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1 Von Beginn an eine gute Bindung fördern - Prävention für eine gesunde seelische Entwicklung bei Kindern in der Frühförderung Rieke Oelkers-Ax VIFF-Thementag Stuttgart, 25.04.2018 www.fatz-neckargemuend.de [email protected] 1. Was ist Bindung? 2. Wie entsteht Bindung? 3. Was erschwert und stört Bindung? 4. Wie kann Bindung gefördert werden? 5. Was könnte für FF passen? Bindung als biologisches Verhaltenssystem = angeborene soziale Motivation, Beziehungen zu anderen, nahe stehenden Menschen einzugehen (Bowlby 1969) biologisches Grundbedürfnis dient stammesgeschichtlich dem Überleben, wird v.a. bei Unsicherheit/Angst/Schmerz ausgelöst entgegengesetzt: Explorationsbedürfnis (Regelkreis Nähe-Distanz) Bindung als Kontext für Entwicklung innerer Welten internes Repäsentations- system entwickelt sich Erfahren, was "Selbst" und "Andere" sind Experimentieren mit Beziehungen Affektregulation wird gelernt „Ideales“ inneres Arbeitsmodell von Bindung Unterschiedliche Erfahrungen -> unterschiedliche Modelle Sichere Bindung wichtiger Schutzfaktor für psychische Gesundheit („Impfung“) Gesamteinbindung wichtig („Lebensnetz“) stärkt die Resilienz Erleichtert ein positives Selbstbild stärkt die Fähigkeit zu befriedigenden Beziehungen erleichtert das Holen und Annehmen von Hilfe

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Von Beginn an eine gute Bindung fördern -Prävention für eine gesunde seelische Entwicklung

bei Kindern in der Frühförderung

Rieke Oelkers-Ax

VIFF-Thementag

Stuttgart, 25.04.2018

[email protected]

1. Was ist Bindung?2. Wie entsteht Bindung?

3. Was erschwert und stört Bindung?

4. Wie kann Bindung gefördert werden?

5. Was könnte für FF passen?

Bindung als biologisches Verhaltenssystem

= angeborene soziale Motivation, Beziehungen zu anderen, nahe stehenden Menschen einzugehen (Bowlby 1969)

• biologisches Grundbedürfnis

• dient stammesgeschichtlich dem Überleben, wird v.a. bei Unsicherheit/Angst/Schmerz ausgelöst

• entgegengesetzt: Explorationsbedürfnis (Regelkreis Nähe-Distanz)

Bindung als Kontext für Entwicklung innerer Welten

• internes Repäsentations-system entwickelt sich

• Erfahren, was "Selbst" und "Andere" sind

• Experimentieren mit Beziehungen

• Affektregulation wird gelernt

„Ideales“ inneres Arbeitsmodell von Bindung

Unterschiedliche Erfahrungen -> unterschiedliche Mo delle

Sichere Bindung

• wichtiger Schutzfaktor für psychische Gesundheit („Impfung“)

• Gesamteinbindung wichtig („Lebensnetz“)

• stärkt die Resilienz

• Erleichtert ein positives Selbstbild

• stärkt die Fähigkeit zu befriedigenden Beziehungen

• erleichtert das Holen und Annehmen von Hilfe

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(Cooper, Hoffmann, Marvin & Powell 2000)

Bindungsicherheit

Zentrale Frage:

„Wie gut kann das Kind bei Stress die Mutter/primäre Bezugsperson

nutzen, um sich zu beruhigen?“

Bindungstypen

weltweit

• 60-70% sicher

• 10-15% unsicher-vermeidend

• 10-15% unsicher ambivalent

•5-10% desorganisiert

(Berg 2005)

Deutschland

• 45% sicher

• 28% unsicher-vermeidend

• 7% unsicher-ambivalent

• 20% desorganisiert

(Gloger-Tippelt et al 2000)

• 72% Bindungsstabilität von > 20 J., bei stärkeren Beziehungs-Veränderungen weniger stabile Bindungsmuster (Merrick et al 2000)

1. Was ist Bindung?

2. Wie entsteht Bindung?3. Was erschwert und stört Bindung?

4. Wie kann Bindung gefördert werden?

5. Was könnte für FF passen?

Wie entwickelt sich Bindung?

„hinreichend gute“ frühe Bezugspersonen…

…sind feinfühlig, d.h.

• ….mentalisieren

• …spiegeln und verarbeiten Affekte

• …benutzen „Türöffner“-Signale („ostensive cues“)

-> epistemisches Vertrauen

Mentalisieren

• „Geist und Herz im Herzen und im Geist gewärtig zu halten“

• „sich selbst von außen und den anderen von innen zu sehen"

• implizit oder explizit

• Interpretation, mehr oder weniger gut und treffend

• stark unterschiedlich zwischen verschiedenen Menschen/zu verschiedenen Zeiten (schlechter bei Stress!)

