinnlichen Menschen prinzipiell ver-
schlossen ist. Parmenides aus Elea (um 540-
470) erkannte das Wirkliche als das immer-
gleiche, mit sich identische Sein. Es wurde ihm
durch die Gttin Dike zuteil. Von hier aus
erschien ihm die Welt der sterblichen Men-
schen als eine Tuschung, als ein Entstehen
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und Vergehen. Auch Heraklit (um 550-480)
war sich bewut, da die Menschen in der
Tuschung leben, das Wahre und Wirkliche
aber der gttliche Logos ist. Den Logos freilich
explizierte er nicht als das Identische, sondern
als Einheit von Gegenstzen, die ineinander
bergehen. Platon (um 427-347) endlich lehrte,
da durch die kritische Aufklrung von Wider-
sprchen der Weg zur Ideenwelt fhrt, zu dem,
was jegliches wirklich ist zur Sache
selbst. Das Wirkliche ist, in der antiken Philo-
sophie, allein als wahre Wirklichkeit, die jen-
seits der sinnlich erfahrbaren Welt der endli-
chen Menschen liegt: die Wirklichkeit ist gtt-
lich, die sinnliche Welt transzendierend aber
nicht transzendent.
In der frhbrgerlichen, metaphysischen
Philosophie schreibt sich der brgerlicheMensch Gottesebenbildlichkeit zu und damit
die Fhigkeit, Gottes Schpfung zu erkennen
und nachzuvollziehen. Ren Descartes (1596-
1650) wute, an allem vor allem an der sinn-
lichen Gewiheit zweifelnd, da wahre Ur-
teile ber sinnliche Gegenstnde nur auf der
Grundlage des Beweises vom Dasein Gottes
gefllt werden knnen: alles ist aus Gott als derersten Ursache zu deduzieren. Die Erkenntnis
hat kausalrational Gottes Schpfung nachzu-
konstruieren. Insofern ist die Existenz Gottes
das Allerwirklichste; sonst ist das Gegebene
tuschend. Umgekehrt argumentierte Francis
Bacon (1561-1626): Die Natur, die Dinge
selbst, sind allein durch gttliche Offenba-
rung zugnglich, weil die Natur eine gttli-
che, subjektive Natur ist, die nicht einfach
durch die Sinne gegeben ist, sondern durch ein
vernunftgeleitetes Schauen. Von hier aus ist
alles induktiv abzuleiten.
Da die gesellschaftliche Welt als eine
objektive Tatsachenwelt erscheint, ist ein Pro-
dukt der brgerlichen Aufklrung:die Epoche
des Liberalismus. Die revolutionre Aufkl-
rung setzte die gesellschaftliche Welt der
Welt der Natur (Vico 1725, 331), den
Tauschwert der Waren ihrem Gebrauchs-
wert (Smith 1776, Buch I/IV/38f.), die Sub-
jektivitt der Objektivitt entgegen (Hegel:
Bd. 2, 20ff.). Durch diese Entzweiung wurde
die mythologische, auch die metaphysische
Welteinheit aufgebrochen: durch Aufklrung
entzaubert. Indem aber das Subjekt der Objek-
tivitt entgegengesetzt war, schien die Weltder Natur, schien das Ding an sich, uner-
kennbar als ein den subjektiven Begriffen
Entzogenes. Der Mensch, so erschien es Gi-
ambattista Vico (1668-1744) ebenso wie Im-
manuel Kant (1724-1804), ist in seine Produk-
te und seine Begriffe eingesperrt und vermag
nur Erscheinungen, nicht das Wirkliche selbst,
zu erkennen.Indes hat jene Entzweiung von Subjekti-
vitt und Objektivitt die Konstitution einer
neuen, rationalen Subjekt-Objekt-Identitt zur
Folge: eine Re-Mythologisierung der gesell-
schaftlichen Welt. Denn die Gesellschaft, der
sinnlichen Welt im allgemeinen, den Men-
schen insbesondere gegenbergestellt, ist eine
diesen entfremdete, sie beherrschende Subjek-
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tivitt: eine bewutlose Allgemeinheit. Das
Entgegengesetzte ist ein Vorausgesetztes, eine
unbewute Setzung. Als ein bersinnliches
Gesellschaftlich-Unbewutes werden die ge-
sellschaftlichen Verhltnisse auf die sinnliche
Welt projiziert und konstituieren eine sinnlich-
bersinnliche zweite Natur (Hegel: Bd. 12,
57): den Fetischcharakter der Ware (Marx:
MEW 23, 85ff.), in dem der bersinnliche
Wert der Ware an deren sinnlichem
Gebrauchswert erscheint. Durch die entgegen-
setzende, voraussetzende Aufklrung wird die
ihrer selbst bewute Vernunft zum bewutlo-
sen Verstand herabgesetzt (Hegel: Bd. 2,
20ff.), der seine Bewutlosigkeit auf die Welt
projiziert und dadurch eine fetischistische,
bewutlose Objektivitt konstituiert. Das nennt
Hegel: die List der Vernunft (Hegel: Bd. 12,49). So hat die Dialektik der brgerlichen Auf-
klrung den alten Mythos aufgebrochen, um
diesen sogleich durch eine gesellschaftliche
Welt von Tatsachen und kausalen Gesetzen zu
substituieren eine Welt des nur rationalisier-
ten Mythos, des daseienden unbewuten All-
gemeinen. Die Herrschaft der Verhltnisse
(Marx, Engels: MEW 3, 424) erscheint alsWelt anonymen Sachzwangs, als Welt eines
berindividuellen, undurchschaubaren gesell-
schaftlichen Schicksals. Weil in dieser gesell-
schaftlichen aufgeklrten Welt die Verhltnisse
bewutlos sind, erscheint der brgerliche Kos-
mos als Welt isolierter Menschen und Tatsa-
chen. Die allgemeine Atomisierung ist das
Produkt der Verselbstndigung der Gesell-
schaft zu einem transzendentalen Subjekt.
Durch jene absolute Entzweiung von
Subjekt und Objekt und deren bewutlose I-
dentifikation war der Boden fr den naturwis-
senschaftlichen Positivismus Auguste Comtes
(1798-1857) bereitet: die Setzung der Wirk-
lichkeit als Wirklichkeit von Tatsachen, die
kausal miteinander verbunden sind. Aber auch
Comte war sich bewut, da die Wirklichkeit
kein schlicht Gegebenes ist: unser Geist
bedarf einer Theorie, um sich der Beobach-
tung hingeben zu knnen. Wenn wir die Er-
scheinungen nicht an ein Prinzip heften kn-
nen, so knnen wir unsere Beobachtungen
nicht miteinander verbinden, ja sie nicht ein-
mal festhalten. (1830/42, 4) Die Erkenntnis
der kausal strukturierten Tatsachen-
Wirklichkeit nennt Comte (1844, 31) daher dieideale Grenze der Erkenntnis: diese hat mit
einer theologischen Erkenntnis zu beginnen,
zur Metaphysik fortzuschreiten und erreicht
endlich das positive Stadium einer tatsa-
chengesttzten Erkenntnis nur durch eine stn-
dige Annherung an die Tatsachen-
Wirklichkeit. In dieser wre alle Subjektivitt
in Objektivitt aufgelst, in dieser wre alleTranszendenz liquidiert. Die Utopie des Positi-
vismus ist eine kausalrationale Wirklichkeit, in
der Menschen, Gesellschaft und Natur als eine
Mechanik eins, in der alle Freiheit und Subjek-
tivitt in der immergleichen Notwendigkeit
untergegangen sind. So steht der naturwissen-
schaftliche Positivismus auf dem Standpunkt
des Warenfetischismus. Indem er die Wirk-
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lichkeit als Tatsachen-Welt konstruiert, ist er
die Gestalt der in Gesellschafts-Mythologie
umgeschlagenen Aufklrung. Von hier sind die
Theorie und Praxis der wissenschaftlich-
technischen Revolution ebenso wie die der
Modernisierung,der brokratischen Herrschaft
und des technokratischen, keynesianischen
Staatsinterventionismusausgegangen.
