vertikalduktion als pathogenetische grundlage der nausea

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KLINISCHE WOCHENSCH RIFT 5. JAHRGANG Nr. 48 26. NOVEMBER x926 0BERSICHTEN. VERTIKALDUKTION ALS PATHOGENETISCHE GRUNDLAGE DER NAUSEA. yon Dr. reed. W. CRODEL, Dresden. Der Entstehullgsmechanismus der Nausea ist in jfingster Zeit wiederholt literarisch bearbeitet worden, so daf3 Ver- fasser sich veralllaBt glaubt, eigene, teilweise schon l~nger zuriickliegende Beobachtungen aus See- und Lufffahrten, sowie aus Liftversuchen gleichfalls zur Sprache zu bringen. Dieser Wunsch scheint um so mehr berechtigt, als noch einiges yon Belallg zu vermerken ist, was in verschiedenen Be- arbeitungen nicht oder llur andeutungsweise zum Ausdruck kam. und als andererseits mit manchen bisher vorgebrachten Mitteilungen keine IYbereinstimmung besteht. So muBte bei IBerficksichtigung neuerer Ergebr~isse auf neurologischem Gebiete auffallen, dab die Beteiligung des Vestibularapparates allzusehr in den Vordergrund gerfickt wurde. Und trotzdem dtirfte die Fortfiihrung des Nauseathemas in dell Augen praktisch denkender Therapeuten als Spielerei gelten, wenn nicht dutch ausgedehnte medikament6se Versuche die Behandlung der Seekrankheit aussichtsvoll gestaltet worden w/~re. Dem ]3earbeiter der Nausea steht eine umfangreiche Literatur zur Verffigung. Ihre Durchsicht l~Bt erkennen, wie man frfiher mehr geffihlsm/~Big den Entstehungs~ rnechanismus zu erkl/~ren versuchte. Heute aber liegen, me erw/~hnt, Arbeiten vor, deren grundlegender und rich- tunggebender EinfiuB auf die Erkl~rung der Seekrankheits- pathogenese anerkann~ werden muB. So hat 1R. MAaNUS ~) in einem stattlichen Bande die experimelltellen Untersuchungen fiber statische und statokinetische iReflexe des K6rpers zusammengestellt Ebenso wichtig ist in dieser /3eziehung eine gleichfalls aus Utrecht stammende Arbeit yon VA~r NULFFTEN-PALTIIE~/, well darin beweiskr/iftige, durch Unter- suchungen an Fliegern gewonnene Tatsachen fiber den Gleich- gewich~ssinn niedergelegt sind. Mit einschI~giger Neurologie hat sich besonders die Wiener Schule befafJt. Ein sehr wert- volles Hilfsmittel bildet das neue Handbuch der normalen nnd pathologischen Physiologie von BETIDE, V 13E~GMANN, E~IBI)EN, und die lleue Auflage der Lebensnerven von L. R. MOLLER, wenngleich in diesen beiden Werken die hier zu behandelllde Nausea llur gestreift wurde. Es darf trotz des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht verschwiegen werden, dab manche Antworten, obenan auI Fragen nach den cerebraten Vorg~ngen, aus dem Rahmen des Hypothe- tischen iloch wenig heraustreten. Die Vertikaldulction a.ls t~eizmoment. zun~chst sind ~berlegungen dartiber anzustellen, welche irritierenden Krgifte bei den Schifisbewegtmgen entstehen und ~velche subjektiven Emp]indungen dadurch ausgel6st werden. Die Lokomotion des Schiffes auf hoher See l~t3t sich einerseits in ihre Eigenbewegung. und andererseits in die dutch den Wellengang hervorgerufene .passive ]3ewegung zerlegen. Je nach der Fahrtrichtung des Schiffes zur Fortpflanzungs- richtullg der Wellen macht das Fahreeug neben der stampfen- .den auch noch eille rollende ]3ewegung. F~ir die Betrachtung ~ler physikalischen Grundlagen geniigt es, sich auf die stamp- ~enden Bewegungen zu .beschr/tnken, da der rollende Faktor wegen der geringen Elevation und Kiirze des t-Iebelarmes nur einen ullerheblichen Reiz~) ahf dieReceptlons0rgane auszufiben vermag. Die genannte aktive und passive Lage- ver/~nderung des Schiffes kombiniert sich zu eiller Trans- versalwelle, die der Dampfer Punkt ft~r Punkt z~rficklegt. Klinische Wochenscllrift~ 5. Jahrg. Den gleichen passiver~ Bewegungen wird der Passagler unter- worien, wobei die Gr613e der mechanischen Einwirkung proportional mit der Entfernung rum Mittelpunkt des Schiifes w~chst. Darauf sei aus Raummangel nicht welter eingegangen Durch die Fortffihrung des Reisenden auf der Querwelle erfolgt ffir das K6rpergerfist sowie ffir die inneren Organe in vertikaler Richtung ein Bewegungsantrieb, der jedesmal in den Umkehrpunkten der Welle einen Wechsel erf/~hrt und dadurcb zum typischen Reizmoment der Nausea wird. Nrit Rticksicht auf die passive Entstehung dieses Reizes sullen im folgenden die Auf- und Abbewegungen in dem Begriff ,,Vertikalduktion" zusammengefaBt werden. Dieser Bewegungsantrieb des ganzen K6rpers wird auf dem Wellenberg dutch die Anziehungskraft der Erde.. im Wellentat dutch den Gegendruck des-sich meder hebenden Deckes kompensiert. Als unmittelbare Folge dieser Vertikalduktion tritt in dem Knochen- und ]3andapparat des K6rpers ein dauernder Wechsel zwischen Belastung und Entlastung auf. Besondere Aufmerksamkeit verdienen weiterhi~ die Fotgen der Vertikalduktion auf innere Organe. Filer spielt sich der Vorgang offenbar indirekt, und zwar in der Weise ab, dab bewegliche Organe jeweils in den Umkehrpunkten infolge der ihnen erteilten lebendigen Kraft eine Nachbewegullg (Remanenzbewegung) atmffihren und dadurch einen Zug oder Druck auf vorhandene sensible Nervenelldigullgen (Visceral- reiz) verursachen. Auf all das wird noch im einzelnen ein- zugehen sein. Was zun/ichst die Gr6Be der hier in Frage kommenden kinetischen Ener~e anbelang% so m~issell wir yon den vor- handenen Wellenformen des Meeres ausgehen und Schwingungs- weite und Schwingungsdauer bestimmen Vergleichsrech- nungen hierfiber lassen den Satz ableiten, dab die lebendige m v ~ Kraft 2 mit der VergrBBerung der Schwingullgsweite und Verkfirzung der Schwingungsdauer w/ichst. Gesetzt den Tall, es betrage bei mittlerer See die Schwingungsweite 5 m und die halbe Schwingungsdauer 4 Sekullden, so wfirde ein blutleeres 2Ierz von 31o g Durchschnittsgewicht innerhalb emer Wellenl/inge zweimal einen Bewegungsantrieb yon 241 g erfahren. Die Vertikalduktion mit ihren direkten und indirekten Folgen bildet die eigentliche Ursache der Nausea und muB deshalb in den Mittelpunkt der ]3etrachtung treten. Ans eigellen Liftversuchen hat Verfasser die gleich zu bespreehen- dell subjektiven Ernpfindungen dieser Lagever/inderungen zu ermitteln gesucht und das Ergebnis auch yon Seereisenden wiederl~olt best~tigt gefunden, da schon ill den Vorstadien der Nausea die subjektiven Empfindungen der Vertikal- duktion deutlich feststellbar sind. Auf dem Wellellberg.ffihlt mall jedesmal ein schnell zu- nehmendes ulld danll langsam abklingelldes Oppressionsgeffihl in der Zwerchfell-Herz-Gegend , welches in diesem Zusammen- hang noch nicht richtig gewfirdigt wurde. Zu gleicher Zeit er- folgt dutch die plStzliche Entlastung des K6rpergerfistes ein /~uBerst unangenehmes Schwebegefiihl und Leerwerden in den Ffil3en. Im ganzen sind diese Empfindungen auf dem Welienberg ungleich unangenehmer als im WellentaI. Dort tritt im Epigastr!um eine dem genannten Oppressionsschmerz analoge, jedoch viel ktirzere Sensation auf, die iloch yon dem MiBempfillden des starken Sohlendruckes begleitet wird. Der Reisende hat dabei die Empfindung, zusammengedrfickt zu werden und in die t(nie zu sinken. Ill deutlieher Weise zeigt der typische Seemannsgang, was in dieser Beziehung die Adaptation hervorzubringen vermag. Irgendwelche Gef~ihle Von Schmndel und (lbelkeit werden bei :diesen Vorg~nge~ zun&chs~ nicht beobachtet. Man hat ghnliche 145

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Page 1: Vertikalduktion als Pathogenetische Grundlage der Nausea

KLINISCHE WOCHENSCH RIFT 5. J A H R G A N G Nr. 48 26. N O V E M B E R x926

0BERSICHTEN. VERTIKALDUKTION ALS PATHOGENETISCHE

GRUNDLAGE DER NAUSEA. yon

Dr. reed. W. CRODEL, Dresden.

Der Entstehullgsmechanismus der Nausea ist in jfingster Zeit wiederholt literarisch bearbeitet worden, so daf3 Ver- fasser sich veralllaBt glaubt, eigene, teilweise schon l~nger zuriickliegende Beobachtungen aus See- und Lufffahrten, sowie aus Liftversuchen gleichfalls zur Sprache zu bringen. Dieser Wunsch scheint um so mehr berechtigt, als noch einiges yon Belallg zu vermerken ist, was in verschiedenen Be- arbeitungen nicht oder llur andeutungsweise zum Ausdruck kam. und als andererseits mit manchen bisher vorgebrachten Mitteilungen keine IYbereinstimmung besteht. So muBte bei IBerficksichtigung neuerer Ergebr~isse auf neurologischem Gebiete auffallen, dab die Beteiligung des Vestibularapparates allzusehr in den Vordergrund gerfickt wurde. Und trotzdem dtirfte die Fortfiihrung des Nauseathemas in dell Augen praktisch denkender Therapeuten als Spielerei gelten, wenn nicht dutch ausgedehnte medikament6se Versuche die Behandlung der Seekrankheit aussichtsvoll gestaltet worden w/~re.