(P. Fonagy)

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„Das Baby schaut ins Gesicht der Mutter

und findet sich da selbst“

(D. Winnicott)

„Sie denkt, dass ich denke und fühle,

deshalb bin ich“

(P. Fonagy)

Emotionaler Dialog

• ab 6-12 Wo. konversationsähnlicher Austausch

• Affektspiegelung

• affektives Tuning

• geteilte Aufmerksamkeit

• soziales Referenzieren

(Brazelton 1974; Trevarthen 1974; Tarabulsy et al. 1996; Übersicht bei Dornes 2006)

Soziale Biofeedback-Theorie

(nach Gergely und Watson, 1996; Fonagy et al., 2002)

Affektspiegelung durch Bezugsperson

Gefühls-expressionbeim Kind

Affekt-reflektierende mimische / vokale Äusserungen der

Bezugsperson

Information über eigenen

mentalen Zustand

+

Kontingenzerkennung

=

Mutter versteht, spiegelt (markiert) und beantwortet Gefühlszustand des Kindes

Traurigkeit

(markiertes Spiegeln)

Traurigkeit

(unmarkiertes Spiegeln)(Cooper, Hoffmann & Powell 2009)

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Resonanz mit negativem Gefühl („Beistand“)

(Cooper, Hoffmann & Powell 2009)

Kind wird gedrängt, sich der Vorstellung der Eltern von seinen Emotionen anzupassen („Wegmachen“)

(Cooper, Hoffmann & Powell 2009)

•= anschauliche Hinweise, „Türöffner“

•Kommunikationssignale, die dem Lernenden signalisieren, dass jetzt Hinweise folgen, die Allgemeingültigkeit haben, persönlich gemeint und zutreffend sind (Fonagy 2012)

• Lehrender zeigt explizit mentalisierende Haltung gegenüber Lernendem

• Bezogenheit, Einstimmung auf Gegenüber• Blickkontakt• gemeinsame Aufmerksamkeit• persönliche Anrede, Name, angemessene (z.B. kindgerechte)

Sprache

Ostensive cues

=„Fähigkeit der Mutter, die Kommunikation des Babys zu erkennen und prompt, richtig und angemessen darauf zu reagieren“ (Ainsworth 2003)

• Baby muss in ihrem Wahrnehmungsbereich sein, Präsenz

• Mentalisieren (z.B. Dinge aus der Sicht des Babys sehen)

• Mentalisieren in Antwort übersetzen

• „prompt“: meist binnen 2-3 sec (intuitiv)

• „richtig“: möglichst verzerrungsfrei

• „angemessen“: angepasst an gegenwärtige Situation, Zustand des Babys (z.B. Tempo, Rhythmus), Entwicklungsstand, „markierte“ Affekte

„Feinfühligkeit“

• Säugling merkt, dass die Mutter auf ihn reagiert und nun etwas Wichtiges folgt, nämlich ihr Versuch, sein Gefühl zu verstehen („mentalisieren“)

• markierter Ausdruck öffnet durch Blickkontakt Kommunikationskanäle und entschärft die Angst des Kindes

• Gefühle werden beim Spiegeln abgemildert/verstärkt, ggf. mit anderem Affekt gemischt („affktives Tuning“) und „vorverdaut“

Affektspiegelung schafft epistemisches Vertrauen(Fonagy 2017)

„Eine epistemische Wahrnehmung ist im subjektiven Leben die undramatische Erkenntnis:

Ja, so ist die Sachlage, und dies ist völlig unabhängig davon, ob auch ein objektiver

Betrachter zu diesem Ergebnis käme.“

(Wikipedia)

Epistemisches Vertrauen(Fonagy 2017)

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„Hinreichend gute Mutter“

Donald Winnicott (1896 - 1971)Englicher Kinderarzt und Psychoanalytiker

1. Was ist Bindung?

2. Wie entsteht Bindung?

3. Was erschwert und stört Bindung?

4. Wie kann Bindung gefördert werden?

5. Was könnte für FF passen?

•Kinder können eher mit affektiver Unterstützung und Einstellung auf ihre Bedürfnisse rechnen, wenn sie versuchen, eine Aufgabe zu bewältigen

•Kinder werden früh unter Leistungsdruck gesetzt

•Müttern gefällt es, wenn die Kinder Anhänglichkeit zeigen

•Mütter neigen dazu, das Kind zu ignorieren, wenn es Beruhigung und Unterstützung braucht