Ist die Setzung der gesellschaftlichen
zweiten Natur als naturkausaler Kosmos von
Tatsachen ein Produkt der Aufklrung, der
Fixierung des gesellschaftlichen Fetischismus,
so mu analog das einst aufklrerische Gesell-
schaftlich-Unbewute zu einem Gesellschaft-
lich-Irrationalen fixiert werden. Das hat der
geisteswissenschaftliche Positivismus ber-
nommen. Diltheys Kritik der historischen
Vernunft (Werke VII, 191ff.) richtete sichgegen Hegels (Werke Bd. 10) Versuch, die
bewutlosen Gestalten des objektiven Geis-
tes Recht, Moralitt und Sittlichkeit (Fami-
lie, brgerliche Gesellschaft, Staat, Weltge-
schichte) durch die Philosophie des absoluten
Geistes doch noch zu Bewutsein zu bringen.
So negiert der geisteswissenschaftliche Positi-
vismus die Vernunft und ihre Verwirklichung:als innerphilosophische Vershnung (Hegel)
oder durch eine revolutionre Praxis (Marx).
Er erfat das gesellschaftliche und geschichtli-
che Irrationale als einen irrationalen Sinn, der
an die Stelle der liberalen Vernunft-Moral tritt;
er erkennt den irrationalen Sinn durch ein pri-
vatistisches Sinn-Verstehen, das an die Stelle
der gesellschaftlichen Aufklrung und der
liberalen Verstndigungs-Utopie tritt; er lst
die Gesellschaftsgeschichte in die individuelle
Biographie auf und setzt dadurch das Indivi-
duum als ein total vergesellschaftetes, also
liquidiertes Individuum. Der geisteswissen-
schaftliche Positivismus ist die Apologie des
Gesellschaftlich-Irrationalen, die Philosophie
des autoritren Charakters in einer autoritren,
sinn-konformistischen Gesellschaft. Von hier
ist der Neoliberalismus ausgegangen (vgl.
Hayek 1952; 1960).
Der naturwissenschaftliche Positivismus
im frhen 20. Jahrhundert folgt der durch
Comte begrndeten Tradition. Der Logische
Positivismus des Wiener Kreises (um 1920)
lehrt, die Wirklichkeit erschliee sich durch
Protokollstze, aus denen allgemeine Stze
induktiv abzuleiten seien. Karl Raimund Pop-per (1902-1994) argumentiert dagegen, wie
einst Comte (Popper 1984, passim): Jede Aus-
sage ber Tatsachen ist begriffsvermittelt. Ist
das Ziel die Erkenntnis der Tatsachen-
Wirklichkeit, so sind Begriffe als Hypothesen
aufzufassen. Aus ihnen sind deduktiv Stze
abzuleiten, die mit den Tatsachen zu konfron-
tieren sind, um sie dem Scheitern (Falsifikati-on) auszusetzen. So besteht die Erkenntnis in
der permanenten Anpassung der Begriffe, des
Subjekts, an die Tatsachen-Objektivitt: das
Dasein ist das Ganze, das Allerrealste.
Den endlosen Kreis von naturwissen-
schaftlichem Rationalismus und geisteswissen-
schaftlichem Irrationalismus (vgl. Horkheimer
1934) hat der Hegel-Marxismus nach 1920
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aufgeklrt und aufgehoben. Gegen die positivi-
stische Annahme der Wirklichkeit als Realitt
von Tatsachen, die gleichwohl keine einfach
gegebene Faktizitt sind, sondern eine ideale
Grenze der Erkenntnis darstellen, haben Ge-
org Lukcs (1885-1971) in Geschichte und
Klassenbewutsein (1923, 58ff.) und Theodor
W. Adorno (1903-1969) in seinem Beitrag
zum Positivismusstreit in der deutschen Sozio-
logie (GS 8, 547ff.) eingewendet: Der Positi-
vismus steht auf dem Standpunkt des unbe-
wut-bewuten Fetischcharakters der Ware
(Marx: MEW 23, 85ff.; vgl. Horkheimer 1937,
533), weil er die unbewute gesellschaftliche
Welt in die Welt der Natur (Vico), Subjek-
tivitt in Objektivitt auflst und die Fiktion
gesellschaftlicher Naturgesetze zum Dogma
erhebt. Diese Identifikation von in den Kate-gorien der Kritik der Politischen konomie
Gebrauchswert und Wert sei vielmehr aufzu-
klren als Projektion bewutloser gesellschaft-
licher Verhltnisse auf Natur, bewutlos
vorausgesetzter Begriffe auf das Begriffene. In
dieser bewutlosen Projektion ist Gesellschaft
Natur, Natur Gesellschaft. So hat Adorno die
Konstruktion der gesellschaftlichen Welt alsTatsachenwelt nicht als falsch verworfen, son-
dern aus einer Dialektik der Aufklrung zu
Bewutsein gebracht und als realittsgerecht
anerkannt. Das Telos dieser Aufklrung ist
durch Hegel und noch mehr durch Marx aus-
gesprochen worden: Aufklrung der brgerli-
chen Aufklrung durch weltverndernde Praxis
Die Idee wissenschaftlicher Wahrheit ist
nicht abzuspalten von der einer wahren Gesell-
schaft. (Adorno: GS 8, 309) Wirklichkeit,
nicht Tuschung, wre allein in einer vernnf-
tigen Gesellschaft: in einer Gesellschaft, in der
die Menschen ihrer selbst und ihrer Ver-
hltnisse bewut wren. Der gesellschaftliche
Fetischismus ist von hier aus als das Unwirkli-
che zu erkennen.
III. Konstitution einer entstofflichten,
imaginren Gesellschafts-Welt: Apolo-
gie des Gesellschaftlich-Unbewussten
Die brgerliche konomie: der Kapitalismus,
hat sich in der Epoche des liberalen Industrie-
kapitalismus gesellschaftlich und politisch als
ein System der Freiheit konstituiert, whrend
spiegelbildlich die Natur als ein zu beherr-
schendes Objekt gesetzt war. Erst nach der
Krisis von 1873/79, die den bergang vom
Liberalismus zum Imperialismus erzwang,
wurde die Naturbeherrschung auf das Funda-
ment der wissenschaftlich-technischen Ratio-
nalitt des naturwissenschaftlichen Positivis-
musgestellt, whrend die Gesellschaft sich zu
jenem kollektiven Irrationalen entwickelte, das
der geisteswissenschaftliche Positivismus aus-
sprach. Das Ganze dieses irrational-rationalen
Kosmos reflektiert Max Weber (1864-1920)
nach 1900 als eine Brokratisierung von Wirt-
schaft und Gesellschaft: als ein unberschreit-
bares, technisch-rationales Gehuse der H-
rigkeit. Max Horkheimer (1895-1973) hat
diesen zur Konsequenz eines technischen
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Kosmos einer Maschinenwelt von Maschi-
nenmenschen gebrachten gesellschaftlichen
Fetischismus als irrational-rationale totalitre
Ordnung dargestellt (Zeitschrift fr Sozialfor-
schung, Vol. IX, No. 2, 195). Die liberale List
der Vernunft war nun, der Vernunft entklei-
det, zu einem irrationalen Allgemeinen ver-
dinglicht und uerte sich in einer zugleich
normativ irrationalen und kausal-rationalen
gesellschaftlichen Welt.
Erst der nach 1973/75 implementierte,
nach 1990 als Globalisierung gefeierte Neo-
liberalismusaber hat aus dem Fetischismus der
brgerlichen konomie: der Identifikation von
Gesellschaft und Natur, von Wert und Ge-
brauchswert der Ware, die fllige Konsequenz
gezogen. Der Neoliberalismus setzt die Ge-
genaufklrung der Geisteswissenschaften fort:
die Gesellschaft sei integriert durch unbewute
Traditionen,der ein gesellschaftstheoretischer
Antirationalismus zu entsprechen habe; auf
dieser gesellschaftlich-irrationalen Grundlage
erst sei Rationalitt als individualistische,
technische Rationalitt a posteriori mglich
(vgl. Hayek 1960, 78f., 85, 87). Durch diesenmethodologischen Antirationalismus, durch
diese Apologie des Gesellschaftlich-
Unbewuten, proijiziert der Neoliberalismus
gesellschaftliche Verhltnisse auf die Natur
und erkennt in der Natur den gesellschaftlichen
Wettbewerbskampf wie einst Darwin nur in
umgekehrter Erkenntnis (vgl. Hayek 1960, 72-
74; Popper 1984, 109, 119, 190ff., 243ff.). DieApologie des unbewuten Allgemeinen ist der
vollendete Fetischismus: die Identifikation von
Gesellschaft und Natur, die Re-
Mythologisierung der Gesellschaft. So ist der
Neoliberalismus die Anti-Utopie: die vollen-
dete Verdinglichung der Welt, so da es kei-
ne Natur mehr gibt (Adorno: GS 11, 285).
