vom beginn der musiktheorie und dem ende der musik, Über die aktualität des mittelalters in der...

21
Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte Author(s): Michael Walter Source: Acta Musicologica, Vol. 70, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1998), pp. 209-228 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932708 . Accessed: 18/06/2014 02:41 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Upload: michael-walter

Post on 15-Jan-2017

219 views

Category:

Documents


4 download

TRANSCRIPT

Page 1: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelaltersin der MusikgeschichteAuthor(s): Michael WalterSource: Acta Musicologica, Vol. 70, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1998), pp. 209-228Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932708 .

Accessed: 18/06/2014 02:41

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at .http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp

.JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

.

International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access toActa Musicologica.

http://www.jstor.org

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 2: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

209

Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik Uber die Aktualitait des Mittelalters in der Musikgeschichte

MICHAEL WALTER (BOCHUM)

Die Universitdits- und Landesbibliothek Diisseldorf verwahrt heute zwei Dop- pelblitter mit Fragmenten der Scolica enchiriadis' aus dem Besitz der Abtei St. Ludgerus in Essen-Werden (Handschrift We), welche die ilteste iiberlieferte Fassung des Textes enthalten2. Ebenfalls der Abtei Werden zugeordnet wird eine um 1000 oder friiher zu datierende Handschrift der Scolica enchiriadis, die durch Teile der Musica enchiriadis und der sogenannten Commemoratio brevis ergdinzt wird3 (Handschrift H). Diese Handschrift diirfte zwar in Werden geschrieben worden sein (aller Wahrscheinlichkeit nach war ihre Vorlage We), wird aber heute in Bamberg aufbewahrt und ist wohl spitestens im 11. Jahrhundert dort- hin gelangt4. We und H sind damit die iltesten Quellenzeugnisse der Scolica enchiriadis. Erst jiingst konnte Dieter Torkewitz plausibel machen, da1 die Hand- schrift We die Abschrift eines in Essen-Werden entstandenen Manuskripts ist, das m6glicherweise die Urschrift der Scolica enchiriadis war und unter dem Ab- bat Hogers im letzten Dezennium des 9. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde5. (Ob zu diesem Zeitpunkt in Werden bereits eine Handschrift der Musica enchi- riadis vorlag, muB aufgrund der Datierung von H offenbleiben.) Da die Essener Handschrift We nicht nur die friiheste erhaltene Handschrift der Scolica enchiria- dis ist, sondern auch die kurz nach der Niederschrift des Urexemplars angefer- tigte Erstabschrift (oder eine der Erstabschriften), dokumentiert sie, zusammen mit dem Musiktraktat des Aurelianus Reomensis, nicht nur die friuheste Phase der mittelalterlichen Bemiihungen, die musikalische Praxis mit einer an dieser orientierten Musiklehre schriftlich (und damit auch in einer fixierten Form tra- dierbar) darzustellen, sondern auch den mentalen Wandel, der mit dieser ver- schriftlichten Form der Musiklehre einhergeht und dessen Folgen. Beides soll im

1 UniversitAts- und Landesbibliothek Diisseldorf: K3:H3 (friiher: Ms. H 3). Auf dem Fragment wurde von einem Bibliothekar des 15. Jahrhunderts ,,Liber sancti Liudgerii Werdena" eingetragen. 2Vgl. auch Musica et Scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis recensio nova post Gerbertinam altera ad fidem omnium codicum manuscriptorum, quam edidit Hans Schmid = Bayerische Akademie der Wissenschaften, Verof- fentlichungen der Musikhistorischen Kommission 3 (Munchen 1981), S. X. Die Bezeichnung der Handschriften nach dem Handschriftenverzeichnis von Schmid. Im folgenden wird diese Edition als Ed. Schmid abgekiizt. 3Vgl. ERNST LUDWIG WAELTNER, Die Lehre vom Organum bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts = Miinchner Veroffentli- chungen zur Musikgeschichte 13 (Tutzing 1975), S. 39.

Staatsbibliothek Bamberg: HJ. IV. 20 (Var. 1). Zur Datierung vgl. HARTMUT HOFFMANN, Bamberger Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts = Monumenta Germania Historica. Schriften 39 (Hannover 1995), S. 166. Ein ausfiihrlicher Vergleich der Diisseldorfer Handschrift und der Bamberger Handschrift bei NANCY C. PHILLIPS, ,,Musica" and

,,Scolica Enchiriadis". The Literary, Theoretical, and Musical Sources (Diss. New York Univ. 1984), S. 80ff. 5 Vgl. DIETER TORKEWITZ, Zur Entstehung der Musica und Scolica Enchiriadis, in: Acta Musicologica 69 (1997), S. 156-181. An dieser Stelle sei Dieter Torkewitz fuir kritische Hinweise und dafiir gedankt, daB er mir freundlicherweise Einblick in das Manuskript seiner Edition des Diisseldorfer Fragments gewihrte, die im Druck in der Reihe Beihefte zum Archiv ffir Musikwissenschaft erscheinen wird.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 3: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

210 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

folgenden anhand der Analyse zweier Beispiele aus den Scolica enchiriadis, die aus der Werdener Handschrift entnommen sind', erlautert werden.

Die Scolica enchiriadis bilden zusammen mit der Musica enchiriadis eine Trak-

tatgruppe mit einem im Wesentlichen identischen Inhalt, die sich vor allem durch die verwandten Notationsfiguren auszeichnet und darin, da1 in ihr zum ersten Mal die organale Praxis des Friihmittelalters beschrieben wird, also jenes heterophone Singen in Quint-, Quart- und Oktavparallelen, das dem ,,Aus- schmiicken" (ornamentum, decus organale, pro ornatu ecclesiasticorum carminum sind die geliufigen zeitgenossischen Ausdrucke) des gregorianischen Chorals diente und die Voraussetzung fiir die Entwicklung der mehrstimmigen Musik in

Europa war. Vor allem deswegen behauptet die Musica enchiriadis-Traktat-

gruppe bis heute ihren prominenten Platz in der Musikgeschichtsschreibung . Auffallend ist in der Musica enchiriadis-Traktatgruppe die 'Notation', die nach

ihrem Grundzeichen Dasia-Notation genannt wird. Dieses Grundzeichen (dasian) besteht aus einem Schrigstrich ( ), der in verschiedener Weise, sowohl durch Hinzuffigung kleiner s- oder c-f6rmiger Hikchen als auch durch Spiege- lung und Rotation der so entstandenen Zeichen variiert wird, um die anderen 17 in der Musica enchiriadis verwandten Tonstufen anzuzeigen8. Das System weist offensichtliche antike EinfliiBte auf und hat diagrammatischen Charakter, d.h. es handelt sich nicht um eine musikalische Notation, sondern um ein Hilfsmittel zur Demonstration musikalischer Sachverhalte (im Gegensatz zur spiteren gui- donischen Notation werden darum auch keine Linien fur die Notation der Bei-

spiele gezogen, sondern lediglich jene Linien benutzt, die zur Vorbereitung des Beschreibens in das Pergament eingeritzt wurden.)

Der Unterschied zwischen Musica enchiriadis und Scolica enchiriadis ist vor al- lem didaktischer Natur: wihrend die Musica enchiriadis den Stoff in gelehrter Form und systematisch darbietet, ist der in den Scolien behandelte Stoff in di- daktischer Absicht gegliedert und in die Form eines Dialogs zwischen Lehrer und Schuiler gekleidet9. Mit anderen Worten: Die eigentliche Musica enchiriadis stellt das umfassende 'Lehrbuchwissen' fur den Lehrer dar, die Scolien sind hin-

gegen eine didaktische Handreichung ,,directed towards the younger student"", die den eigentlichen Unterricht mittelbar wiedergibt. Wer aber waren diese 'jiingeren' Schuiler? Grundsitzlich wurde im Mittelalter, analog zur Antike, der Lebenslauf in Septenare gegliedert, was, wie Max Haas vermutete, auch ,,curri- cular wichtig ist"". Es ist anzunehmen, da1B die Ausbildung im liturgischen

6 Wobei es beim ersten Beispiel nicht wichtig ist, daB es aus dieser friihesten Handschrift stammt, weil die Manu-

skripttradition vergleichsweise unproblematisch ist, wihrend das zweite Beispiel nicht der Standard-Edition von

Schmid entspricht. 7 Vgl. auch grundsaitzlich NANCY PHILLIPS, Art. Musica enchiriadis, in: MGG2 6 (Kassel/Stuttgart etc. 1997), col. 654-

662.