Dem ]3earbeiter der Nausea steht eine umfangreiche Literatur zur Verffigung. Ihre Durchsicht l~Bt erkennen, wie man frfiher mehr geffihlsm/~Big den Entstehungs~ rnechanismus zu erkl/~ren versuchte. Heute aber liegen, me erw/~hnt, Arbeiten vor, deren grundlegender und rich- tunggebender EinfiuB auf die Erkl~rung der Seekrankheits- pathogenese anerkann~ werden muB. So hat 1R. MAaNUS ~) in einem stattlichen Bande die experimelltellen Untersuchungen fiber statische und statokinetische iReflexe des K6rpers zusammengestellt Ebenso wichtig ist in dieser /3eziehung eine gleichfalls aus Utrecht stammende Arbeit yon VA~r NULFFTEN-PALTIIE~/, well darin beweiskr/iftige, durch Unter- suchungen an Fliegern gewonnene Tatsachen fiber den Gleich- gewich~ssinn niedergelegt sind. Mit einschI~giger Neurologie hat sich besonders die Wiener Schule befafJt. Ein sehr wert- volles Hilfsmittel bildet das neue Handbuch der normalen nnd pathologischen Physiologie von BETIDE, V 13E~GMANN, E~IBI)EN, und die lleue Auflage der Lebensnerven von L. R. MOLLER, wenngleich in diesen beiden Werken die hier zu behandelllde Nausea llur gestreift wurde. Es darf trotz des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht verschwiegen werden, dab manche Antworten, obenan auI Fragen nach den cerebraten Vorg~ngen, aus dem Rahmen des Hypothe- tischen iloch wenig heraustreten.

Die Vertikaldulction a.ls t~eizmoment. zun~chst sind ~berlegungen dartiber anzustellen, welche

irritierenden Krgifte bei den Schifisbewegtmgen entstehen und ~velche subjektiven Emp]indungen dadurch ausgel6st werden. Die Lokomotion des Schiffes auf hoher See l~t3t sich einerseits in ihre Eigenbewegung. und andererseits in die dutch den Wellengang hervorgerufene .passive ]3ewegung zerlegen. Je nach der Fahrtr ichtung des Schiffes zur Fortpflanzungs- richtullg der Wellen macht das Fahreeug neben der stampfen- .den auch noch eille rollende ]3ewegung. F~ir die Betrachtung ~ler physikalischen Grundlagen geniigt es, sich auf die stamp- ~enden Bewegungen zu .beschr/tnken, da der rollende Faktor wegen der geringen Elevation und Kiirze des t-Iebelarmes nur einen ullerheblichen Reiz~) ahf d ieRecept lons0rgane auszufiben vermag. Die genannte aktive und passive Lage- ver/~nderung des Schiffes kombiniert sich zu eiller Trans- versalwelle, die der Dampfer Punk t ft~r Punk t z~rficklegt.

Klinische Wochenscllrift~ 5. Jahrg.

Den gleichen passiver~ Bewegungen wird der Passagler unter- worien, wobei die Gr613e der mechanischen Einwirkung proportional mit der Entfernung r u m Mittelpunkt des Schiifes w~chst. Darauf sei aus Raummangel nicht welter eingegangen Durch die Fortffihrung des Reisenden auf der Querwelle erfolgt ffir das K6rpergerfist sowie ffir die inneren Organe in vertikaler Richtung ein Bewegungsantrieb, der jedesmal in den Umkehrpunkten der Welle einen Wechsel erf/~hrt und dadurcb zum typischen Reizmoment der Nausea wird. Nrit Rticksicht auf die passive Ents tehung dieses Reizes sullen im folgenden die Auf- und Abbewegungen in dem Begriff , ,Vertikalduktion" zusammengefaBt werden.

Dieser Bewegungsantrieb des ganzen K6rpers wird auf dem Wellenberg dutch die Anziehungskraft der Erde.. im Wellentat dutch den Gegendruck des-sich meder hebenden Deckes kompensiert. Als unmittelbare Folge dieser Vertikalduktion tr i t t in dem Knochen- u n d ]3andapparat des K6rpers ein dauernder Wechsel zwischen Belastung und Ent las tung auf. Besondere Aufmerksamkeit verdienen weiterhi~ die Fotgen der Vertikalduktion auf innere Organe. Filer spielt sich der Vorgang offenbar indirekt, und zwar in der Weise ab, dab bewegliche Organe jeweils in den Umkehrpunkten infolge der ihnen erteilten lebendigen Kraft eine Nachbewegullg (Remanenzbewegung) atmffihren und dadurch einen Zug oder Druck auf vorhandene sensible Nervenelldigullgen (Visceral- reiz) verursachen. Auf all das wird noch im einzelnen ein- zugehen sein.

Was zun/ichst die Gr6Be der hier in Frage kommenden kinetischen Ener~e anbelang% so m~issell wir yon den vor- handenen Wellenformen des Meeres ausgehen und Schwingungs- weite und Schwingungsdauer bestimmen Vergleichsrech- nungen hierfiber lassen den Satz ableiten, dab die lebendige

m v ~ Kraft 2 mit der VergrBBerung de r Schwingullgsweite und

Verkfirzung der Schwingungsdauer w/ichst. Gesetzt den Tall, es betrage bei mittlerer See die Schwingungsweite 5 m und die halbe Schwingungsdauer 4 Sekullden, so wfirde ein blutleeres 2Ierz von 31o g Durchschnittsgewicht innerhalb emer Wellenl/inge zweimal einen Bewegungsantrieb yon 241 g erfahren.

Die Vertikalduktion mit ihren direkten und indirekten Folgen bildet die eigentliche Ursache der Nausea und muB deshalb in den Mittelpunkt der ]3etrachtung treten. Ans eigellen Liftversuchen hat Verfasser die gleich zu bespreehen- dell subjektiven Ernpfindungen dieser Lagever/inderungen zu ermitteln gesucht und das Ergebnis auch yon Seereisenden wiederl~olt best~tigt gefunden, da schon ill den Vorstadien der Nausea die subjektiven Empfindungen der Vertikal- duktion deutlich feststellbar sind.

Auf dem Wellellberg.ffihlt mall jedesmal ein schnell zu- nehmendes ulld danll langsam abklingelldes Oppressionsgeffihl in der Zwerchfell-Herz-Gegend , welches in diesem Zusammen- hang noch nicht richtig gewfirdigt wurde. Zu gleicher Zeit er- folgt dutch die plStzliche Ent las tung des K6rpergerfistes ein /~uBerst unangenehmes Schwebegefiihl und Leerwerden in den Ffil3en. Im ganzen sind diese Empfindungen auf dem Welienberg ungleich unangenehmer als im WellentaI. Dort tr i t t im Epigastr!um eine dem genannten Oppressionsschmerz analoge, jedoch viel ktirzere Sensation auf, die iloch yon dem MiBempfillden des starken Sohlendruckes begleitet wird. Der Reisende hat dabei die Empfindung, zusammengedrfickt zu werden und in die t(nie zu sinken. Ill deutlieher Weise zeigt der typische Seemannsgang, was in dieser Beziehung die Adaptation hervorzubringen vermag. Irgendwelche Gef~ihle Von Schmndel und (lbelkeit werden bei :diesen Vorg~nge ~ zun&chs~ nicht beobachtet. Man hat ghnliche

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Empfindungen wie in schnellgehenden Fahrstfihlen auch in der Luftschaukel, in der Berg- und Talbahn, sowie beim Fl!egen (Wegsacken, G1Mtflug) festgestellt. Die geschilderten subjektiven Befunde sollen uns anregen, die Vertikalduktion auf ihre physikalischen Wirkungen genauer zu untersuchen.

Ein]lufl der Vertlkalduktion au] periphere Nervenendigungen.

ZU diesem Zwecke empfiehlt es sich, zun~chst fiber dem Visceralreiz, dann fiber die sensiblen Endorgane des Gleich- gewichtssinnes Zu referieren.

A. Viseeralreiz. In eindrucksvoller Weise mache¡ wie wir gesehen haben, die ersten subjektiven Empfindungen auf die Zwer~hfell-Herz-Gegend aufmerksam. Wenn es richtig ist�87 dal3 hier unter der Einwirkung der Vertikalduktion ein Teit dš zut Nausea ffihrenden St6rungen entsteht, dann muB zuerst untersucht werden , oh das Herz und die schweren Organe des Oberbauches geniigend t3ewegungsfreihei~ be- sitzen, um Remanenzbewegungen auszufiihren und dadurch sensible Elemente zu reizen, und dann, ob andere M6glich- keit• zut Erkl~rung dieser Mil3empfindungen abgelehnt werden k6nnen.

Was zun~ichst die Lokomotion betrifft, so ist sehon aus der Atmungst~ifigkeit bekannt, dal3 die grol3en Organe des Oberbauches, besonders di› Leber, durch die Abflachung des Zwerchfelles nach abw~rts gedr~ingt werden, was ohne jede Schmerziiul3erung erfolgt. Durch verschiedene Ligamenta sind die benachbarten Organe unter› verbunden. Die Leber seibst ist mit dem Zwerchfell in grSl3erer Aus- dehnung verwachsen urid aul3erdem durch ei¡ breite Peritonealduplikatur am Zwerchfell fixiert. Je nach der durch die Vertikalduktion erteilten kinetischen Energie werden die Leber sowie der Magen einen Zug oder Druck auf das Diaphragma ausiiben,

Es kann ferner nicht in Zweitel gezogen w• dal3 auch das Herz bel diesen Bewegungsvorg~ingen dem EinfluB der Remanenzkraft ausgesetzt wird. Ja, manches spricht daftir, den kardial ausgelSsten Irr i tat ionen die wesentlichste Be- deutung beizumessen. Die geringe Verschieblichkeit des Herzens innerhalb seines ]3eutels ist durch die Ents tehnng perikarditischer Reibeger~insche bei pathologischen Ver- ~nderungen der Herzaul3enhaut klinisch bekannt . Durch Bewegungen des Herzens nach abw~irts oder aufw~rts ver- ursacht das viscerale und parieta!e Perikard entlang seiner Umschlagsiinie einen Zug oder Druck auf die Adventi t ia der Art, pulm. und Aorta und damit auf di› sensiblen Nerven des periarteriellen Bindegewebes. Ahnliche, vielleicht weniger mal3gebende Reizwirkungen diirften an der Porta venosa cordis entstehen, Herz, Zwerchfell und die groBen Ober- bauchorgane zusammengenommen, bilden einen I™ der durch die Vertikaldnktionen st~tndig in Mitleidenschaft gezogen wird. inwieweit das Zwerchfell mit den unterhalb desselben gelegenen Organen "e�9 Eiaflul3 auf das Herz und datait auf die Gef~iBwurzel bat und in welchem Umfange die Peritonealbl~tter und L{gamenta fiir sich irritiert werden, bleibe eine offene Frage. Alles in allem aber ist die prim~re Ents tehung des subjektiv nacbweisbaren Visceralschmerzes anatomisch und physikalisch denkbar. Die Gr613e des Zuges freilich ist variabel; denn disponierende Momente miissen in Betracht gezogen werden.