In der antirationalistischen Aufhebung
der Natur in die Gesellschaft liegt die Konsti-
tution einer ent-stofflichten, imaginren Ge-
sellschafts-Welt: einer Welt des total verselb-
stndigten Tauschwerts. Das ist der letzte
Stand des gesellschaftlichen Fetischismus: der
Zustand, in dem es keine Natur mehrgibt.
So hat der Neoliberalismus die gesellschaftli-
che Welt in eine Welt blinder Traditionen und
die technische Beherrschung der Natur auf die
Ebene einer berwindung der sinnlichen Natur
gehoben. Gesellschaft und Natur, so scheint es,sind in einem imaginr-entstofflichten Kosmos
verschmolzen. konomisch scheint der Wert
der Waren absolut verselbstndigt, so da die
Selbstbeziehung des Werts als Kapital durch
kein Nichtidentisches vermittelt ist. Dieser
neue Kosmos des Imaginren, des Kapitals,
gilt nunmehr: als das Wirkliche.
Die Konstitution dieser zum Imaginren
gesteigerten Unwirklichkeit war das Produkt
zweier konomischer Krisen. Einerseits war
um 1975 der staatsinterventionistische Versuch
gescheitert, die berproduktionskrise von Ka-
pital durch eine defizitr finanzierte Politik der
Nachfrage-Subventionierung auf dem Binnen-
ebenso wie auf dem Weltmarkt zu berwinden.
So wurde eine Steigerung der Produktivkrfte
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unvermeidlich, um der Entwertung von Kapital
zu entsprechen.
Andererseits publizierte im Jahre 1972,
whrend des Zusammenbruchs des Weltwh-
rungs- und Weltwirtschaftssystems von Bret-
ton-Woods, der Club of Rome: Die Grenzen
des Wachstums(1973). Das darin ausgebreitete
Krisenszenario war einfach: Wenn Wirtschaft
und Bevlkerung exponentiell wachsen, ten-
diert das Wachstum gegen unendlich; jedoch:
unsere Erde ist nicht unendlich. (a.a.O., 74)
Deshalb seien, so wurde durch Modellrechnun-
gen vorgefhrt, die Rohstoffe der Erde, die
Fhigkeit der Natur, Schadstoffe aufzunehmen
und der landwirtschaftlich nutzbare Boden in
einigen Jahrzehnten erschpft. Das sei das
Ende des konomischen Wachstums-
Imperativs.Auf diese Krisentendenzen antwortete
der sich um 1973/75 gegen den bis dahin do-
minierenden Staatsinterventionismus durchset-
zende Neoliberalismus mit drei Techniken,die
versprachen, die endliche Basis der Kapital-
akkumulation zu berwinden und somit einen
krisenfreien Kapitalismus zu konstituieren, in
dem das Kapital von keinem Externen depen-diert: Reaktortechnologie, Biotechnologie,
Informationstechnologie.
Durch dieReaktortechnologie,so wurde
gehofft, lasse sich die Menge verfgbarer E-
nergie ins Unendliche steigern. Denn die Koh-
levorrte schienen alsbald erschpft. Die Prob-
leme der Abhngigkeit Nordamerikas und
Westeuropas vom Erdl wurden durch die
Erdl-Schocks als Folge von Yom-Kippur-
Krieg (1973) und Iranischer Revolution (1979)
deutlich. Indes hat sich die Endlichkeit der
Kernenergie lngst gezeigt: es gibt prinzipiell
keine Mglichkeit einer risikolosen Entlage-
rung des radioaktiven Materials.
Durch die Biotechnologie, so wurde
gehofft, knne der Mensch die Fesseln der
Natur sprengen (UNDP 1999, 67) und die
lebendige Natur reproduzieren, wenn nicht gar
produzieren den Rohstoff der DNA als ver-
fgbar vorausgesetzt. Durch die biotechnolo-
gisch produzierte und reproduzierte Natur wird
diese, konomisch, zum patentierbaren Privat-
eigentum transnationaler Konzerne. Durch die
Biotechnologie scheint die Mglichkeit auf,
Menschen in gewnschter Verfassung zu pro-
duzieren oder zu selektieren. Durch die Bio-technologie scheint der Mensch als Artefakt
mglich und damit als Objekt absoluter Herr-
schaft von Menschen ber Menschen. Indes:
Diese Technologie bedarf immer noch eines
stofflichen, in der Natur vorfindlichen Sub-
strats und diese Ressource findet sich vor
allem in den artenreichen Regionen der Erde,
eben in den Entwicklungslndern.Durch die Informationstechnologie, so
wurde gehofft, knne der Mensch die rumli-
chen und zeitlichen Grenzen der Welt aufhe-
ben, also die Fesseln von Kosten, Zeit und
Entfernung sprengen (UNDP 1999, 67). Der
Mensch scheint in der informations-
technologisch konstituierten virtuellen Welt
auf unbegrenzt verfgbare Informationen zu-
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rckgreifen, mit allen Menschen, mit der ge-
samten Menschheit kommunizieren, virtuelle
Artefakte ohne Rcksicht auf stoffliche Gren-
zen konstruieren zu knnen. Eine allein von
Menschen gemachte, von Menschen grenzen-
los beherrschbare Welt scheint mglich. Der
Rohstoff dieser Welt ist indes: der endliche
Mensch mit seinen Wnschen und Phantasien,
seinem Wissen und seinen Bedrfnissen, sei-
nen Informationen ber die gegebene Welt.
Das ist die Grenze der grenzen- und zeitlosen
virtuellen Welt.
Diesen drei Technologien liegt eine
autoritre Idee von Wirklichkeit zugrunde.Als
wirklich gilt das, was allein von Menschen
gemacht scheint,was allein in der Macht und
Herrschaft von Menschen liegt, die nichts sind
als das ego cogito ergo sum(Descartes 1844,I/7) auch wenn die Nutzer der Informations-
technologie diese nicht verstehen, sondern nur
wissen, da sie diese prinzipiell verstehen
knnten. Alles Fremde, Nichtidentische, Un-
durchschaute, vom reinen Denken des Men-
schen nicht Hergestellte scheint eliminiert. Die
res cogitans scheint sich zum Schpfer-Gott
erhoben zu haben und sich eine Welt nachihrem Bilde konstruiert zu haben: eine Welt
grenzenlosen Wachstums, eine Welt grenzen-
loser Kapitalakkumulation die Welt des ab-
solut verselbstndigten konomischen Identi-
tts-Prinzips (vgl. Marx: MEW 26.3, 122-140):
des Waren-Werts. Weil in dieser Welt alles
von Menschen erschaffen scheint, zu deren
Natur ... nur das Denken gehrt (ebd. I/8)
gilt sie als das Allerwirklichste. Es ist eine
unwirkliche, imaginre Welt: die Welt einer
totalen rationalen Gesellschaftsmythologie, in
welcher der Mensch sich selbst, als ein sinnli-
ches und besonderes Wesen, liquidiert und als
ein immergleiches, rein rationales ego cogito
konstituiert. Die Ratio ist der Fetisch, die voll-
endete Herrschaft: ohne emanzipatorische Ver-
nunft. So ist die imaginre Welt: totalitr.
Nichts bleibt drauen, das Imaginre ist das
Ganze. Was jenseits steht, was sich der totalen
technischen Beherrschung nicht fgt, wird
inkludiert oder eliminiert. Die Aufklrung, die
des Spiegels (speculum) bedarf, um das Selbst
in seiner Einheit und Differenz zum Anderen
zu erkennen, hat die Bedingung ihrer Mglich-
keit verloren so scheint es.
IV. Krisentendenzen und neue Strate-
gien der Akkumulation in einer imagi-
nren Welt
Die Krisentendenzen des Kapitals konnten
durch die neuen Technologien, durch die neue
Ordnung, durch die Wissensproduktion nicht
berwunden werden. Nach der Weltwirt-
schaftskrise von 1975 hat die technologische
Rationalisierung der industriellen Produktion
nicht ausgereicht, um das erhebliche Absinken
der Raten des wirtschaftlichen Wachstums in
den USA und vor allem in den Staaten der
Europischen Union aufzuhalten. Auch der
bergang zum Dienstleistungskapitalismuskonnte diese Tendenz nicht stoppen. Die Wis-
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senskonomie geriet durch das Ende der New
Economy um 2000/2001 an ihre Grenzen. So
wandte sich das Kapital um 1995/2000 neuen
Strategien der Akkumulation in einer imagin-
ren Weltzu.