8Vgl. NANCY PHILLIPS, The Dasia Notation and its Manuscript Tradition, in: Musicologie mididvale. Notations et Siquen- ces. Actes de la Table Ronde du C.N.R.S. d l'Institut de Recherche et d'Histoire des textes. 6-7 septembre 1982, hrsg. v. MICHEL HUGLO (Paris 1987), S. 160. 9 Vgl. N. PHILLIPS, Art. Musica enchiriadis, col. 654-662. 10 N. PHILLIPS, The Dasia Notation and its Manuscript Tradition, S. 158. 11 MAX HAAS, Die Musica enchiriadis und ihr Umfeld: Elementare Musiklehre als Propaedeutik zur Philosophie, in: Musik -

und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter. Fragen zur Wechselwirkung von 'musica' und

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 4: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 211

Gesang im zweiten Septenar erfolgte, also bei den pueri im Alter von ca. 7 bis 13 Jahren12. Eine wesentliche Stiitze erfihrt dieses Argument dadurch, daB die Musica enchiriadis im organalen Singen Oktavierungen der Organalstimmen vorsieht, die aufgrund ihres hohen Registers schlechterdings nicht von erwach- senen M6nchen jenseits des Stimmbruchs gesungen werden konnten (Falsettie- ren galt als 'Verweichlichung' bzw. 'Verweiblichung' und war verp6nt). Das organale Singen setzt aber die vollstindige Kenntnis des liturgischen Repertoires ebenso voraus wie die notwendige Beherrschung der Regeln, um eine organale Stimme zu bilden. Mithin kommt als 'Zielgruppe' des gr6iten Teils des Unter- richtsstoffs der Musica enchiriadis nur die Gruppe der 7-13jihrigen pueri in Frage. (Zwar setzte die Pubertit im Mittelalter wohl erst mit ca. 15 Jahren ein, also

spiter als heute". Daraus ableiten zu wollen, daB erst die 14-21jaihrigen - die iuvenes - im liturgischen Gesang unterrichtet wurden, ware jedoch verfehlt, denn selbst bei spiterem Eintreten des Stimmbruchs wire die den Vierzehnjih- rigen zur Verffigung stehende Zeit, um ein liturgisches Repertoire inclusive der Organalpraxis zu erlernen, zu kurz gewesen.)

Waihrend die Stoffsammlung der Musica enchiriadis ausweislich ihrer Syste- matik wohl kaum den eigentlichen Unterrichtsgang wiedergibt, sind die Scolica enchiriadis derart didaktisch aufgebaut, daB ihre 'Vorlagefunktion' fiir den tat-

sichlichen Unterricht unmittelbar einsichtig ist14 (am unterrichtspraktischen Zweck der Handschrift We kann kaum ein Zweifel bestehen"). Max Haas konnte aufgrund kognitionspsychologischer Untersuchungen zeigen, daB der Aufbau des Lernstoffs in den Scolica enchiriadis auch nach heutigen MaBstiben in ge- schickter Weise auf das Wahrnehmungsverm6gen von sieben- bis dreizehnjihri- gen normalintelligenten Kindern ausgerichtet ist. Die graphischen Diagramme werden z.B. der Notwendigkeit gerecht, ,,dass Kinder im Stadium konkreter Operationen, also etwa vom 7. Altersjahr an, in starkem Masse auf graphische Hilfestellungen angewiesen sind, um operativ titig sein zu k6nnen"".

'philosophia' im Mittelalter = Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters LXII, hrsg. v. FRANK HENTSCHEL (Leiden/Boston/K61n 1998 ), S. 210, Anm. 8. 12 Vgl. dazu MICHAEL WALTER, ,Sunt preterea multa quae conferri magis quam scribi oportet." Zur Materialitdit der Kommunikation im mittelalterlichen Gesangsunterricht, in: Schule und Schiiler im Mittelalter. Beitrdge zur europiiischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts = Beihefte zum Archiv ffir Kulturgeschichte 42, hrsg. v. MARTIN KINTZINGER, SONKE LORENZ u. MICHAEL WALTER (K1ln/Weimar/Wien 1996), S. 111-143 und M. HAAS, Die Musica enchiriadis und ihr Umfeld. 13Vgl. M. HAAS, Die Musica enchiriadis und ihr Umfeld, S. 214, Anm. 14. Haas weist dort auf die einschlAigige Arbeit von H. ETTER hin (Die Bevdlkerung vom Miinsterhof, in: Der Miinsterhof in Ziirich. Bericht iiber die vom stddtischen Biiro ffir Archdologie durchgefiihrten Stadtkernforschungen 1977/78 = Schweizer Beitraige zur Kulturgeschichte und Archio- logie des Mittelalters 10, hrsg. v. J. SCHNEIDER, D. GUTSCHER, H. ETIER u. J. HANSER [Olten/Freiburg 1982], Bd. II, S. 179-212). 14 Bezeichnenderweise ist das unten ausfiihrlicher behandelte Beispiel der Dreiecksdiagramme (das nur eines von mehreren dieser Art ist) nicht in der Musica enchiriadis enthalten, weil sich diese zwar an den Lehrenden wendet, aber nicht die 'Lehrsituation' beriicksichtigt. Anschliegend an meine These in ,,Sunt preterea multa quae conferri magis quam scribi oportet.", S. 119/120 bzw. diese revidierend ist darauf hinzuweisen, daB die Diagramm-Beispiele ausweislich der Scolica enchiriadis offenbar doch ein Rolle im Unterricht spielten. Das Problem, auf welchen Be- schreibstoff diese Beispiele geschrieben wurden, bleibt freilich bestehen. 15D. TORKEWITZ, Zur Entstehung der Musica und Scolica Enchiriadis, S. 171ff.

M. HAAS, Die Musica enchiriadis und ihr Umfeld, S. 220.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 5: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

212 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

Worum es in den Scolica enchiriadis geht und was dem Schiiler vermittelt werden soll, sei im folgenden anhand des Beginns des Traktats und eines seiner graphischen Beispiele erliutert.

Der Traktat beginnt mit der Frage des Lehrers, was denn die Musik sei (Mu- sica quid est?)". Es folgt darauf die friihmittelalterliche Standardantwort, die auf Augustinus zuriickgeht, nimlich, die musica sei die Wissenschaft (scientia) vom bene modulandi. DaB daraufhin der Lehrer nachfragt bene modulari quid est?, ist im Hinblick auf den Wissensstoff nur zu verstindlich: die Frage, was Augustinus meinte und wie dies unter friihmittelalterlichen Verhiltnissen zu verstehen sei, hat bis heute die Musikwissenschaft beschiftigt, ohne daB man dabei zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen ist8. Der Schuiler antwortet denn auch mit einer eher praktischen, nicht vollstindigen Erliuterung: Sed haec quantum ad artem. Ceterum non bene modulari video, si quis in vanis suavitate artis abutitur; quemadmo- dum nec ipse, qui, ubi oportet, arte uti non novit: quamvis quilibet devoto tantum corde Domino dulce canit". Es handele sich darum, eine siiBklingende Melodie zu bil- den, die gleichzeitig der ars, also der Handwerkslehre, gerecht wiirde. Im Wi-

derspruch der Begriffe scientia und auch des synonymen disciplina, der wenig spditer im 'Munde' des Lehrers auftaucht und sich ebenso wie scientia auf die artes liberales und im Zusammenhang der boethianischen Musiktheorie auf die Zahlentheorie der musica bezieht, und dem Begriff der ars, der sich auf den handwerklichen und pragmatischen Aspekt des Bildens einer Melodie bezieht, ist bereits jener Widerspruch zwischen spekulativer Musiktheorie und pragmati- schem Anleiten zum Musizieren deutlich, der das Musikschrifttum bis ins spate Mittelalter kennzeichnen wird. Wiihrend der Schuiler zutreffenderweise iiber die ars spricht, also eine Lehre, um einen Gesang herzustellen20, beharrt der Leh- rer auf dem Begriff der disciplina der musica: Recte putas, non nisi bono usu dulcia mela bene fieri: nec rursum sacris melis bene uti, si sine disciplina iniucundius proferan- tur. Quocirca cum ecclesiasticis canticis haec disciplina vel maxime necessaria sit, ne incuria vel imperitia deturpentur, videamus, quibus rebus opus sit ad bene modulandi

facultatem21. 'Stillschweigend' verschiebt der Lehrer hier die Akzente, indem er von der disciplina der musica spricht - also einer quadrivialen Wissenschaft, die der Erkenntnistheorie zugeh6rig ist - und nicht von einer Handwerkslehre. Der Widerspruch zwischen disciplina und ars aber wird nicht aufgel6st.

Ein ihnlich grundlegendes Problem wird auch im zweiten Teil der Antwort des Schilers angesprochen: Wihrend sich das bene modulandi bei Augustinus allein auf einen technischen Aspekt bezog, verkniipft der Schuiler hier die techni- schen Fragen sofort mit der der Intention des (liturgischen) Singens. Es scheint ihm nimlich, daB die Bedingung der stiBklingenden Melodie nicht gegeben ist,

17 Ed. Schmid, S. 60. 18 Vgl. CHRISTOPH VON BLUMRODER, Artikel Modulatiol/Modulation, in: Handwdrterbuch der musikalischen Terminologie (1983). 19 Ed. Schmid, S. 60. 20 Dieser Herstellungsaspekt macht, worauf M. HAAS, Die Musica enchiriadis und ihr Umfeld, nachdrUcklich hinge- wiesen hat, erst das 'kindgerechte' didaktische Vorgehen notwendig. 21 Ed. Schmid, S. 60.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 6: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 213

wenn diese Kunst zu eitlen Zwecken miBbraucht oder am falschen Platz ange- wandt wiirde. Damit wird nicht nur vor der Eitelkeit einzelner (m6nchischer) Stinger gewarnt - wie sich spditer im Traktat zeigen wird, ist damit eine gdingige Gesangspraxis gemeint -, sondern auch darauf aufmerksam gemacht, daB die musica einen liturgischen Zweck erffillen soll und also jede Melodie (d.h. auch ihr Text) an ihrem 'richtigen' liturgischen Ort zu singen sei. Die SchluBfolgerung, daB nur der iiberhaupt siiBt singe, der anddichtigen Herzens singe, ist eine logi- sche Konsequenz daraus. Implizit wird damit freilich aus dem Musikunterricht alle weltliche Musik ausgeschlossen, denn zur musica geh6rt die devotio, die eben dort nicht gegeben ist. Mittelalterlicher Musikunterricht ist darum bis ins 13. Jahrhundert hinein auf den Bereich der Vermittlung jener Techniken, die fuir den Gesang in der Kirche notwendig waren, beschrinkt.

