was ist eigentlich eine gute kita? - akademie-nordkirche.de · 10.15 uhr die kita als...
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Was ist eigentlich eine gute Kita? Diese Frage stellen sich Eltern schon seit Jahr und Tag. In den vergangenen Jah-
ren musste es für sie vorrangig darum gehen, überhaupt einen Betreuungsplatz zu
ergattern. Mehr und mehr sollte nun die Qualität von Krippen und Kitas in den Vor-
dergrund rücken. Doch was heißt das konkret? Müssen Dreijährige eine Fremd-
sprache lernen oder gezielt in Mathematik und Naturwissenschaften geschult wer-
den? In welchem Verhältnis sollen Bildung und Betreuung stehen?
In Fachkreisen wird darüber schon länger diskutiert. Zuletzt erschienen eine ganze
Reihe von Studien, die die Qualität von Krippen und Kitas zu erfassen suchten.
Doch nicht alle der hierbei genannten Kriterien sind hinreichend aussagekräftig.
Was sagen etwa Putzpläne oder die zur Verfügung stehenden Parkplätze über die
Betreuungsqualität aus? Welche Bedeutung kommt andererseits der Ausstattung
mit qualifiziertem Personal zu? Ist sie – zumal bei den Krippen – nicht das
A und O? Laut Bertelsmann-Stiftung hat Hamburg aber genau hier unter den west-
deutschen Bundesländern die Rote Laterne. Der Senat verweist demgegenüber
darauf, dass in der Hansestadt überdurchschnittlich viele Kleinkinder in einer Ein-
richtung betreut werden.
Im Rahmen der Tagung sollen Schneisen in das Dickicht der Qualitätsdiskussion ge-
schlagen werden. Dabei könnte sich ein Dialog zwischen Eltern, Erzieher/innen,
Wohlfahrtsverbänden und der Politik über die jeweiligen Vorstellungen darüber erge-
ben, was eine gute Kita oder Krippe auszeichnet. In Arbeitsgruppen werden exemp-
larisch Schlaglichter auf einzelne, hierfür besonders relevante Problemfelder gewor-
fen. In diesem Zusammenhang werden erstmals Forschungsergebnisse von Absol-
ventinnen des berufsintegrierenden Hamburger Studiengangs »Soziale Arbeit & Dia-
konie – Frühkindliche Bildung« präsentiert und zur Diskussion gestellt. Ein vierter
Workshop wird von der Organisationspsychologin Prof. Daniela Ulber von der Ham-
burger Hochschule für angewandte Wissenschaften geleitet.
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Programm 09.15 Uhr Begrüßung und Einführung 09.00 Uhr Putzpläne, Parkplätze, Personalschlüssel - Woran lässt sich Qualität
ermessen? (Teil A, S. 5ff.) Ein Problemaufriss von Prof. Michael-Sebastian Honig,
Erziehungswissenschaftler, Universität Luxemburg 10.15 Uhr Die Kita als Bildungseinrichtung – Was sind die Ziele in Hamburg?
(Teil B, S 17ff.) Eine Einführung von Dr. Dirk Bange,
Leiter der Abteilung Familie und Kindertagesbetreuung, Behörde für Ar-beit, Soziales, Familie und Integration
10.30 Uhr Die Qualitätsansprüche der Wohlfahrtsverbände (Teil C, S. 21ff.)
Ein Round-Table-Gespräch mit Gerlinde Gehl, Fachbereichsleiterin Kinder- und Jugendhilfe, Diakoni-sches Werk Hamburg Claus Reichelt, Geschäftsführungsteam Soal e.V.
11.30 Uhr Arbeitsgruppen (Teil D) AG 1: »Akademisierung – wozu?« (S. 29ff.) Viele fordern für Erzieherinnen und Erzieher eine Hochschulausbildung.
Doch keiner will sie bezahlen. Wie groß wäre der zusätzliche Nutzen?
AG 2: »Armut – und wer sieht hin?« (S. 32ff.) Kinderarmut hat viele Facetten und ist ein heiß diskutiertes Thema in der
Öffentlichkeit. Wie stellt sich die Diskussion in der Kita dar, offen oder als Tabu? Wer übernimmt dafür die Verantwortung? Und wo bleibt das Kind dabei?
AG 3: »Bildungsempfehlungen – völlig umsonst?« (S. 35ff.) Die Grundlage für Bildungsprozesse wird
in tragfähigen Beziehungen gesehen. Welche Einflüsse erschweren ihre Umsetzung bei der Eingewöhnung von Krippenkindern?
AG 4: »Gute Leitung – aber wie?« (S. 38ff.) Die Leitung von Kindertageseinrichtungen
ist ein ausgesprochen komplexes Arbeitsfeld – auch aufgrund unter-schiedlicher Erwartungen, die an sie gerichtet werden. Welche Kompetenzen und Unterstützungs-formen sind sinnvoll?
13.30 Uhr Wider den Optimierungszwang (Teil E, S. 39ff.) Ein Zwischenruf gegen die Überforderung der Kindheit von Dr. Nils Minkmar,
Ressortleiter Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
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14.00 Uhr Zwischen allen Stühlen? Einblicke in den Alltag einer Erzieherin mit Klaudia Wöhlk,
Leiterin der Kita Bauerberg, Hamburg-Horn, und Betriebsrätin 14.15 Uhr Was ist eine gute Kita? Wer muss was dafür tun? Eine Abschlussdiskussion mit Detlef Scheele (SPD), Hamburger Senator für Arbeit, Soziales, Familie
und Integration Jens Stappenbeck, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege Hamburg Prof. Michael-Sebastian Honig, Universität Luxemburg Moderation: Jürgen Heilig, Evangelische Akademie der Nordkirche 16.00 Uhr Ende der Tagung
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(A) Putzpläne, Parkplätze, Personalschlüssel – Woran lässt sich
Qualität ermessen? 1
Problemaufriss von Prof. Michael-Sebastian Honig, Universität Luxemburg
Der folgende Beitrag bezieht sich auf die große Bedeutung, welche die Forderung
nach Qualität in der Diskussion um den Ausbau und die Professionalisierung der
Kindertagesbetreuung in Deutschland hat. Diese Diskussion ist in weiten Bereichen
eine Diskussion über Qualitätsentwicklung in der Kindertagesbetreuung. „Qualität“ ist
ein Leitmotiv dieser Debatte; was aber unter Qualität verstanden werden soll, ist
auch nach über 20 Jahren Diskussion durchaus strittig (Helmke/Hornstein/Terhart
2000). Daher wird diese Frage im Mittelpunkt stehen.
Der Titel gibt bereits einen Hinweis auf mögliche Antworten: Bemisst sich die Qualität
von Kinderbetreuung an Putzplänen, Parkplätzen und Personalschlüsseln? Das ist
offensichtlich ironisch gemeint; denn es geht sicher auch um pädagogische Konzepte
und eine gelingende Praxis. Wenn er die Messung von Qualität anspricht, nimmt er
auf die Notwendigkeit Bezug, Qualität nachzuweisen; aber der Titel betont die Frage
nach den Maßstäben, woran sich Qualität bemessen soll. Daran schließt sich die
Frage an, ob sich Qualität nicht auch anders feststellen lässt als durch Messen. Und
wie kann aus der Feststellung von Qualität ein Beitrag zu ihrer Entwicklung werden?
Es gibt also viele Fragen an den Qualitätsbegriff. Es wäre aber ein Missverständns,
daraus eine Relativierung des Qualitätsproblems zu folgern; ganz im Gegenteil. Mei-
ne These lautet vielmehr, dass man die Qualität von Betreuung und Bildung in früher
Kindheit nicht versteht, wenn man die Wirklichkeit pädagogischer Praxis an ihren
wünschbaren Möglichkeiten misst. Stattdessen sollte man die Aufmerksamkeit darauf
lenken, wie sie auf Vielfalt, Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Leistungser-
wartungen antwortet, die an sie gerichtet werden.
Der Beitrag argumentiert in fünf Schritten:
Zunächst zeichnet er ein kritisches Portrait der Debatte um Qualität in Kinderta-
geseinrichtungen; hier geht es weniger um den Stand der Forschung als um das
Verständnis von Qualität, das in der Debatte vorzufinden ist.
Nach einer kurzen Zwischenbilanz, die auf die Multireferenzialität der Kinderta-
gesbetreuung als blinden Fleck einer evaluativen und finalisierten Qualitätsdebat-
te aufmerksam macht, …
… geht es im zweiten Schritt um eine Problematisierung des Qualitätsbegriffs, die
seine Reflexivität betont.
1 Leicht überarbeiteter Beitrag zur Tagung „Verwahrt, überfordert oder gut betreut? Die Situation von
Mädchen und Jungen in Krippen und Kitas“ der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Zusam-menarbeit mit der Hochschule für angewandte Wissenschaften und der Evangelischen Hochschule Hamburg (Rauhes Haus), Rudolf-Steiner-Haus Hamburg am 16. Mai 2014. Der Vortragscharakter des Textes wurde weitgehend beibehalten.
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Der dritte Schritt demonstriert am Beispiel der Debatte um die Professionalisie-
rung von Fachkräften, dass ein analytisches Konzept von Qualität frühpädagogi-
sche Praxis als Antwort auf heterogene Leistungserwartungen aufzufassen ver-
mag.
Abschließend pointiert der Beitrag den Ertrag der Argumentation, dass anders als
ein evaluatives Qualitätsverständnis ein analytischer Qualitätsbegriff einen sys-
tematischen Ansatz für die Qualitätsentwicklung bietet, weil er mit der Eigenlogik
dieser Praxis rechnet.
1. Qualität von Kindertageseinrichtungen: Was ist gemeint?
1.1 Der bildungspolitische Kontext
Die Diskussion über Qualität und Qualitätsentwicklung ist kein erziehungswissen-
schaftlicher oder pädagogischer Fachdiskurs, sondern ein Import aus den anwen-
dungsbezogenen Managementwissenschaften (Helmke/Hornstein/Terhart 2000, 7).
In Deutschland nahm die Qualitätsdebatte in den frühen 90er Jahren des vorigen
Jahrhunderts ihren Ausgang von den neuen Steuerungsmodellen in der öffentlichen
Verwaltung (Tietze et al. 2013, 15). In ihrer Einleitung zum Beiheft der Zeitschrift für
Pädagogik über Qualität und Qualitätssicherung im Bildungsbereich stellen die Her-
ausgeber bereits im Jahr 2000 fest, dass das „Qualitätsdenken … eine Dynamik ent-
faltet [hat], die sich zunehmend auf bislang von Managementkonzepten sowie Kos-
ten-Nutzen-Kalkülen noch nicht erfasste Wissens- und Handlungsbereiche ausdehnt“
(Helmke/Hornstein/Terhart 2000, 7). Zu diesen Wissens- und Handlungsbereichen
gehört auch das Bildungswesen und die Erziehungswissenschaft. Die Qualitätsde-
batte steht also nicht im Kontext einer Theorie guter Pädagogik, sondern eines Ma-
nagements pädagogischer Praxis nach den Kriterien von Effektivität und Effizienz. Es
geht um die Steuerung des Bildungswesens nach den Maßstäben der Wirksamkeit
von Erziehung und Unterricht.2
Die PISA-Studien haben der Dynamik, mit der sich das Qualitätsdenken im bildungs-
politischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs verbreitet hat, seit Beginn des
neuen Jahrtausends einen enormen Schwung verliehen. Ihre international verglei-
chenden Leistungsmessungen betrachten nationale Bildungssysteme bis hin zu Ein-
zelschulen und Kindergärten unter dem Gesichtspunkt ihrer Produktivität (vgl. Fend
2001). Mittlerweile hat das Denken in Qualitätskategorien mehr oder minder alle Be-
reiche des Bildungswesens erfasst (vgl. Klieme/Tippelt 2008). Das gilt nicht zuletzt
für die Kindertagesbetreuung. Als Elementarbereich des Bildungswesens wurde sie
für die mittelmäßigen Schulleistungen der deutschen Schüler mitverantwortlich ge-
macht; daher hat sich „nach PISA“ die Auffassung weitgehend durchgesetzt, dass
frühe Förderung in Kindertageseinrichtungen eine Aufgabe von hoher Priorität ist
(vgl. Tietze et al. 2013, 15). Der Streit um die Qualität der Bildungs- und Entwick-
2 Wirkung und Wirksamkeit von Erziehung betreffen Grundfragen der Pädagogik; vgl. Oelkers 1982,
im Kontext einer Kritik frühpädagogischer Programme Larrà 1995
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lungsförderung in Kindertageseinrichtungen geht dabei primär darum, ob sich ihre
Qualität primär an outcomes bemessen lassen soll, an die Schule anschließen kann.
Der bildungspolitische Kontext wirkt in der Diskussion über die Qualität von Kinderta-
geseinrichtungen wie ein Magnet, der die Eisenspäne der Diskussionsbeiträge und
die Forschungsprojekte ausrichtet. Besonders die Pädagogik der frühen Kindheit, die
zwar traditionsreich, aber akademisch vergleichsweise schwach institutionalisiert ist,
kennt kaum noch ein anderes Thema als die effektive Bildungsförderung durch insti-
tutionelle Kleinkinderziehung. Dafür gibt es zwei aktuelle, prominente Beispiele:
1.2 EPPE und NUBBEK – Zwei Beispiele frühkindlicher Bildungsforschung
Die vielleicht aufwändigste und durchdachteste europäische Studie zur Qualität vor-
schulischer Bildung und Betreuung ist die britische EPPE-Studie, die zwischen 1997
und 2004 durch ein Konsortium unter Federführung des Institute of Education (IoE) in
London durchgeführt wurde (Sylva et al. 2007). Es handelt sich um eine Längs-
schnittstudie, die 3000 dreijährige Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft in allen
wichtigen englischen pre-school settings vier Jahre lang, also bis zu ihrem Eintritt in
die primary school, begleitet hat.