Der Fortgang erfolgte durch den ber-
gang der Kapitalinvestitionen vom industriel-
len Sektor zum Finanzsektor. In diesem wur-
den Instrumente erdacht, um eine grenzenlose
Steigerung der Profite zu ermglichen.
Termingeschfte:Produzenten und Ku-
fer schlieen einen Vertrag ber einen Handel
zum gegenwrtigen Preis und zu einem zu-
knftigen Termin. Solche Geschfte sind lange
aus dem Bereich des Vieh- oder Getreidehan-
dels bekannt. Sie eigneten sich immer schon
als Spekulationsgeschft: Terminhndler kn-
nen am realen Preisverfall oder an Preissteige-rungen von Produkten gewinnen.
Derivate: Termingeschfte, durch die
die Spekulation zum einzigen Zweck des Ge-
schfts wird. Derivate sind in den Formen von
Futures, Swaps und Optionen gelufig gewor-
den:
Futures: Vertrge ber die Lieferung
eines Finanzprodukts zu einem bestimmtenTermin und Preis.
Swaps: Kauf eines Finanzprodukts per
Kasse und gleichzeitiger Verkauf des Produkts
per Termin.
Besonders wichtig sindAktienindex- und
Devisen-Futures/Swaps.Sie stellen eine Wette
auf die Entwicklung eines Aktienindex (etwa:
Dow-Jones; DX) oder einer Whrung dar. Der
Spekulant erhlt im Fall der Spekulation mit
Brsenindizes tgliche Gutschriften, wenn der
Index sich in der erwarteten Weise verndert;
im umgekehrten Fall verliert er. Diese Techni-
ken haben die Rede von einem Casino-
Kapitalismus plausibel gemacht. Die Br-
sennotierung von Aktien hngt nicht am mate-
riellen Wert von Unternehmen, sondern an den
erwarteten Gewinnen, an der Verzinsung der
Aktien. Insofern grndet sich Aktienbesitz
schon auf eine Gewinnerwartung. Aktienin-
dex-Futures sind dann eine Erwartung auf die
Erwartung: eine Wette auf die Wette (vgl.
Keynes 1936, 126-128, 267f.).
Optionen: Vertrag ber das Recht, ein
Finanzprodukt zu einem spteren Termin zu
kaufen.
Leerverkufe:Aktienhandel, bei dem einFonds Aktien in groem Umfang leiht, diese
Aktien pltzlich und massenhaft verkauft, bis
der Kurs fllt, um sie dann ebenso pltzlich
und massenhaft zum gesunkenen Kurs zurck-
zukaufen und dem Verleiher zurckzuerstatten.
Verbriefung: Whrend des Booms auf
dem US-Hypothekenmarkt nach 1995/2001
vergaben US-Banken Subprime-Kredite ange-sichts von Leitzinsen unterhalb der Inflations-
rate und steigender Preise von Immobilien. Die
Kreditforderungen wurden dann an neu ge-
grndete Zweckgesellschaften in Steueroasen
veruert, die diese unsicheren Forderungen
als Sicherheit fr Wertpapiere einsetzten, so
da Forderungen die Sicherheit fr weitere
Forderungen, Schulden die Sicherheit fr wei-
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tere Schulden bildeten. Die Geschftsbank, die
die ersten Subprime-Kredite vergeben hatte,
konnte auf diese Weise die Eigenkapital-
Verpflichtungen des Basler Konkordats von
1988 unterlaufen und immer neue Kredite ver-
geben. So schien eine unendliche Kette von
Krediten, eine Kreditblase ohne realen Ge-
genwert, mglich: eine risikolose Fortsetzung
des Kreditgeschfts, eine grenzenlose Akku-
mulation. Die ursprnglichen Kredite, ver-
schoben auf den Schattenbankensektor, waren
aus den Bilanzen der groen Banken ver-
schwunden. Ein hnliches Verfahren wurde im
Bereich der Versicherung von Krediten an
Industrie- und Dienstleistungs-Unternehmen
angewandt.
Durch die Krise von 2007ff. ist auch
diese Strategie, die endlichen Grenzen derKapitalakkumulation aufzuheben, zusammen-
gebrochen. Die Gefahr geriet aus dem patholo-
gisch wirtschafts-optimistischen Blick: Wenn
die privaten Konsumenten (Haus- und Grund-
stckskufer) oder die Wirtschaftsunternehmen
zahlungsunfhig werden, bricht eine ganze
Kette von Kreditforderungen zusammen, die in
Form scheinbar sicherer Wertpapiere bereitsden gesamten Interbanken-Handel bestimmen
und die Banken zum Konkurs bringen. Dann
bricht auch die Kreditvergabe an die Wirt-
schaft, an Staaten und Privatkunden zusammen
die Finanzkrise wird zur allgemeinen Wirt-
schaftskrise. Vorlufig wird diese Krise gelst,
indem die Staaten die Banken durch Steuergel-
der sttzen und so die Finanzkrise in eine Krise
der Staatsfinanzen und in eine Whrungskrise
transformieren. Diese Lsung bricht neuer-
dings zusammen: mit der drohenden Zah-
lungsunfhigkeit von Staaten wie Griechen-
land, Irland, Portugal, Spanien, Italien; auch
die USA gelangten Anfang August 2011 an die
Grenzen ihrer Zahlungsfhigkeit. Nach neoli-
beralen Dogmen mu diese Krise der Staatsfi-
nanzen auf Kosten sozialstaatlicher Leistungen
finanziert werden, so da sich wie die Mas-
senproteste in Griechenland, Frankreich, Irland
und Portugal seit 2010 zeigen die Krise der
Staatsfinanzen in eine gesellschaftliche Krise
bergehen mu: in ohnmchtige Wut, indivi-
dualisierenden und konformistischen Protest
oder Apathie.
So haben die Krisen der sinkenden Ra-ten wirtschaftlichen Wachstums (nach 1975),
der New Economy (2000/2001) und der Welt-
Finanzmrkte die Strategien, die Kapitalakku-
mulation in einen imaginren Raum zu verla-
gern und dort ins Grenzenlose zu steigern,
vorlufig zu Fall gebracht. Welches wird die
nchste Strategie sein, die Krisentendenzen des
Kapitals zu berwinden, das Kapital von denendlichen Bedingungen seiner Mglichkeit zu
emanzipieren, eine Welt des puren, ent-
stofflichten Kapitals zu konstituieren: eine
imaginre Welt?
Die Krise hat zwar im EU-Europa zu
Massenprotesten der Bevlkerungen gefhrt,
denen die Staaten und Regierungen zuneh-
mend deutlich als Institutionen einer Stabilisie-
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rung des Akkumulationsprozesses erscheinen,
die durch die Verwendung von allgemeinen
Steuermitteln und durch die Reduktion der
sozialstaatlichen Sicherungen gegen die Masse
der Bevlkerung durchgesetzt wird eine Poli-
tik im Interesse der Mehrheit gilt den Regie-
rungs-Politikern als Populismus. Aber eine
substantielle Kritik produziert der Neolibera-
lismus nicht: der gesellschaftliche Anti-
Rationalismus negiert alle Vernunft-Utopien
und diffamiert sie als Omnipotenzansprche
des Menschen als potentiell diktatorisch.
Ohne Utopien, die widersprechend ber die
politisch-konomischen Widersprche hinaus-
treiben, ist alle Kritik substanzlos, ist ein Sub-
jekt der Weltvernderung nicht einmal theore-
tisch zu identifizieren.
So bleibt der Imperativ des Neolibera-lismus ungebrochen: Aufhebung der Grenzen
des Akkumulationsprozesses, Aufhebung der
Natur, Aufhebung des Gebrauchswerts, abso-
lute Verselbstndigung des bersinnlichen
Werts, Konstitution des Kapitals als eines sich
auf sich beziehenden Werts ohne Vermittlung
durch den Gebrauchswert, Transformation der
konomie in eine konomie des virtuellenglobalen Raumes. In dieser Welt hat sich der
Mensch als ego cogito zum Schpfer-Gott
erhoben, der sich und seine Welt selbst er-
schafft (Pico 1485). So ist dies: negativ-
utopische Hoffnung, Konstitution einer imagi-
nr-entstofflichten Welt, einer unwirklichen
Welt, Verdopplung der unwirklichen in einer
imaginren Welt. In der imaginren Welt hat
der Neoliberalismus das Land Ou Tpos be-
setzt. Das ist die Faszination der neuen Tech-
nologien, der Globalisierung, des berschrei-
tens der stofflichen Welt ins Stofflos-
Imaginre: in der Welt, in der alles machbar
erscheint, ist die aufklrende Einsicht in die
bewutlosen gesellschaftlichen Verhltnisse
und damit die utopisch gerichtete Phantasie
liquidiert.