Da ist einmal der Rhythmus und Typus der Atmung zu nennen, der vom Mann mehr durch das Zwerchfell, von der Frau mehr durch das Abdomen besorgt wird. ~AZenn beispiels- weise eine inspiratorische Zwerchfellverflachung auf dem Wellenberg mit dem von unten kommenden Remanenzdruck zUsammentrifft, so wtirde dieser durch die erh6hte Spannung des Zwerchfelles her~bgesetzt. Wfirde hingegen im oberen Umkehrpunkt exspiratorische Zwerchfellerschlaffung ein- treten, dann stiinde der Nachbewegung von seiten des Dia- phragmaS kein Hindernis entgegen, und es w~re ein fremd- artiger Zug an der GeI~il3wurzel die Folge. Dal3 selbstver-

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st~ndlich das Polster der Dfinndarmschlingen, das Mesocolon oeansversum soyr der Tonus der Mm. recti die Nachbewegung 6rtlieh begrenzt, bedarf keiner weiteren Begrfindung. Von weiteren ungfiinstigen Momenten is~ Starke Magenffillung zu: nennen, die auch erfahrungsgem~13 schnellere Entwieklung der Nausea herbeiffihrt. Das gleiche wird von Enteroptose, von mangelhaftem Tonus der Mm. recti {nach kurze Zeit zurtickliegender Geburt) angegeben.

Wie bereits erw~hnt; gewinnen die angefiihrten anato- mischen Vorb~dingunge�9 erst dann ftir die Nausea Bedeutung, wenn sensible, dureh die Remanenzbewegung der Organe reizbare Nervenendigungen vorhanden sind. I~ber die Ver- sorgung innerer Organe, des Peritoneums, der BlutgefXBe und des Herzens, sind wir haupts~chlich durch chirurgisehe Unter- suchungen orientie�98 So ist bekannt, da l30pera t ionen an der Lunge und der Leber schmerzlos verlaufen. ]:)as Endokard der Gef~13e enth~lt keine sensiblen Elemente. Uber die Schmerzempfindlichkeit des Peritoneums (Splanchnicus- An~sthesie) liegen Mitteilungen von KAPPIS 4) vor, wonach das viscera]e Blatt des Peritoneums, obenan der Leberhilus, sehr schm› gefunden wird. LENNANDER 5) betonte, dal~ die Pleura Costalis und diaphragmatica sowie das Peri toneum parietale mit Sehmerzempfindlichen Fasern durch die Spinal- nerven versorgt werden. Nach der Ansich• ~RESLAUERS sind jene Stellen des Peritoneums besonders empfindlich, die reiehe Gef~Ll3versorgung aufweisen, was gut zu der ange- ftihrten Schmerzhaftigkeit des periarteriellen Gewebes passerL wtirde. Obschon also die Schmerzausl6sung durch Zug und Druck ira visceralen Biatt des Peritoneums (LeberhiluQ oder ira Zwerchfell selbst in Erw/~gung zu ziehen ist, beanspr�9 noch weit mehr die periarteriellen, durch Dehnung besonders reizbaren Gewebe der grol3en Gefs unsere Aufmerksamkeit, Damit streifen wir das grol3e Schrifttum fiber die chirurgische Behandlung der Aortalgie. Unl~Lngst bat SINGER 7) in Wien seine diesbezfiglichen experi- mentellen Erfahrungen vorgetragen. Er rand das Perikard, Epikard und insbesondere die Adventi t ia der grol3en Gef~13e sehr sehmerzš und konnte bezfiglich des Nerven- verlaufes d ie Beobachtung LANGL]~YS best~tigen, dal3 die sensible Versorgung der Adventi t ia durch den Sympathieus. bewerkstelligt wird. Von den Operationsmethoden nur s~ riel, dal3 SINGER wegen der Erhal tung der Acceleranswirkung die Unterbrechung der Rr. communicantes, SPIEGEL die ]�9 der hinteren Wurzelu der obersten Thor” segmente empfiehlt. Es geht ans diesen und ~hnlichen Ver- snch• auch an anderen Kliniken klar hervor, dal3 wegen der Empfindlichkeit des periarteriellen Gewebes die Remanenz- bewegung des Herzens einen grol3en, wenn nicht den Haupt : teil des Visc• versehuldet.

Zum Beweis ffir die autonome, nicht reflektorische En t - stehung des Remanenzsehmerzes in der Herzgegend k6nnen nun noch einige wichtige Grfinde aufgez~hlt werdem Nicht fiberschen set die Reizgr613e, welche durch die Massen-

Beginn des Schmerzes

Qualit~t der Empfindung

Dauer des Schmerzes

Magenschmerz Visceralschmerz durch beim Erbrechen Ver tikalduktion

Wird durch Vorboten eingeleitet (Ubelkeit,

SpeichelfluB) und stei- gert sich unabh~ngig von passiveii und ak- tiven KSrperbewe-

gungen.

Im weiteren Stadium erfolgeii SchweiBaus- bruch, reflek• Wtirgeii und deut- licher MagenkrampI.

Geht kontinuierlich acerbierend Weiter bis zur Mageneiitleerung.

Tritt jedesmal mit: dem Weehsel der Be- wegUngsrichtuiig auf, also nur an deii Um- kehrpunkten. Keine

Ubelkeit.

Auf dem Wellenberg ein sich breit anffih- lendes Oppressioiisge- ffihl, ira Welleiital ein kurzer, stumpfer Zug.

Wird nur fiir die Dauer der Vertikalduktion hervorgerufen und ver- schwindet sofort mit Betreten festen Landes.

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beschleunigungen der Mittelorgane entsteht und deren effek- t ive ]3edeutung nicht in Abrede zu stellen ist. Vor allem aber muB an Hand vorstehender Tabelle auf den Unter- schied zwischen dem auch dutch Fahrstuhlversuche ausl6s- baren Visceralschmerz einerseits und den durch ein Breeh- mit tel auslSsbaren Magenschmerzen beim Erbrechen anderer- seits hingewiesen werden.

Solche getrennten Untersuchungen weisen demnach darauf hin, dab man das Oppressionsgefiihl in der Zwerchfell-Herz- Gegend nicht mit dem ersten Magendrticken beim Brechakt identilizieren darf, wie dies bisher wohl vielfach geschehen ist. Der Unterschied beider Schmerzempfindungen geht besonders daraus deutlich hervor, dab das Erbrechen nicht mit Magendrfickeu, sondern mi t den angeftihrten Vorboten beginnt. Auch die Verschiedenheit der subjekt iven Empfin- dungen, wetche dutch Visceralreiz aui dem Wellenberg und dem Wellental entstehen, spricht gegen eine rein reflek- torisehe Ents tehung dieser Empfindungen.

Ebenso sicher l~gt sich die Autonomie des Visceral- schmerzes dureh folgende Beispiele demonstrieren. Es ist eine allgemeili bekannte Erfahrung, dab durch Einnehmen horizontaler Lage das Ends tad ium der Nausea manchmal noch vermieden werden kalin. Wfirde dieser Erfolg auf die verminderte reflektorische Wirkung yon seiten des Vestibular- appara tes zurfickgeitihrt, so stfinde man mi t der physiolo- gischen Funkt ion dieses Organes, wie wit noch sehen werden, in Widerspruch. Denn sobald der Kopf aus der anfrechten Stellung herausgebracht wird, geht die Otonica aus der Normalstel lung in eine Maximumstel lung fiber.

Als zweites Beispiel sef die allen Schiffs~rzten gelaufige Pr~ventivmaBnahme erwahnt, dab die Reisenden sich bei Nauseagefahr den Leib wickeln sollen. Auch die Bordmann- schaft hal t an einer dem gleichen Zweck dienenden Seemanns- regeI lest, , ,bei stfirmischer See den Leibriemeli enger zu ziehen". In allen diesen Vorkehrungen darf man offensichtlich das Bestreben erblicken, die Mittelorgane tunlichst ruhigzu- stellen, um Nachbewegungen hintanzuhal ten.

SehlieI31ich sei noch ein klinisch bekannter Symptomen- komplex angezogen, der differenfialdiagnostisch gegenfiber der auf luetischer o~ler arterioskler0tischer Basis entstandenen Aortalgie and der Aortalgie durch Lagever~nderung Be- aehtung gefundeia hat. Der gastrokardiale Symptomen- komptex "~on RO~ttOLD ha t insofern eine Ahnlichkeit mi t der Ents tehung des Visceralschmerzes, Ms er ebenfalls mi t der mechanischen Hochdr~ngung des Zwerchfelles in urs~ch- lichen Zus~mmenhang gebracht wird.

AnhangsweiSe soll noch die Frage e r 6 r t e r t werden, ob nicht auch andere innere Organe dutch die Vert ikaldukt ion in Nachbewegung versetzt werden. Zu allererst ware da wohl an das Konvolut der Dfinndarmschlingen und an das Colon transversum zu denken, zumal dor t sensible Endorgane, wie der Leibschmerz beweis• vorhanden sind. Da jedoch weder bei s tarkem Seegang noch bei erh6hter Liftgeschwindigkeit subjektive, auf den Mit telbauch hinweisende Migempfindungen auftreten, so scheiden diese Organe aus. Interessanterweise ha t schon vor lOO Jahren WOLLASr die Behauptung aufge- stellt, dab eine Bluts tanung im Gehirn, ents tanden dutch eine auf Vert ikalduktion beruhende Stauung der Blutbewegung, Nausea hervorruft . LARREu der Leibarzt Napoleons, n immt als Ursache der Nausea Parenchymerschfi t terung des Gehirns an. Demgegenfiber tal3t sich wohl anffihren, dab in der Arachnoidea and Pia zwar sensible Elemente vorhanden sind, aber dab das Gehirn so eng yon dem kn6chernen Sch~del um- schlossen und dureh die Cisternae subarachnoidales gegen StoB geschtitzt ist, dab die Mnetisehe Energie keine Angriffs- m6glichkeit findet. Nur ein Organ unterl iegt noch, wie wir gleich sehen werden, in hohem MaBe dem Remanenzreiz und wirkt deshalb an der Ausbildung der Krankhei t mit, namlich der Vestibularapparat.