Die wichtigsten Ziele der Studie waren, die Effekte vorschulischer Erziehung auf die
intellektuelle und soziale Entwicklung der Kinder festzustellen, Unterschiede zwi-
schen den Betreuungseinrichtungen hinsichtlich ihrer Wirkungen zu untersuchen und
die Charakteristika „guter“, das heißt effektiver Betreuungsstrukturen zu ermitteln.
Die Studie hat aber auch nicht übersehen, dass die Kinder aus Familien in die Kin-
dertageseinrichtungen kommen und dort bereits prägende Erfahrungen gemacht ha-
ben (vgl. Roßbach 2005), und sie hat auch untersucht, wie anhaltend und stabil die
Effekte vorschulischer Erziehung auf die Entwicklungsfortschritte bis in die Grund-
schule hinein sind. Die EPPE-Studie umfasste neben einem komplexen longitudina-
len Design auch zwölf Fallstudien effektiver pädagogischer Praxis.
Im Zusammenhang mit der Fragestellung des vorliegenden Beitrags sind nun nicht
die einzelnen Befunde dieser Studie wichtig, sondern ihr Qualitätsbegriff. Es fällt auf,
dassdie Autoren relativ selten von „quality“ sprechen, aber umso häufiger von „effec-
tiveness“. Qualität wird als Wirksamkeit von Lern- und Entwicklungsumwelten ver-
standen. Ein guter Kindergarten ist einer, der nachweislich, das heißt: meßbar, wün-
schenswerte und stabile Auswirkungen auf die intellektuelle und soziale Entwicklung
von Kindern hat.
Es wäre ein Missverständnis, diese Aussage auf jedes einzelne Kind zu beziehen;
die Befunde der Studie beziehen sich auf die gesamte Untersuchungsgruppe bzw.
einzelne Teilpopulationen. Die Betonung der Wirkungen von Betreuungssettings be-
inhaltet außerdem, dass die Forschergruppe nicht von einem Qualitätsstandard aus-
gegangen ist, sondern herausfinden wollte, welche Settings wünschenswerte und
anhaltende Effekte haben. Gut ist also, was sich als dauerhaft entwicklungsförderlich
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erweist; es geht nicht um die Ermittlung von Kausalbedingungen für spezifische Ent-
wicklungsfortschritte. Entsprechend fallen auch die Empfehlungen an die Fachkräfte
aus; sie basieren auf zwölf Fallstudien „guter Praxis“ und formulieren keine didakti-
schen Regeln sondern überwiegend so etwas wie Elemente eines pädagogischen
Habitus (vgl. etwas das oft zitierte „sustained shared thinking“, Sylva et al. 2004, VI).
Die zweite Studie, die ich als Beispiel für den Qualitätsdiskurs in der Pädagogik der
frühen Kindheit kurz vorstellen möchte, hat ihre Ergebnisse soeben erst publiziert.
Sie heißt NUBBEK (Tietze et al. 2013); das ist ein Akronym für „Nationale Untersu-
chung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“, eine deutsche
Untersuchung also. Wie die EPPE-Studie wurde sie ebenfalls von einem Konsortium
durchgeführt. Es wurde von PädQUIS, einem Kooperationsinstitut der Freien Univer-
sität Berlin, koordiniert. Anders als EPPE handelt es sich um eine Querschnittsstudie,
die 2000 zwei- und vierjährige Kinder und ihre Familien beobachtet, getestet und be-
fragt hat. Außerdem wurde die pädagogische Arbeit in 567 Betreuungseinrichtungen
begutachtet (a.a.O., 11).
Der Studie ging es vor allem darum, Betreuungsgeschichte und aktuelle Betreuungs-
situation der Kinder und ihren Zugang zu Betreuungsangeboten zu untersuchen, um
die pädagogische Qualität der unterschiedlichen nichtfamilialen Betreuungsformen
beurteilen zu können sowie Zusammenhänge zwischen kindlicher Bildung und Ent-
wicklung mit Merkmalen der Betreuungsqualität zu erkennen und dabei nicht zuletzt
ein Augenmerk auf Kinder mit Migrationshintergrund zu halten.
Auch hier möchte ich nicht über Ergebnisse dieser Studie berichten, sondern auf ih-
ren Qualitätsbegriff hinweisen. Anders als EPPE geht NUBBEK von einem Qualitäts-
begriff aus, dimensioniert und operationalisiert ihn sorgfältig und verwendet ihn zur
Einschätzung bzw. Begutachtung von Betreuungssettings. Auf dieser Basis stellt
NUBBEK Zusammenhangsanalysen mit dem Bildungs- und Entwicklungsstand der
Kinder an. Anders als EPPE folgt NUBBEK dem Modell vergleichender Leistungs-
messung, wie es sich auch in (Hochschul-)Rankings niederschlägt. „Qualität“ ist in
der NUBBEK-Studie ein evaluatives Konstrukt, ein Maßstab, mit dem die unter-
schiedlichen Betreuungsformen untereinander verglichen und nach „besser“ und
„schlechter“ unterschieden werden. Maßstab für diese Unterscheidung ist das Aus-
maß, in dem Kindertageseinrichtungen strukturell, konzeptionell und im tagtäglichen
Beziehungsgeschehen mit den Kindern auf Entwicklungsförderung eingestellt sind
(Strukturqualität, Orientierungsqualität, Prozessqualität). „Pädagogische Qualität in
einem Kindergarten … ist dann gegeben,“ so lautet die autoritative Definition von
Wolfgang Tietze, „wenn die jeweiligen pädagogischen Orientierungen, Strukturen
und Prozesse das körperliche, emotionale, soziale und intellektuelle Wohlbefinden
und die Entwicklung und Bildung der Kinder in diesen Bereichen aktuell wie auch auf
Zukunft gerichtet fördern und die Familien in ihrer Betreuungs- und Erziehungsauf-
gaben unterstützen“ (Tietze 2008, 17).
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Dieses Verständnis einer pointiert pädagogischen Qualität grenzt sich sowohl von
einem betriebswirtschaftlichen Qualitätsverständnis mit seiner Orientierung an der
effizienten Befriedigung von Kundenwünschen, als auch von einem, wie Tietze es
nennt: relativistischen Qualitätsverständnis ab, das auf der Verständigung über Er-
wartungen und Ziele unterschiedlicher Akteure des frühpädagogischen Feldes ba-
siert (vgl. Roux 2006, 134f.; Tietze 2008, 18; Tietze et al 2013, 15). Es nimmt für sich
daher auch in Anspruch, die Entwicklungsförderung von Kindern gegen trägerindivi-
duelle Qualitätsziele durchzusetzen.
Die Diskussion über die Qualität von Kindertageseinrichtungen in Deutschland ist von
diesem Konzept einer pädagogischen Qualität stark bestimmt. Pädagogisch bedeu-
tet, dass dieses Qualitätsverständnis ein Interesse von Kindern an bestmöglicher
Entwicklung mit einer Bewertung der Effekte von Entwicklungskontexten verknüpft,
wobei eine erfolgreiche Bildungsbeteiligung der letztlich entscheidende Maßstab ist.
Die Position von Tietze steht fest in der frühpädagogischen Tradition und ihrem
spannungsreichen Verhältnis zu Schule und Familie. Wenn man mit Erziehungswis-
senschaftlern, mit Vertretern der Trägerverbände und mit PraktikerInnen der Kinder-
tagesbetreuung diskutiert, kann man den Eindruck gewinnen, hier läge der Kern der
Kontroverse. Sie lässt sich beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Bil-
dungspläne bzw. um die Bildungsempfehlungen der 16 Bundesländer beobachten.
Die frühpädagogische Qualitätsdebatte verknüpft dabei Pädagogik und Politik mit
einer Intensität, die vergessen machen könnte, dass die Auseinandersetzung um die
Qualität der Kindertagesbetreuung nicht nur einen bildungspolitischen und pädagogi-
schen, sondern auch einen sozialpolitischen Kontext hat.
1.3 Der sozialpolitische Kontext
Auch in diesem Kontext wird die Qualitätsfrage gestellt; allerdings wird sie nicht un-
mittelbar mit der Entwicklungsförderung von Kindern beantwortet, sondern muss mit
weiteren Interessen und Politikzielen konkurrieren. Brennpunkt der sozialpolitischen
Debatte um die Qualität der Kindertagesbetreuung ist die Diskussion um die Verein-
barkeit von Familie und Beruf: Sie ist eine sozial- und familienpolitische Diskussion
über die Dienstleistungsfunktion von Kindertagesbetreuung für Eltern; ein charakte-
ristisches Thema der Qualitätsdebatte ist in diesem Zusammenhang die zeitliche
Flexibilität des Betreuungsangebots.
Die sozialpolitische Diskussion über die Kindertagesbetreuung hat einen mächtigen
supranationalen Impuls erhalten, als die europäischen Staats- und Regierungschefs
bei ihrem Gipfel-Treffen in Lissabon im Jahre 2000 eine wirtschafts- und arbeits-
marktpolitische Strategie beschlossen, mit der die EU ihre Wettbewerbsfähigkeit in
einer globalisierten Ökonomie behaupten und stärken wollte. Zu dieser Strategie ge-
hört die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Müttern und die nachhal-
tige Investition in Kinder als worker-citizens of the future. Beides ergänzt sich im
Ausbau der nichtfamilialen Betreuung und Bildung von Kindern im vorschulischen
Alter. Zwei Jahre nach ihrem Treffen in Lissabon beschloss der Gipfel von Barcelona,
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bis 2010 für mindestens ein Drittel der Unter-Drei-Jährigen und für 90% der 3-
6Jährigen Betreuungsplätze bereitzustellen. Diese Beschlüsse hatten nicht nur in
Deutschland einen beispiellosen Ausbau der Kindertagesbetreuung zur Folge (Plan-
tenga et al. 2008). Er wird begleitet von der OECD, die in einer Serie von Berichten
(„Starting Strong“) einen Austausch zwischen ihren Mitgliedsstaaten über best prac-
tices der frühkindlichem Bildung und Kleinstkindbetreuung organisiert (Ostner 2009).
Der Lissabon-Prozess und die darauffolgenden Beschlüsse von Barcelona zielten
indes nicht lediglich auf eine quantitative Expansion nicht-familialer Kinderbetreuung,
sondern auf einen umfassenden sozialinvestiven Umbau des europäischen Sozial-
modells, der die Konfiguration des Verhältnisses von Eltern und Kindern zu Staat und
Markt verändert. „Sozialinvestiv“ heißt, dass der Sozialstaat nicht mehr die Umvertei-
lung von Einkommen und Vermögen als seine prioritäre Aufgabe wahrnimmt, son-
dern die Förderung von Chancengerechtigkeit.
Dieser Umbau hat für die Diskussion um die Qualität von Kindertagesbetreuung min-
destens zwei Implikationen: Zum einen koppelt er bildungspolitische Ziele an wirt-
schafts- und gleichstellungspolitische Ziele; beide lassen sich mit demographischen
Zielen und einer Politik der Armutsverhinderung verbinden. In diesem Zusammen-
hang soll das Modell der Hausfrauenehe von einem Doppelverdiener-Modell abge-
löst werden. Allerdings stellt sich dann die Frage, wer sich um deren Kinder kümmern
soll. Sie wird mit nichtfamilialer Kindertagesbetreuung beantwortet. Zum anderen
verändert der sozialinvestive Umbau die Position der Kinder zwischen Familie, Markt
und Staat: Kinder werden als Bürger gedacht, die einen Anspruch auf bestmögliche
Förderung erhalten – auch gegen ihre eigenen Eltern; Schauplatz und Instrument
dieser Re-Positionierung der Kinder ist die Kindertagesbetreuung. Aber es geht da-
bei eben nicht nur um die Kinder, oder genauer: Es geht um Kinder im Zusammen-
hang mit einem größeren Projekt, das auch den Stellenwert der Kinder selbst verän-
dert. Bildungsförderung ist in diesem Kontext kein pädagogisches, sondern ein bil-
dungsökonomisches Projekt, eine Investition in das Humankapital (Spieß 2013). Hier
geht der Streit nicht um das Verhältnis der Kindertagesbetreuung zu Familie und
Schule wie im bildungspolitischen Kontext der Qualitätsdebatte, sondern um die ge-
sellschaftliche Teilhabe und die Rechte von Kindern und Eltern sowie um einen de-
mokratischen Prozess der Bestimmung von Zielen und Instrumenten dieser Investiti-
on (Dahlberg/Moss/Pence 1999).
2. Zwischenbilanz: „Qualität“ ist die Antwort – Aber was war die Frage?
Kindertageseinrichtungen müssen also ein ganzes Bündel gesellschaftlicher Aufga-
ben erfüllen. Wolfgang Tietze hat diesen Umstand einmal in einem ZEIT-Interview
vorwurfsvoll markiert, als er klagte: „Um Kinder allein ging es niemals!“ (ZEIT online
2006). Mit diesem Vorwurf steht er nicht allein. Aber er entspringt einer spezifisch
verengten Perspektive auf die Qualitätsfrage. Die Frage ist, was es über einen Maß-
stab pädagogischer Qualität aussagt, wenn er die Multireferenzialität von Kinderta-
gesbetreuung als Gefahr ansieht. Man könnte nämlich auch umgekehrt sagen: Das
Recht der Kinder auf Bildung allein hätte niemals die Milliardeninvestitionen möglich
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gemacht, die in den letzten Jahrzehnten verwirklicht wurden; nicht einmal der PISA-
Schock wäre dazu in der Lage gewesen. Ohne die Lissabon-Strategie, ohne einen
wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Impuls, ohne die Gleichstellungspolitik, ohne
das Problem einer alternden Gesellschaft hätte die Forderung nach pädagogischer
Qualität von Kindertageseinrichtungen keine Chance.