Unter dem globalen Neoliberalismus
gert das dem Imperativ grenzenloser Kapital-
akkumulation erliegende Bedrfnis, die Reali-
tt zur imaginren Welt der stofflosen Selbst-
beziehung des Werts, des absolut verselbstn-
digten Denkens, hin zu berschreiten, zu einer
permanent miglckenden, sich dadurch per-
petuierenden Flucht.
Die unwirkliche, unvernnftige undhoffnungslos gewordene gesellschaftliche Welt
produziert nicht das Bedrfnis, die Verhltnis-
se zum Tanzen zu zwingen und eine wah-
re Wirklichkeit praktisch zu realisieren, in-
dem den versteinerten Verhltnissen ... ihre
eigne Melodie vorgesungen wird (vgl. Marx:
MEW 1, 378, 381) denn die neoliberalen
Verhltnisse enthalten keine utopische Potenz,die ber sie hinausfhrte wie einst der re-
volutionre Liberalismus. Der Neoliberalismus
hat die Aufklrung hinter sich gelassen und ist
somit durch keine radikalisierte Aufklrung zu
kritisieren; der Neoliberalismus hat die Utopie
des ewigen Friedens als Hirngespinst abge-
tan und predigt den darwinistischen Wettbe-
werbskampf ums berleben; der Neoliberalis-
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mus hat die Vernunft-Utopie der Freiheit und
Gleichheit aller Menschen verkehrt in das
Dogma einer privatistischen Anpassungs-
Freiheit und einer gesellschaftlich-
biologischen Ungleichheit (vgl. Hayek 1960,
24f., 78f., 106f.). So produziert die neue Ord-
nung der gesellschaftlichen Welt das Bedrfnis
nach einer imaginren: durch anti-utopische
Flucht, durch Verwirklichung einer Omnipo-
tenzphantasie, durch die Illusion eines poten-
tiell unendlichen Tatsachenwissens, durch die
Illusion, eine eigene Welt virtuell erschaffen
zu knnen. Im Alptraum des Imaginren ver-
doppelt sich die gesellschaftliche Unwirklich-
keit und verrt das utopische Bedrfnis an das
Falsche der bewutlosen Realitt. Gerade weil
die neue, unwirklich-imaginre Welt totalitr
ist, erscheint sie: als Welt der Freiheit. NeuereProteste richten sich nicht gegen die universale
Unwirklichkeit, sondern fordern: Freiheit im
Netz. Das ist die konformistische Revolte
(Horkheimer 1974, 164) heute.
V. Second Life
Die vor-letzte Form der Konstruktion einerimaginren Welt war: Second Life. Second
Life vereinigte die Bedrfnisse nach ber-
schreitung der sinnlichen Welt, nach absoluter
Weltbeherrschung durch Selbst- und Welt-
Schpfung nach utopischer Emanzipation
und Autoritarismus zugleich. So ist dies die
schlechte Perpetuierung einer unwirklichen,
falschen Welt in eine imaginre. Second Lifesymbolisiert das Ende der Utopien, die Kolo-
nisierung von Phantasie und Utopie durch den
Logos des Kapitals. (Ich sttze mich im fol-
genden auf: Mahmoodi 2009, vor allem: 1-11,
33-47)
Second Life ist ein virtueller Ort im Internet.
Es handelt sich um eine 3D-Welt, in der die
Nutzer, vertreten durch ihre virtuellen Repr-
sentanten (Avatar), miteinander ber die Chat-
funktion oder ber das Internet-Telefon kom-
munizieren und agieren.
Grnder und Betreiber ist das Unter-
nehmen Linden Lab, San Francisco. Man mu
sich auf www.secondlife.com mit seiner
eMail-Adresse anmelden, worauf die Anmel-
dung freigeschaltet wird und die Software her-
untergeladen werden kann. Linden Lab, die
Regierung in Second Life, verlangt dann das
Akzeptieren der Regeln in Second Life, etwa:
keine Diskriminierung aus religisen, rassi-
schen, ethnischen Grnden oder aus Grnden
der Geschlechtszugehrigkeit; sittliches Ver-
halten; keine Strung des ffentlichen Frie-
dens. Der Nutzer whlt schlielich seine virtu-
elle Figur: den Avatar (Hindi: Inkarnation
Gottes), aus, bestimmt sich einen Namen und
kann dann einen von 300 vorgegebenen Nach-
namen aussuchen. Der Avatar kann das Ausse-
hen von Tieren oder Menschen, Engeln oder
anderen Fabelwesen haben. Der Nutzer kann
sich alles auswhlen: Geschlecht, Alter, ethni-
sche Zugehrigkeit. Er knnte sich eine neue
Identitt konstruieren.Die wesentliche Aktivitt in Second Life
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ist die konomie. Der Nutzer bentigt zu-
nchst eigenes, virtuelles Land. Voraussetzung
des Landerwerbs ist ein Premium Account zum
Preis von 9,95$/Monat; die Miete fr ein vir-
tuelles Grundstck kostet 5 bis 295 $/Monat.
Erst jetzt kann der Nutzer virtuelle Dinge vir-
tuell produzieren, fr die er dann die Urheber-
und Nutzungsrechte besitzt: er kann in Second
Life arbeiten, virtuelle Dinge (auch Land) ver-
kaufen und kaufen. Die Whrung ist der Lin-
den-Dollar, der fr reale US-Dollar zu erwer-
ben und jederzeit gegen US-Dollar zurckge-
tauscht werden kann; der Kurs ist bei der Zent-
ralbank von Second Life: LindeX, zu erfragen.
So gewinnt Linden Lab an Second Life:
durch den Tausch von US-Dollar gegen Lin-
den-Dollar wie auf einem Devisenmarkt; durch
Verkauf und Vermietung virtuellen Landes;durch Gebhren. Die Gewinne belaufen sich
auf einige Millionen US-Dollar pro Monat.
Vor allem durch das Geld ist diese virtu-
elle Welt nur die Verlngerung der realen.
Daher sind in Second Life reale Unternehmen
virtuell prsent: Coca Cola, Nike, Microsoft,
Toyota. Daher sind in Second Life politische
Parteien wie die franzsische Front Nationaloder die antikapitalistische Second Life Left
Unity aktiv. Daher hat sich whrend seiner
Wahlkampagne Barack Obama durch ein vir-
tuelles Bro den potentiellen Whlern prsen-
tiert. Daher haben Universitten, wie die Uni-
versitt Hamburg (seit April 2008), ihre Dupli-
kate in Second Life virtuelle Vorlesungen
inbegriffen; fr Mecklenburg ist auerhalb
von Second Life die Grndung der virtuellen
Universitt iMeck vorgeschlagen worden, die
fast ausschlielich E-Learning anbietet. Daher
bieten Pastoren Sprechstunden in Second Life
an. Daher sind in Second Life auch Sex und
Eheschlieungen mglich virtuell.
Leicht ersichtlich ist diese imaginre nur
die Verlngerung der unwirklichen Welt: es ist
eine Welt, die die Natur hinter sich gelassen
hat und damit den Imperativ der Kapitalakku-
mulation bis zur konomischen, politischen,
kulturellen, individualistischen Konsequenz
treiben kann. In der Welt, in der alles anders
sein knnte, ist alles wie es ist. Phantasie und
Utopie sind okkupiert.
Genau dies ist der Gegenstand der Fas-
zination: Betrachter von Animationsfilmen und
Computerspielen bewundern an diesen Produk-ten, da sie der realen Unwirklichkeit mg-
lichst nahe sind. Die hchste Form der Com-
putertechnik besteht dann darin, aus der virtu-
ellen Welt vollkommen in die unwirkliche zu
springen und Menschen zu konstruieren de-
ren Aussehen und Bewegungsablauf realen
Menschen immer nher kommt. Der Mensch
whnt sich, als Schpfer virtueller Menschen,als Gott. Seine Schpfung ist, wie Joseph Wei-
zenbaum einmal (Interview, Bayern 3,
3.6.1993) formuliert hat, eine post-
biologische Welt ohne lebendige, also mit
scheinbar unsterblichen Menschen.