Im Grunde bedeutet das Argument der devotio zudem nichts anderes, als daB der antike Begriff der musica, der sich auf deren Zahlentheorie, nicht auf real erklingende Gesdinge bezog22 und insofern aus Sicht der Musikpraxis 'iiberh6ht', wenn nicht abgehoben war, nun in eine andere Art der Uberh6hung iiberftihrt wird: War die Bedingung der musica in der Antike speculative Kontemplation, so war es nun religi6se Kontemplation, die an deren Stelle trat. Jedenfalls ver- sucht der Verfasser der Scolica enchiriadis diesen Eindruck zu vermitteln, denn der Widerspruch zwischen scientia und ars kann in einer didaktischen Situation, in der - fiir den gelehrten Leser, auf den die zitierte Stelle in erster Linie zielt, er- kennbar - nicht alle Probleme an Ort und Stelle erliutert werden, zunichst un-

aufgel6st stehen bleiben; es gentigte, das Problem anzudeuten, dessen Losung, wenn iiberhaupt, sicher nicht im Unterricht der pueri erfolgte.

Solche Uberlegungen sind mehr als Wortklaubereien. Denn im nicht aufgelo- sten Widerspruch ist - ein entscheidender musikgeschichtlicher Schritt - musi- kalische Handwerkslehre als Zusammenstellung zu erlernender Herstellungs- prinzipien fuir einen Gegenstand legitimiert worden, der genau genommen gar nicht hergestellt werden konnte. Im 9. Jahrhundert stand fest, daB die liturgi- schen Melodien entweder Gregor dem GroBen vom Heiligen Geist iibermittelt23, oder aber - was kosmologisch auf dasselbe hinauslief - den M6nchen von En- geln eingegeben worden seien24. In beiden Fallen stimmten die M6nche also in

22 Vgl. dazu zuletzt MICHAEL WALTER, liber den musikalischen Begriff ,,proportio", in: Musik - und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter. Fragen zur Wechselwirkung von 'musica' und 'philosophia' im Mittel- alter = Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters LXII, hrsg. v. FRANK HENTSCHEL (Lei- den/Boston/K6ln 1998), S. 69-95. 23 Das wurde nicht nur mithilfe bildlicher Darstellungen propagiert, sondern - ab dem 8. Jahrhundert - auch gezielt durch den Antiphonar-Prolog Gregorius praesul, und zwar vermutlich, um die Einfuihrung des gregoriani- schen Chorals im Frankenreich zu erleichtern. Spitestens im 10. Jahrhundert war es zurn Allgemeingut geworden, dat Gregor mittelbarer 'Verfasser' der gregorianischen Choraile war. Vgl. HELMUT HUCKE, Die Entstehung und

LIberlieferung von einer musikalischen Tatigkeit Gregors des GroJ3en, in: Die Musikforschung 8 (1954) , S. 259-264 sowie BRUNO STABLEIN, ,,Gregorius Praesul", der Prolog zum rdmischen Antiphonale. Buchwerbung im Mittelalter, in: DERS., Musik und Geschichte im Mittelalter. Gesammelte

Aufs'tze = Goppinger Arbeiten zur Germanistik 344, hrsg. v. HORST

BRUNNER und KARLHEINZ SCHLAGER (G6ppingen 1984), S. 117-142. Vgl. MICHAEL WALTER, Der Teufel und die Kunstmusik. Zur Musik der Karolingerzeit, in: Das Andere wahrnehmen.

Beitrdge zur europa'ischen

Geschichte. Festschrift August Nitschke, hrsg. v. MARTIN KINTZINGER, WOLFGANG STORNER u. JOHANNES ZAHLTEN (K61n/Weimar/Wien 1991), S. 63-74 sowie DERS., Artikel Engelsmusik-Teufelsmusik. I. Entwick- lung der literarischen Topoi, in: MGG2 3, col. 8-14.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 7: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

214 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

den himmlischen Gesang der Engel ein, ein Gesang, der natirlich nicht willkiir- lich auf Erden geindert werden konnte (Joseph Smits van Waesberghe sprach vom ,,Sanktifikationsprinzip"25), denn damit wuirde die Liturgie im weiteren wie im engeren Sinne korrumpiert. Da sich aber nun immer wieder erwies, daB es

keineswegs einfach war, den 'Engelsgesang' unverindert miindlich zu tradieren, griff man zu zwei Hilfsmitteln: der 'Erfindung' der Neumenschrift und der Ra-

tionalisierung der Gesinge mithilfe von an die Grammatik angelehnten Inter- vall- und Elementarlehren, die dem mittelalterlichen Gesangsunterricht zu-

grunde gelegt wurden. Diese technische Rationalisierung eines fibernatirlichen Phinomens bedurfte aber der Begriindung, denn obwohl sie eine fehlerfreie

Tradierung sicherstellen sollte, war sie kosmologisch prekir, wurde doch letzt- lich eine auf Gott selbst zuriickgehende Eingebung einem handwerklichen Wis- sen unterworfen, welches nicht nur das Verstindnis des Gesungenen ermog- lichte, sondern dem als Herstellungslehre auch die willkiirliche Abinderung des

Gesungenen als M6glichkeit inhirent war. Die Tatsache, da1 in den Scolica enchiriadis im Gegensatz zur Musica enchiria-

dis am Anfang wenigstens eine rudimentire, wenn auch nicht ausreichende und schon gar nicht widerspruchsfreie Begriindung ffir 'Musiktheorie' (deren kon- krete Ausprigung im Traktat man jedoch korrekterweise Musikpoiesis nennen

miiBte) gegeben wird, scheint mir darauf hinzuweisen, daB es sich nicht nur um einen didaktischen Paralleltext zur eigentlichen Musica enchiriadis handelt, son- dern um eine iltere Schicht, die den tatsichlichen Musikunterricht in einem Text

zusammenfaBte, der noch jenen Begriindungszusammenhang (zumindest teil- weise) enthielt, der im monastischen Kontext urspriinglich notwendig war, bei der systematischen Zusammenstellung und Erweiterung des Lehrstoffs zur Musica enchiriadis aber deshalb entbehrlich wurde, weil er bereits allgemein vorausgesetzt werden konnte und die Musica enchiriadis sich zudem weit mehr an Grammatiktraktate anlehnte als die Scolica enchiriadis. Dadurch aber erfolgte gerade in der 'theoretischeren' Schrift der endgiiltige Schwenk hin zur bloBen Didaxe, wihrend die iltere Schicht der Scolica enchiriadis durchaus noch den, freilich nur schemenhaft zu erkennenden Bezug zur antiken Musiktheorie auf- wies. (Zu diesem Argument paBt Lawrence Gushees Vermutung, die Verfasser der Urtexte der Mucia enchiriadis und der Scolica enchiriadis seien nicht iden-

tisch26.)

25 JOSEF SMITS VAN WAESBERGHE, Gedanken iiber den inneren Traditionsprozefl in der Geschichte der Musik des Mittelalters, in: Studien zur Tradition in der Musik. Kurt von Fischer zum 60. Geburtstag, hrsg. v. HANS HEINRICH EGGEBRECHT u.

MAX LOTOLF (Miinchen 1973), S. 12ff. 26 Vgl. LAWRENCE GUSHEE, Artikel Musica enchiriadis, in: NGroveD 12 (London 1980), S. 802. Auch FRITZ RECKOW,

Organum-Begriff und friihe Mehrstimmigkeit. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung des ,,Instrumentalen" in der Spdtantike und mittelalterlichen Musiktheorie, in: Basler Studien zur Musikgeschichte I = Forum Musicologicum (Bern 1975), S. 134, Anm. 403 vermutete, daBf die Scolica enchiriadis vor der Musica enchiriadis entstanden seien. N. PHILLIPS, ,,Musica" and ,,Scolica Enchiriadis". The Literary, Theoretical, and Musical Sources, S. 136/7 hat dem mit nicht ganzlich iiberzeu-

genden Argumenten widersprochen: Reckow hatte argumentiert, daBf in den Scolica enchiriadis das Wort ,,organa- lis" noch erklirt werde, wahrend ,,organum" in der Musica enchiriadis bereits 'geldiufig' sei, und dafB aus der

Formulierung mit ,,dico" m6glicherweise eine ,,Unmittelbarkeit der Begriffsprigung" sprache. Phillips halt

letzteres Argument fiir nicht stichhaltig, weil das Prisens in einer dialogischen Lehrschrift zu erwarten sei (ande- rerseits wird damit aber auch nicht bewiesen, daBf die Musica enchiriadis der iltere Traktat ist). Gegen das erste

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 8: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 215

Der Hinweis des Lehrers, es sei deswegen notwendig, die disciplina der musica zu beherrschen, damit nicht durch Unachtsamkeit und mangelnde Sorgfalt die Melodien verwirrt wiirden, ist angesichts des geschilderten Hintergrunds nicht iiberfliissig, sondern stellt einen essentiellen, wenn auch paradoxen Begriin- dungszusammenhang dar. Dies umso mehr, als im Unterricht die Teile des Gesangs, der immer eine Einheit von Text und Musik darstellte, aus didakti- schen Grunden aufgel6st werden mug~ten. Bedenkt man, daf Lesenlernen im Mittelalter dergestalt erfolgte, daig zunichst einmal die Psalmen auswendig gelernt und erst dann mit dem Schriftbild der Worte verglichen wurden, erkennt man den Unterschied: Im Falle des Lesenlernens erfolgt kein Eingriff in den Bibletext; er bleibt auch im Vorgang des Lernens immer als einheitlicher Text bestehen. Lesenlernen ist insofern eine Einiibung in die bestehende Ordnung des Kosmos. Singenlernen im Sinne der Scolica enchiriadis aber ist ein Eingriff in die

priexistente Ordnung, indem diese zum Zweck der Rationalisierung analytisch aufgebrochen und fragmentiert wird27.