Angesichts der pädagogischen Ansprüche an nichtfamiliale Bildung und Betreuung in
der frühen Kindheit ist es bisweilen notwendig sich daran zu erinnern, dass es Kin-
dertageseinrichtungen nicht deswegen gibt, weil sie besser sind als Familienerzie-
hung, sondern weil nicht genügend und womöglich nicht genügend gute Familiener-
ziehung vorhanden ist (vgl. Heinsohn/Knieper 1975). Daraus leitet sich die Betreu-
ungsfunktion von Kindertageseinrichtungen ab. Sie ist nicht lediglich die schlechtere
Variante ihre Bildungsfunktion, sondern eine eigenständige, unverzichtbare Aufgabe.
Sie konvergiert nicht von selbst mit ihrer Bildungsfunktion, sie kann sogar in einem
Spannungsverhältnis zu ihr stehen. Das Qualitätsproblem von Kindertageseinrich-
tungen besteht darin, dass diese Aufgaben nicht kumulieren, sondern ein Feld kon-
kurrierender Leistungserwartungen schaffen, die Politik und Pädagogik der Kinderbe-
treuung in Dilemmata stürzen (Michel 2002).
Es gibt also genügend Gründe, um den Qualitätsbegriff zu problematisieren.
3. Exkurs: Dimensionen des Qualitätsbegriffs
„Letzten Endes ist Qualität ein philosophischer Begriff.“ Mit diesem Satz eröffnen
Harvey und Green das resümierende Schlusskapitel ihrer Analyse von Denkweisen
über Qualität (Harvey/Green 2000, 36), einem der wenigen analytischen Beiträge
zum Qualitätsbegriff in der deutschen Erziehungswissenschaft. Denn gewöhnlich
wird der Qualitätsbegriff nicht analytisch, sondern pragmatisch verwendet. „Manche
Begriffe entfalten ihre Überzeugungskraft,“ formulieren die Herausgeber des Beihefts
der Zeitschrift für Pädagogik aus dem Jahr 2000 über Qualität und Qualitätssiche-
rung im Bildungsbereich, „gerade weil sie inhaltlich nicht wirklich präzisiert … sind.
Sie fungieren dann als semantische Klammer für eine Vielzahl von Perspektiven, In-
teressen, Intentionen und Konzepten“ (Helmke/Hornstein/Terhart 2000, 12). Qualität
ist ein multireferenzielles und multiperspektivisches Konstrukt, das der Unterschei-
dung zwischen „besser“ und „schlechter“ erst dann Aussagekraft verleiht, wenn es
vor dem Hintergrund voraussetzungsvoller normativer Optionen, also selegierend
gehandhabt wird. Daher ist eine etwas genauere Differenzierung im Begriff der Quali-
tät notwendig.
(a) Der Ausdruck „Qualität“ verknüpft die Feststellung einer Beschaffenheit mit einer
kriterienbasierten Bewertung (vgl. Heid 2000). Anders als im Alltagsgebrauch des
Wortes ist „Qualität“ im Kontext eines wissenschaftlichen Qualitätsdiskurses also kein
Merkmal, keine Eigenschaft von etwas, sondern das Ergebnis einer Bewertung. Sie
wird in der Evaluationsforschung durch eine Messung vollzogen. Die Messung bringt
also einen Bewertungsvorgang zum Ausdruck, indem er die Kriterien der Bewertung
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in den Merkmalen des bewerteten Sachverhalts vergegenständlicht. Wenn man sich
das klar macht, wird Qualität zu einem reflexiven Konzept.
(b) Geht man von einem reflexiven Qualitätsbegriff aus, wird die Gefahr deutlich,
dass gegenständliche Merkmalen mit Werturteilen verwechselt werden. Im Fall der
Kindertagesbetreuung kann diese Verwechslung kann dazu führen, die Multireferen-
zialität der Kindertagesbetreuung in scheinbar eindeutigen Bewertungsperspektiven
zu unterschlagen. Zugleich erweckt die Verwechslung den Eindruck, die vorausge-
setzten Wert-Maßstäbe seien selbstverständlich, gleichsam universal. Diese Sugges-
tion ist schon deshalb verfehlt, weil pädagogische Sachverhalte keine Dinge mit Ei-
genschaften und Merkmalen sind, sondern sich als pädagogische Sachverhalte erst
reflexiv herstellen. Es kann daher garnicht generell vorausgesetzt werden, worin das
Pädagogische pädagogischer Sachverhalte eigentlich besteht (Neumann 2010).
(c) Die „Messung“ eines pädagogischen Sachverhalts ist daher ein integraler Teil
ihrer Herstellung bzw. der pädagogischen Praxis, sie drückt pädagogische Ambitio-
nen aus. Dabei kommen streng genommen mehrere Qualitätsbegriffe ins Spiel, die
alle standortabhängig sind und auch unterschiedliche Inhalte haben: Fachkräfte, Kin-
der, Eltern, Träger, nicht zuletzt wissenschaftliche Experten und politische Akteure.
Anders gesagt: Qualität ist kein Sachverhalt, sondern ein unter einer bestimmten
Perspektive entstehender Sachverhalt. Wenn die Qualitätssemantik diese Perspekti-
vität nicht zur Darstellung bringt, erzeugt sie, was sie zu beschreiben vorgibt: Diffe-
renz. Von „Qualität“ zu sprechen trifft dann nicht nur Unterscheidungen, sondern
macht Unterschiede. Die Folge von Unterscheidungen erscheint als Tatsache, ist
aber ein Artefakt. Dies ist besonders fatal, wenn die Perspektive, unter der Sachver-
halte wie die Kindertagesbetreuung zum Untersuchungsgegenstand werden, bil-
dungs- oder sozialpolitisch bestimmt ist, wie es etwa in der frühkindlichen Bildungs-
forschung selbstverständlich ist. Das Qualitätsurteil finalisiert dann die Perspektivität
bzw. Reflexivität frühpädagogischer Praktiken, das heißt: sie bindet die Gültigkeit von
Qualitätsmaßstäben an die Ansprüche bildungs- bzw. sozialpolitischer Strategien.
Noch einmal zusammengefasst: Das Qualitätskonstrukt ist ein Maß für die Erfüllung
von Erwartungen. Entscheidend ist daher, über der scheinbaren Eindeutigkeit von
Messergebnissen die Kriterien nicht zu vergessen, die in Gestalt von Zahlen als
Merkmale des quantifizierten Sachverhalts erscheinen. Die EPPE-Studie beispiels-
weise versteht Qualität als Wirksamkeit und misst sie an den Effekten, die Betreu-
ungssettings auf die kindliche Entwicklung haben. Ein analytischer Qualitätsbegriff,
oder anders gesagt: „Qualität“ als Beobachtungskategorie, expliziert die Leistungs-
erwartungen, denen der qualifizierte Sachverhalt folgt; er betrachtet, wie sie im Feld,
das er beobachtet, beantwortet werden und reflektiert, mit welchen Instrumenten er
diese Antworten feststellt.
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4. Qualität als Pädagogisierung institutioneller Praxis
Ich möchte abschließend zeigen, wie fruchtbar eine solche Herangehensweise für
die Analyse des frühpädagogischen Feldes sein kann. Ich beziehe mich dafür auf die
Debatte um die Professionalisierung von Fachkräften in Kindertagesstätten.
Tanja Betz (2013) hat anhand einer umfassenden Dokumentenanalyse untersucht,
wie die „gute Fachkraft“ in dieser Debatte konstruiert wird. Ein Angelpunkt dieses
Diskurses ist die Formulierung von Anforderungen, die Fachkräfte in der Arbeit mit
Kindern in ihren ersten drei Lebensjahren erfüllen müssen. Dazu gehören u.a. ent-
wicklungspsychologisches Wissen; die Fähigkeit, Anzeichen für Kindeswohlgefähr-
dung zu erkennen; mit kultureller Vielfalt umgehen zu können; mit Eltern zusammen-
zuarbeiten; frühe Sprachförderung zu leisten oder inklusive Pädagogik praktizieren
können. Nicht zuletzt müssen Fachkräfte die Bildungsprozesse der Kinder beobach-
ten und dokumentieren können. Diese Anforderungen sollen sie selbst organisiert,
kreativ und reflexiv bewältigen und daher nicht lediglich über Wissen verfügen, son-
dern es auch entsprechend umsetzen können; in diesem Sinne wird Qualität als
Kompetenz verstanden.
Der Diskurs über die Kompetenz von frühpädagogischen Fachkräften ist ein Diskurs
der Leitbilder. In den zahlreichen Berichten, Dokumentationen, Plänen und Empfeh-
lungen zur Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen, die in den vergange-
nen Jahren entstanden sind, lassen sich diese Leitbilder auffinden. Üblicherweise
werden sie nicht von Fachkräften, sondern von politischen Entscheidungsträgern o-
der wissenschaftlichen Experten entworfen. Sie rücken die Fachkräfte ins Zentrum
des Interesses an einer Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen und richten
hohe und neuartige Erwartungen an sie. Dabei werden ihnen ausgeprägte Defizite
attestiert, zugleich wird ihnen eine entscheidende Bedeutung für das Gelingen von
Bildungs- und Lernprozessen zugeschrieben. Das Qualitätsproblem der Praxis sehen
diese Dokumente darin, pädagogische Aufgaben zu erkennen und mit ihnen im Hori-
zont von wissenschaftlich begründeten Maßstäben professionellen Handelns in einer
nachweisbaren und überprüfbaren Weise umgehen zu können.
Der Diskurs über die „gute Fachkraft“ argumentiert auf der Ebene von Zielen und
Programmen, an denen die Praxis gemessen wird. Von entscheidender Bedeutung
ist daher der Kompetenzerwerb bzw. die verbesserte Qualifizierung des Personals in
Form von akademischen Abschlüssen und von Fort- und Weiterbildung. Wie diese
Erwartungen aufgegriffen und in praktische Pädagogik verwandelt werden, und wie
diese Praxis dann als eine Praxis im Sinne der Programme ausgewiesen wird, bleibt
im Dunkeln. Pädagogische Praxis wird als eine black box behandelt, deren Produkte
evaluiert werden. Die entscheidende Frage nach dem „wie“, nach dem Eigensinn der
Praxis und nach ihren Grenzen und Möglichkeiten bleibt unbeantwortet.
Ein analytischer Qualitätsbegriff würde nicht fragen, welche Leistungsanforderungen
pädagogische Praxis erfüllen muss, sondern wie die Praxis diese Erwartungen auf-
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greift und wie sie sie bearbeitet. Er könnte eine Untersuchung darüber anleiten, wie
Wissen und Ambitionen von Fachkräften die Praxis des frühpädagogischen Feldes
strukturieren. Darüber gibt es nur wenig empirisch fundiertes Wissen. Es ist empi-
risch nicht geklärt, wie Anforderungen in Kindertagesstätten aufgegriffen und umge-
setzt werden; ebensowenig ist klar, wie die politischen Diskurse über die Aufgaben
der Kindertagesbetreuung in das Selbstverständnis der Fachkräfte und ihre pädago-
gische Arbeit eingehen (Betz 2013, 262).
Eine evaluative Perspektive auf das Qualitätsproblem verfehlt diese Herausforde-
rung, vor der die pädagogische Praxis steht, und kann daher auch keinen systemati-
schen Beitrag zu der Beschreibung und Analyse dieser Praxis leisten. Ein analyti-
scher Qualitätsbegriff erkennt dagegen den Eigensinn der Praxis und die sie begren-
zende Eigenlogik an, statt die alltägliche Wirklichkeit in den Einrichtungen immer
schon als eine schlechte Variante des scheinbar Möglichen und Wünschbaren anzu-
sehen.
Es stellt sich also nicht allein die Frage, was wichtige Ziele sind. Darüber kann man
streiten. Die qualitätsrelevante Frage an die institutionelle Kleinkinderziehung ist aber
auch nicht: Erfüllt die pädagogische Praxis die Erwartungen, die an sie gerichtet wer-
den? Sondern: Wie ermöglicht sich die pädagogische Praxis, sich im Horizont der an
sie gerichteten komplexen, teils dilemmatischen Erwartungen ihr Handeln als ein pä-
dagogisches Handeln zu vergegenwärtigen und es als solches Dritten gegenüber
auch nachzuweisen, in diesem Sinne: Wie bewirkt sie, was sie leistet (Honig et al.
2004)? Die Frage richtet sich auf Praktiken der Pädagogisierung eines alltäglichen
Geschehens in Kindertageseinrichtungen. Es lässt sich in dieser Perspektive als eine
institutionelle Praxis beschreiben, die ihre Bildungsbedeutsamkeit hervorbringen und
ausweisen muss (Honig et al. 2013). Qualität ist als ein öffentliches, in diesem Sinne:
soziales und damit repräsentiertes und beobachtbares Phänomen zu verstehen, das
an ein Publikum adressiert ist und von diesem als „gute Praxis“ anerkannt werden
muss, um „Qualität“ zu sein. Man könnte in Analogie zu den Qualitätsbegriffen des
EPPE- und des NUBBEK-Projekts von einem Verständnis von Qualität als Pädagogi-
sierung sprechen.