Die pseudo-religse Faszination, die im
bruchlosen bergang von der virtuellen in die
unwirkliche Welt liegt, gilt somit auch fr den
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Gegensatz des Lebens: den Tod. Die Bomber-
piloten der US-Luftwaffe, die whrend des
Irak-Krieges von 2003 Bomben auf die Bevl-
kerung von Bagdad abwarfen, orientierten sich
nur an einer virtuellen Bildschirmwelt, so da
das Tten eine virtuelle Form annahm. Die
Differenz zwischen der militrischen bung
am Bildschirm und dem realen Einsatz
schwand. Das Tten wurde unsichtbar und
glich einem Computer-Spiel, in dem der Spie-
ler Herr ber Leben und Tod ist, in dem der
Tod jederzeit widerrufbar: in dem Unsterblich-
keit erreicht ist. Der Tod verliert seinen Schre-
cken, das den Mord verstellende Tabu bricht:
die Grenze von Leben und Tod wird aufgeho-
ben.
VI Re-mythologisierte Gesellschaft und
re-mythologisierte Natur
Paradox hat die neoliberale Besetzung des
Landes Ou Tpos durch die Flucht in eine
imaginre Welt eine andere Utopieaufgerich-
tet: Natur (vgl. Bhme 1992). Die technolo-
gisch intendierte berwindung der stofflich-
sinnlichen Welt der Natur lt als Residuumeine Natur zurck, die das scheinbar Na-
trliche im Gegensatz zu dem von Menschen
Gemachten ist.
Nun ist Natur immer schon ein gesell-
schaftliches Produkt: auch vor ihrer Reprodu-
zierbarkeit, auch durch ihre Reproduzierbar-
keit, erst recht durch ihre Negation. Natur istimmer, seit der Aufklrung Vicos (1725), das
Gegenbild der gesellschaftlichen Welt, das
von dieser Ausgeschlossene, und dadurch
durch die Verhltnisse bestimmt. Ursprng-
lichkeit ist ein gesellschaftlicher Fetisch der
liquidierten Aufklrung.
Radikal als natrliche Natur erscheint
die Natur aber erst als Gegensatz zur virtuel-
len, stofflosen Welt. So produzieren die neuen
Technologien, auf der Basis des neuen Libera-
lismus, die Natur als widersprchliche Kon-
struktion: als das Bild unmittelbaren Glcks
einerseits, als das zu berwindende, zu Be-
kmpfende andererseits. Das ist die Struktur
derXenophobie (vgl. Fenichel 1946).
Die virtuelle Welt, die nichts Fremdes,
Unbeherrschtes duldet, ist totalitr. Wie alle
totalitren Ordnungen erhebt sie das Unbe-
herrschte, das sie zu eliminieren trachtet, durch
Projektion zum utopischen Bild, um es um so
gewaltsamer zu unterdrcken. Wie alle totalit-
ren Ordnungen fetischisiert die neoliberale das
Ursprngliche, das Natrliche. So gehen die
Bedrfnisse in einigen Richtungen der kolo-
gie-Parteien mit neoliberalen Gesellschafts-
Auffassungen zusammen. Je mehr die Naturaus der Erfahrungs-Welt eliminiert wird, desto
grer ist das Bedrfnis nach einer unversehr-
ten Umwelt, nach gesunder Ernhrung,
nach einem Erleben der wilden Natur im
Adventure-Urlaub.
Die durch die Dialektik der Aufklrung
re-mythologisierte Gesellschaft produziert als
ihr Gegenbild, nicht als ihren Reflexions-Spiegel zur Selbsterkenntnis, die re-
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mythologisierte Natur. Ist indes dieses Ur-
sprngliche eine gesellschaftliche Bedrfnis-
Projektion, so fordert sie eine Befriedigung
und Unterdrckung ineins: die Naturbegeiste-
rung wird zur Ersatzbefriedigung. Das gilt
auch gegenber der eigenen Natur. Die neue
Inszenierung des Wellness-Urlaubs, der
Wellness-Kuren in allen Formen: von Mas-
sage-Techniken bis zu ayurvedischen Anwen-
dungen, suggeriert eine masochistische Le-
benswelt, von der sich der Maltrtierte durch
einen vorbrgerlichen Luxus legitim meint
erholen zu knnen. Die Selbstunterdrckung
besttigt und stabilisiert sich in der luxurisen
Ersatz-Befriedigung.
VII Auflsung der ueren Ich-Grenze:
Imaginrer konformistischer Nonkon-
formismus
Weil der Neoliberalismus, weil die Informati-
onstechnologie als die dem Neoliberalismus
adquate Technik, totalitr: global ist, scheint
die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt
verstellt und ein methodologischer Indivi-
dualismus (Hayek 1952, passim) allein offen.Der Neoliberalismus tritt insofern als eine the-
oretische und reale Anthropologie auf. Das
Subjekt des globalen Neoliberalismus erlangt
seine Identitt in der total fetischisierten, un-
wirklichen Welt in einer zugleich totalen,
globalen und atomisierten, individualistischen
Welt. Die Technik, die durch die Aufhebung
von Raum und Zeit die Globalisierung erst
mglich machte, realisiert auch die soziale
Individualisierung: die Informationstechnolo-
gie.
Die neoliberale Anthropologie ist nach
zwei Seiten zu bestimmen: nach der Einebnung
der ueren und der inneren Ich-
Abgrenzungen.1
In der sozial atomisierten, alles inkludie-
renden Welt sind die klassischen Entzweiun-
gen, die ueren Ich-Abgrenzungen, aufgeho-
ben: die Entzweiungen von Gesellschaft und
Natur, von Individuum und Gesellschaft, von
konomie und Politik, von Politik und Gesell-
schaft, von Ego und Alter Ego, von ffent-
lichkeit und Privatheit, von Arbeitszeit und
Freizeit, von Bro und Wohnung, von Vergan-
genheit und Gegenwart, von Gegenwart und
Zukunft, von Kulturen, von Glaubensberzeu-
gungen. Wo aber die ueren Ich-
Abgrenzungen erodieren, fallen auch die inne-
ren Grenzen: zwischen Ich, ber-Ich und Es.
Das Individuum wird neurotisch im
schlimmsten Fall psychotisch. Das entgrenzte
ist das atomisierte, das paranoide Subjekt. Die
Gesellschaft scheint unbersteigbar, die Naturberwunden, das Private ist ffentlich, die
Arbeitszeit ist endlos, die Aufhebung der Zeit
1S. hierzu auch Heinz Gess, Vom Faschismus zum neuen Den-
ken. C. G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit. Lneburg 1994Gess klrt darin ber den Zusammenhang zwischen dieser Formder Identitt New Age Identitt -, der Struktur der (neo-)faschistischen Propaganda und dem neuem Antisemitismus auf.
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eliminiert die Erinnerung, die Aufhebung des
Raumes eliminiert das Fremde, die fremden
Kulturen werden angepat, die fremden Glau-
bensberzeugungen erscheinen als terroris-
tisch. Gefeiert wird nur eines: das im darwinis-
tischen Wettbewerb siegreiche, den Umstn-
den maximal angepate Individuum. Es ist das
total vergesellschaftete, das ent-
individualisierte Individuum: es whnt sich
umso mehr als Individuum, je weniger es sei-
ner Verhltnisse und seiner selbst bewut ist,
je weniger es mit sich als Individuum identisch
ist. Weil es zu souverner Ich-Abgrenzung und
Distanzierung unfhig ist, ist es paranoid: es
whnt sich omnipotent, es whnt sich durch
alles Fremde bedroht, es reagiert mit aggressi-
vem Durchsetzungskampf im ffentlichen
Raum, im Arbeitsbereich, im Ausbildungsbe-reich, im globalen Wettbewerbskampf. berall
erscheint der Andere als Gegner, berall wird
um Sieg oder Niederlage gekmpft: in einem
Kampf ums Dasein (vgl. Hayek 1960, 34, 46,
72-74). Das entgrenzte Individuum perpetuiert
den Sozialbiologismus, den Rassismus: es ist
das Subjekt einer atomisierten, ent-
individualisierten Gemeinschaft.Die Welt der neuen Freiheit ist mithin,
als Welt des totalen Fetischismus, eine gesell-
schaftlich irrationale Welt.Sie ist zugleich die
Welt eines Tatsachen-Rationalismus. Sie ist
eine Menschen und Sachverhalte atomisie-
rende Welt. Der Einzelne dieser Welt ist ge-
sellschaftlich blind und vermag sich daher an
die Verhltnisse nur anzupassen. Er whnt sich
als Individuum, weil er seiner gesellschaftli-
chen Konstitution, seiner Vereinzelung in der
Gesellschaft (Marx: MEW 3, 6; 1857/58, 6),
nicht bewut ist.