Die analytische Fragmentierung, die ja auch beinhaltete, dafg die fragmen- tierten Teile potentiell neu und anders zusammengesetzt werden konnten, mutte umso schwerer wiegen, als es ein schriftliches Substrat der Musik, d.h. des Chorals, noch nicht gab, mithin materiell (in der Schriftlichkeit der Dia- gramme) fragmentiert wurde, was ohnehin nur nicht-materiell existierte, wobei zudem noch der Choraltext als eigentlicher Sinntriger zugunsten physikalisch- technischer Parameter, die der Begriff des ptongos (sonus) meint, ignoriert wurde. Denn der korrekte Choralgesang beruhte auf der musikalisch korrekten Aus- sprache der Worte, von der die richtige Tonh6he nur ein Teil war. Mit dem Aufkommen der Neumenschrift als ausspracheregulierender Erginzung des Choraltextes wurde das Dilemma der partiellen Notation der Dasia-Schrift, die nur Tonh6hen notierte, behoben (wobei allerdings auf die Notation von Tonh6- hen ganz verzichtet wurde, was ein deutliches Anzeichen daffir ist, daf die Fragmentierung als Nachteil der praktischen Musikausiibung betrachtet und nur als Demonstrationsmittel im Unterricht gestattet wurde.).

Solche Uberlegungen m6gen weit hergeholt scheinen fiir die Betrachtung ei- nes Traktats, der doch schlichtes Material ffir den kl6sterlichen Musikunterricht

Argument Reckows fiihrt sie an:,,The presence of definitions in the Scolica for words that are used without defini- tion in Musica is to be expected", was mir keineswegs eine logische Schlutfolgerung zu sein scheint. Auch RAYMOND ERICKSON, Musica Enchiriadis and Scolica enchiriadis (New Haven 1995), S. XXI argumentiert, daBf die Scolica enchiriadis aufgrund ihrer gr6tferen Affinitat zu Boethius' De institutione arithmetica m6glicherweise vor der Musica enchiriadis entstanden seien. - D. TORKEWITZ, Zur Entstehung der Musica und Scolica enchiriadis, S. 179f., hat darauf hingewiesen, daig im Kloster Werden am Ende des 9. Jahrhunderts am Verfassen von Schriften mehrere M6nche beteiligt gewesen sein k6nnten. Es ware - immer vorausgesetzt die Urschrift von Scolica enchiriadis und Musica enchiriadis ware tatsachlich in Werden entstanden - also denkbar, daig nicht nur (wie Torkewitz zu beden- ken gibt) mehrere Verfasser an den Scolica enchiriadis gearbeitet hatten, sondern auch ein anderer Autor zeitgleich (oder eher spiter) den Text der Musica enchiriadis verfatfte. Torkewitz selbst argumentiert (S. 173, Anm. 34), daig die Scolica enchiriadis ein Repetitorium fuir die Musica enchiriadis seien und insofern nicht vor letzterer entstanden sein k6nnen. Der Charakter der Scolica enchiriadis als Repetitorium ist jedoch keineswegs eindeutig.

Bezeichnenderweise beginnt die Diskussion um die Rationalisierung der Existenz Gottes durch einen Gottesbe- weis, die vom mentalen Zugang her etwas ihnliches wie der analytische Zugriff auf kirchliche Gesange darstellt, erst in der Friihscholastik des 11. Jahrhunderts.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 9: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

216 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

sein soll. Und doch kann man auch am Diisseldorfer Fragment sehen, daB die handwerkliche Beschaftigung der Musik Gefahren in sich birgt: Demonstriert werden kann nimlich auch das Gegenteil des Gemeinten, als absonium oder vitium, als Fehler zwar, der trotz dieser Qualifizierung aber die M6glichkeit des Eingriffs, der ge w ol1t en Anderung des Chorals einschliejt.

Es geht im Musikunterricht also nicht allein darum, richtiges Singen zu ler- nen, und unbewuftte, auf mangelnder Ubung basierende Fehler auszumerzen. Es geht auch darum, den bewut~t falschen Gebrauch von T6nen zu demonstrie- ren, was aber nichts anderes bedeutet, als die M6glichkeit eines iiberlegten Ein- griffs in einen Gegenstand, der direkten g6ttlichen Ursprungs ist. Die Demon- stration erfolgt doppelt: sowohl iiber das Medium des Singens selbst als auch iiber das Medium der riumlich-schriftlichen Darstellung im Diagramm. Und in letzterem wird erst dauerhaft fixiert, was als Unmbglichkeit gerade ausgeschlos- sen werden soll: Wenn zum bene modulandi auch die Devotion geh6rt, also der intentionale Bezug auf Gott, so ist dem falschen Beispiel inhairent, daf es nicht nur falsch ist, sondern, ohne daB dies ausgesprochen wilrde, sich intentional auch gegen Gott richtet. Im Medium der Schriftlichkeit aber kann diese Inten- tion fixiert werden, wird materiell und 'ist damit in der Welt' - eben nicht als

bloter Fehler, sondern als M6glichkeit. Denn wenn, wie Wittgenstein uns be- lehrt, die Welt ist, was der Fall ist, so ist damit der Choral vom liturgisch-mysti- schen zum weltlichen Ereignis buchstiblich herabgesunken.

Hier zeigt sich die Gefahr der Ubernahme von Unterrichtsmethoden aus der Praxis des Quadriviums in einem genuin theologischen Unterrichtsbereich: Aus den Boethius-Glossen ist die Methode, einen Schuiler durch ein falsches Rechen-

beispiel zunichst aufs Glatteis zu ffihren, durchaus bekannt28. Allerdings handelt es sich dabei nicht darum, eine sanktionierte Praxis einzufiihren, deren Grund-

lage die Devotion ist, sondern darum, die Rechenbeispiele des Boethius ver-

stindlich, also intellegibel zu machen. Wahrend jedoch beim falschen Rechen-

beispiel klar ist, daB es dem Rechensystem nicht entspricht, also auch nicht als

M6glichkeit besteht, entspricht das falsche Gesangsbeispiel durchaus dem (friihmittelalterlichen) musikalischen System als solchem (welches im Vorhan- densein von Halb- und Ganztonabstdinden besteht, nicht aus deren Anordnung).

Sehr deutlich wird dies in einer Bemerkung, die eher en passant erfolgt: Als der Lehrer nach einigen Beispielen fuir die falsche Anordnung des Halbtons (limmata) vom Schiiler erneut gefragt wird, ob dies denn nun als Fehler zu be- trachten sei, antwortet der Lehrer zwar mit Bestimmtheit, natiirlich seien dies Fehler (vitia nimirum sunt), fiigt aber auch hinzu: sed sicut barbarismi et soloecismi metris plerumque figuraliter intermiscentur, ita limmata interdum de industria cantibus inseruntur.29 Der Lehrer sieht sich hier gen6tigt, den Vergleich mit der Dichtung zu ziehen. Zwar ist nicht ganz klar, was die Vermischung des Metrums mit

28 Vgl. MICHAEL BERNHARD, Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht, in: Schule und Schiller im Mittelalter. Beitrdge zur europiiischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts = Beihefte zum Archiv fiir Kulturgeschichte 42, hrsg. v. MARTIN KINTZINGER, SONKE LORENZ U. MICHAEL WALTER (K61n/Weimar/Wien 1996), S. 25f. 29 Ed. Schmid, S. 70.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 10: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 217

Barbarismen und Soloezismen meint (vermutlich unkorrekte Aussprachen des Lateinischen oder der Gebrauch volkssprachlicher Wendungen), aber offen- sichtlich ist, dafB hier eine gdingige Praxis beschrieben wird, die mit dem falschen Gebrauch des Halbtons analogisiert wird, der ebenfalls mit FleiB (industria), also

hiufig in die Gesinge eingefiihrt wiirde. Die Dichotomie zwischen 'falsch' und 'richtig', wie sie fiir die Praxis des Rechnens aus systematischen Griinden vor- handen und klar ersichtlich war, existierte im Hinblick auf die Praxis des Sin- gens nicht.