5. Ausblick
Diese Kritik des Qualitätsbegriffs hat zwei überraschende Pointen:
Zum einen lässt sie erkennen, dass die Kindertagesbetreuung möglicherweise
schlechter ist als sie sein dürfte, dass sie aber vor allem mehr und anderes leistet als
ihr zugetraut wird, denn von ihr wird mehr erwartet als die Entwicklung von Kindern
zu fördern. Zum anderen lenkt die Kritik des Qualitätsbegriffs die Aufmerksamkeit auf
die Eigenlogik, den Eigensinn der Praxis und verweist auf reflexive Vergegenwärti-
gung als Weg zu ihrer Gestaltung und Entwicklung.
15
Literatur Becker-Stoll, Fabienne / Wertfein, Monika: Qualitätsmessung und Qualitätsentwick-lung in Kindertageseinrichtungen. In: Stamm, Margrit / Edelmann, Doris (Hrsg.), Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 845-856 Betz, Tanja: Anforderungen an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. In: Stamm, Margrit / Edelmann, Doris (Hrsg.), Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wies-baden: Springer VS 2013, S. 259-272 Dahlberg, Gunilla / Moss, Peter / Pence, Alan: Beyond Quality in Early Childhood Education and Care: Postmodern Perspectives. London / Philadelphia: Routledge-Falmer 1999 Fend, Helmut: Bildungspolitische Optionen für die Zukunft des Bildungswesens. Zeit-schrift für Pädagogik 2001, 43. Beiheft, S. 37-48 Harvey, Lee / Green Diana: Qualität definieren. Fünf unterschiedliche Ansätze. In: Helmke, Andreas / Hornstein, Walter / Terhart, Ewald (Hrsg.): Qualität und Qualitäts-sicherung im Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. Zeitschrift für Pädagogik 2000, 41. Beiheft, S. 17-39 Heid, Helmut: Qualität. Überlegungen zur Begründung einer pädagogischen Beurtei-lungskategorie. In: Helmke, Andreas / Hornstein, Walter / Terhart, Ewald (Hrsg.): Qualität und Qualitätssicherung im Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hoch-schule. Zeitschrift für Pädagogik 2000, 41. Beiheft, S. 41-51 Heinsohn, Gunnar / Knieper, Barbara M.C.: Theorie des Kindergartens und der Spielpädagogik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 Helmke, Andreas / Hornstein, Walter / Terhart, Ewald (Hrsg.): Qualität und Qualitäts-sicherung im Bildungsbereich. Zur Einleitung in das Beiheft. In: dies. (Hrsg.), Qualität und Qualitätssicherung im Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. Zeitschrift für Pädagogik 2000, 41. Beiheft, S. 7-14 Honig, Michael-Sebastian / Joos, Magdalena / Schreiber, Norbert: Was ist ein guter Kindergarten? Theoretische und empirische Analysen zum Qualitätsbegriff in der Pä-dagogik. Weinheim und München: Juventa 2004 Honig, Michael-Sebastian / Neumann, Sascha / Schnoor, Oliver / Seele, Claudia: Die Bildungsrelevanz der Betreuungswirklichkeit. Eine Studie zur institutionellen Praxis nicht-familialer Kindererziehung. Luxembourg: Université du Luxembourg 2013 [http://hdl.handle.net/10993/12933] Larrá, Franziska: Komplexität und Kontingenz – Vermutungen zur Erfolglosigkeit des Situationsansatzes in der Praxis. In: Neue Sammlung 35, 1995, 4, S. 99-107 Michel, Sonya: Dilemmas of Child Care. In: Michel, Sonya / Mahon, Rianne (eds.): Child care policy at the crossroads. Gender and welfare state restructuring. New York, London: Routledge 2002, pp. 333-338
16
Neumann, Sascha: Die soziale Ordnung des Pädagogischen und die Pädagogik so-zialer Ordnungen. Feldtheoretische Perspektiven. In: Neumann, Sascha (Hrsg.), Be-obachtungen des Pädagogischen. Programm – Methodologie – Empirie. Luxemburg: Universität Luxemburg 2010, S. 79-96. Oelkers, Jürgen: Intention und Wirkung: Vorüberlegungen zu einer Theorie pädago-gischen Handelns. In: Luhmann, Niklas / Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt am Main: Suhr-kamp 1982, S. 139-194 Ostner, Ilona: „Auf den Anfang kommt es an“ – Anmerkungen zur „Europäisierung“ des Aufwachsens kleiner Kinder. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 57, 2009, 1, S. 44-62 Plantenga, Janneke / Remery, Chantal / Siegel, Melissa / Sementini, Loredana: Childcare services in 25 European Union member states: The Barcelona targets revi-sited. In: Leira, Arnlaug / Saraceno, Chiara (eds.), Childhood: changing contexts. Bingley: JAI Press 2008, S. 27-53 Roßbach, Hans-Günther: Effekte qualitativ guter Betreuung, Bildung und Erziehung im frühesten Kindesalter auf Kinder und ihre Familien. In: Sachverständigenkommis-sion Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut 2005, S. 55-174 Roux, Susanna: Frühpädagogische Qualitätskonzepte. In: Fried, Lilian / Roux, Susanna (Hg.), Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Weinheim und Basel: Beltz 2006, S. 129-139 Spieß, C. Katharina: Bildungsökonomische Perspektiven frühkindlicher Bildungsfor-schung. In: Stamm, Margrit / Edelmann, Doris (Hrsg.), Handbuch frühkindliche Bil-dungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 121-130 Sylva, Kathy / Melhuish, Edward / Sammons, Pam / Siraj-Blatchford, Iram / Taggart, Brenda: The Effective Provision of Pre-School Education (EPPE) Project: Final Re-port. A longitudinal Study funded by the DfES 1997 – 2004. London, Institute of Edu-cation 2004 Tietze, Wolfgang: Qualitätssicherung im Elementarbereich. In: Klieme, Eckhard / Tip-pelt, Rudolf (Hrsg.), Qualitätssicherung im Bildungswesen. Eine aktuelle Zwischenbi-lanz. Zeitschrift für Pädagogik 2008, 53. Beiheft, S. 16-35 Tietze, Wolfgang / Becker-Stoll, Fabienne / Bensel, Joachim / Eckhardt, Andrea G. / Haug-Schnabel, Gabriele / Kalicki, Bernhard / Keller, Heidi / Leyendecker, Birgit (Hrsg.): NUBBEK. Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Weimar, Berlin: Verlag Das Netz 2013 ZEIT online: „Um die Kinder allein ging es nie.“ Ein Gespräch mit dem Pädagogen Wolfgang Tietze über Versäumnisse der Politik und die Qualität der KiTas. ZEIT onli-ne, 1. Februar 2006
17
(B) Die Kita als Bildungseinrichtung – Was sind die Ziele in Hamburg?
Einführender Vortrag von Dirk Bange, Leiter der Abteilung Familie und Kinder-
tagesbetreuung, Behörde für Arbeit, Soziales Familie und Integration
Die Hamburger Kita-Landschaft hat sich seit der Einführung des Kita-Gutscheinsys-
tem rasant verändert. Seit dem Jahr 2002 hat sich die Zahl der in Kitas und Tages-
pflege betreuten Krippenkindern von etwa 8.700 auf rund 17.300 im Jahr 2013 erhöht
und damit fast verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Kinder im Alter von 3
bis unter 6 Jahren in den Kitas von 34.900 auf 41.100 Mädchen und Jungen gestie-
gen.
Kitas sind Orte der Betreuung, Bildung und Erziehung. Sozial- und bildungspoliti-
sches Ziel der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) ist es,
insbesondere in Stadtteilen mit sozialen Problemlagen die Eltern dazu zu bewegen,
die Kitas noch früher als bisher für ihre Kinder (und sich) zu nutzen.
Ab dem 01.08.2014 werden deshalb die Elternbeiträge für die 5-stündigen Leistun-
gen abgeschafft, und es wird für die Kitas und die Kindertagespflege massiv gewor-
ben.
Die Freie und Hansestadt Hamburg (FHH) gibt für die Kindertagesbetreuung im Jahr
2014 etwa 563 Mio. € aus. Für die Jahre 2015 und 2016 sind weitere deutliche Stei-
gerungen zu erwarten. Im Jahr 2003 - vor Einführung des Kita-Gutscheinsystems -
waren es noch 240 Mio. € für den Krippen- und Elementarbereich.
Veränderte Altersstruktur der Mädchen und Jungen in den Kitas
18
Seit dem Jahr 2011 sind die Horte nach und nach in das System der Ganztägigen
Bildung und Betreuung an Schulen (GBS) integriert worden. Der Weggang der Hort-
kinder und die zunehmende Zahl von Krippenkindern haben zu einer deutlich verän-
derten Altersstruktur in den Kitas geführt. Kitas nehmen jetzt verstärkt - anders als
früher - das ganze Jahr über Krippenkinder auf, um ihre Einrichtung auszulasten.
Dadurch kommt es ständig zu Eingewöhnungsphasen und zu Veränderungen in den
Gruppen.
Diese strukturelle Veränderung in den Kitas und die Möglichkeiten, darauf zu reagie-
ren, werden die Diskussion über die pädagogische Qualität in den nächsten Jahren
mitbestimmen.
Angesichts der dynamischen Entwicklung in den letzten 10 Jahren ist eine Konsoli-
dierungsphase für die Qualitätsentwicklung notwendig, in der die Kita-Verbände,
Kita-Träger, der Landeselternausschuss (LEA) und die BASFI gemeinsam über die
Veränderungen reflektieren.
Bildungsempfehlungen als verbindlicher Rahmen für die Pädagogik
Im Jahr 2005 sind die „Hamburger Bildungsempfehlungen für die Bildung und Erzie-
hung von Kindern in Tageseinrichtungen“ erstmals herausgebracht worden. Dies war
ein Meilenstein für die Entwicklung der pädagogischen Arbeit in den Kitas. Sie haben
dazu beigetragen, dass sich die Kitas als erster Bildungsort etabliert haben.
Die gesellschaftlichen und die fachpolitischen Veränderungen sind rasant, so dass
bereits im Jahr 2012 eine überarbeitete Neuauflage der Bildungsempfehlungen ge-
meinsam mit den Kita-Verbänden erarbeitet und veröffentlicht worden ist. Die Bil-
dungsempfehlungen formulieren für die Hamburger Kitas zentrale Qualitätsansprü-
che, die insbesondere den Erzieherinnen und Erziehern sowie den Leitungskräften
Orientierung für eine qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit geben sollen.
Ich bin mir sicher, dass die Bildungsempfehlungen von den Kitas entsprechend ihrer
jeweiligen Konzepte und Traditionen sehr gut umgesetzt werden und zu einer deut-
lich verbesserten pädagogischen Qualität beigetragen haben.
19
NUBBEK-Studie: Qualität muss weiterentwickelt werden
Wie die NUBBEK-Studie zeigt, muss - trotz aller methodischen Einschränkungen -
weiter an der pädagogischen Qualität der Kitas gearbeitet werden. Denn:
Etwa 10% der untersuchten Kitas weisen laut NUBBEK eine unzureichende
Qualität aus.
Mit mehr als 80% bewegt sich der größte Teil der Kitas im Bereich mittlerer Qua-
lität.
Nur 5 bis 7% sind überdurchschnittlich gut.
Die NUBBEK-Studie hat zudem festgestellt, dass die Kitas nur einen relativ kleinen
Beitrag zur Kompetenzentwicklung der Kinder leisten. Dies soll auch bei der Sprach-
entwicklung gelten.
Erfolge bei der Sprachförderung
Die Zahlen zum Sprachförderbedarf bei den Hamburger Viereinhalbjährigen-
Untersuchungen zeigen dagegen, dass die Kitas mehr bewirken als die Ergebnisse
der NUBBEK-Studie nahelegen. Dabei sind die Erfolge umso größer je länger die
Kinder eine Kita besucht haben. So lag im Vorstellungsverfahren im Schuljahr
2012/2013 der Anteil der Kinder mit ausgeprägtem Sprachförderbedarf bei Mädchen
und Jungen, die weniger als 12 Monate in einer Kita waren, in Hamburg bei 26,4%.
Bei den Kindern, die drei Jahre und länger eine Kita besucht haben, dagegen nur bei
4,2%. Dies ist eine Differenz von deutlich über 20 Prozentpunkten. In den Stadtteilen
mit besonderen sozialen Problemlagen finden sich auf höherer Basis sehr ähnliche
Ergebnisse.
Anteil der Kinder mit ausgeprägtem Sprachförderbedarf im Vorstellungsverfahren Schuljahr 2012/2013
Stadtteil
Dauer des Kita-Besuchs in Monaten
Insgesamt
bis 11 12 bis 23 24 bis 35 mehr als 35
Wilhelmsburg/Veddel 38,6% 30,4% 29,0% 15,9% 29,1%
Hamburg 26,4% 16,1% 10,1% 4,2% 12,1%
Wir müssen uns also nicht verstecken. Allerdings brauchen vor allem Kinder mit Mig-
rationshintergrund noch mehr Sprachförderung. Die BASFI hat deshalb KitaPlus ein-
geführt und uns für die Verlängerung des Bundesprogramms „Offensive Frühe Chan-
cen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ erfolgreich eingesetzt. Die Rückmel-
dungen aus der Praxis zu den beiden Programmen sind sehr positiv.
20
Externe Evaluation ist notwendig
Seit 2008 wird in Hamburg über die Einführung einer externen Evaluation diskutiert,
die in den Medien oft als „Kita-TÜV“ bezeichnet wird. Derzeit suchen wir nach einem
alternativen Begriff, der keine technischen Assoziationen auslöst und stärker die Ziel-
setzungen der externen Evaluation ausdrückt als der Begriff „Kita-TÜV“.