Aus dem Gesagten kann geschlossen werden, dab infolge anatomischer nnd experimenteller Untersuchungen den Remanenzbewegungen des Herzens und der grogen Bauch-

organe eine wesentliche, aber yon zentralen Impulsen unab- h/ingige Bedeutung ffir die Nausea zuzuschreiben ist. j

B. Reiz in den Empjangsapparaten des Gleichgewichtssinnes.

Absf~htlich soll erst je tz t anf die Beziehung des Gleich- gewichtssinnes zur Nausea eingegangen werden, obgleich yon jeher dig Seekrankheit auf eine ausschlieNiche St6rung im Gleichgewichtssinn zurfickgeffihrt wurde. Die Arbeiten yon MAGNUS und yon VAN WULFFTEN-PALT~-IE haben gezeigt, welehe Aufgaben der Vest ibularapparat zu erfiillen h a t und dab ihm die dominierende Rolle ffir Aufrechterhal tung des K6rpers ninht zugesproehen werden kann, sondern dab viel- mehr die Tielen- und Hautsensibilit~• und obenan der Ge- siehtssinn ffir orientierende Empiindungen verantwort l ich ist. Nach dieser Vorbemerkung sollen uns die St6rungen der Empfangsappara te im einzelnen beschMtigen.

Sch0n die einleitenden Feststel lungen iiber die subjektiven, durch Vertikalbewegungen hervorgerufe.nen Empfindungen weisen auf den unangenehmen Wechsel zwischen Belastung und Ent las tung der Ex t remi ta ten hin. In allen Umkehr- punkten der Schiffsbewegung werden bei einem auf Deck stehenden Reisenden die frfiher schon geschilderten Druck- und Zugwirkungen in der FuBsohle und in den Gelenkfl~ichen, Sehnen und B/indern ausgel6st, Dieser stere Empfindungs: wechsel beansprucht in gleicher Weise die Hautsensibi l i ta t .(exteroceptive Reflexe) wie die proprioceptiven Elemente in der Tiefe der Muskulatur und muB fiir das Bewugtwerden der K6rperbewegung und -stellung (v. F~EY) in hohem MaBe st6rend sein. Im ganzen aber genfigen diese I r r i ta t ionen nicht, um fiir sich allein die Nausea auszul6sen.

Weir gr6Bere Schwierigkeiten fiir die objektive Beurtei lung der Nauseaursachen bietet der Vest ibularapparat . ~be r den Mechanismus der Bogengangs-Cristae sind wir durch EwALD (Plombierungsversuche), Wt~TMAACI~ (Abzentrifugieren der Otoli thenmembran) sowie durch MACH und ]~I~EUER orient t iert . Auch MAGNUS hat, wie wir scholi eingangs bemerkten, Mch sehr mit diesen Fragen beschMtigt. Er inner t sei ferner 'an das Versuehsmodell yon OR~SCEIN und BURGE1L' durch welches nachgewiesen werd4n konn%el daI3 der Bogengangs- appara t nicht nur auf Ver~iiderungen der Drehbewegung, sondern auch auf Progressivbewegungen anspricht.

Auch bezfiglich des Otol i thenapparates sind in den letzten Jahren umfangreiche Experi lnente angestell t worden, ohne dab indessen die Autoren zu einer v611igen ~lberein- s t immung fiber die Physiologie dieses Organes gekommen sind. Zum Verstandnis des Folgenden sei kurz daran erinnert, dab die Utriculusmacula auf dem Boden des Utri- culus liegt und bei aufrechter K6rperstel lung annahernd mit der Horizontalebene Zusammeni~llt. Einen kompliziertereli Bau weist die aus 2 Teilen bestehende Sacculusmacula auf, Ihr Haupts t i i ck befindet sieh an der medialen Wand des Sacculus und s teht ann~hernd in der Sagittalebene. Der zugeh6rige kleinere Dorsallappen bildet einen stumpfen Winkel mit seinem Hauptstf ick lind ,wird an der hinteren Wand des Vorhofes aufgesueht. ~;ber die Physiologie dieser Einrichtung informieren vor allem die Arbeiteli yon MAGNUS und I)E KL~YN, die eine Reihe yon schar, f umschriebenen Otolithenreflexen herausgeschalt und auch den Wirkungs- meehanismns~ dieses Organs erklar t haben. Als feststehend gilt, dab die spezifisch schwere Otonica dutch Zug und Druck einen kontinuierlichen Reiz auf das Neuroepithel ausfibt and erst dutch Lagever~inderung des Kopfes einen Reizwechsel erleidet. Von den Untersuchern wird besonders betont, dab weder Progressivbewegungen noeh Winkelbeschleunigungen diese physiologischen Otolithenreflexe auszul6sen verm6gem Weiterhin sei voli den hier interessierenden Tatsachen n0ch die Abh~ngigkeit der Reizgr6ge yon der Stellung der Otoniea erw~hnt: Auffallenderweise ents teht n~mlich der Maximal- reiz auf die H6rzelle dutch Zug und im Gegensatz dazu der Minimalreiz dutch Druck, Bei alien Stellungen zwischeli diesen beiden Extremen. werden die Erregungen um so ge, ringer, je mehr das Macula-Epithel gedrtickt wird.,

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Schon diese weiiigen Vorbemerkungen lassen erkennen, dab die Ver t ika ldukt ion am Vestibularapparat einen An- griffspunkt finder. Wenn wir beispielsweise die Remanenz- bewegung im 0beren Welleiipol verfo!gen, so sehen wit; wie die Otonica des Utriculiis teilweise yon dem Neuroepithel entfernt und die Flfissigkeit in den beiden senkrecht stehenden Bogeiig~ngen einer Nachbeweguiig unterworfen wird. Ahn- liche Verhaltnisse spielen sich im unteren Umkehrpunkt ab. So kommt es, dab infolge der Remanenz in der ursprfinglichen t3eweguiigsrichtung Zug- und Druekbewegungen deutlich wechseln uiid damit Reizwirkungen des Labyriiithorgans entstehen. W~hrend abet normalerweise die Zug- und Druck- _beweguiigen nur yon der Lage des Kopfes zur Horizontal- ebene abh/ingen, werden durch die Vertikalduktion gleichsam SchIeuderbeweguiigen hervorgebracht, welche ,die Otonica yon ihrer Haftungsstelle abheben oder diese an die HOrzellen andrficken. DaB dieser sinnwidrige MiSbrauch des Labyrinth- ~rgans yon unliebsamen Folgen begleitet seiii muB, ist allzu leieht verst~ndlieh.

Freilich ist die Meinung fiber die GrOl3e des Vestibular- -reizes geteilt; deiin nach der Auffassung des Verfassers kann den hierbei auftretenden StOruiigsreizen keine dominierende t3edeutung zugeschrieben werden. Legeii wir nns zum Beweis dieser t3ehauptuiig einmal die Frage vor, ob die subjektiveii Erleichterungen, welche durcli Horizontallageruiig des 1Reisen- den erzielt werden, auf Verminderung des Visceralreizes oder auf Nachlassen des Vestibularreizes zurfickzu~ihren sind! Aus den soeben gegebenen anatomischen Mitteilungen kann entn0mmen werden, dab dutch Rfickenlage die Utriculus- macula aus der Minimumstellung heraustritt , und dal3 sich deshalb der. Zug an den H6rzellen vergrOBern muB. Die Otoiiica des Saceulus hingegen ger~t in andere yon der Niinimumstellung gleiehialls abweichende Ebeneii. Von den Bogeng5ngen t r i t t der vordere aus der senkrechten Lage mehr in die horizontale, der horizontale mehr in die Vertikal- ebene, so dab sich hierdurch die AngriffsmSglichkeiten der Vertikalbewegungen nur verschieben, aber nicht verringern. ,~Es resultiert daraus, dab die dutch horizontale Lage herbN- geffihrte Besserung des Wohlbefindens IIicht auf Reizverringe- ruiig des Vestibularapparates - - denn logischerweise mfiBte sich dieser Reiz sogar vermehren - - , sondern auf Ausschaltung des Visceralreizes ziirtickzuffihreii ist. Wir erinnerii nochmals daran, dab Passagiere dutch rechtzeitiges Zubettgehen das l~lbel der Nausea vielfach abzuwehren verm6gen, uiid dab h~ufig schon unter der Wirkung eines Sedativums eine stfirmisehe Fahr t ungest6rt fiberschIafen wurde. YVenn es sich aber trotz- dem ereignet, dab Reiseiide aus dem Schlaf mit heftiger Nausea erwacheii, so kann Verfasser ffir diese Beobachtungen nur die Erkl/~rung gebeii, dab die Summe des Reizkomplexes und die besondere Sensibilit~t des Reiseiiden zu diesem Vor- kommen Anlag gegeben haben, abet nicht der Vestibularreiz allein. Vielmehr ist bei Rfickenlage anzunellmen, dab die Ursache der Nausea haupts~chlich dutch den Vestibularreiz lind dutch Vermehruiig der proprio- uiid exteroceptiven St6riingen ents tandeu ist, w~hrend der Visceralreiz erst in zweiter Linie mitwirkt. Bei aufrechter oder sitzender Stellung abet steht der Visceralreiz im Vordergrunde. In dieser Auf- ~assung wird Verfasser auch noch dutch andere Beobach- tungen best~rkt.