In der kurzen Bemerkung des Lehrers erweist sich, dafg die Scolica enchiriadis mehr als eine blofge Gesangslehre sind. Sie sind eine Reformschrift, und wie alle Reformschriften, die den gregorianischen Choral betreffen, hat sie zum Ziel die Wiederherstellung eines als urspriinglich verstandenen Zustands, der kontrdir zur kurrenten Praxis steht. Gerade dies aber, das Vorhandensein einer offenbar weit verbreiteten Praxis, die von denen, die sie ausiibten, eben nicht als vitium, sondern als legitime Moglichkeit verstanden wurde, zeigt, daB die ars, die als Handwerkslehre weder Devotion kannte noch sie herstellen konnte, ebenso gut hditte dazu dienen k6nnen, die als falsch verworfene Praxis zu legitimieren. Um dies zu verhindern, wird in der Musica enchiriadis-Traktatgruppe zu einem Trick gegriffen: Das System, das als Referenz dient und innerhalb dessen sich die Negativ-Beispiele als falsch erweisen miissen, wird willkiirlich entworfen und basiert damit, im Gegensatz zu den mathematischen Beispielen, nicht auf der immanenten Logik der Sache selbst, was vor allem daran deutlich wird, dafg durch das Vorkommen der T6ne B, fis und cis (als h6chster Ton der residui) problemlose Oktavverdoppelungen wie sie die Praxis des organalen Singens vorsieht, nicht m6glich sind. (Insofern wurde in der Organalpraxis, in der die im System nicht enhaltenen T6ne zur Oktavierung benutzt wurden, das musikali- sche System der Musica enchiriadis-Traktate stillschweigend ignoriert - man stelle sich zum Vergleich denselben Sachverhalt im Hinblick auf das Rechnen vor!) Auch das Problem des Tritonus bzw. seiner Vermeidung im Organum ist nicht 'natfirlicher' Art, sondern beruht auf einem in seiner Willkiirlichkeit nur partiell sachdienlichen Systementwurf3.

Die sich aus den vier Tetrachorden (vgl. unten) und zwei weiteren T6nen (re- sidui) ergebende Anzahl der 18 T6ne der Musica enchiriadis-Traktatgruppe - eine geordnete Anzahl! - ist weder 'natiirlich' noch zufillig. Im Gegensatz zu ande- ren Musiktraktaten des Friihmittelalters, in denen die begrenzte Anzahl der zur Verfuigung stehenden T6ne weder angezweifelt noch als Defizit verstanden wird, gesteht der Lehrer in den Scolica enchiriadis ein, daig es eigentlich eine ,,un- zihlige" Anzahl von T6nen gebe". Die 'musikalisch verfiigbaren' T6ne aber seien die, die sich aus der Addition der Intervallstrukturen der Tetrachorde ergeben. Vor dem Hintergrund einer Gesangspraxis, die sich eben nicht an dieses Aus-

30 Eine Begriindung fuir die Vermeidung des Tritonus wird denn auch nicht gegeben. Vgl. MICHAEL WALTER, Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift - Zeit - Raum, Stuttgart/Weimar 1994, S. 255.

Ed. Schmid, 63: Videlicet innumerabiles sunt cantilenarum soni. Sed quaternis et quaternis eiusdem conditionis in levando et deponendo sese consequentibus sonorum pluralitas adcrescit; id quoque me canente proba.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 11: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

218 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

wahlprinzip der 'musikalisch verffigbaren' T6ne halt, wird deutlich, daB die als natiirlich postulierte Ordnung des Tonsystems de facto aus dem Zwang er- wuchs, mithilfe eines zweifelsfreien Referenzsystems ein Hilfsmittel an die Hand zu bekommen, das die nicht gewiinschte Gesangspraxis als falsch erwei- sen sollte, indem nimlich, und nicht zuletzt mithilfe der Dasia-Notation - wie das gleich zu behandelnde Beispiel zeigen wird - die Systemfremdheit falscher

Halbt6ne gezeigt werden konnte. In einem System aber, das gleichzeitig seine

eigene Voraussetzung und Ableitung ist (und eben nicht die Natur der Sache - natura statuit32), erweist sich wunschgemiBt all das als systemwidrig, was beim Entwurf des Systems nicht beriicksichtigt wurde, weil es systemwidrig sein sollte. Die kompletten Argumentationsmuster der Musica enchiriadis-Traktat-

gruppe stellen so gesehen also einen klassischen circulus vitiosus dar, der als

solcher nur deswegen nicht erkannt werden kann, weil er als System vorgestellt wird.

Im folgenden soll ein charakteristisches Beispiel aus fol. 1v von We herausge- griffen werden"3. Vorauszuschicken sind einige grundsitzliche Anmerkungen zum Tonsystem der Musica enchiriadis: Die Tonordnung der Musica enchiriadis wird aus vier Tetrachorden gebildet, die dadurch gekennzeichnet sind, daB sich zwischen erstem und zweitem sowie drittem und viertem Ton jeweils ein Ganztonintervall, zwischen dem zweiten und dritten Ton aber ein Halbtoninter- vall befindet. Genau dies wird in einem Beispiel verdeutlicht, das an den linken Rand der Seite von We geschrieben wurde" (T = Tonus bezeichnet das Ganzton- intervall zwischen den Zeichen; S = Semitonium bezeichnet das Halbtoninter- vall):

T

S

T

Die T6ne - d.h. genau genommen ihre Intervallabstdinde (aus denen sich die

T6ne erst mittelbar ergeben) - werden mithilfe der Dasia-Zeichen angegeben: Im

obigen Fall handelt es sich um die T6ne d - e - f - g. In den Scolica enchiriadis kommt es in diesem Stadium des Unterrrichts jedoch noch nicht auf die eigentli- chen 'Tonh6hen' an, sondern nur auf die intervallische Struktur des Tetrachords.

32 Vgl. Musica enchiriadis, Ed. Schmid, S. 6: Igitur quia, ut dictum est, eiusdem conditionis quattuor et quattuor natura

statuit, ita et notae pene sunt eaedem. So explizit hatte der Autor der Scolica enchiriadis das noch nicht behauptet.

33 Entspricht Ed. Schmid, S. 64 (Zeile 84) bis S. 67 (Zeile 14). Zu den beiden Fehlern in der Edition Schmids an dieser

Stelle vgl. die Anmerkungen zur hier diskutierten Seite im Anhang. 34

Vgl. Ed. Schmid, S. 66.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 12: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 219

Dem Schuler gegeniiber wird immer nur vom 1., 2., 3. und 4. Ton des Te- trachords gesprochen. Wenn im folgenden also die Tonhohen in modernen Tonbuchstaben angegeben werden, ist das im Hinblick auf den mittelalterlichen Unterricht ein Vorgriff, der hier nur deshalb gerechtfertigt ist, um die Darstel- lung fiir den modernen Leser etwas komfortabler zu gestalten (man wird unten sehen, dafg gerade damit der Sinn der Diagramme nicht erfaft werden kann). Die Dasia-Zeichen und die Gliederung in Tetrachorde machen deutlich, dafg der Autor der Scolica enchiriadis nicht von einem Oktaven-System, sondern von ei- nem Quinten-System ausgeht: Zwar bestehen die einzelnen Tongruppen aus vier Tonen, doch hat der Autor zu Recht das komplette System vor Augen und spricht deswegen auch vom Pentachord, so wie wir heute auch den achten Ton iiber dem siebten miteinbeziehen, wenn wir von Oktavsystem sprechen.31

Es geht im folgenden Beispiel um das Problem des Halbtons. Die korrekte Anordnung der Halbt6ne innerhalb einer Melodie ist wichtig, damit diese den gewiinschten und richtigen melodischen Modus ('Kirchenton') auspragt. Es handelt sich also um keine Marginalie, sondern um ein essentielles Problem, das mithilfe eines falsch angeordneten Halbtons gezeigt werden soll.

Der Schuiler m6chte den m6glichen Fehler bei der Anbringung des Halbtons

erliutert haben: Er soll - didaktisch geschickt darf er selbst 'ausprobieren' - zu-

nichst das Pentachord von c aus korrekt in aufsteigender und absteigender Richtung 'aufsagen', also singen. Es ergibt sich hierbei c - d - e - f - g, mit dem Halbtonschritt zwischen e und f, also regelgerecht zwischen dem zweiten und dritten Ton des Tetrachords auf d.

Um nun den m6glichen Fehler zu demonstrieren, wird in der graphischen Wiedergabe des Beispiels jeder Ganztonabstand durch ein koloriertes Kaistchen dargestellt, wihrend der Halbtonabstand nur durch die schlichte Linie repri- sentiert wird, zusitzlich werden Halb- und Ganztonabstinde noch durch die Buchstaben T (Tonus) und S (Semitonium) angegeben, die in die Mitte des Dia- gramms geschrieben wurden. Das obere der beiden Dreiecke gibt die Tonord- nung korrekt wieder: zwischen e und f befindet sich der Halbton wihrend alle anderen T6ne durch einen Ganztonabstand, d.h. durch ein Kistchen voneinan- der getrennt sind. (Die Graphiken der Scolica enchiriadis dienen immer zur Ver- deutlichung dessen, was jeweils auch durch Singen demonstriert wird.)