Die Ziele der externen Evaluation sind es, kontinuierlich
Aussagen über die erreichte Qualität einzelner Kitas zu ermöglichen,
die Qualität der pädagogischen Arbeit weiterzuentwickeln,
für die Eltern, die Gesellschaft und die Politik Transparenz herzustellen und
als Grundlage für eine landesweite Qualitätsberichterstattung und damit der Wei-
terentwicklung der Kindertagesbetreuung in Hamburg zu dienen.
Vor einem Jahr haben sich BASFI, Kita-Verbände und LEA auf ein Verfahren zur ex-
ternen Evaluation der Qualität aller Kitas verständigt, das die in vielen Kitas bereits
bestehenden internen Verfahren um einen Blick von außen ergänzen soll.
Gemeinsam mit der Fa. Rambøll, die als Akkreditierungsstelle für die externe Evalua-
tion in einem EU-weit durchgeführten Vergabeverfahren ausgewählt wurde, erarbei-
ten BASFI, Kita-Verbände und LEA auf Basis der „Eckpunkte für die Durchführung
der externen Evaluation der Qualität in Hamburger Kindertagesbetreuungseinrich-
tungen“ derzeit Kriterien, anhand derer die Einlösung in den Kita-
Bildungsempfehlungen formulierter Qualitätsansprüche verbindlich überprüft werden
soll.
Ein „Kita-Ranking“ ist – entgegen anders lautender, immer wieder geäußerter Sorgen
– nicht das Ziel der BASFI.
Vielmehr muss angesichts der wachsenden Vielfalt von Mädchen und Jungen in den
Kitas und der unterschiedlichen Ansprüchen von Müttern und Vätern, der Fachkräfte,
der Öffentlichkeit und der Politik an die Kitas ständig neu über die Qualitätsentwick-
lung diskutiert werden. Dazu werden die Ergebnisse der externen Evaluationen in
Zukunft hoffentlich viele Hinweise und Impulse geben. Sie werden die Diskussion
über den Wert der Kindertagesbetreuung für die Gesellschaft bereichern.
21
(C) Die Qualitätsansprüche der Wohlfahrtsverbände Round-Table-Gespräch mit Gerlinde Gehl, Fachbereichsleiterin Kinder- und Jugendhilfe, Diakonisches Werk Hamburg Claus Reichelt, Geschäftsführungsteam Soal e.V. Statement von Gerlinde Gehl, Fachbereichsleiterin Kinder- und Jugendhilfe, Diakonisches Werk Hamburg
Qualität im Dialog
Entlang der vorgegebenen vier Leitfragen sind die folgenden Aspekte im Round-
Table- Gespräch diskutiert worden:
1. Die Hamburger Bildungsempfehlungen – Einschätzung aus Sicht der Diako-
nie
Mit den Hamburger Bildungsempfehlungen liegt eine Sammlung bester Fachpraxis
vor, auf deren Grundlage es den Einrichtungen möglich ist, das eigene Profil zu
schärfen und die je eigene Qualitätsentwicklung danach auszurichten. Die damit ver-
bundene Transparenz und Sprachfähigkeit im Kontakt mit den Eltern, erleichtert die
alltägliche Arbeit vor Ort. Die interessierte Öffentlichkeit kann sich mit Hilfe der Emp-
fehlungen einen Eindruck verschaffen, welche Anforderungen an die Fachkräfte in
den Kitas gestellt werden. Somit wird eine fachlich fundierte Debatte ermöglicht, die
mittelbar zu einer Aufwertung des Berufsfeldes beitragen kann. Dass an der Erarbei-
tung auch die Verbände, und damit indirekt die Träger, beteiligt wurden, verhindert
die einseitige Setzung der Qualitätsanforderung zu Gunsten einer im Dialog entwi-
ckelten Qualitätsdebatte.
Gleichzeitig gilt es warnend darauf hinzuweisen, dass die vorliegenden Bildungsemp-
fehlungen mit den zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen
nicht eins zu eins umgesetzt werden können! Diese fehlende Transparenz kann dazu
führen, dass z.B. Eltern, die Hamburger Bildungsempfehlungen als Katalog und
Maßgabe der Arbeit und des Angebotes ihrer Kita missverstehen.
Wie die Teams vor Ort an der Implementierung der Empfehlungen arbeiten können,
wird den Gegebenheiten vor Ort überlassen. Aus der Praxis ist bekannt, dass die
Teams sehr unterschiedlich verfahren (vgl. Schlüsselstudie Viernickel/ Nentwig-
Gesemann und deren Unterscheidung in wertekernbasierte, umsetzungsorientierte
und distanzierte Herangehensweisen) In welcher Weise es den Teams geling, eine
Prioritätenliste der Umsetzung zu erstellen und diese verständlich zu vertreten, hängt
von der Haltung der Teams aber auch der fachlichen Unterstützung in diesem Pro-
zess der Professionalisierung ab.
22
2. Das Verständnis von Qualität in einer „guten“ Kita – Einschätzung aus Sicht
der Diakonie
Unter Qualität versteht die Diakonie das Maß der Erfüllung von Anforderungen oder
Erwartungen an die Bildung, Betreuung und Erziehung. Nach dieser Definition kann
Qualität nur in einem dialogischen Prozess bestimmt bzw. beschrieben werden.
Anders als die Bestimmung der Qualität z.B. von Produkten geht die Diakonie davon
aus, dass die Empfänger von Qualität gleichzeitig die Qualität selbst „mitproduzie-
ren“. Ohne die „Mitarbeit“ von Kindern und deren Familien, kann keine befriedigende
Bildung, Betreuung und Erziehung entstehen. (Exkurs: Das Leitbild der Hamburger
Diakonie trägt den Titel “Profil im Dialog“).
Vor dem Hintergrund der in Hamburg zu führenden Debatte um „Kita-
TechnischerÜberwachungsVerein“ und die externe Evaluation kann der dialogisch
begründete Qualitätsbegriff eine einseitig gesetzte und monokausale Definitionsho-
heit des Qualitätsbegriffes konstruktiv hinterfragen und hoffentlich verhindern.
Neben einer auskömmlichen Ausstattung sind die Mitarbeitenden die wichtigste
Grundlage einer „guten“ Kita. Die sogenannte „gute“ Kita befindet sich in einem fort-
laufenden Entwicklungsprozess: die professionelle Haltung wird gefördert und weiter
entwickelt. Gemeinsame Werte und Ziele sind definiert, werden umgesetzt und konti-
nuierlich überprüft und ggf. überarbeitet. Die Mitarbeitenden einer Kita erfahren ide-
alerweise beste Unterstützung von Seiten des Trägers und arbeiten in einem wert-
schätzenden Klima. In einer „guten“ Kita macht den Mitarbeitenden das Arbeiten
Freude, sie können ihre fachliche Kompetenz ausbauen und begegnen einander in
kollegialer Achtung. Eltern werden kompetent begleitet und als Partner mit Eltern-
kompetenz anerkannt und beteiligt. Im Sinne einer inklusiven Kita entwickelt das
Team Diskriminierungssensibilität und ist bereit, in einem fortlaufenden Prozess Vor-
urteile und Barrieren ausfindig zu machen und zu beheben. Eine „gute“ Kita stellt
sich auf die individuellen Entwicklungsbedürfnisse jedes Kindes ein und erhält hierzu
die erforderlichen Ressourcen.
Diese Ausführungen sind wichtig und gleichzeitig farblos. Wir haben Kinder befragt,
die die Kita verlassen haben, um zur Schule zu wechseln, was aus ihrer Sicht eine
„gute „ Kita ausmacht. Die Aussagen der Kinder verleihen den oben benannten Krite-
rien die notwendige Farbe.
Aus meiner Sicht auf den Punkt gebracht, hat es folgende Antwort: „Ich habe in der
Kita Freunde gefunden!“. Dieses Kind äußert selbst-bewusst, selbst-ständig und
selbst-wirksam, dass ihm im Dialog mit anderen, Bindung und Freundschaft gelun-
gen ist. Ein bleibender Eindruck beim Übergang von der Kita in Richtung Schule!
3. Wo sieht die Diakonie Unterschiede zu anderen Trägern?
Die Mitgliedseinrichtungen der Diakonie Hamburg sind evangelische Einrichtungen.
Die Grundlagen der Arbeit und der Umgang miteinander orientieren sich an einem
23
christlichen Menschenbild und an christlichen Werten. Werteorientierung wird im bes-
ten Falle erfahrbar und gibt Mitarbeitenden, Kindern und Eltern Orientierung (Exkurs
Logo „Evangelische Kitas – mit Gott groß werden“ – beschreibt auch die Veränder-
barkeit des Gottesbildes in der eigenen Biographie).
4. Wie sorgt die Diakonie dafür, dass die Mitgliedseinrichtungen die definierten
Standards einhalten?
Das Diakonische Werk als Landesverband fungiert nicht als Träger der Kitas, son-
dern berät die Träger in rechtlichen, konzeptionellen, pädagogischen und wirtschaft-
lichen Fragen.
Die Mitgliedseinrichtungen befinden sich in einem Prozess zur Erlangung des Evan-
gelischen Gütesiegels BETA. Hierbei handelt es sich um ein auf ISO 9001:2008 ba-
siertes und für die Kitaarbeit angepasstes Qualitätsmanagementmodell. Die Umset-
zung der definierten Standards wird durch eine externe Zertifizierungsgesellschaft
begutachtet. Kann die Umsetzung der Standards nachgewiesen werden, erlangt die
Kita das Gütesiegel. Nach drei Jahren muss sich die Kita erneut begutachten lassen,
um das Gütesiegel zu behalten. Mit Stand Mai/ 2014 wurde bereits 49 von 170 evan-
gelischen Kitas das Gütesiegel verliehen. Die weiteren Kitas befinden sich alle im
Erarbeitungsprozess und werden darin fachlich begleitet.
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Statement von Claus Reichelt Geschäftsführungsteam SOAL e.V.
Die Kultur einer Stadt erkennt man an dem Umgang mit ihren Kindern.
Ganz herzlich bedanke ich mich im Namen unseres Verbandes SOAL für die Einla-
dung zu dieser Veranstaltung und freue mich auf einen regen und hoffentlich auch
kritischen Austausch.
Zunächst einige Worte zu den Hamburger Bildungsempfehlungen, da das vom Ver-
band SOAL und Weltwerkstatt Köln (Prof. Dr. Schäfer) entwickelte Qualitätsentwick-
lungsverfahren für Kindertagesstätten – kurz SOALQE –darauf in der Praxis ja auch
Bezug nimmt.
Die Hamburger Bildungsempfehlungen sind ein wichtiger Schritt in einen gemeinsa-
men Verständigungsprozess zwischen allen Akteuren der Kindertagesbetreuung in
Hamburg herzustellen, den Kindern, Eltern, PädagogInnen, zuständigen Behörden
und der Politik.
Sie geben brauchbare Anregungen, Kinder und Eltern in ihren Prozessen und Inte-
ressen zu begleiten.
24
Viele wichtige Themen wie Globalisierung, Zerstörung der Natur, Übergänge, Erzie-
hungspartnerschaft werden darin angesprochen –
bedauerlich jedoch, dass die PraktikerInnen keine öffentlich finanzierten Möglichkei-
ten haben, regelmäßig verbandsübergreifend Erfahrungen auszutauschen und von-
einander zu lernen. Das wäre für uns ein Ausdruck von Qualität.
Angesichts der sehr knappen Zeit möchte ich auf unseres Erachtens wichtige Prob-
lemfelder hinweisen:
Hilfreich wäre, das Wort ErzieherInnen durch PädagogInnen zu ersetzen –
dadurch würde die Professionalität gegenüber den Lehrern deutlich hervor-
gehoben.
Das Kapitel Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Eltern, fände eine gute
Ergänzung durch ein Kapitel, das ausdrücklich die PädagogInnen wertschät-
zend anspricht und ihre Rechte deutlich macht,
Ein weiteres Beispiel aus dem Themenfeld Bildungsverständnis (Seite 15):
„Gemäß unserer demokratischen Verfassung und einem demo-
kratischen Bildungsverständnis tragen Bildung, Erziehung und
Betreuung ... dazu bei, die gleichen Rechte aller Kinder auf Bil-
dung und das Recht jedes einzelnen Kindes auf Entfaltung sei-
ner Potentiale zu gewährleisten“
und weiter
„Jedes Kind soll die Chance haben, seine Absichten, Fähigkei-
ten und individuellen Möglichkeiten in die Entwicklung von Ge-
meinschaft und Gesellschaft einzubringen“.
oder
„Ein demokratisches Bildungsverständnis dazu beitragen soll,
die „gleichen Rechte aller Kinder auf Bildung und das Recht je-
des einzelnen Kindes auf Entfaltung seiner Potentiale zu ge-
währleisten“.
Ganz ernsthaft, wichtige Worte. Wie bitte schön, soll das aber gehen, wenn wir im
Kita-Gutschein-System von strukturierten Betreuungszeiten ausgehen,
+ in denen die Kinder im Stundentakt betreut werden,
+ wovon einige Ganztagsbetreuung genießen während andere Kinder nur vier Stun-
den Betreuungszeit und somit auch nur vier Stunden Chancengleichheit in der Bil-
dung erfahren? Hinzuweisen wäre an dieser Stelle auch an den Kontext Ökonomi-
sierung der Bildung
25
Auch mit einigen Indikatoren haben wir so unsere Probleme und manche erwecken
den Eindruck, als wären die PädagogInnen – mit Verlaub gesagt – nicht sehr profes-
sionell. Wie unsinnig das sein kann, möchte ich an dem Qualitätsanspruch Frühför-
derung in der Kita deutlich machen. Da heißt es unter 1.:
„Alle Fachkräfte entwickeln ein Grundverständnis für die Würde
eines jeden Kindes“.