Daher ist er auch erinnerungslos. Die
Vergangenheit lst sich auf in die Beschrei-
bung von frheren Tatsachen, oder in die Er-
zhlung von Vergangenem. Erinnerung aber,
das Bewutsein der Einheit von Vergangenheit
und Gegenwart, das Bewutsein der Gegen-
wart als geschichtlicher Gegenwart, ist in der
unberschreitbaren Welt verloren. Die neolibe-
rale Welt proklamiert dasEnde der Geschichte
(F. Fukuyama). Wer aber seine Geschichte
nicht erinnert, wer von Vergangenem nur als
uerlich-Vergangenem wei, ist ohne Identi-
tt.
Daher ist er auch hoffnungslos. Wer sichder Genesis der Gegenwart nicht erinnert, fi-
xiert diese zum strukturell Immergleichen. Die
neoliberale Welt proklamiert das Ende der
Utopien.
In der irrationalen Rationalitt des Neo-
liberalismus ist jede Autonomie des Indivi-
duums liquidiert. Die Freiheit des Einzelnen ist
nur als freiwilliger Konformismus mglich(Hayek 1960, 78). Der Einzelne ist der auto-
ritre Charakter (Horkheimer et al. 1936),
der bestenfalls informierte Tatsachenmensch
einer Tatsachenwelt (vgl. Husserl 1935, 4).
Der masochistischen Selbst-Liquidierung
durch Introjektion des Zwangs der Verhltnis-
se ist immer schon der sadistische Gesell-
schafts-Kampf, zum Wettbewerbs-Kampf pa-
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zifziert, immanent.2
Ist die fetischistische Welt die Welt der
durch den Wert der Waren identifizierten stoff-
lichen Ge-brauchswerte, der in Gesellschaft
durch Identifikation aufgelsten Natur, so ist
das Subjekt dieser Welt der personifizierte
Tauschwert. Die Selbstvermarktung, die
Selbstdarstellung ist die zweite Natur dieses
Subjekts, das sich als Individuum whnt, weil
es seine Individualitt verloren hat. Nicht dieFhigkeiten als solche sind diesem Subjekt
entscheidend, sondern deren Verkauf an ande-
re: dieses Subjekt ist Unternehmer seiner
selbst es hat sein Selbst an die Selbst-
Entuerung verloren (vgl. Hayek 1960, 100).
Die Wirklichkeit ist diesem Selbst nur die
Selbst-Prsentation: in Casting-Shows, in Ge-
richts-Shows, in Cafs, die ihre Pltze zurStrae ausrichten zum Sehen und Gesehen-
werden. Die Passanten sind wahlweise als
Konkurrenten oder Juroren gesetzt. In dieser
Selbstentuerung wird das Private in das
ffentliche aufgelst: jeder ist bereit, in den
Medien vom interaktiven Radio bis zum
Fernsehen und zu Internet-Plattformen das
Privateste preiszugeben. Das Private existiertnicht mehr. Die ob der Lautstrke der Spre-
chenden unberhrbaren, zum allgemeinen
2 S. auch Heinz Gess, a. a. O. S. 203 ff. Ferner auch: HeinzGess (2005), C.G. Jung und die faschistische Weltanschauung,
in: Kritiknetz - Zeitschrift fr Kritische Theorie der Gesell-schaft. Erstverffentlichung in: Widerspruch32/1996
Mithren freigegebenen Handy-Telefonate
gleichen berwiegend Dialogen aus Soap-
Operas als ob die Akteure vor dem Bild-
schirm und auf dem Bildschirm jederzeit aus-
tauschbar seien. Das Tauschwert-Subjekt bes-
ttigt sich im Selbst-Verkauf. Dieser wird in-
haltsleer, substanzlos.
Die Gemeinschaft in der unwirklichen
Welt ist eine Gemeinschaft des bellum omnium
contra omnes.Die Welt ist atomisiert in Tatsa-
chen und Subjekte ohne Selbst. Die zugleich
rationale und virtuelle Welt, in der alles von
Menschen gemacht und insofern identisch
scheint, exkludiert alles Nichtidentisch-
Fremde. Dem Einzelnen, in diese Welt einge-
taucht, ist jeder ein Fremder und Feind ineins.
Die atomisierten, zusammenhanglosen Subjek-
te vermgen sich nicht mehr dialogisch zuverstndigen, keinen allgemeinen Willen aus-
zubilden: sie kennen allein den Darwinschen
Kampf um knappe Ressourcen, bei dem es nur
Sieger und Besiegte, Starke und Schwache gibt
(vgl. Hayek 1960, passim). In der Welt der
Informationstechnologie wird alles, wird jeder
objektiviert: jeder wird sich und anderen zum
Mittel. Das Mittel wird angebetet. Die Techno-logie setzt den Anderen als Gegner und bietet
zugleich die Mglichkeit der Flucht vor diesem
Gesellschaftskampf in die Einsamkeit der ima-
ginierten Omnipotenz und Omniprsenz.
Keine Technologie war je so affektiv
besetzt wie die Informationstechnologie
nicht einmal das Automobil. Die affektive
Besetzung drckt realittsgerecht die fehlende
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Distanz aus: das Aufgehen des Selbst in der
imaginren, unwirklichen Wirklichkeit. Wer
mit seinem Bewutsein und seinen Bedrfnis-
sen in dieser Welt aufgeht, wem die Verhlt-
nisse zum Selbst geworden sind, dem ist die
Freiheit im Netz das hchste Gut, dem
scheint diese Freiheit als Substanz aller Demo-
kratie, dem gilt die Generation Facebook als
Subjekt der Revolution nicht in Nordamerika
oder im EU-Europa, sondern in Nordafrika
oder im Iran. Die Demokratie im Netz ist al-
lenfalls die Demokratie der volont de tous, die
Freiheit allenfalls der freiwillige Konformis-
mus (Hayek 1960, 78), der sich nonkonfor-
mistisch whnende Konformismus. Dieser
imaginre Konformismus phantasiert sich als
Avantgarde des Fortschritts da es der Fort-
schritt in der Kontinuitt der Dialektik derAufklrung ist, ist der erinnerungslosen A-
vantgarde entzogen.
VIII Einebnung der inneren Ich-Grenze
und paranoide imaginre Omnipotenz
Die neoliberale Anthropologie, konstituiert
durch die Einebnung aller extra-individuellenGrenzen, impliziert darum dieEinebnung aller
inneren Ich-Abgrenzungen: zwischen den psy-
choanalytisch differenzierten Instanzen von
Ich, Es und ber-Ich, von Rationalitt, Trieb-
struktur und Gewissen. Die Aufhebung der
Ich-Abgrenzung nach auen und im Inneren
produziert den Schein der Omnipotenz, der
totalen Weltbeherrschung, und der omnipr-
senten Ich-Bedrohung ineins. Das scheinbar
gottesebenbildliche, nach auen und innen
entgrenzte ist das liquidierte Individuum.
Eingeebnet ist zunchst die Ich-
Abgrenzung gegen die innere Natur. Mit der
Aufhebung der Natur innen und auen scheint
sogar der Tod berwunden, Unsterblichkeit
erreicht. Zumindest werden keine sinnlichen
Erfahrungen mehr gemacht. Man orientiert
sich ber das Navigationsgert im Raum, man
eliminiert die Zeit, man kommuniziert virtuell.
Das rumlich Globale hat seine Entsprechung
in der zeitlichen Erinnerungs- und Hoffnungs-
losigkeit, in der Kommunikation als Technik.
Diese Einebnung der inneren Ich-
Abgrenzung gegen die Natur produziert Sucht:
das endlose, unendliche, nie befriedigte, immer
nach Befriedigung heischende Subjekt. Das
neoliberale Sozialatom, dem alles mglich,
dem zugleich nichts mglich ist, ist schtig.