35

Ed. Schmid, S. 64: Pentachordis autem dum uno ad superiorem partem addito idem fit primus, qui et extremus, ita (folgt: Beispiel).

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 13: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

220 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

8I

e T T T T

dA T T

f f

T T

es /I / es d d

T T

c c

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 14: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 221

Das untere Dreieck enthilt den zu demonstrierenden Fehler"3. Der dritte Ton wird ohne den Abstand eines Kistchens iiber dem d angeordnet. Es handelt sich also um einen Halbtonabstand. Der Halbtonabstand liegt jedoch 'unter' dem Zeichen / (was vorher anhand des in den Rand notierten Tetrachords gezeigt wurde). Dieser Querstrich reprisentiert also nicht den Ton f (eine absolute Ton- hohe), sondern jenen Ton, unter dem sich der Halbtonschritt befindet. In moder- ner Notation ware also ein es zu notieren, mithin ein Ton, der im System der Dasia-Notation nicht vorkommt"3. Der notwendige, aber falsche Gebrauch des / um den Halbtonschritt anzuzeigen, hat zur Folge, daB nun in aufsteigender Reihenfolge jene Dasia-Zeichen verwendet werden miissen, die die erwiinschten Intervallabstinde indizieren, so daB das Zeichen an der Spitze des Dreiecks, das bisher in den Scolica enchiriadis noch gar nicht vorkam (hier auch nicht erliutert wird) und unter 'normalen' Umstinden den Ton a reprisentiert, hier zur Dar- stellung des Tons g gebraucht wird, was das Verstindnis des Diagramms fiir moderne Leser zwar nicht gerade erleichtert, aber dem mittelalterlichen Schiiler den Fehler klar vor Augen fiihrte. Denn ganz offensichtlich finden sich die Zei- chen nicht in jenen Kistchen, in die sie 'hingeh6ren'; auch fehlt im linken Schen- kel des unteren Dreiecks (der das 'aufwirts' Singen symbolisiert) das Zeichen A.

Das Problem kompliziert sich, wenn man diese Scala 'von oben nach unten' notiert (rechter Schenkel des unteren Dreiecks), bzw. vom h6chsten Ton aus 'abwirts' singt. Wie man sieht, sind die Zeichen nicht mit denen der aufsteigen- den Scala identisch. Das ergibt sich daraus, daB nun die Intervalle von der Spitze des Dreiecks aus 'gezihlt' werden. Wiirde man die Zeichen als Zeichen fiir ab- solute Tonh6hen interpretieren, ergibe sich die Reihenfolge a - g - f - e - d. Tat-

sichlich gemeint ist aber: g - f - es - d - c. Die Differenz in den verwendeten Sym- bolen ergibt sich wieder daraus, da diese nur Intervallabstinde anzeigen, aber keine absoluten Tonh6hen".

Die an dieser Stelle ausschlieBlich intervallindizierende Funktion der Dasia- Zeichen ist keineswegs defizitir, wie man einwenden k6nnte (denn aus moder- ner Sicht wiren Symbole fiir die einzelnen T6ne zur Demonstration einfacher: Man wiirde den falschen Ton durch seine Bezeichnung sofort isolieren k6nnen, indem man ihm einen Namen gibt, der nicht zum entsprechenden Modus paBt - so wie etwa das fis nicht in die moderne C-Dur-Tonart 'paBt'). Das Mittelalter kennt keine absoluten Tonh6hen (wie hitte man sie auch messen sollen?). Jene mit Buchstaben bezeichneten Tonh6hen, die am Monochord 'abgemessen' wur-

36Es handelt sich beim rechten Dreieck nicht um eine diplomatische Umschrift der Graphik des Beispiels. Der Schreiber von We hat nimlich versehentlich die vierte Querreihe von oben durchgehend koloriert (so wie die zweite Querreihe von oben), ohne dabei zu beruicksichtigen, dafg in der Mitte jeweils zweimal der Buchstabe ,,T" einzutragen war. Um das ,,T" nicht nachtr5glich in die Kolorierung hineinzuschreiben, setzte der Schreiber es auf die dariiberliegende Linie, so dafg es faktisch auf gleicher Hohe wie die beiden Dasia-Zeichen der dritten Reihe von oben stand. Die graphische Notlosung aufgrund des Kolorierungsfehlers wurde in der Umschrift nicht fibernom- men, zumal sie in der moderen Druckwiedergabe verwirrend ware.

Auf den Bedeutungswandel der Dasia-Zeichen in den Diagrammen hat bereits N. PHILLIPS, ,,Musica" and ,,Scolica Enchiriadis". The Literary, Theoretical, and Musical Sources, S. 205 aufmerksam gemacht.

Vgl. dazu N. PHILLIPS, ,,Musica" and ,,Scolica enchiriadis". The Literary, Theoretical, and Musical Sources, S. 204f. Phillips weist zu Recht daraufhin, dafg das Diagramm in Ed. Schmid, S. 67 falsch wiedergegeben ist.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 15: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

222 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

den, kannte der Schiiler in diesem Unterrichtsstadium noch nicht, da die Mono-

chordabmessung, wohl aufgrund ihrer Kompliziertheit, erst den iuvenes beige- bracht wurde. Wenn nun die obigen T6ne lediglich gesungen worden wiren, wire der Fehler iiberhaupt nicht erkennbar gewesen, da die Modi durchaus aus mehr als fiinf T6nen bestanden (und m6glicherweise schon im 9. Jahrhundert transponiert werden konnten). Es Wvire also eine Intervallfolge gesungen wor- den, die in irgendeinem Modus durchaus vorkommen konnte. Die fehlende Referenz fiir den Fehler wird darum im Optischen geliefert. Erst das Beispiel macht durch die falsche 'Verteilung' der Zeichen, das Fehlen eines Zeichens im linken Schenkel des Dreiecks und die nicht mit der linken Seite iibereinstim- menden Zeichen im rechten Schenkel des Dreiecks deutlich, wo der Fehler liegt und wie er zustandekommt. Zwar kann der Schuiler beim bloBen Singen fest-

stellen, daB die Tonfolge des oberen Dreiecks mit der des linken Schenkels des unteren Dreiecks nicht iibereinstimmt. Der zweite wesentliche Fehler, daB nim- lich die Ordnung der Intervalle innerhalb des tetrachordischen Systems beim

'Absteigen' vom Hochton des unteren Dreiecks sich im Vergleich zum 'Aufstei-

gen' ebenfalls indert, ist jedoch nur zu sehen, nicht zu h6ren. Anhand der im unteren Dreieck auf beiden Seiten hinzugefiigten modernen Tonbuchstaben ist der Sachverhalt leicht zu erkennen, denn die Tonbuchstaben reprisentieren das, was der Schiiler singt - und das ist auf beiden Seiten des Dreiecks identisch, bedarf also um als falsch erkannt zu werden der optischen Erginzung.

Auch einem weiteren m6glichen Gegenargument gegen die Wertung als

Fehler wird allein durch die Graphik vorgebeugt: Es k6nnte - wenn nicht vom

Schiiler, so doch vom gelehrten Leser - argumentiert werden, daB das untere Dreieck eine durchaus korrekte Intervallstruktur aufweise, indem naimlich der Intervallabstand c - d - es - f der Tetrachordstruktur (Ganzton - Halbton - Ganz-

ton) entspreche, auf die allein es dem Argumentationsgang des Lehrers zufolge ankommt. Der Unterschied zwischen oberem und unterem Dreieck bestiinde dann nur darin, daB im oberen Dreieck unten ein Ton an das Tetrachord ange- fiigt wurde und im unteren Dreieck oben. Angesichts nicht feststehender Tonh6- hen und einer Gesangspraxis, in der die Gesinge ohnehin in einer jeweils 'pas- senden', d.h. bequem zu singenden Tonh6he angestimmt wurden, ware gegen dieses Argument kaum etwas einzuwenden. Lediglich die schriftliche Darstel-

lung im Diagramm erlaubt es, durch die nicht-identischen Zeichen sowohl zwi- schen oberem und unterem Dreieck wie auch zwischen linkem und rechtem Schenkel des unteren Dreiecks selbst den Fehler visuell zu verdeutlichen.

Was hier so kompliziert erliutert werden muB, stellt sich in der Situation des

Unterrichts, in der Lehrer und Schiller direkt miteinander interagieren und das

jeweils Erklirte gemeinsam ausprobieren, wesentlich einfacher dar, weil es sich um eine Folge schrittweisen Ausprobierens, also learning by doing, handelt. Wie

gefihrlich das hier Gelernte und Gelehrte aber unter kosmologischen Gesichts-

punkten sein konnte, wird dadurch deutlich, daB der oben geschilderte Sachver- halt, der dazu dient, einen Fehler nachzuweisen, im Grunde nichts anderes ist als die sogenannte Hexachordmutation des 11. Jahrhunderts, die aber gerade

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 16: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 223

angewandt wurde, um Halbt6ne produzieren zu k6nnen39 (statt sie zu vermei- den). Es kommt nicht darauf an, daB beide Techniken im subjektiven BewuBt- sein jener, die sie anwandten, der Sicherstellung des 'richtigen' Singens dienen sollten. Entscheidend ist, daB mit ein und derselben Technik ein Intervall sowohl vermieden wie willkiirlich hergestellt werden konnte, der Technik und Strategie der Fehlervermeidung also inhirent war, so daB deren Intention vollstindig umgekehrt werden konnte.