Das mag sicherlich gut gemeint sein. Doch was ist ein „Grundverständnis für die
Würde“? Würde lässt sich ja nicht in wenig, mittel, viel aufteilen. Also hier wäre un-
bedingt nachzudenken. Es wäre wünschenswert, Kita-Gutscheinsystem und die
Hamburger Bildungsempfehlungen in Einklang mit dem Inklusionsgedanken zu brin-
gen.
Die Qualitätsentwicklung im Verband SOAL
Über den ganzen Verband gesehen sind etwa 20 verschiedene Qualitätsentwick-
lungsverfahren unterschiedlichster Art in Anwendung. Die Mitglieder des Verbandes
sind selbständig in allen ihren Entscheidungen. Nachfolgend stelle ich Ihnen das vom
Verband SOAL entwickelte Qualitätsverfahren für Kindertagesstätten im Schnell-
durchgang vor, das gemeinsam von Weltwerkstatt Köln (Prof. Dr. Gerd E. Schäfer
u.a.) und SOAL entwickelt und nun gemeinsam mit den PraktikerInnen aus den Kitas
erprobt und fortgeführt wird. Daran können alle Verbände, Träger und Kitas bun-
desweit teilnehmen. Das drei Jahre dauernde, mit Zertifikat abschließende QE-
Verfahren von SOAL kann in gewissem Sinn sowohl als
Persönlichkeitsentwicklung für Bezugspersonen und Institutionen
Und zugleich als berufsbegleitende Qualifizierungsmaßnahme genutzt werden
im Sinne einer auch selbst erarbeiteten Professionalisierung.
Zur „Philosophie“:
Wer Kinder unterstützend begleiten möchte, muss etwas über die Kinder und
sich selbst wissen.
Wir sprechen von einer
Kultur des Innehaltens und einer
neuen Kultur des Lernens, in der das Erfahrungslernen Grundlage des
Wissens ist,
in dem sich Praxis und Theorie in einem permanenten Prozess ergänzen
und alle voneinander lernen Erwachsene von Kindern und umgekehrt.
Das möchte ich an fünf, von Prof. Dr. Gerd Schäfer formulierten Bildungspotentialen
deutlich zu machen:
Ein Erziehungsverständnis, das einer Pädagogik des Innehaltens folgt
26
Ein Lernverständnis, in dem Können und Wissen, sich aus Erfahrungen
ergeben
Eine partizipatorische Didaktik, die im Alltag und den kulturellen Sachbezü-
gen gelebt wird
Ein Institutionsverständnis, das von einer lernenden Institution ausgeht, die
dem Bildungsverständnis folgt
Ein Fortbildungsverständnis als Zusammenspiel von
verinnerlichter und reflexiver Pädagogik,
von Theorie und Praxis
spiralförmigen modularen Aufbau – permanenter Prozess
Daten und Fakten:
Start 2004, 70 Einrichtungen, 7 Durchgänge, 8. In Vorbereitung –
80 Qualitätsbeauftragten (QEB) der teilnehmenden Träger werden in 6 Modulen,
monatlichen QEB-Treffen, und weiteren Workshops in dem Bildungsverständnis ge-
schult. Die QEB-Treffen, Berichtswesen sind fester Bestandteil auch nach der Zertifi-
zierung. Umfangreiches Berichts-, Dokumentations- und Präsentationswesen sowie
Einrichtungsbesuche geben
+ den 4 ReferentInnen (Theorie),
+ dem Projektmanagement sowie 4 PädagogInnen (Praxis)
+ unter wissenschaftlicher Begleitung von Prof. Dr. G. Schäfer
kontinuierlich Informationen.
Alle zwei Jahre evaluieren ALLE teilnehmenden Einrichtungen die QE. Das Zertifikat
gilt zwei Jahre und wird in einem erneuten Zertifizierungsprozess in der Regel ver-
längert. Regelmäßige Nachschulungen beziehen neue PädagogInnen mit ein. Ex-
kursionen, Hospitationen und Fortbildungsangebote runden den QE-Prozess ab.
Die SOALQE formuliert sich in 7 Rechten der Kinder, die zugleich auch Titel und
Inhalt der über drei Jahre in dreimonatigem Rhythmus stattfindenden Workshops
sind:
Kinder haben ein Recht auf Bildung ab der Geburt – Grundverständnis der
SOALQE (Bildungsverständnis Schäfer)
(MODUL 1) Kinder haben ein Recht auf PädagogInnen, die ihr pädagogi-
sches Verhalten reflektieren
Hier wird das Handwerkszeug vermittelt: Kommunikation, Stressanalysen des
Alltags, Fallgespräche usw.
(MODUL 2) Kinder haben ein Recht auf PädagogInnen, die ihre Lebenser-
fahrungen hinterfragen.
In diesem Modul reflektieren die PädagogInnen ihre Bildungs-Biografie – eine
Wahrnehmende Beobachtung in die Vergangenheit und nach innen – Intro-
spektion. Die hier erfahrene Reflexion schafft Vertrauen, Beziehung und Ver-
ständnis z.B. für pädagogische Interventionen.
27
(MODUL 3) Kinder haben ein Recht auf eigene Bildungsprozesse, die von
Erwachsenen anerkannt werden, obwohl sie häufig rätselhaft und fremd er-
scheinen – das Kernstück der SOALQE –
Die Beobachtung der Kinder, es geht hier um Innehalten, Wahrnehmen, Re-
flexion und Schlussfolgerungen ziehen. Der Blick ist also – entgegen Modul 2
– nach außen gerichtet. Erlernt werden Techniken und Methoden der Präsen-
tation und Dokumentation in Schrift, Bild und Video-Filmen.
(MODUL 4) Kinder haben ein Recht auf Themen, Umgebungen und Materi-
alien, die entdeckendem Lernen Raum geben.
Aus den Modul 2 und vor allem Modul 3 folgen Veränderungsprozesse: unter-
stützende Strukturen und unterstützende Räume.
(MODUL 5) Kinder haben ein Recht auf PädagogInnen, die ein vertieftes
Interesse an einem Bildungsbereich haben –
Ein zweitägiger Bildungskongress für alle Teams bietet Gelegenheit Theorie
und Praxis längs verschiedener Bildungsbereiche zu vertiefen.
(MODUL 6) Kinder haben ein Recht auf Nachhaltigkeit ihrer Bildungspro-
zesse
Dieses beschreibt die Zertifizierung, die von allen ReferentInnen und den je-
weiligen Teams gestaltet wird. Das Zertifikat kann mit Auflagen oder Empfeh-
lungen vergeben werden, was dann nachzuarbeiten und nachvollziehbar zu
machen ist.
Dieses Recht auf Nachhaltigkeit wird ebenfalls durch die Basisworkshops „Ro-
ter Faden“ eingelöst, in dem auf wissenschaftlicher Ebene Theorie und Praxis
in zweimonatlichen Workshops für alle QE-Durchgänge gemeinsam auf
Grundlage der Praxis ausgetauscht werden.
Ganz bewusst haben wir unsere Qualitätsansprüche als Rechte der Kinder formuliert,
denn ein Recht hat das Kind – es braucht um Rechte nicht zu bitten. Und – es sind
die Erwachsenen, die diese Rechte zu erfüllen haben.
Ich möchte noch einmal auf die Modul 2 „Reflexion des eigenen Bildungsprozesses“
und Modul 3 „Wahrnehmendes Beobachten“ zurückkommen. Die intensive und re-
gelmäßige Reflexion des eigenen Bildungsprozesses in Bezug zur pädagogische
Arbeit sowohl mit den Kindern, den Eltern und den Teamkollegen halten wir für un-
abdingbar, da der intrapersonelle und extrapersonelle Prozess die pädagogische Ar-
beit intensiv beeinflusst. Alle weiteren Bereiche: Elternarbeit, Stadtteil, soziokulturel-
les Umfeld, am SOALQE-Verfahren teilnehmende Träger usw. ringen sich um die
Begleitung des Bildungsprozesses des Kindes, wie, - wenn ich ein Bild benutze: wie
Ringe, ausgelöst von einem ins Wasser geworfenen Stein.
Abschließen möchte ich mit Worten, die Loris Malaguzzi 1991 anlässlich eines Reg-
gio-Kongresses in Berlin äußerte:
28
„Wir stoßen immer wieder auf ein erstaunliches Phänomen: Es
ist so, als ob Städte nicht zur Kenntnis nehmen würden, dass
es in Ihnen Kinder gibt, die dort leben. Oft beginnen Gesell-
schaften erst bei Schuleintritt, also zu spät, zu bemerken, dass
sie Kinder haben. Also müssen wir zunächst bewirken,
dass der Kindergarten ein Projekt ist,
dass sie die Stadt und ihre Bewohner begierig wahrneh-
men wollen;
dafür müssen die Kinder in der Stadt präsent sein,
auf ihren Plätzen, in ihren Schwimmbädern, in den Theatern.
Wir müssen darauf hinwirken, dass die Stadt die Intelligenz und
Sensibilität der Kinder beachtet und berücksichtigt.“
Malaguzzi spricht also von der Stadt, deren Kultur man an dem Umgang mit ihren
Kindern erkennt. Er fasst den Rahmen von Qualität – wie wir heute sagen würden -
viel weiter. In diesem Sinne scheint es mir wichtig, die Anstrengungen und Ansprü-
che der Qualität in der frühkindlichen Bildung in einem viel größeren Bogen zu se-
hen, nämlich die Qualität
der Lebensumstände der Kinder und ihren Familien,
der Jugendlichen, Jungen Erwachsenen und älteren Menschen, der Flüchtlin-
ge aus Lampedusa und Bedürftigen.
Die Frage „Verwahrt, überfordert oder gut betreut“ würden wir umformulieren in die
Frage: Welche Kindertagesstätten braucht die Stadt Hamburg, um sich wahrhaftig
auf den Weg in eine Willkommensgesellschaft zu begeben.
Das ist für uns Qualität.
29
(D) Arbeitsgruppen AG 1: »Akademisierung – wozu?« - Workshop
Abbi.1 Layout d. Praxisforschungsposters d. Studiengruppe
3
„Viele fordern für Erzieherinnen und Erzieher eine Hochschulausbildung. Doch keiner
will sie bezahlen. Wie groß wäre der zusätzliche Nutzen?“
• Worum geht es?
Das Arbeitsfeld KiTa befindet sich in den letzten Jahren in einem stetigen Wandel.
Die Phase der frühen Kindheit steht mehr und mehr im Mittelpunkt. Es wurde aner-
kannt, dass hier die Weichen für die weitere Entwicklung der Kinder gelegt werden.
Gleichzeitig finden sich immer mehr fachwissenschaftliche Diskurse und die For-
schungslandschaft im Themenfeld Frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung
erweitert sich stetig. Nun ist es klar, dass sich durch diese diversen Realitäten auch
die ständig veränderten und wachsenden Anforderungen an alle Akteure dieses Fel-
des immer deutlicher zeigen und diskutiert werden müssen. Aus dieser Entwicklung
heraus wurden spezielle Studiengänge für den Arbeitsbereich der frühkindlichen Bil-
dung entwickelt. 4Durch den deutschen Bildungsföderalismus findet sich eine große
Heterogenität. Auch wenn der Beschluss der Kultusminister-konferenzen einen ge-
meinsamen „Orientierungsrahmen, Bildung und Erziehung in der Kindheit“5 entwi-
ckelt hat, befinden sich viele Studiengänge noch in einer „Sondierungsphase“.
Hier wird entwickelt, erprobt, weiterentwickelt und ggf. verworfen
• Ziel des Workshops
Das Ziel des Workshops sollte sein, mit den Teilnehmenden über den zusätzlichen
Nutzen bzw. den „Mehrwert“ von akademisierten Fachkräften in der Kita ins Ge-
spräch zu kommen.
3 Forschungsposter der Referent*Innen während des Studiums BA soziale Arbeit& Diakonie – Frühkindliche Bildung 2010-
2014) 4 http://www.akipaed.de/wp-content/uploads/2013/12/04_Artikel_ISA-Jahrbuch.pdf(Letzter Zugriff am 27.05.2014)
5 KMK, JFMK (2010): Gemeinsamer Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.09.2010 sowie Beschluss der Jugend- und
Familienministerkonferenz vom 14.12.2010. Anlage „Gemeinsamer Orientierungsrahmen, Bildung und Erziehung in der Kindheit“: „Weiterentwicklung der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern - Gemeinsamer Orientie-rungsrahmen „Bildung und Erziehung in der Kindheit“. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_09_16-Ausbildung-Erzieher-KMK-JFMK.pdf
30
• Input der Referentinnen und Diskussion
Eröffnet wurde der Workshop mit einem kleinen Exkurs in die Welt der Studiengänge
im Bereich der frühkindlichen Bildung.
Laut der Datenbank Wiff (Weiterbildungsinitative Frühpädagogische Fachkräfte) gibt
es in Deutschland zurzeit 114 Studiengänge an 80 Hochschulstandorten. Diese wer-
den in Vollzeit als auch berufsbegleitend oder beufsintegrierend angeboten.
Im weiteren Verlauf wurden Inhalte einer Wiff Expertise aus dem Jahre 2012 vorge-
stellt, die erste Erfahrungen von Absolventinnen dieser Studiengänge zusammen-
fasst. Nach dieser Studie berichten die Absolventinnen, dass die berufliche Status-
zuweisung der Studiengänge fehle.