Eiiimal sei auf Literaturangaben hingewiesen, wobei selbst Reisende mit Labyrinthaffektionen yon der Nausea nicht verschont bliebeii. Weiterhin vermissen wit bei den Seekranken die ffir St6rung in der Vestibulart~tigkeit bekann- ten Augfaltssymptome. t3ei mechanischer oder thermischer Reizung der Bogeng~Lnge mfil3ten Augennystagmus u n d Scheinbewegungeu feststellbar sein. Beide Reaktionen wet- den dutch die Vertikaldiiktion nicht ausgelOst. Schwindel, gleichfalls ein 13ogengangssymptom, wird jedoch erst in sp~tteren Stadien der Nausea empfuiiden. Da Schwindel vor ahem aber auch dutch optische Reize hervorgerufen wird, ist dieses Symptom ftir den Gegenbeweis nicht verwertbai. Auch die typischen, durch die Macula bewirkteii IZeflexe sind bei Seekranken nicht gestSrt. Prfift m a n nach dem Vorgang yon MAc~I und KRXtDL bei einer Versuchsperson

den Otolithenapparat, nachdem man sie l~tngere Zeit hindurch im Fahrstuhl bewegte, so ergibt sich, dab diese einen Zeiger wagrecht und senkrecht riehtig einstellen kann. Hier sei nochauf die Versuche yon S. GARTENS)*) hiiigewiesen, welcher an taubs tummen Kindern die Griiiid- lagen der Orieiitierung im Raum studierte und land, dab trotz Ausfalls der Bogengaiigsfunktion bei der einen Gruppe der Kinder und trotz StO~ung der Otolithenfunktion bei den anderen die Horizontalebene usw. richtig geschXtzt wurde. Der Vestibularapparat ist, wie daraus geschlosseii werden kann, weder ffir die Erhal tung des Gleichgewichtes verant- wortlich, noch scheint er, nebenbei bemerkt, sehr empfiiid!ich auf mechanisehe Eiiiwirkungen zu seiii. Darfiber erh~tlt man einen gewissen Aiihaltspuiikt, wenn man sich vergegen- w~rtigt, dab durch das Deutschtraben auf einem Pferd m i t hohen G~ngen oder dutch Bewegungeii, denei1 man beim Befahren schlechter StraBen (bei geschlosseiien Augeii) aus- gesetzt ist, ~uI3erst selten der Seekrankheit Xhnliche Folgen entsteheii. Diese Beispiele legen den Schlul3 nahe, dem ,s ta t i schen" Organ keine so dominierende Bedeutuiig ftir die Entwicklung der Nausea beizulegen; sondern sich mit einer addierenden zu begnfigeii.

Unter diesem Gesichtswinkel dfirfte eiii kurzer Hinweis auf weitere experimentelle Versuche nm so mehr berechtigt sein, als diese teilweise Veranlassung gaben, die Mitwirkiing des Vestibularapparates an der Seekrankheit zu fibersch~tzen. ~V~AGNUS1)- hat an Tiereii unter anderer Fragestellung Ver- suche fiber den Einflug vo~ vertikalen Progressivbewegungen gemacht, um sich fiber die Ver~nderungen der t3euger- und Streckerreaktioneii zu orientieren. Von anderer Seite wurden bei Tieren w~hrend der ~Tberfahrt Versuche nach Zerst6rung des inneren Ohres aiigestellt, um Aufsehlfisse fiber die Ent- stehungsweise der Nausea zu erhalten. Alleiii, so wertvoll diese Einzelergebnisse waren, so kann ihiien ffir IInsere Be- traehtuiig nur eiiie wegweisende Bedeutung zuerkannt werdeii, weil die Tierexperimeate nicht direkt auf die Ver- h~ltnisse beim Menschen zu fibertragen sind (Zwerchfell- stellung u. a.). Notwendig sind deshalb Versuche mit dem Menschen selbst, was auch deshalb sehon unerl~Blich ist, weil auf Angaben subjektiver Empfinduiigen nicht ver- zichtet werdeii kaiin. Versuche mit ~lem Menschen hat NIAcin5) angestellt, indem er seinen Beobachter auf eiiier Wippe balancieren lieB und so den EinfluB der Vertikal- duktion verfolgte. Wiederholt sind auch Drehstuhlversuehe ausgeffihrt wordeii. Es sei an die grundlegenden Befunde B~R~NYS und neuestens an die Mitteilungen voii BRUNS ~) erinnert. Gerade aber bei den Drehversuehen will mir scheinen, als ob die Resultate in ihrer Anwendung auf die Vertikal- duktion daruiiter leiden, dab die Remaiienzbewegung nicht geiifigend berficksichtigt wurde. Wenn n~tmlich die Auf- fassung anerkannt wird, dab die erteilte lebendige Kraft Ms die eigentliche ReizgrSl3e anzusehen ist, daiin miissen bei den Experimenten die Verh~ltiiisse voii 1 : t den Werten der Sehiffsbewegung m6glichst angegliehe n werden.

Diese Bedingungen schienen dem Verfasser nu t in Lift- versuchen erffillbar zu sein, auf die im Laufe der Arbeit wiederholt hiiigewiesen wurde. Um weiterhin Klarheit fiber die Beteiligung des Vestibularapparates an der Seekrankheit zu erhalten,, w~ren Versuche in Schwimmbassins grSBerer Ozeaiidampfer erwfinscht. Man h~tte bei dieser Versuchs- anordnung den Vorteil, die extero- und proprioceptiven Erregungen auszuschalten und sowohl in Vertikalstelhllg wie in Rfiekenlage die subjektiven Empfindungen auf dem

Welleiiberg und im Welleiital registrieren zu k6nnen. Aus den experimentell erzwungeneii Drehversuchen aber kann Verfasser wegen der Diskrepanz gegenfiber den auf See vor- t~errschenden Vertikalduktionen nieht entnehmen, dab ftir die Pathogenese der Nausea dem Vestibularapparat eine dominierende Stellung einzur~umeii ist. ~berbl ickt man nochmals die gesamten Angriffspunkte, welche der Vertikal- duktion ausgesetzt sind, so ergibt sich folgende ~bersicht:

*) Herrn Pziv.-Doz. Dr. KLEINKNECHT, Leipzig, bin ich far seine Anregungea und ffir die Clberlassung von Literat~r zu Dank verpflichtet.

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Wirkung der Vertikal- Periphere Reizst~itte Insultierte duktion am

m Nervenbahn oberen unteren Umkehrpunkt -

FuBsohle

Sehnen, B~.nder

Otolithen- und Bogengangsapparat

Periarterielles Ner- vengewebe und vis-

eerales Blatt des Peritoneums

Hautsensibilit~t, (exteroceptive Bahl)),

Hinterstr~nge

Kinaesthetischer Apparat, Tiefensen- sibilit~t, (proprio-

ceptive Bahn), Trac- tus spino-thalamicus

Statisches Organ, Nervus vestibularis

Nervus accelerans, Nervus splanchni-

e n s ,

Entlastung Belastung

Entlastung Belastung

Zug Druck

Druck Zug

Ursachen der Nausea.

Es kann mit gutem Grund eingewendet werden, dab auch lloch andere Faktoren an der Ents tehung der Nausea be- teiligt sind Dahin rechnen illsbesondere St6rungen des Gesichtssinlles, des Geruehes, SOWle nieht zum wenigsten tier Psyche, wenn beispielsweise an die Ansteckung gedacht wird, die der Anblick eines Seekrallken einem noeh nieht der Nausea zum Opfer gefallenen Passagier bietet. Und so soll delln unter Berfieksichtigullg tier bisherigen Feststellungell auf die Frage llach dell einzelnen Ursachen tier Nausea in zusammenfassender Weise eingegangen werden.

Unzweifelhaft hat der optische Reiz im Vereill mit den aus der Peripherie stammenden Eindriieken der Haut ulld der Sehnen einen dominierendell EillfluB auI die Orientierung und Erhahung des Gleichgewichts. Diese Tatsachen ver- anschaulichell das klinisch allbekannte Rombergsche Ph~- nomen and weiterhin die interessanten Versuche yon VAN WULFFTEN-PALTHE2), der an 63 holl~ndischell Fliegern den Oleichgewichtssinn studiert und die Bedeutung des Gleich- gewiehtssinnes besollders betollt hat. Er ftihrt u . a . die Tatsache all, dab Aviatiker alas Fliegen ill Wolken oder in dichtem Nebel als alas Grauenhafteste bezeiehllen, was man sich dellken kann , well dieses Fliegen emem Taumelll dutch nichts gleichkommt. Schon nach kurzer Zeit geht das Gleieh- gewicht verloren. Verlaf3 ist llur, wenn sich das Auge an einen Punkt klammerll kanll ulld dadurch das Geffihl Iiir das Gleichgewicht schaff t . Dem Vestibularapparat kommt nach diesem Autor keille Rolle ffir die Aufrechterhaltullg des Gleichgewichts beim Fliegen zu.

Wenn nun aueh der Gesichtssinn einen grof3ell Anteil an tier Erhaltullg des Gleichgewichts hat, so braueht urn dessent- willell die Nausea keille Gleiehgewiehtsst6rung zu sein. Delln jene St6rungell, welche bei der Seekrankbeit dutch den Nervus opticus cortical geleitet werden, beruhen auf der Oewohnheit, einen fixen Pullkt im Auge zu behalten, um danach einen anderen orientieren zu k611nen. Dutch den Blick in die nahe bewegte See elltstehen St6rullgsreize, welche zu Schwindel llnd Flimmern vor den Augen Ifihren. Aber diese St6rungen sind vermeidbar. Aueh Blinde werden seekrank, und da weiterhin schon bemerkt wurde, dab Reisende auch aus dem $chlaf mit Seekrankheit erwachen k6nnen, so folgt, dab St6rungen des Gesichtssinnes nicht zu den typischen Ursachen der Nausea z~hlell. Ein Gleiches gilt Iiir den Geruchssinn and die Psyche.

MaBgebend flit die Entstehung der Nausea bleibt vielmehr die Vertikalduktion. Sie fiihrt einerseits zu St6rungen in den Perzeptionsorganen des Gleichgewichtssinnes, soweit diese auf Zug und Druck anspreehen (Hautsensibilit~it and Mn~sthetischer Sinll), und andererseits fiberall da, wo lokale Organbeweglichkeit zur Reizullg sensibler Endorgane. Ge- Iegenheit hat zu Irritationell, die wir als Visceral- und Vesti- bularreiz bezeichnen. Y)~'e Nausea ist daher n~r teilweise eine St6rung innerhalb der ]i~r den Gleichgewichtssinn verant- wortlichen Nerven, beruht abet nicht au] GleichgewichtsstSrung.

Der nerv6se Reizkomplex.

Die Physiologie der Sinnesorgane lehrt, dab die 13ber-. mittlullg yon Sinnesempfindungen in betr~chtlichem Mal3e yon Reizst/~rke und Reizspeicherullg abh~ingt. Diese Regel findet auch in der Nausea ein Beispiel. Delln es ist zu be- achten, dab die peripheren Irritationell erst 15mlgere Zeit erfolgen mtissell, ehe der Endzustand der Seekrankl~eit eintritt . AuI diese beiden zum Verst~ndnis des nerv6sen Entstehungsmechallismus llotwendigen Vorbedingungen mug kurz elngegangen werden.