Der historische Umbruch, der sich anhand der Scolica enchiriadis abzeichnet, ist nicht das organale Singen und auch nicht die schriftliche Niederlegung eines Textes fiir den Musikunterricht: Historisch entscheidend ist die Tatsache, daB hier zum erstenmal im Mittelalter versucht wurde, mithilfe eines musikalischen Systems, das nur durch seine visuell darstellbare Erginzung als System uiber- haupt verstindlich wurde, eine Referenzebene fiir die Gesangspraxis zu erhal- ten, die als MaBstab fiir richtiges und falsches Singen verwandt werden konnte. Das bedeutete aber auch, daB zur Konzeptualisierung von 'Musik' in der abendlkindischen Musikgeschichte von nun an beides geh6rte: Rationalisierung bzw. Theoretisierung und deren Visualisierung. DaB beide Kompenten erst 'die Musik' ausmachen, ist in der abendlindischen Musikgeschichte und Musikge- schichtsschreibung immer wieder spiirbar in der Ablehnung improvisatorischer Elemente, die sich entweder dem Regelsystem oder aber seiner Visualisierung entzogen: Das gilt vom Streit zwischen Artusi und Monteverdi iiber die seconda prattica um 1600 bis hin zur Marginalisierung der Popmusik aufgrund ihrer fehlenden Schriftlichkeit in der akademischen Musikwissenschaft unserer Tage. Die fiir die Ausiibung und Wahrnehmung von Musik wesentliche Performanz, die zunehmend aus der Verschriftlichung verschwand (der performative"4 Aspekt im Surrogat der verschriftlichten Musik im Mittelalter ist umso geringer, je eindeutiger mittelalterliche Notenschriften in moderne Notation zu transkri- bieren sind), wurde und wird dadurch aus dem Bereich jener musikalischen Parameter, mit denen sich Musiktheorie und musikalische Handwerkslehre

beschiftigen, ausgeschlossen. Der Beginn von friihmittelalterlicher Musiktheorie und musikalischer Handwerkslehre birgt im historischen ProzeB den Keim des Endes 'der Musik' als ganzheitliches und umfassendes Phinomen in sich'.

Der AusschluB von Performanz-Phinomenen aus der Musiktheorie fand im friihen 11. Jahrhundert sein Gegenstiick in der Reduktion des Gesangs auf den melodischen Parameter der Tonh6he in der Liniennotation. Linienlose Neumen

39Natiirlich auch wieder an der jeweils 'richtigen' Stelle, die freilich nicht immer diejenige war, die in den Scolica enchiriadis gemeint ist, was schon daraus hervorgeht, dafg die T6ne, die der Hexachordlehre zugrundeliegen und die T6ne, welche die Scolica bzw. Musica enchiriadis kennt, nicht identisch sind. - Das Hexachord selbst ist nichts anderes als eine Erweiterung des Tetrachords um zwei T6ne, wobei der Halbton wieder 'in der Mitte' liegt.

Ich vermeide hier mit Absicht den Begriff ,,Improvisation", der traditionellerweise als Antonym zu ,,Komposi- tion" aufgefafBt wird, die wiederum iiblicherweise mit der Schriftlichkeit in Verbindung gebracht wird.

Es ist daher auch kein Wunder, dafg die neuere musikwissenschaftliche Diskussion um miindliche Tradierung und damit auch musikalische Performanz (die vor allem durch die Schriften Leo Treitlers und Helmut Huckes angeregt wurde) genau dort wieder ansetzt, wo die Tradition der Visualisierung generiert wurde: beim Gregoria- nischen Choral und seiner Uberlieferung naimlich. Vgl. dazu zuletzt MAX HAAS, Miindliche liberlieferung und altrdmischer Choral. Historische und computergesthitzte Untersuchungen (Bern 1997).

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 17: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

224 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

waren eine Memorierschrift42: Man mutte den Gesang selbst bereits auswendig beherrschen, um dann die Neumen als Gedichtnisstiitze heranziehen zu k6n- nen. Damit hatten aber Neumen eine v611ig andere Funktion als die heutige Notenschrift, denn es handelte sich nicht primdir um eine (ablesbare) Ausfiih- rungsvorschrift. Mit Neumen allein konnte kein Cantor oder M6nch etwas an- fangen: damit sie ihm von Nutzen waren, muBte er bereits im miindlichen Un- terricht, d.h. durch miindliche Tradierung den Gesang erlernt haben. Dies erfor- derte einen groBen zeitlichen Aufwand und einige Miihe. Als Guido von Arezzo um 1030 im Kloster von Pomposa die Linienschrift erfand, pries er darum vor allem die Zeitersparnis beim Lernen des Gesangs und die geringere Miihe, die ein Schiiler beim Lernen hatte. In der Tat war es nun dadurch, daB die Tonh6he der einzelnen T6ne zweifelsfrei angegeben werden konnte (was bei den Neumen nicht der Fall war), fiir jeden Schuiler bei einiger Ubung leicht, auf Linien notierte

Gesinge von den Notenlinien abzulesen. Der Lehrer brauchte nur noch die

Grundprinzipien der Notenschrift zu lehren, nicht mehr jeden einzelnen Gesang. Was vorher ausschlieBlich dem Gedichtnis anvertraut werden konnte, konnte nun in Biichern niedergeschrieben werden, die eine Art kiinstliches Gedichtnis bzw. einen Wissensspeicher darstellten. Aber was wird hier gespeichert?

Die Absicht der Neumen war es, die Aussprache des Chorals zu regeln. Es

ging nicht darum, eine Melodielinie vom Text zu separieren, sondern Anhalts-

punkte fiir das Heben und Senken der Stimme bzw. die 'Modulation' der Stimme zu geben. Darum enthalten die Neumen Zeichen bzw. Zeichenerweite-

rungen, die zur Angabe einer Melodielinie, in der es ja primrir um Tonh6hen geht, unn6tig sind. Zu solchen ausspracherelevanten Neumen geh6ren Qui- lisma, Oriscus, Salicus oder Pes quassus. Nur andeutungsweise ist deren Be-

deutung zu rekonstruieren: So werden Quilisma und Pes quassus im Mittealter mit dem Terminus 'bebend' (tremula) beschrieben, die genaue Ausfuihrung von Salicus und Oriscus ist unklar. Keine eigenstindigen Neumenfiguren sind die

sogenannten liqueszierenden Neumen; sie werden in der Regel durch Hinzufui- gung eines kleinen Halbkreises an eine Neume gebildet und geben Aussprache- hinweise fiir Liquidae (Halbvokale wie 1, m, s und r) und andere Buchstaben3.

Allen diesen Zeichen gemeinsam ist, daB sie nur mit Schwierigkeiten auf Li- nien zu notieren sind, denn was sie anzeigen, ist etwas, das iiber die Angabe der auf der Linie notierten Tonh6he hinausgeht (in der modernen Notenschrift ver- wendet man fiir Zusatzangaben z.B. Artikulationszeichen uiber oder unter den Noten). Insofern ist es kein Wunder, da diese Zeichen bzw. Zeichenbestandteile schon in den friihesten linierten Aufzeichnungen des 12. Jahrhunderts zu ver- schwinden begannen (indem sie ,,unterdrUickt bzw. in gew6hnliche Zeichen

umgeschrieben"" wurden), denn die Linienschrift war intentional ausschlieBlich fiir die Notation der Tonh6hen entworfen worden.

42

Vgl. zum folgenden grundsaitzlich M. WALTER, Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 39ff.

43 Vgl. dazu M. WALTER, Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 67 u. S. 71ff. Zu den Neumae semivocales zuletzt ANDREAS HAUG, Zur Interpretation der Liqueszenzneumen, in: Archiv fiir Musikwissenschaft 50 (1993), S. 85-100. 44 CONSTANTIN FLOROS, Einfiihrung in die Neumenkunde (Wilhelmshaven 1980), S. 149.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 18: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 225

Geht man von der These aus, da13 der gregorianische Gesang eine bloBe ,,Ex- tension" der Sprache war45, die Neumenschrift also urspriinglich als Aus- spracheindikator die Einheit von Wort und Melodie notieren sollte, was jedoch zu einer Verselbstandigung der musikalischen Notation fiihrte, weil diese auf der optischen Ebene klar von den Worten getrennt war"4, aber zunichst, weil die Neumen grundsitzlich an Silben und Worte gebunden waren, noch kein eigenes System darstellten, so wird deutlich, daB in jenem Moment, in dem mit der Linienschrift ein Notationssystem entworfen war, daB Melodien unabhingig von einem Text notieren konnte, automatisch die Folge sein muBte, da alle jene Elemente der Neumen, die sich nicht auf eine Melodie als Folge von Tonquali- taten, sondern immer noch auf die Aussprache von Buchstaben und Silben be- zogen, allmihlich aus dem System eliminiert werden muBten.