•Bindungsverhalten unterausgeprägt

Unsicher-vermeidende Bindung: Entstehung

•Mütter oft „schwach“, konnten in Bedrohungssituationen weder Schutz noch Beruhigung bieten

•kann die Mutter die Angst ihres Kindes nicht beseitigen, kommt es zu vermehrtem Anklammern

•oft Parentifizierung

•Verwöhnung u./o. Schuldgefühle mindern Explorations-/Autonomieverhalten

•erschwerte Identitätsentwicklung

•Bindungsverhalten überausgeprägt

Unsicher-ambivalente Bindung: Entstehung

•oft Missbrauch/Misshandlung

•oft traumatisierte Bindungsperson; kann keinen Schutz bieten, aktiviert bei Kindern Bindungsverhalten („nichtgreifbares Grauen“)

•oft keine Begleitung in negativen Gefühlen möglich

•Bindungsperson oft auch selbst wieder Täter

•oft massive Parentifizierung

Desorganisierte Bindung: Entstehung

Depression und Dissoziation bei traumatisierten Müttern stören empfindlich den emotionalen Dialog-> Interaktion als „Übertragungsweg“

Kinder mit Einschränkungen der Kontaktfähigkeitbeeinflussen die Dialogfähigkeit der Mutter

Gestörter emotionaler Dialog

Kinder mit hohem Bedarf überfordern ggf.

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"Kreise begrenzter Sicherheit“

(Cooper, Hoffmann, Marvin & Powell 2000)

„Kreis der Wiederherstellung des Vertrauens“

(Cooper, Hoffmann, Marvin & Powell 2000)

Trauma-Trigger im Bindungskreis

(Integration der Modelle nach Fraiberg 1980 und Cooper et al. 2000)

Exploration

Bindung

Bindung transgenerational

• Eltern neigen dazu, eigene Bindungserfahrungen mit den Kindern zu reinszenieren

• unsichere Bindungsmuster tradieren sich oft über Generationen

• Bei traumatisierten Eltern ist Bindungs- oder Explorationsverhalten des Kindes oft Trigger für Reaktivierung des Traumas

-> „Gespenster an der Wiege“ (Selma Fraiberg)

• Hilfsangebot auch an Eltern möglichst bindungsbezogen

• unterschiedliche Bindungstypen brauchen Verschiedenes!

Zirkulärer Prozess:

•Verletzungen von Bindungsbeziehungen -> Verletzlichkeit der Entwicklung von komplexen meta-kognitiven Funktionen

•Schwierigkeiten, mentale Zustände des eigenen Selbst oder anderer zu erkennen, stören und beeinträchtigen Bindungsbeziehungen

•Gestörte Bindung schwächt das natürliche Entstehen der Fähigkeit zu mentalisieren

•Teufelskreis (in enger Verwobenheit werden Bindung und Mentalisieren sukzessive schlechter)

Bindung und Mentalisieren Engels- oder Teufelskreis?

Bindung Mentalisieren

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•Wer durch frühe soziale Erfahrungen mit den Bezugspersonen das epistemische Vertrauen verloren hat, wird zurückgelassen in einer Zwickmühle aus Unsicherheit und permanenter epistemischer Anspannung („Hypervigilanz“) und kann schlecht in der Welt navigieren

Epistemisches Misstrauen

(Kirsch, Brockmannm, Taubner: „Praxis des Mentalisierens“)

1. Was ist Bindung?

2. Wie entsteht Bindung?

3. Was erschwert und stört Bindung?

4. Wie kann Bindung gefördert werden?

5. Was könnte für FF passen?

Systemische Sichtweise Bindungsförderung

• Therapeutenteam Doppelfunktion: „sichere Basis“ und „sicherer Hafen“ für Eltern und Kind

• „Lotse“ aus therapeutischem Team

• Eltern unterstützen, gute Eltern zu sein

• „Leuchtturmfunktion“ der Eltern stärken

• Stärken von Eltern und Kindern identifizieren und ausbauen

• Momente (auch winzige) des Gelingens aufgreifen und machen „groß“ machen

„Reflecting Team“

• Teambesprechung/Visite weitgehend in Anwesenheit der Patienten

• „Metalog“

• systemisches Instrument

•„hochdosiertes“ Mentalisieren, Arbeitsmodell für „Suchhaltung“, Konfliktklärung

• erleichtert Verstandenwerden und Aufatmen, hilft, „sichere Basis“ für Eltern zu werden

• etabliert und hält gemeinsamen Therapiefokus

Der Therapeut erzählt (hypothetisch) aus der Perspektive des Babys:

• Das ist aber ein schönes Lächeln, Mama, ich mag’ das gern, denn dann weiß ich, dass Du mit mir zufrieden bist• Ja, endlich hast Du’s kapiert, genau da will ich gestreichelt werden• Oh Mama, wenn Du mich so anschaust, dann bin ich glücklich, weil Du so glücklich aussiehst• Mama, wenn Du so ein ausdrucksloses Gesicht machst, dann weiß ich nicht was ich damit soll und fühle mich ganz verloren• Mama, ich habe es gern wenn Du mich streichelst, aber Du scheinst das nicht leicht zu finden• Und wenn Du so sprichst, habe ich Angst...