Aus diesem Grund lohne sich zum jetzigen Zeitpunkt lediglich auf der individuellen,
persönlichkeitsbildenden Ebene. Absolventinnen erwarten jedoch adäquate Arbeits-
bereiche mit einer angemessenen Bezahlung. Sollen demnach die erheblichen An-
strengungen zur Etablierung akademischer Studiengänge im Bereich der Kindheits-
pädagogik nachhaltig zu positiven Ergebnissen führen, vor allem auch bezogen auf
die angestrebte Qualitätsverbesserung in der unmittelbaren Arbeit mit den Kindern,
so müssen weitere Schritte unternommen werden, um einen dauerhaften Berufsver-
bleib der Kindheitspädagog*innen , vor allem der im Gruppendienst tätigen Graduier-
ten sicherzustellen
Um einen Einblick in einen solchen Studiengang zu gewähren wurden im Anschluss
kurz Inhalte des berufsintegrierenden Studienganges „Soziale Arbeit & Diakonie -
Frühkindliche Bildung“ des Rauhen Hauses in Hamburg erläutert. Alle Referentinnen
des Workshops haben diesen Studiengang vor kurzem, neben ihrer Tätigkeit in Kin-
dertagesstätten Hamburgs und Schleswig-Holsteins, mit Erfolg durchlaufen.
Anhand eines Schaubilds wurde dargestellt, dass sich das Studium über sechs Se-
mester zieht. Das Studium ist in 15 Modulen zu verschiedenen Themen eingeteilt. In
jedem Modul muss ein benoteter Leistungsnachweis erbracht werden. Inhalte der
Module sind zum Beispiel: Planen und Gestalten, Geschichte, rechtliche Grundlagen,
Leiten und Steuern oder Didaktik und Methodik. Ein besonderer Schwerpunkt des
Studiums ist die Praxisforschungswerkstatt, welche sich über alle 6 Semester er-
streckt. Diese ermöglicht den Studierenden forschend zu lernen. Die Referentinnen
dieses Workshops haben sich in dieser Forschungswerkstatt mit dem Thema der
Akademisierung von Fachkräften in der Kita beschäftigt.
Nach dem theoretischen Input wurden die Teilnehmenden des Workshops aufgefor-
dert, sich in Kleingruppen mit dem Mehrwert von akademisierten Fachkräften in der
Kita aus der Sicht unterschiedlicher Akteure zu beschäftigen. Hierfür hatten die Re-
ferentinnen folgende Fragen an Stellwänden vorbereitet.
1. Welchen Mehrwert bringen akademisierte Fachkräfte, den Trägern d. KiTas?
2. Welchen Mehrwert bringen akademisierte Fachkräfte den Familien d. KiTas?
3. Welchen Mehrwert bringen akademisierte Fachkräfte dem Team einer KiTa?
31
Die Teilnehmenden diskutierten in ihren Gruppen zu den einzelnen Fragen und
schrieben Ihre Ergebnisse auf Karten, welche zu den Fragen an die Stellwand gehef-
tet wurden. In der Abschlussrunde des Workshops sprach das Plenum gemeinsam
mit den Referentinnen über Kontroversen und Gemeinsamkeiten der Diskussionen in
den Kleingruppen.
• Fazit des Workshops
Es wurde deutlich, dass ein Großteil den Mehrwert durch die Akademisierung durch-
aus sieht und dieses auch befürwortet. Zurzeit setzen die Träger, die akademisierten
Fachkräfte vorwiegend in Leitungspositionen ein.
Auf die Frage woher der erhöhte Finanzierungsbedarf für die akademisierten Fach-
kräfte kommen sollte, wurde keine Aussage getroffen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Thema der Akademisierung im
frühkindlichen Arbeitsfeld noch kontrovers diskutiert wird. Die Bereitschaft, sich mit
der Bedeutung akademisierter Fachkräfte in Kitas auseinanderzusetzen war jedoch
deutlich zu spüren.
Literatur : http://www.ev-hochschule-hh.de/fileadmin/user_upload/downloads/Erasmus_und_Akkreditierung/Neue_Dokumente_Akkr/02_FB_Modulkatalog_2013.pdf (letzter Zugriff: 24.05.2014) WIFF Expertise Nicole Kirstein/Klaus Fröhlich-Gildhoff/RalfHaderleinVon der Hoch-schule an die Kita - Berufliche Erfahrungen von Absolventinnen und Absolventen kindheitspädagogischer Bachelorstudiengänge (Publikation)
http://www.akipaed.de/wp-content/uploads/2013/12/04_Artikel_ISA-Jahrbuch.pdf (letzter Zugriff am 27.05.2014) Aktionsrat Bildung; Verein der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.) (2012): Professio-nalisierung in der Frühpädagogik. - Qualifikationsniveau und -bedingungen des Per-sonals in Kindertagesstätten. Münster. http://www.aktionsrat-bil-dung.de/fileadmin/Dokumente/Gutachten_Professionalisierung_in_der_Fruehpaedagogik.pdf. ( letzter Zugriff am 27.05.2014)
32
AG 2: »Armut – und wer sieht hin?« - Workshop
Worum geht es?
Kinderarmut hat viele Facetten und ist ein heiß diskutiertes Thema in der Öffentlich-
keit. Wie stellt sich die Diskussion in der Kita dar, offen oder als Tabu? Wer über-
nimmt dafür die Verantwortung? Und wo bleibt das Kind dabei? „Kinderarmut ist zu
einer Thematik geworden, die es nicht mehr ermöglicht, wegzuschauen.“6 Immer
mehr Kitas sind gefordert auf die Bedürfnisse armer Mädchen und Jungen und ihrer
Familien aufmerksam zu werden und individuelle Hilfe anzubieten. Welche Kompe-
tenzen müssen Fachkräfte mitbringen, um mit den dazu kommenden Aufgabenfel-
dern professionell umzugehen?
Input der Referentinnen
Als Grundlage für die Diskussion stellten die Referentinnen folgende Armutsdefinition
vor:
„Kinder in Deutschland gelten als arm, wenn ihre Eltern über ein Einkommen verfügen, das weniger als 50-60% des durchschnittlichen Nettoeinkommens umfasst. Auf Basis dieser Definition liegt nach der amtlichen Erhebung „Leben in Europa“ (EU-SILC 2006) die Armutsgrenze in Deutschland bei 781€ pro Monat (=60% des Durchschnittsnettoeinkommens) für Alleinstehende.“7
Außerdem führten sie weiter aus, dass in Deutschland 2,5 Millionen Kinder und Ju-
gendliche am Existenzminimum leben. Demnach lebt jedes sechste Kind in Armut. In
Bezug auf Hamburg sind dies ca. 24,6 Prozent und somit ca.49.800 Kinder.
Aus der Diskussion
Viele der Teilnehmerinnen konnten aus ihren eigenen Erfahrungen zu dem Thema
berichten. Einig war man sich darüber, dass für einen kompetenten Umgang mit dem
Thema Armut bei Kindern, die Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen
erweitert werden müssen. Vor allem zeitliche und personale Ressourcen, sowie in-
terdisziplinäre Teams, Supervision und Beratung der Mitarbeitenden, waren Aspekte
die genannt wurden. Obwohl Armut in der Gesellschaft längst sichtbar ist, befindet
sich die Arbeit in den Kitas noch am Anfang. Durch die Auseinandersetzung mit der
vorhandenen Problematik, werden notwendige Folgehilfen sichtbar, die aber auf-
grund von finanziellen Defiziten, ausgebremst werden. Weiterhin bemerkten die Teil-
nehmenden, dass der Begriff der Armut, ein ungutes Gefühl auslöst, welches eher
durch ein positives Wort ersetzt werden müsste. Auch Themen aus den Referaten
des Vormittags wurden bedacht, so kam z.B. die Frage auf, warum der Hamburger
6 Becker 2013 et. al
7 Andersen, Sabine / Fegter Susann (2009): Spielräume sozial benachteiligter Kinder.
Bepanthen – Kinderarmutsstudie. Universität Bielfeld, Die Arche, Bepanthen, Bayer Health Care (Hg.). Bielefeld.
33
Senat Beitragsfreiheit für Kitaplätze schaffen muss, anstatt diese Gelder für zusätzli-
che Personalkosten zu benutzen.
Fazit
Am Ende des Workshops haben die Beteiligten zusammengefasst, dass jede Kita
ihre individuellen Prioritäten setzen muss, bezogen darauf, was es von den Bil-
dungsempfehlungen umsetzt, da diese sehr umfangreich sind. Die Fachkräfte orien-
tieren sich hierbei an den jeweiligen Bedürfnissen, der zu betreuenden Jungen und
Mädchen und ihrer Mütter und Väter. Dabei wurden Unterschiede wahrgenommen
bezogen auf das, was eine Familie in sogenannten „Brennpunkten“ braucht und auf
das, was eine Familie in einem „Wohlstandsbezirk“ braucht. Auf der anderen Seite
wurde aber auch festgestellt, dass es für die Entwicklung von Kindern gleichermaßen
wichtig ist, dass diese sichere Bindungserfahrungen machen. Dieses bildet die
Grundlage dafür, dass sich das einzelne Kind der Welt öffnet und so seine Explora-
tion stattfinden kann. Ein Blick auf die Resilienzforschung lässt hierbei erkennen,
dass auch Kinder, die in finanzieller Armut leben, eine Chance darauf haben zu wi-
derstandsfähigen Erwachsenen zu werden. Um den vielschichtigen Bedürfnissen der
unterschiedlichen Familien gerecht zu werden ist eine gute Vernetzung von unter-
schiedlichen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe unabdingbar. Denn meist kann
nur vereint effektiv geholfen werden. Bei der Bewältigung der immer komplexer wer-
denden Aufgaben im Kitabereich (z.B. der Aufwand für die Bewerbung und Bearbei-
tung von Bildungspaketempfänger*innen) werden die zeitlichen Ressourcen jedoch
immer knapper.
Allerdings ist eine intensive Eltern- bzw. Familienarbeit als ein wichtiges Qualitäts-
merkmal für eine gute Kita zu nennen, in die es sich lohnt zu investieren. Denn Su-
pervision, Fortbildungen, Zeit für Vor- und Nachbereitungen der pädagogischen Ar-
beit mit Kindern, aber auch für die Reflexion der Elterngespräche dienen der Quali-
tätssicherung. Dieser notwendige Mehraufwand bedingt das Geld von Trägern, de-
nen es wert ist, gutausgebildete und zahlreiche Fachkräfte einzustellen, damit die
qualitative Arbeit erhalten bleibt und Fachkräfte nicht krank werden.
Literatur Dr. S. Andresen und S. Fegter (2009): „Bepanthen-Kinderarmutsstudie 2009“, Be-panthen-Kinderförderung Bayer Vital GmbH, Leverkusen 2009 B. Hock / G. Holz / R. Wüstendörfer (2000): „Gute Kindheit – Schlechte Kindheit. Armut und Zukunftschancen von Kindern in Deutschland“. Abschlussbericht zur Stu-die im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Frankfurt am Main. M. Hübenthal (2009): „Kinderarmut in Deutschland-Empirische Befunde, kinderpoliti-schen Akteure und gesellschaftspolitische Handlungsstrategien“, Deutsches Jugend-institut München. Quelle: http://www.dji.de/bibs/21_expertise_huebenthal_kinderarmut_2009.pdf Rev.12.04.2013
34
R. Lutz et. al (2010): „Wege aus der Kinderarmut: Gesellschaftspolitische Rahmen-bedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze“ M. Rumpf (2009): Pressemitteilung zum OECD Kinderbericht „Doing better for child-ren“ Quelle: http://www.oecd.org/els/family/44464365.pdf Rev.06.05.2013 „KiGSS-Studie“ (2007): Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Robert-Koch-Institut Berlin, Bundesgesundheitsblatt, 50Jg., H.5/6 G.Trabert (2007): „Kinderarmut und Gesundheit.“ In Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (Hrsg.): Kinderreport 2007. Daten, Fakten, Hintergründe. Freiburg M. Zander (2010): „Armes Kind – starkes Kind?“, Verlag für Sozialwissenschaften /Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010, 3.Auflage M.-S. Honig et.al (2004): „Was ist ein guter Kindergarten?“, Juventa Verlag Weinheim und München 2004 M. Winkler (2010): „Nähe, die beschämt – Armut auf dem Land“; eine qualitative Stu-die des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, 2. Auflage, Lit Verlag Berlin 2010 Die Workshop-Leiterinnen Maren Werth, Susan Becker und Nicole Meyer sind alle-samt Absolventinnen des Studiengangs Soziale Arbeit und Diakonie mit dem Schwerpunkt Frühkindliche Bildung. Sie studierten an der Evangelischen Hochschule in Hamburg. (Abschluss: Sozialpädagoginnen BA) Während ihres Studiums forschten sie gemeinsam, in welcher Form Fachkräfte die Bedürfnisse armer Familien wahr-nehmen. Bei Fragen können Sie sie gerne dazu kontaktieren. Kontakt: Nicole Meyer: [email protected]
35
AG 3: »Bildungsempfehlungen – völlig umsonst?« - Workshop
Seit August 2013 haben bundesweit alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr einen
Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung. Die Zahl der außerfamiliär betreuten
Kinder unter drei Jahren ist in Hamburg in den letzten Jahren ständig gestiegen und
liegt zur Zeit bei ca. 30 Prozent. Dabei werden die Kinder überwiegend in Kinderta-
geseinrichtungen betreut. Grundlage für die Arbeit in den Kitas sind die Hamburger
Bildungsempfehlungen, welche 2012 neu überarbeitet wurden. Sie bilden den aktu-
ellen Orientierungsrahmen für die Arbeit in Hamburger Kitas und formulieren „be-
gründete Qualitätsansprüche an das pädagogische Handeln“ (Hamburger Bildungs-
empfehlungen: 2012) und Indikatoren.