Wenn wir uns beispielsweise dell Vorgang beim Hoeh- absprung vdrgegenw~rtigell, der emle gewisse J~hnlichkeit mit den VerhMtnissen im Wellental hat, so sehell wir, dab eiri einmaliger Remanenzreiz noch nicht genfigt, urn Nausea- wirkungen hervorzurufell. Die Nausea folgt vielmehr ers~ nach mehrmaliger, ja mehrstiindiger Wiederholung der Vertikalbewegung. Aucb bei Fahrstuhlversuchen zeigte sich, dab erst nach l~illgerer Zeit reilektorische ]3eschwerden auf- traten. Zum Zustandekommen der Nausea geh6rt eine rhythmische Wiederholullg der Schiffsbewegung und damit eine Summation der Reize. DaB aueh die Reizgr6fle eine Rolle spielt, sehen wir all dem bekallllten ]3eispiel yore Deutschtraben trod Fahren auf schlechten StraBen. Erst

wenn ill der Formel my-2 der Wert v eine bestimmte Gr6Be 2

erreicht hat, wird die sensible Reizschwelle fiberschrittell.

Selbst wenn nun auch die Vorbedingungen zur Ent-_ wicklung der Nausea gegeben sind, so bleibt zun~chst noch ullerkl~rt, warum der K6rper auf diese an sich noch im Bereich des Vertr~glichen liegenden Reize mit so heftigen Reaktionen antwortet. Wir stoBell fiberall auf die immer wiederkehrende physiologische Tatsache, dab der Organismus all seinen dell Bedfirfnissen der K6rperzellen allgepaBten Einrichtungen z~he festh~lt. Wie die optimale Organs yon einem bestimmten Salzspiegel des Blutes abh~ngt, so l~Bt auch das Nervengewebe ill qualitativer und quallti tativer Hinsicht nur ad~iquate Reize ftir den llormalen Ablaut ihrer Funkt ionen zu Schon die sensiblen Nervenendigungen der Haut, mehr noch die Endk6rperchen des kin~sthetischen Nervenapparates werden in den Umkehrpunkten der Sehiffs: bewegungen in st~iidigem Wechsel zwisehen maximaler Belastung ulld Enr einem dauernden Reiz unter- w0rfen, der wegen der in~quaten Inanspruchnahme geradezu als ein MiBbraueh sensibler Einrichtungen aufgefaBt werdell mug. Das Unphysiologisehe dabei t r i t t noch mehr hervor , wenn man berficksichtigt, dab diese Nervenreizung rein passiv zustallde kommt. Die Endapparate des Muskelsinnes dienen dem Gleichgewichtssinn als Kolltroll0rgan ffir K6rper- und Muskelbewegungen und sind gew6hnt, durch aktive K6rper- bewegungen in Reizzustand verse tz t zu werden, worauf bereits ABELS~) hingewiesen hat. Im wesentliehen ~hnlich liegen die Verh~ltnisse bei cler Reizullg der Cristae der Bogen- g~nge und der beiden Maculae, deren ad~quater 1Reiz durch Stellullgs~nderung des K6rpers bzw. dutch Drehbewegung entsteht. Beide Organe erfahren bei hohem Seegang Schleuder- beweguugell, die einen Eingriff und MiBbrauch tier vor- handenen Nervellanlagell und seiner Mechanismen bedeuten. Wenn sehlieBlich aueh an der Gef~13wurzel und im visceralen Blatt des Peritoneums dutch Vertikalduktion wiederholt Zug~4rkullgen elltstehen, so bedeuten diese Vorg~nge Iiir die einliegenden Nervenendigungen ein Novum, das sie nicht ohne zelltrale Folgen geschehen lassen.

Was flit diese eillzeln behandeltell peripheren Insul- tationen gilt, dfirfte auch ffir das Zusammenwirkei1 s~mt- licher in Retie stehenden ulld zelltralw~rfs geriehtetell Reize zutreffen. Sie alle zusammen bilden einen Reizkomplex yon ,,anti"-physiologischer Art. Es kommt hillzu, dab diese einzelllen Reize zu gleicher Zeit in den Urnkehrpunkten aus- gel6st werden und so auch ill quanti tat iver ]3eziehung den Insult vermehrell.

Wenn wir nun dazu iibergehen, die zentrale Wirkung dieser in~quaten Reize zu verfolgen, so muB zun~chst darauf hingew!esen werden, dab die peripheren Impulse sich weder

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im Rfickenmark noch im Cerebrum diffus wie im Strychnin- zustand auf andere Zentren ausbreiten, sondern dab ein rein reguliertes Sehaltungssystem, verbunden mit Hemmungs- vorg~ingen (SHERRINGTON), die afferenten Erregungen in bestimmte Bahnen lenkt, Stellt man sich abet vor, wie in dieses durch Gew6hnung auf eine bestimmte Empfindlichkeit und funktionelle Beanspruchung eingestellte Schaltungssystem unbekannte und in~iquate Impulse aus verschiedenen Reiz- st~tten, und zwar zu gleicher Zeit, einbrechen, so begreift man, dab die Verarbeitung dieser Irr i tat ionen zu koordinierten _Effekten eine neue Aufgabe bedeutet, Wie ffir die peripheren, so sind auch ffir die zentralen Nervenzellen diese Reize ein Konfliktmoment. W~ihrend das Cerebrum die erforderlichen Koordinationen bei der aktiven Muskelbet~ifigung gleichsam Vorausahnt, werden hier die Hirnzellen durch passiv aus- gel6ste Erregungen, fibertragen gesprochen, vor eine voll- endete Tatsache gestellt. Weiterhin ist der Befund yon maggebendem Einflug, dab jedes Nervenzentrum fiir zu- str6mende neue Reflexe so lange refrakt~r bleibt, bis der vorausgegangene Erregungsvorgang abgelaufen ist. Bei jeder IZ6rperstellung und -bewegung befinden sich bestimmte Muskelgruppen und damit auch die zugeh6rigen Zentren im Stadium erh6hter Reflexerregbarkeit, Der caudale Schenkel des Reflexbogens kann nu t immer yon einem motorischen Impuls benutzt werden. Die Folgerung aus diesen Aufz~ih!ungen wfirde darin liegen, dab durch teil- weise Sperrung der Effektoren und dutch Eintreffen neuer, unphysiologischer Reize eine Stauung sensibler Nachrichten stat that . Als Beispiel hierfiir sei die bei Seekrankheit be- obachtete Abnahme des Muskeltonus trotz der Erregung der Substantia reticularis und des Deiterschen Kernes angefiihrt. Nach zwei Richtungen hin werden sich die Folgen dieser zentralen Anh~iufung yon Impulsen bemerkbar machen.

Besonders in der Medulla 0blongata, wo Synapsen yon verschiedenen Nervenkernen dicht gedr~ingt vereinigt sind, springen Impulse auf benachbarte Zellen fiber und schlieBen damit einen anderen Reflexbogen. Sehr vieles spricht z. B. daffir, dab b e i starker Reizung des Vestibularapparates Erregungen des Deitersschen Kernes auf das viscerale Vagus- zentrum fibergreifen und auf diese Weise fiber das dorsale L~ngsbfindel zum Nystagmus fiihren. Ahnliche Vorg~tnge spielen sich sicherlich auch im Thalamus opticus ab, denn wir linden, dab die in der Wand des drit ten Ventrikels ge-

legenen vegetativen Zentren auch durch Schmerz und andere afferente Impulse erregbar sind.

Dann ist vor allem noch auf die St6rung im chemisch- physikalischen Gleichgewichtszustand aufmerksam zu machen. Versuche fiber Nervenerregbarkeit haben die Abh~ngigkeit yore S~urg-Basen-Gehalt der die Nerven umspfilenden Flfissigkeit gezeigt. Wit wissen, dab das mehr l~ihmende Calcium seinen Antagonisten in dem erregenden Kalium hat und dal3 andererseits Calcium eine Erregung des Sympathicus hervorruft. Dureh Ca!ciumzusatz zum Serum erreichen wir eine Herabsetzung d e r Nervenerregbarkeit und eine Ver- schiebung der chemischen Reaktion nach der sauren Seite, was therapeutisch vor allem ANDERSEN "0) ausgenutzt hat. Interessanterweise wird auch umgekehrt durch ungew6hnliehe Nervenreizung eine lokale Alkalose ~1) hervorgerufen und somit das S~ure-Basen-Gleichgewicht zu h6herem, p~-Wert ver/indert. Die Symptome der roll entwickelten Seekrankheit zeigen deutlich vagotonisches Gcpr~ige, so dab man bei den hier vorliegendenVer~inderungen ein 13berwiegen der Hydroxylionen annehmen kann. Und in der Tat bestlitigen die bisherigen therapeutischen Versuche, welche zur Kupierung der Nausea angestellt wurden, daf3 der erw/ihnte Rfickschlul3 richtig ist.

Nun endlich zu der Prage: In welchen Reflexzentren spielen sich die geschilderten Vorg~inge ab ? Wenn wir uns yon der zuerst auftretetiden subjektiven Empfindung des See- rMsenden leiten lassen und demgem/it3 die ~berleitungsstelle des Visceralschmerzes ermitteln wollen, d a n n werden wir zun~ehst in das Gebiet des Thalamicus optieus geffihrt. Das zur schnelleren ~bersicht beigegebene Schema zeigt, auf welchen Wegen die sensiblen Impulse des Nervus accelerans und splanchnicus cranial fortgeffihrt werden. Naeh Durch- eilen der Rami communicantes grisei gelangen die Impulse zum sensiblen Sympathicuskern des Rfickenmarkes, der yon JAKOBSOI~N 6) in die Substantia gelatinosa des Seitenhorns ver- tegt wird. Von dort erreichen diese sensiblen Eindrficke auf dem Wege de~ Tractus spinothalamicus den Thalamus optieus, wo sie auf die erw~ihnten vegetativen Zentren fibergehen. Die Folgen davon zeigen sich in einer Reizung des nahegelegenen Gefiigzentrums und des Vaguskernes in der Oblongata.

Dieses Kerngebiet n immt wegen des Verlaufes der See- krankheit unser Interesse sehr in Anspruch. Im Gegensatz zu THUMAS, der das Brechzentrum in die N~ihe des Thalamus scriptorius verlegt, haben obenan amerikanische Autoren 12)

Entstehung der Nauseasymptome.

Peripherer Reiz Zentripetale Bahnen Reflexzentren Erfolgserscheinungen

Extero-

ceptiver --

Reiz

Radix post.

sensitiva

Tract. �9 Mediale - - spin,- - - Schleife

corticalis

u reiz Ram; TracL Mediale

( S y m p a - - comm. - - spin. - - Schleife thicus) gris. thalam.

Nin~sthe- tischer - -

Reiz

Radix post.

sensitiva

Tract. - - spin.

thalam.

"Vesti- bularreiz - - - - N. vestibnlaris

- - + Erregung durch Nervenreiz.