Die „Stimme“ des Säuglings

(Eia Asen)

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Videogestützte Therapie

Ziele

•Stärkung elterlicher Kompetenzen

•Verbesserung der Feinfühligkeit

•Sensibilisierung für kindliche Signale zur Stärkung elterlicher Mentalisierungsfähigkeit

•Identifikation dysfunktionaler Kommunikationsprozesse

•Veränderung von dysfunktionalen Annahmen

1. Was ist Bindung?

2. Wie entsteht Bindung?

3. Was erschwert und stört Bindung?

4. Wie kann Bindung gefördert werden?

5. Was könnte für FF passen?

• fürs eigene Wohlergehen sorgen

• Primat der Beziehung

• das Intuitive explizit machen, v.a. wenns „klemmt“

• Mentalisieren• Ostensive cues• …

• Bindungskontext anbieten

• Eltern „groß“ machen

Frühförderung: Denkanstöße • die Bezugsperson

• z.B. die Belastung, das Leiden, die Unsicherheit etc.• den aktuellen Zustand (gestresst, sicher etc.) und die damit

verbundene aktuelle Mentalisierungsfähigkeit• Je geringer diese gerade akut ist, umso eher zuerst die

Bezugsperson mentalisieren!

• das Kind

• z.B. „Stimme des Säuglings“

• laut denken

• „fragend unterwegs sein“

• zirkuläre Fragen: „Was denken Sie, denkt/fühlt/braucht Ihr Kind gerade?“

• Mentalisierungsübungen

Mentalisieren

• für Eltern UND Kind

• „sicherer Hafen“ und „sichere Basis“

• Ruhe und Sicherheit ausstrahlen, ggf. weitere Hilfe/Unterstützung/Netzwerke mobilisieren

• im besten Sinne „großelterliche Position“

• Eltern bleiben „am Steuer“, Experten für ihr Kind

• Helfer Experten für Methoden, „Partnerschaft“

•Transparenz

• Präsenz

Bindungskontext anbieten „Gehaltenes“ Halten

z.B. (Harms: „Emotionelle Erste Hilfe“)

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• „neugierig und fragend“ statt besserwissend

• Wertschätzung, Augenhöhe

• Ressourcenorientierung

• Denken in Interaktionen und Regelkreisen statt linear Ursache -> Wirkung

• Kontextabhängigkeit beachten

• eher in „states“ denken als in „traits“

Systemische Haltung

• Blickkontakt, Lächeln, Freundlichkeit (Stimme, Haltung, Mimik)

• geteilte Aufmerksamkeit

• Aufmerksamkeitsfokus lokalisieren, folgen, benennen• sich der Aufmerksamkeit zuvor vergewissern

• Affektspiegelung und Emotionsregulation

• „markiertes“ Spiegeln• Gefühle mentalisieren, benennen, validieren• durch Gefühle begleiten• Handlungsoptionen aufzeigen

Ostensive cues: z.B. Anknüpfen an Babyzeit

• klare Signale (z.B. für Anfang und Ende), Monitoren, ob sie verstanden werden

• auf nonverbale Kommunikationsebene achten

• Klang der Stimme, Mimik, Haltung, Geschwindigkeit• Synchron/asynchron• Amplitude, affektives Tuning• „Pacing“ und „Leading“• (Hassan-Video)

Ostensive cues: z.B. Anknüpfen an Babyzeit

„Wenn nichts kaputt ist,

braucht man nichts zu kleben.“ (Systemischer Grundsatz)

Resumée 1

• Wenn´s nicht gut läuft -> Notfallprogramm:

Bewusst tun, was sonst unbewusst „gut läuft“:

1. Mentalisieren MICH: Selbstfürsorge? Eigene Sicherheit?Ressourcen? Hilfe/Unterstützung?

2. Mentalisieren Kind/Eltern: Was mag innen vorgehen?Gute Gründe?Bedürfnis?

3. Beziehung: Stimmt der Kontakt?Passt das Angebot?„Türöffner“-Signale?

Resumée 2