War die Visualisierung im System der Musica enchiriadis noch eine, freilich notwendige, Systemergainzung, so fielen spaitestens mit der Erfindung der Li- nienschrift das (nunmehr nicht mehr theoretische sondern praktische) System der Tonhohennotation und seine Visualisierung in eins und wurden unauflos- lich miteinander verkniipft. Legten die Scolica enchiriadis den Grundstein fiir den primar synchronen AusschluB jener Musik, die nicht zu einem visualisierbaren Theoriesystem patte, so legte die Linienschrift den Grundstein fiir den diachro- nen AusschluB jener Musik, die nicht visuell tradierbar war, denn der optische Wissensspeicher war jener, der fortan die abendlindische Musiktradition prigen sollte und die Illusion vermittelte, daB in ihm das eigentlich Wesentliche der Musik enthalten war. Nur miihsam setzt sich heute allmihlich die Erkenntnis durch, daB jenseits der visualisierten Tradition noch andere Traditionen exi- stierten, etwa das improvisatorische cantare super librum, das Tinctoris im 15. Jahrhundert erwihnt"' oder die komplizierte Hinzufiigung von Akzidentien in der Musik der Renaissance4" bis hin zur improvisatorischen Verzierung des Operngesangs im 18. und 19. Jahrhundert, die durchaus nicht sekundir fiir die Musikgeschichte sind, sondern einerseits die jeweils notierte Musik in erhebli- chem MaBe beeinfluBten oder/und einen wesentlichen Bestandteil des istheti- schen Reizes fiir die Zeitgenossen ausmachten.

Spricht man leichtfertig von der Enstehung der mittelalterlichen Musiktheorie und der Enstehung einer fiir die Musik entworfenen Linienschrift (wie es in der Musikwissenschaft iiblicherweise getan wird, dabei einer mittelalterlichen Auf- fassung folgend, nach der Guido von Arezzo zusammen mit Boethius und Gre- gor dem GroBen einer der inventores der Musik war), so wird damit mehr oder weniger bewuBt eine Abgrenzung vorgenommen, die, indem sie vorgibt, das Essentielle der Musik manifestiere sich im visuellen Wissensspeicher, die Mu- sikgeschichte auf das unmittelbar visuell FaBliche reduziert, anstatt das musika-

LEO TREITLER, The Early History of Music Writing in the West, in: JAMS 35 (1982), S. 244. Vgl. MICHAEL WALTER, Musik und Sprache: Voraussetzungen ihrer Dichotomisierung, in: Text und Musik. Neue Perspek-

tiven der Theorie = Materialitdit der Zeichen A/10, hrsg. v. MICHAEL WALTER (Miinchen 1992), S. 9-31. Vgl. BONNIE J. BLACKBURN, On Compositional Process in the Fifteenth Century, in: JAMS 40 (1987), S. 210-284. Vgl. KAROL BERGER, Musica ficta. Theories of accidental inflections in vocal polyphony from Marchetto da Padova to

Gioseffo Zarlino (Cambridge etc. 1987).

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 19: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

226 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

lisch Erfahrbare einer Epoche ins Kalkiil miteinzubeziehen. Nur dadurch ist zu

erkliren, da ,,Analyse" (namlich eines Notats und nicht der Musik) heute nicht selten zum Selbstzweck geworden ist und man hiufig glaubt, Beethovensche Klaviersonaten zu verstehen, wenn man deren aus der Notenschrift konstruierte Verlaufsformen in (ebenfalls wieder) visuelle Schemata bringt.

Sowohl der Verfasser der Scolica enchiriadis wie auch Guido mit seiner Linien- schrift wollten nur eines: die Moglichkeit geben, einen Gesang korrekt vorzutra-

gen und ihn auf leichte Weise zu erlernen. Dieser allein pidagogische Zweck

verselbstindigte sich schon im Mittelalter zu einem technischen Mittel, das wie- derum in der Neuzeit fiir das Substrat der Musik gehalten wurde (und wird). Insofern stehen der Monch aus Werden, der die Scolica enchiriadis niederschrieb, und Guido von Arezzo tatsichlich am Anfang dessen, was dann emphatisch als Musik im Abendland49 bezeichnet wurde. DaB aber pidagogische Konzepte und Hilfsmittel des Mittelalters noch heute die Sicht auf die Musikgeschichte insge- samt prigen (und eben dadurch nicht unwesentliche Teile dieser aus der Musik-

geschichtsschreibung ausschlieBen), war weder vom Monch aus Werden noch vom dem aus Pomposa beabsichtigt, macht im historischen Riickblick aber die

Griinde fiir die Beschrinkung (wenn nicht Beschrinktheit) groBer Teile einer aktuellen Musikgeschichtsschreibung deutlich, die in ihrem alleinigen Rekurs auf das musikalische Notat und die je historische Musiktheorie eine der Voraus-

setzungen eines Teils der Musikgeschichte fiir die Musikgeschichte schlechthin

halt.

49 HANS HEINRICH EGGEBRECHT, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Miin- chen/Ziirich 1991).

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 20: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie 227

Anhang: Zur Edition Schmids

Im folgenden findet sich eine Transkription der oben diskutierten Passage aus WE, die der Edition Musica et Scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis ad- iunctis, hrsg. v. H. Schmid, Miinchen 1981 [= Bayerische Akademie der Wissen- schaften. Ver6ffentlichungen der Musikhistorischen Kommission 3], S. 65f. ent- spricht, wobei die dort enthaltenen Fehler verbessert und kommentiert werden (auf den Fehler im Dreicks-Diagramm hat bereits Nancy Phillips hingewiesen"o).

t51 Temptabo, prout possum, tu attentus adsis. Sonus ) deuterus cum semper intervallo semitonii subiungatur trito /. Tritus vero a superiore sui parte habeat

,A tetrardum. )0 deuterus vero ab inferiore sui parte habeat A protum, ita:

Das Zeichen ) vor ,,deuterus" in We ist korrekt. In der Neuausgabe der Scolica enchiriadis gibt Schmid (S. 66) ein , an, statt der richtigen Lesart zu folgen.

Notabis in quolibet tetracordo hos duos ptongos

,A

tetrardum et A

T protum. Si enim ascendendo in sursum proxime post A protum sonum metiatur / tritus, veluti post )/ deuterum, haec una erit absonia. Item si

s descendendo in iusum proxime post ,A tetrardum sonum metiatur A

Y deuterus, veluti post / tritum, haec altera erit absonia. A Qualiter? I T Dic recensendo in sursum pentacordum a A tetrardo, ut isdem descen-

das gradibus [folgen die graphischen Beispiele]:

Schmid gibt in der Neuedition der Scolica enchiriadis als letztes Zeichen 7 vor ,,tetrardo" an. Auch hier bietet We die richtige Lesart. Der Autor der Scolica enchiriadis hatte vorher (Edition Schmid S. 64) erlautert, da ein Pentachord dadurch entstehe, daB dem Tetrachord ein weiterer Ton 'oben' angeffigt wird. Er

erliutert dann die Intervallstruktur der so entstandenen einzelnen Pentachorde noch einmal, zihlt dabei aber deren Intervallstrukur von oben nach unten, d.h. beim h6chsten Ton beginnend. Demnach ergibt sich fiir das Pentachord vom vierten Ton , aus (vgl. die zweite Zeile von oben des Diagramms aus dem Diis- seldorfer Fragment) die Intervallstruktur Ganzton - Halbton - Ganzton - Ganz- ton. Da der Autor an dieser Stelle nicht von absoluten Tonh6hen spricht, nur die vier Grundzeichen der Dasia-Notation verwendet und diese Zeichen hier

ausschliet lich Intervalle angeben, ergibt sich daraus die Zeichenfolge:

50 N. PHILLIPS, ,,Musica" and ,Scolica Enchiriadis": The Literary, Theoretical, and Musical Sources, S. 205. Das Symbol fiir den Lehrer ihnelt in der Handschrift sehr dem entsprechenden Dasia-Zeichen.

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions

Page 21: Vom Beginn der Musiktheorie und dem Ende der Musik, Über die Aktualität des Mittelalters in der Musikgeschichte

228 Michael Walter: Vom Beginn der Musiktheorie

Wenn der Lehrer also den Schiiler auffordert, das Pentachord ,,a ,&

tetrardo"

aufzusagen, so ist die Verwendung des Zeichens & vollig korrekt. Vorausgesetzt wird dabei ndimlich, daB der Schiiler die Intervalle des Pentachords vom hoch- sten Ton aus nach unten berechnet (wie es vorher beschrieben wurde) bevor er das Pentachord vom tiefsten Ton aus singt. Die Verwendung des P als tiefster Ton im folgenden Beispiel ist - ebenso wie die Verwendung des W' weder sy- stemkonform noch logisch, sondern entweder ein didaktischer 'Vorgriff' des Lehrers (der aber unn6tig und verwirrend wire), oder aber, was wahrscheinli- cher ist, die 'Korrektur' eines Schreibers, der die Logik des didaktischen Ent-

wicklungsgangs nicht mehr begriffen hat. (Dieser Fehler kann leicht dann ein- treten, wenn man - wie vermutlich der Schreiber - das Tonsystem der Musica enchiriadis vollstindig beherrscht und nicht mehr versteht, da13 dieses Tonsystem aus seinen basalen, d.h. intervallischen Einheiten, dem Schiiler in den Scolica enchiriadis Schritt fiir Schritt erliutert wird.)

This content downloaded from 185.44.77.25 on Wed, 18 Jun 2014 02:41:02 AMAll use subject to JSTOR Terms and Conditions