Sensible ~- Umschaltstelle .

im Thalamus

___+ Schmerzzentrnm (Schmerzgeffihl)

Vegetatives Zentrum in der

- - - + W a n d des 3. Ven- - - - trikels

___+ t( leinhirn/ /*~ ~ "

r , Mediale [ " Vaguskern Schleife (Brechzentrum)

Sub- .." '----~ stantia "

reticularis ] �9 i

Vesti- Dmtersscher IZern -~ bularis-

kern !

......... + Erregung durch chem. Reiz.

Gef~8- zentrum

Sensorisches und motori- Schmerzlokali-

sches Rinden- --~ sation zentrnm

I Unbehagen | Unlustgefiihl

+ Psyche ----~ {Angst /Lebensfiber-

driissigkeit

[Cerebrale Anlimie + { mit Schwindel

[Bl~isse im Gesicht

[Ubelkeit JSchweil3ausbruch

-"/Saiivatio n [Vomitus

Ungentigende Pyramiden- Tonisierung der

babn Muskeln

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~6. NOVEMBER ~9a6 K L.I-N I.S C H E W O C H , E N S C H

(HATCHER und-WEISS) durch ausgedehnte Versuche ein ein~ heitliehes Brechzentrum im sensiblen Vaguskern gefunden. Diese Auffassung wfirde auch gut mit der Behauptung iiberein- stimmen, dab die Erregung dieses Zentrums abgesehen yon fibei~geordneten Impulsen, auch durch primgre t r r i ta t ionen desDei tersschen Kernes (z. B. bei Menigreschem Symptomen, komplex) er fdgt , da sehon anatomisch der sensible Vagus- kern dem Vestibuiariskern am ngchsten liegt. Ober den Brechvorgang, der znmeist vom vagus ausgel6st wird, sind wit durch die Arbeiten yon KLEE la) informiert. Von weiteren Refiexzentren, deren Mitwirkung in diesem Zusammenhang feststeht, ist die Substant ia reticularis und der Deiterssehe Kern zu nennen. Unlgngst ha t SPIEGEL ~4) den zentrMen 3/iechanismus der statischen Innervat ion sehg ausfiihrligh beschrieben.. Experimentel l konnte er feststellen, dab die proprioceptiven Erregungen durcli den' V0rderstrang zentral geleitet werden nnd in der Subs tan t i i re t icular is auf den motorischen Arm des Reflexbogens fibergehen. Auffallender- weise n immt man fibrigens dieses Kerngebiet nach G~aI)~) auch als den Sitz des Atemzentrums an. L~nger schon war die grol3e Bedeutung des Vest ibularapparates und seiner Nerven- kerne in der Oblongata ffir die Empfindung der Lage, Augen- stellung und f fir die Aufrechterhaltung des Muskeltonus be- kannt . Die efferenten Bahnen beider Zentren sind in den Pyra- midenstrgngen zu finden. Damit haben wir einen teilweise noch hypothetisc!~en, teitweise abet dutch Experimente bewiesenen IJBerbliek fiber die zentralen Vorggnge gewonnen.

Noch in zwei Punkten bedarf die vorstehende Aufstellung einer kurzen Erg~nzung. Es ist durchaus denkbar, �9 dab ebenso wie vom Deitersschen Kern, so auch yon der Substant ia reticularis nerv6se grregungen oder basische Valenzen auf das sensible Vaguszentrum fibergehen und damit eine Sum- mierung der dor t eintreffenden Reize verursachen. Dadurch h~tten wir einen F!ngerzeig, warum gerade das Brechzentrum in so auffglliger Weise betro{fen wird, obwobl be{spielsweise auch das Atemzentrum in ngchster Umgebung liegt, abet nieht i rr i t ier t wird. Eine gewisse Schwierigkeit verursaeht weiterhin die g rk lgrung des Schwindelsymptoms. Die ]3eobachtungen aus Fahrstuhlversuchen lassen deutlich er- kennen, dab dureh Vert ikalduktion kein Scliwindel .ausgel6st wird, und legen daher nahe, den bei der Nausea be0bachteten Schwindel gr6gtenteils an t Erregungen des optischen Appa-. ra tes zurfiekzufiihren (Blick auf die bewegte See), Indessen is t auch die Annahme nicht zu. verwerfen, dab in Analogie zum Meni@reschen Schwindel Impulse yon den Deitersschen Zellen und der Substant ia reticularis unmit te lbar auf den sensiblen Vaguskern fibergehen und yon da nnter Vermitfiung des vegetat iven Zentrums auf das GefgBzentrum in der Wand des dr i t ten Ventrikels. Von dort aus w~re die Ents tehung

'e iner lokalen cerebralen An~mie denkbar, die den Schwindel ausl6st.

Nach diesen Darlegungen ist es angebracht, auch einige Worte fiber die vermeintliehe Gewd'hnung an die Verfikai- dukt ion anzuschtiegen. In der Li tera tur findet man zweierIei Meinungen. Die eine behauptet , dab an Bord die ZahI der Seekranken nach 2- -3 Tagen zurfickgeht, die andere, dab viele Reisende nach einer einmal fiberstandenen Nausea f fir ihre spgteren Reisen eine gewisse Immuni tg t aufweisen. Der ersten Angabe kann Verfasser znstimmen, nicht aber der zweiten. Wenn man yon der erwghnten Auffassung aus- geht, dab durch die l~bererregung der Nervenzellen eine lokale Alkalose zustande kommt, so wgre bei dem stark ausgeprggten Bestreben des Organismus zu neutralisieren in diesen Fgllen der SchluB berechtigt, dab eine i3berkompen- sation sich geltend gemacht hat. Dadurch wfirde an den ~nmit te lbar folgenden Tagen selbst bei Fortbestehen der Seeverh~ltnisse die Entwicklung der Nausea gehemmt. Ein gleicher Regulierungsvorgang liegt wohl auch bei dem an mehrmonat ig e Seereisen gew6hnten Schiffspersonal vor, wobei allerdings neben der s tgndigen k6rperlichen ]3etgtigung auch noch das psychische Moment ausgleichend w~rkt. Wi t kennen ja dee Einflug des vegetat iven Zentrums und k6nnen annehmen, dab unter dem zuversichtlichen BewnBt- sein der , ,Seetfiehtigkeit" eine Abstumpfung gegen Vertikal-

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duktion eintreten kann. Was aber die durch einmalige See- reise erreichte Immuni t~ t ffir sp~tere Ausfahrten anbelangt, so ist daran zu erinnern, dab die Beurteilung yon Wellengang und Vert ikaiduktion o f t sehr subjekt iv ausfgllt, jedenfal l s ist die Annahme nicht berechtigt, dab eiue einmalige See- fahrt immun maehe, wie auch das sa t t sam angezogen e Beispiel des Siegers yon Lissa beweisK

Zusammen/assung. Zusammenfassenct l~,Bt sich sagen, dab. der vol! ausgebildete Symptomenkomplex der Nausea in seiner stufenweisen Entwieklung fibersehen und die ein- zelnen Entstehungsfaktoren auf ein Pr imum movens zurfiek- geffihrt werden k6nnen.

Die typischen, Nausea verursachenden Irr i ta t ionen werden am oberen und nnteren Umkehrpunkt der Transversalwelle ausgel6st, indem der dem K6rper erteilte Bewegungsantrieb pl6tztich unterbrochen nnd yon einer entgegengerichteten Neubewegung a b g e l 6 s t wird. Dieses als Vert ikalduktion bezeichnete Gesehehen ha t direkte und indirekte Folgen. Als Rezepfionsorgane ffir unmit te lbare Einwirkung kommen die Endappara te des Haut - und kingsthe{ischen Sinnes in Be- tracht, deren Reiz in dem Wechse! zwischen starker Be- lastnng nnd extremer Ent las tung besteht. A b e r mehr noch als diese Nervenendigungen werden sowoh.1 sensible, peri- arteriell gelegene Zellen der Aorta und Art. pulmonalis, und yon best immten gefgl3reichen Peri tonealabschnit ten (Leber, hilus), als auch die sensiblen F.mpfangsapparate des Vesti- bularapparates gereizt. Die Ents tehung dieser Reize wird ant Remanenzbewegungen zurfickgeffi!}.rt, welehe sich durch die Vertikaldukt{on und auf Grund d e s Beharrungsgesetzes ausbilden.

Zum Beweise fiir diese Annahme konnte auf Liftversuche hihgewiesen werden, bei denen die auf See herrsehenden Bedingungen Berficksiehtigung fanden. Es ge!ang dadureh, die versehiedenen Sensationen zu analysferen und darzntun, dab dem Vesf ibularapparat keine dominierende 1Rolle ffir die Ents tehung der Nausea zuerkannt werden kann, weil weder bei Seekranken noeh bei Versuehspersonen im Lift die typischen Reizsymptome ffir den Vest ibularapparat nachweisbaI sind. Aus diesen und anderen Darlegungen konnte sowohl eine grol3e Empfindlichkeit als auch besondere Inanspruchnahme des Vest ibularapparates abgelehnt werdem Wohl wird das Gleichgewichtsorgan durch die VertilTalduktion ergriffen, aber diese Einwirkung beruht nicht auf funktioneller l~Ibererregung, wie etwa durch zu hohe Anforderung an den Vesfibularapparat , sondern dnrch eine dem funktionellen Mechanismus zuwiderlaufende Insultat ion. '

Ein gleiehes t r i f f t auch Ifir die Rezepfionsorgane der ~Iaut u.nd des kinfisthetischen Sinnes zu.

Das Charakteristische und Gemeinsame ffir alle be- teiligten NervenzeUen besteht darin, dab sie lediglich infolge ihrer anatomlschen Lage der Vertikaldu}ttion ausgesetzt sind, und ferner, dab sie auf Zug und Druck ansprechen.

Jeder einzelne, dutch passive und aphysiologische Bewegung ausgel6ste Reiz macht noch nicht seekrank; dagegen ffihren die verschiedenen, im gieichen Augenblick entstehenden Reize zu einem zentralen Konflikt. Dutch eerebrale Anh~tufung dieser Impulse kommt es zu l~ber- greifen auf benachbarte Zellgruppen und zu St6rungen im S&ure-Basen-Gleichgewicht.

Die Mitbeteiligung des Gesichts- und Geruchssinnes zur Entwieklung der Nausea wird anerkannt, jedoch betont, dab diese Reize leicht ausschaltbar sind und deshalb in keinem ursgchlichen Zusammenhang mit der Pathogenese der Krank- heft stehen. Sie mfissen als atypische Momente angesehen werd en.