Durch die Aufhebung stofflicher Natur, durch
den Schein der Grenzenlosigkeit von Kapital-
akkumulation, von globalisierter Welt, wird
das Imaginre zur Sucht: die utopische Sehn-
sucht nach Glck kommt nie ans Ziel, weil es
keines gibt. Die Welt wird bodenlos undschwankend: man wei nicht, wo man ist, wer
man ist. Die Selbst-Besttigung wird zwang-
haft, weil das Selbst sich verloren hat. Die
schtige Flucht ins Imaginre nimmt zahllose
Erscheinungen an: Surfen im Internet; Nutzung
des Handys zu unpersnlichen, meist laut und
damit ffentlich unberhrbaren Monologen,
deren trivialer Inhalt regelmig mit einerSelbstversicherung verbunden ist, noch zu
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existieren (Ich bin gerade ...), die dann auch
durch stndiges Sich-selbst-Fotografieren ge-
sttzt und mitgeteilt wird; Genu von Anima-
tions-Filmen; Computer-Spiele;
Freundschaften, geschlossen in Facebook;
Second Life. Es ist eine Sucht nach utopischer
Selbst-Wirklichkeit und zugleich nach Omni-
potenz, nach Omniprsenz, nach totaler Welt-
Herrschaft es ist die Sucht des Aggressions-
triebes. So geht die unwirkliche Welt bruchlos
in die imaginre ber. In dieser ist der Einzel-
ne, gesellschaftlich scheinbar zusammenhang-
los, mit sich einsam und allein. Der Handy-
und Smartphone-Nutzer geht durch die Straen
und bewegt sich in ffentlichen Verkehrsmit-
teln wie unter einer virtuellen Glocke: allein,
aber jederzeit mit aller Welt verbunden und
von aller Welt aus erreichbar atomisiert undglobalisiert ineins. Das Sein dieses Ich ist das
unwirkliche, ins Imaginre bergehende Sein.
Wer hier eindringt, erscheint als aggressiv.
Eingeebnet ist sodann die Ich-
Abgrenzung gegen das ber-Ich. Nicht nur die
innere Natur, auch das Gewissen scheint verlo-
ren. Psychoanalytisch gesprochen: das ber-
Ich scheint im Ich untergegangen. Das Aufge-hen in der virtuellen Welt fordert die Unter-
ordnung unter deren Rationalitt, so da kein
moralischer Einspruch mehr gegen das total
gewordene Sein mglich ist. Der moralisch
urteilende Mensch gilt als Gutmensch; Sen-
sibilitt gilt einigen Richtungen in der Psycho-
logie neuerdings als Symptom einer gerade
entdeckten Krankheit: HSP, oder: Hoch Sen-
sible Persnlichkeit. Das Individuum der virtu-
ell-rationalen Welt ist auf die technische Rati-
onalitt der Ich-Instanz reduziert, und diese
duldet nichts Fremdes, nichts technisch Un-
beherrschtes: es macht alles zum Mittel und
damit sich selbst. Das Ich der virtuellen Welt
ist ohne Reflexion: ohne eine spiegelnde
Selbsterkenntnis im erfahrenen, als fremd an-
erkannten Fremden. Ohne diese Reflexion aber
bewegt sich das Ich im Immergleichen: es ist
ohne Phantasie und Utopie, es erfhrt nichts
Neues in der neuen Welt.
Aber das Gewissen besteht doch fort.
Der neoliberale Logos ist nicht die kausalratio-
nal strukturierte Welt der sozialen Physik
(Comte), sondern die ethisch irrationale Welt
(Weber: WL, 9, 17, 505) des geisteswissen-
schaftlichen Positivismus, der Gegenaufkl-rung, als Basis der sozialen Physik. Liqui-
diert ist das ber-Ich als Instanz der liberalen
moralischen Vernunft; es besteht aber fort als
unbewut und nun total imperativisches Sol-
len. Die Apologie der bewutlosen, blinden
Traditionen fordert deren Introjektion: Indivi-
dualisierung undurchschauter Normen, Gewis-
sens-Zwang. Das neoliberale Individuum be-greift gesellschaftliche Krisen als individuelles
Versagen oder als individuelle Schuld (vgl.
Horkheimer et al. 1936, 58f.). Seine Niederla-
ge im allgemeinen Wettbewerbskampf inter-
pretiert es, in Rcksicht auf die Ich-Instanz:
technisch-rational als Mangel an taktischem
Geschick und an fachlichen Kenntnissen und
Fertigkeiten; in Rcksicht auf das ber-Ich:
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normativ-individualistisch zunchst durch eine
sprachlose Scham, die an bestimmte Situatio-
nen und bestimmte Personenbezge gebunden
ist, sodann aber in eine abstrakte und unabls-
sig wirkende Melancholie Depression ge-
nannt bergehen kann, weil sie eine erste
Form von Verdrngung ist (vgl. Freud: Bd. III,
201; Erg. Bd. 63, 191, 301). So wird der ue-
re Zwang innerlich, so wird das Subjekt an die
Verhltnisse gekettet. Diese Kette scheint fest
geschmiedet wie nie: weil der ethische Irratio-
nalismus nichts verspricht, weil der Neolibera-
lismus eine Ideologie ohne Utopie ist.
Eingeebnet ist endlich die Ich-
Abgrenzung gegen die uere Welt. Der Br-
ger der zugleich unwirklichen und sich ins
Imaginre verlngernden Welt konstruiert sei-
ne Identitt im Second Life die gesellschaft-liche Welt wird zum Second Life, das Second
Life wird zum First Life. Das Sein mu sich
als Sein im Imaginren, Unwirklichen bestti-
gen und dort seinen gesellschaftlichen Ato-
mismus genieen. Das Subjekt der imaginren
Welt ist, durch seine Omnipotenzphantasie und
seinen Atomismus, paranoid: es schliet alles
aus, es sucht alles zu beherrschen, es kommu-niziert nur noch, solange es das Alter Ego an-
und ausschalten kann. Als wirklich gilt diesem
Subjekt nicht blo das Unwirkliche, sondern
das Imaginre. Das jedoch ist kein Phantasma,
sondern das neoliberale ens realissimum.
Die Paranoia ist kein bloer Alptraum,
keine substanzlose Phantasie. Indem das Sub-
jekt informationstechnologisch in die virtuelle
Welt der Globalisierung eintaucht, meint es in
dieser omniprsent zu sein und Allmacht aus-
zuben. Das jedoch ist nur mglich, indem das
Subjekt zur Personifikation der Logik des In-
formationssystems wird: wer sich dort bewegt,
ist erfat, wird kontrolliert, wird gemessen.
Das Subjekt wird ebenso austauschbar wie
beherrschbar. Im Second Life ist das Denken,
das Wissen, gleichgeschaltet und darum ver-
gleichbar. So ist es konsequent, da die Wett-
bewerbs-Universitten ihre Reprsentanz in
Second Life erffnen.
So verschwimmen Realitt und Irreales,
Unwirkliches und Imaginres, Traum und Rea-
litt, Leben und Tod. Keine Reflexion des Ego
im Alter Ego, keine Selbsterkenntnis durch
Erkenntnis des Fremden, kein moralisch-ver-
nnftiger Kosmopolitismus tritt strend in dieeinzig noch zugelassene Phantasie: die Omni-
potenz, ein. Kein ber-Ich bt eine Kontrolle
aus. Die geheimsten Wnsche, die destruktiven
Bedrfnisse zumal, verschaffen sich ihren
Raum: der Aggressionstrieb ist durch die Phan-
tasie unbegrenzter Weltschpfung und Welt-
beherrschung freigesetzt. Alles kann gesagt,
alles erwnscht werden: Mobbing, Sexual-phantasien, (Kinder-)Pornographie, Mord-
phantasien, Rassismus, Antisemitismus. Der
Krieg wird virtuell gefhrt. Es spricht der A-
nonymus. Das liquidierte Individuum publi-
ziert zugleich das Privateste im Internet: Fotos,
Filme, Meinungen, Wnsche, Tagebcher.
Die virtuelle Realitt ist kein Raum der
Demokratisierung der Gesellschaft, wie die
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WikiLeaks-Publikationen suggerieren, wie die
Berichterstattung ber die Aufstnde in gyp-
ten suggerierten, sondern der Ort des Alp-
traums der gegebenen, unaufgeklrten und
darum autoritren Gesellschaft. Im virtuellen
Raum besitzt sie das, was als wirklich gilt,
wonach das Subjekt der fetischistischen Welt
schtig strebt.
Zum Autor
Gerhard Stapelfeldt Wikipedia
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