Die cerebrale Affektion betrifft vorzfiglich das Brech, und Gefgl3zentrum,. sowie Kerngruppen ffir die statische Innervat ion und das Gemfit, w0rfiber ein Schema entw0rfefl wird. Die sekundXren Folgefl dieser St6rungen erklgren den gesamten, als Nausea bezeichneten Symptomenkomplex.

Uber die therapeutischen Versuche des Verfassers , die im Anschlul3 an diese {3berlegungen .angestellt wnrden und

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die einen gi inst igen Ver lauf nehmen, soll nach AbschluB der- selben ber ich te t werden.

L i t e r a t u r: ~) R. MAGNUS, K6rperstellung. Springer 1924. -- ~) VAN NULFFTEN PALTHE, Zintuigelijke en psychische Funktics tijdens her Vliegen, S. C. van Doesburgh, Leiden. -- ~) ABELS, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 12. - -~ ) KAPPIS, Med. Klinik 192o, S. 4o9. -- ~) Siehe: Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie yon BET~IE, V. BERG~ANN, E ~ B D ~ . Bd. XI, Rezep- tionsorg. I. - - ; ~ Siehe: L. R. Mt~LI_ER, Die Lebensnerven. --

25. NOVEMBER z926

7) S INGER, Wien. klin. Wochenschr. 1926, Nr. 20. -- s) S. G A R T E N , l~ber die Grundlagen unserer Orientierung im Raum. Abh. d. mathem.-physisch, K1. d. s~Lchs. Akad, d. Wiss. 36, Nr. IV. -- ~) BRUNS, Mtinch. reed. Wochenschrift I926, Nr. 24. -- :0) A N D E R S E N , Mtinch. med, Wochenschr. 1924, Nr. 43; Fortschr. d. Med. 1926, Nr. 3. -- z~) SCHOLZ, Zeitschr. f. ~rztI. Fortbild. 1926, Nr. 4. -- ie) PINELES, 1Jber Erbrechen, Beilage zur Wien. klin. Wochenschr. 1926, Nr. 24. -- xa) KLEE, Pflfigers Arch. f. d: ges. Physiol. ~54, 552 und x45 , 557. -- ~) SPIEGEL, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 7, S. 277.

ORIGINALIEN. SYPHILISRUCKGANG UND SALVARSAN*).

Eine Enquete. Y o n

Prof. Dr. J. JADASSOHN, Breslau.

M. D. u. H. ! Ich m u g u m Ent schu ld igung bi t ten, dab ich Ihnen nichts Eigenes bringe, sondern nu r das Resu l t a t einer Umfrage , und dal3 dieses Resu l t a t n ichts anderes ist als eine ]3est~tigung yon Angaben, die Sie wohl schon mehrSach ge- hSr t ~ haben**).

I ch glaube aber doch, dab Sie diese Ergebnisse n ich t ohne In teresse zur Kenntn i s nehmen werden.

Zwei Momen te waren es besonders, welche reich fin vor igen Win te r veranlal3t haben, eine E n q u e t e tiber die Frage , ,Syphil isri~ckgang u n d S a l v a m a ~ " zu veransta l ten . E inma l haben wir in Deutsch land - - wi t mfissen es leider ges tehen immer wieder gegen Anfe indungen des Salvarsans anzuk~mp- fen, wesentl ich, aber i i icht ausschlieBlich yon sei ten der berufs- m~Bigen Fe inde der wissenschaft l iehen Medizin, gelegentl ich auch yon sei ten einzelner Arzte. Dann aber und ganz vo r a l lem: Ich glaubte, dab es wichtig w~re, yon einer gr6Beren Anzahl yon k o m p e t e n t e n Fach~rz ten ihr Ur te i l fiber die Frage des Syphil isrf ickganges und seiner Ursachen sowie fiber ihre jetzig.e S te l lung zum Salvarsan zu erfahren. Von Deutsch!and und Oster re ich babe ich abgesehen, weil uns ja die Anschau- ungen und Verh~ltnisse hier, soweit es eben mSglich ist, be- k a n n t sind. I ch babe daher einen Fragebogen an eine grol3e Anzahl he rvor ragender Dermato logen und Syphi l idologen in den meisten anderen europ~ischen L~ndern versch ick t fast immer an mehrere, um m6glichst vor der Verwer tung e twa zu persSnlicher Eindrf icke gescht i tz t zu sere , und ich babe yon den meis ten p ro mp te An twor t en erhal ten, zum Teil recht aus- ftihrliehe. Ich benutze die Gelegenheit , u m allen den Kollegen, welche mich hierbei in so l iebenswfirdiger und entgegen- k o m m e n d e r Weise unters t f i tz t haben, m e m e n herzl ichsten D a n k auszusprechen.

Die .Fragestellung, die ich gew~hlt habe, war folgende:

i. Die Deutsche Dermato logische Gesellschaft h a t im Jah re 1923 die f01gende Erk l~rung an alle ihre Mitgl ieder mi t der Frage versandt , ob sie sich derselben anschliel3en wol len:

, ,Wir sind der Uberzeugung, dab die Salvarsanpr~iparate die wer tvo l l s t enMi t t e l im K a m p f gegen die Syphil is als Einzel- wie als Volkskrankhe i t sind. Sie sind bei dem augenbl ickl ichen S tand unseres Wissens bei allen f iberhaupt beeinf luBbaren F o r m e n und S tad ien der Syphilis mi t wenigen Ausnahmen aul3erordentl ich wi rksam und du tch die ~ilteren ant isyphi l i t i - schen Mit te l wohl zu erg~inzen, abe t sehr oft n icht zu ersetzen. W e n n bei der Fabr ika t ion , Pr i i fung and Verwendung der Salvarsanpr~iparate m i t der unerl~iglichen Sorgfa l t vorge-

*) Nach Vortrggen" in der Sehlesischen GeselIschaft ffir VaterI. Kultur (4. VI. I926) und beim x. Internat . KongreB fi~r Sexualforsehung (13. Oktober 1926). **~ So hat, wie ich erst nachtr~glich gelesen babe, das Internationale Gesundheitsamt in Paris im Mai 1924 bekanntgegeben, dab ,,nach Berichten aus zahlreiehen L~ndern die Syphilis eine Abnahme erkennen l~gt", und dab ,;dieser Erfolg mif die Verbesserung der Diagnose und die Anwendung tier Salvarsanpr~parate zuriickgefiihrt wird, wodureh die Ansteckungsf~higkeit beseitigt wird. Auch der Aufklgruilg kommt ein groBer Anteil an dem Erf61g z u " . Vgl. B R E G E R : Was !ehrt die Statist ik der Geschlechts~ krankheiten? I. Beiheft zu Nr. ~ des Reichsgesundheitsblattes. Berlin 6. I. 1926.

gangen wird, so sind die Gefahren bei der Sa lva r sanbehand lung nicht gr613er als bei jeder anderen energisch wirkenden ]3e- handlungsmethode . Da diese GeSahren in le tz ter Zei t in un- seres Erach tens f ibertr iebener Weise darges te l l t worden sind, ha l ten wir uns Stir verpf l ichtet , zu erkl~ren, dab die m i t Vor- s icht und Sachkunde angewendete Sa lva r sanbehand lung ohne groBen Sehaden f/ir die Volksgesundhei t n ich t e ingeschr/ inkt werden kann . "

97% der an der A b s t i m m u n g Te i lnehmenden haben sich daftir erklS, r t .

Sind Sie der Ansicht , dab diese Erk l~rung auch j e t z t noch den Ta t sachen en tspr ich t?

2. In einer Anzahl yon L~ndern Wird yon e inem mehr oder weniger erhebl ichen Ri ickgang der Syphilis in den le tz ten J a h r e n ber ichte t .

I s t das auch in Ih r em Lande der Fal l?

E t w a in welchem Umfange?

En t sp r i ch t dem Rfickgang der Syphil is auch ein solcher der g0norrhoischen E rk rankungen?

Worau f m6ch ten Sie den Rf ickgang vo r a l lem der Syphil is zurfickffihren ?

Glauben Sie, da0 die Sa lva r saubehand lung daran be- te i l ig t is t ?

3- Glauben Sie schon j e t z t e twas dar i iber aussagen zu k6nnen, ob die Sa lva r sanbehand lung einen EinfluB (ira gfin- st igen oder ungfinst igen Sign) auf die H/~ufigkeit der Tabes, Paralyse, Aor t i t i s usw. ha t ?

E ine ausffihrl iche Mot iv ie rung ffir d iese Fragen er i ibr igt sich. Es muBte zun~chst e inmal festgestel l t werden, ob die B e d e u t u n g der Sa lva r sanbehand lung und ihre bei de r nSt igen Vors icht re la t iv groB e Ungef~hr l ichkei t yon den aul3erdeutschen ~ r z t e n j e t z t nach wei te ren 3 J ah ren in der- selben Weise ane rkann t wird, wie es seinerzei t von den Mit- gliedern der Deutschen Dermato log i schen Gesellschaft ge- sehah (wobei natf ir l ich un te r Sa lvarsan alle Salvarsanpr~- pa ra te ve r s t anden wurden).

Die Frage nach der A b n a h m e der Syphilis u n d deren Urn- fang schien lair die wicht igs te zu sein. Ih r abe t muBte sich notwendigerweise die nach der F requenzbewegung der GonorrhSe anschliel3en. Es war schon verschiedent l ich be- r i ch te t worden; dab der A b n a h m e der Syphil is eine solche der Gonorrh6e nicht entspr~che; auch aus einzelnen deutschen Angaben schien das hervorzugehen. N u n wird einem Aus- e inandergehen der K u r v e n der beiden wicht igs ten vener ischen Krankhe i t en j e t z t ein ganz besonderer W e f t beigemessen. Denn - - so sagt man die Bedingungen ffir die F requenz yon Syphilis und Gonorrh6e sihd im al lgemeinen die gleichen*); bei der Syphilis h a t die Behand lung durch die E inf f ih rung u n d immer umfangre ichere Anwendung der Salvarsanpr/ i- pa ra te and neuerdings auch des Wismuts eine grundlegende Nnderung erfahren; yon / ihn l i chem ist bei der Gonorrh6e leider keine Rede. I s t diese also n icht oder n icht in gleichem 1V[age zur t ickgegangen, so m u g der Rt~ckgang der S y p h i l i s a u f die

'*) Die Kurve der 3. venerisehela Kranldaeit, des Ulcus molle, folgt augenscheinlich noch anderen uns bisher ganz unbekaIlnten Gesetzem