„Bildung braucht Bindung und Beziehung“ heißt es in den Hamburger Bildungsemp-
fehlungen. Gerade Krippenkinder sind auf eine feinfühlige und sichere Bindung an-
gewiesen. Diese Bindung soll in der Eingewöhnungsphase aufgebaut werden. Dabei
geben die Hamburger Bildungsempfehlungen kein Eingewöhnungsmodell vor, son-
dern ermöglichen eine freie Gestaltung des Überganges von der Familie in die Kita.
Absolventinnen des berufsintegrierenden Studiengangs „Soziale Arbeit & Diakonie –
Frühkindliche Bildung“ haben am Beispiel der Eingewöhnung von Krippenkindern
untersucht, inwieweit die Vorgaben der Hamburger Bildungsempfehlungen in der
Praxis umgesetzt werden. Margriet Bartelds, Marina Kühl, Gabriele Rutz und Manja
Schulz-Alsen stellten ihre Forschungsergebnisse vor.
Input der Referentinnen
Anlass für die Forschungsarbeit waren die von den Referentinnen in ihrer täglichen
Arbeit erlebten Diskrepanzen zwischen den Vorgaben der Hamburger Bildungsemp-
fehlungen und der Praxis. Die Datenerhebung erfolgte durch qualitative Interviews. In
fünf narrativen Interviews berichteten Krippen-Fachkräfte über die letzten Eingewöh-
nungen von Kindern. Die Auswertung der einzelnen Interviews fand nach der Groun-
ded Theory (Strauss und Corbin) statt.
Im Anschluss wurde über die Bedeutung des Bindungsaufbaus des Kindes zu einer
Bezugsperson in der Krippe berichtet. Jedes Kind baut in den ersten Monaten seines
Lebens verschiedene Beziehungen zu seinen Mitmenschen auf, die sich in Ihrer
Qualität unterscheiden. Erlebt der Säugling liebevolle Betreuung und verlässliche
Versorgung seiner Bedürfnisse so kann er eine sichere Bindung zu einer Bezugsper-
son aufbauen, die ihm jederzeit Schutz gewähren kann. Sicher gebundene Kinder,
sind mehr an ihrer Umgebung interessiert und können sich intensiver mit ihrer Um-
welt auseinandersetzen. Darüber hinaus sind sie offener neuen Herausforderungen
gegenüber und können leichter Schwierigkeiten bewältigen. Bindung ist somit
Grundvoraussetzung für Bildungsarbeit in den Krippen.
Der Übergang in die Krippe stellt für das Kind eine neue Herausforderung dar, die es
ohne Begleitung seiner Hauptbezugsperson nicht unbeschadet bewältigen kann. Um
einen sanften Übergangsprozess für das Kind und seine Bezugsperson zu gestalten,
wurde das Berliner Eingewöhnungsmodell konzipiert, welches auf der Bindungstheo-
36
rie basiert. In Hamburg findet die Eingewöhnung von Krippenkindern überwiegend in
Anlehnung an das Berliner Eingewöhnungsmodell statt. Auch die Hamburger Bil-
dungsempfehlungen basieren auf diesem Modell. Das Berliner Eingewöhnungsmo-
dell ist nur ein Leitfaden, der von der Krippenfachkraft auf jedes Kind und jede Fami-
lie individuell zugeschnitten werden muss. Hierfür ist entwicklungspsychologisches
Fachwissen und eine sensible Grundhaltung der Krippenfachkraft unabdingbar.
Anhand von Zitaten aus den Interviews wurde in einer Ouiz-Runde exemplarisch die
Diskrepanz zwischen der Praxis und den Hamburger Bildungsempfehlungen aufge-
zeigt. Die ersten Eindrücke der Workshop-Teilnehmer spiegelten Entsetzen wieder.
Die wichtigsten Ergebnisse der Forschungsarbeit
Weder die Theorie noch das Berliner Eingewöhnungsmodell oder die entspre-
chenden Empfehlungen in den Hamburger Bildungsempfehlungen scheinen
so verstanden und verinnerlicht worden zu sein, dass eine Umsetzung in der
Praxis möglich ist.
Vier von fünf Fachkräften haben spezielle Krippenfortbildungen besucht, aber
eine Verinnerlichung der theoretischen Grundlagen hat nicht stattgefunden.
Die Fachkräfte sind sich der entwicklungs-psychologische Bedeutung der Ein-
gewöhnungsphase nicht bewusst und das Berliner Eingewöhnungsmodell wird
nicht individuell auf das einzelne Kind angewandt.
Einzelne Punkte des Berliner Eingewöhnungsmodels werden von allen immer
wieder beschrieben und nach eigenem Plan abgearbeitet. Dabei wird aber
nicht erklärt, warum sie so handeln.
Weder das Berliner Eingewöhnungsmodell noch die Hamburger Bildungsemp-
fehlungen werden hinterfragt. Sie werden als gegeben hingenommen und die
Fachkräfte arrangieren sich damit.
Ein Hinterfragen der eigenen Arbeit oder ein Entwickeln von eigenen Kriterien
finden nicht statt, da die Fachkräfte eine schwierige Eingewöhnung als eige-
nes Versagen verstehen.
Es wurde daraufhin gemeinsam erarbeitet, welche Voraussetzungen benötigt wer-
den, damit die pädagogischen Fachkräfte die Bildungsempfehlungen verstehen und
verinnerlichen können.
Zeitliche Ressourcen fehlen für Reflexion und Supervision
Rahmenbedingungen müssen den Anforderungen angepasst werden
Austausch im Team über Erfahrungen in der Praxis
Neue Kita-Kultur entwickeln, in welcher ältere und jüngere Mitarbeiterinnen
sich gemeinsam in den Austausch und das Lernen begeben
Haltungsvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung müssen in der Ausbil-
dung integriert werden
Tiefes Verständnis der eigenen Aufgaben und Verantwortung dem Kind ge-
genüber ist nötig
Ausbildung muss zum forschenden und reflektierenden Lernen hinführen
37
Mehr Erfahrungen schon in der Ausbildung sammeln können und diese re-
flektieren
Im System ist es angelegt, dass MA nicht reflektieren, sondern ständig nur
reagieren
Fazit:
Am Beispiel der Eingewöhnung von Krippenkindern zeigt sich, dass die Hamburger
Bildungsempfehlungen nicht in allen Bereichen umgesetzt werden. Eine notwendige
Verinnerlichung von Grundlagen (Theorie) hat nicht stattgefunden. Sowohl in der
Ausbildung, als auch in der täglichen Arbeit, muss eine professionelle Haltung entwi-
ckelt oder angenommen werden. Hierfür ist Zeit zum Reflektieren notwendig, aber
auch das Sammeln von eigenen Erfahrungen unabdingbar. Die Hamburger Rah-
menbedingungen erschweren dieses. Es reicht nicht aus, die Bildungsempfehlung zu
schreiben, zu drucken und zu verteilen. Zur Verinnerlichung bedarf es eines Prozes-
ses der gemeinsamen Auseinandersetzung im Team mit den Theorien und Konzep-
ten. Das Entwickeln einer kritisch-forschenden Haltung und eigenes Lernen wird so
erst ermöglicht.
„Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat. Eine Erfahrung, selbst eine sehr bescheidene Erfahrung kann Theorie in jedem Umfange erzeugen und tragen, aber eine Theorie ohne Bezugnahme auf irgendwelche Erfahrung kann nicht einmal als Theorie bestimmt und klar erfasst werden. Sie wird leicht zu einer bloßen sprachlichen Formel, zu einem Schlagwort, das verwendet wird, um das Denken [...] unnötig und unmöglich zu machen“ (Dewey)
38
AG 4: »Gute Leitung – aber wie?« - Workshop
Nach einem kurzen Input zu den Dimensionen des Kita-Managements sowie Ma-
nagementfeldern und Aufgabenbereichen im Bildungs- und Sozialmanagement, die
den Komplexitätsgrad im Feld darlegen, sowie zum aktuellen Forschungsstandbilde-
ten sich vier Arbeitsgruppen zu den Themen:
Rahmenbedingungen von Trägern und Verbänden für gute Leitung – Entwick-
lung eines Forderungskatalogs
Veränderung des Berufsbilds von Leitungen – wissen jüngere Leitungen, was
auf sie zukommt? Wie werden sie auf Management vorbereitet?
Pädagogik versus Unternehmensführung – wie mit Widersprüchen und Di-
lemmata umgehen?
Was ist gute Führung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Die Ergebnisse wurden präsentiert und gruppenübergreifend diskutiert.
Literatur:
Böttcher, W. & Merchel, J. (2010). Einführung in das Bildungs- und Sozialmanage-ment. Opladen: Budrich.
Fthenakis, Hanssen, Oberhuemer & Schreyer (Hrsg.). (2003). Träger zeigen Profil.
Greving, H. (2008). Management in der Sozialen Arbeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Simsa, R. & Patak, M. (2008). Leadership in Nonprofit-Organisationen. Die Kunst der Führung ohne Profitdenken. Wien: Lind38e international.
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(E) Wider den Optimierungszwang – Ein Zwischenruf gegen die Überforderung der Kinderheit
Bei der Tagung musste der ursprünglich vorgesehene Vortrag von Dr. Nils
Minkmar aus Krankheitsgründen kurzfristig entfallen. Stattdessen sei an dieser
Stelle ein Essay des Autors zum selben Thema dokumentiert:
Mittwoch, 10. Juli 2013
Lebensprojekt Kind - Die Überforderung der Kindheit
Kinder sind zum Projekt permanenter Optimierung geworden, es muss einfach alles perfekt sein: beste Noten, wertvolle Spiele. So wird die Kindheit zum Krampf. Und das schreckt potentielle Eltern ab.
Von Nils Minkmar
© Julia Zimmermann Einfach nur spielen? Das wäre ein bisschen wenig. Der Spielplatz in der Berliner Hans-Otto-Straße bietet nebenbei einen veritablen Kunstparcours für die Eltern.
Sie zog sich hohe Chucks an, enge Jeans, eine Baseballkappe und ein Kapu-
zenshirt: Die zweiundfünfzigjährige Mutter wollte nicht etwa im Auftrag des Springer
Verlags die Berliner Start-up-Szene bestaunen, sondern die Abiturprüfung in Eng-
lisch ablegen - aber nicht ihre eigene, sondern die ihrer Tochter. Die Nachricht von
diesem sehr schnell vereitelten Betrugsversuch passt gut in die Zeit: Eltern bewerten
die Schule, die Jugend, ja, die ganze Kindheit zunehmend als etwas, das man nicht
allein den Kindern überlassen darf.
Autor: Nils Minkmar, Jahrgang 1966, verantwortlicher Redakteur für das Feuilleton.
Das Streben nach einer makellosen Schulleistung und, mehr noch, nach einer per-
fekten Kindheit und Jugend ist in den Mittelschichten zu einer kollektiven Zwangsvor-
40
stellung geworden. Und es ist auch ein zentrales politisches Projekt, ein immenser
Markt und ein unendliches, diskursives Superthema, vielleicht das letzte Theater
bürgerlicher Ambitionen.
Kind als Lebensprojekt des Bürgertums
Es ist daher auch kein Wunder, dass sich viele trotz milliardenschwerer staatlicher
Förderung nicht dazu durchringen können, Kinder zu bekommen - der Druck ist ein-
fach zu groß. Wenn erst alles stimmen muss, bevor das Baby willkommen ist, kann
das unter wesensmäßig nicht perfekten Sterblichen ziemlich lange dauern. Und wenn
das zum Lebensprojekt erwählte Kind das Licht der Welt erblickt, wird die Regie nicht
so schnell aufgegeben, werden keine Kompromisse mehr gemacht.
Das Blühen der elterlichen Neurosen ist bereits im Sandkasten zu bestaunen. Gut,
dass man bei einem Aufenthalt auf den Spielplätzen der Republik in der Regel schon
Kinder hat, man würde sonst von dem Projekt leichten Herzens Abstand nehmen.
Derart entfesselte Ambitionen würde man sich an manchem deutschen Arbeitsplatz
wünschen. Der Spielplatz wird zum Assessmentcenter mit Plastikspielzeug ohne
Weichmacher. Die Kleinen werden von ihren eigenen Eltern als künftige Player der
globalisierten Ökonomie bewertet, es geht um Sozialkompetenz, Problemlösungska-
pazität, emotionale Intelligenz und allseitige Optimierung.
Bedingungen für ein glückliches Leben
Die anwesenden Eltern haben zu allem einen Tipp, schlichten jeden Schippenstreit,
pazifizieren und reglementieren, dass die Kinder nur noch staunen. Oder sie ziehen
Schuhe und Strümpfe aus und setzen sich gleich dazu, denn man könnte auch noch
zum allerbesten Freund, zur allerbesten Freundin des Kindes promovieren. Statt des
leicht genervten „Jetzt geht mal schön spielen!“, mit dem in den siebziger Jahren die
Nickipullover tragenden Scharen auf die Straße geschickt wurden, um auf rostigen
Rädern und Spielplätzen ohne TÜV-Plakette ihr Leben zu riskieren, heißt es heute
alltagspädagogisch versiert: „Schaut mal, so spielt ihr noch schöner!“ Kindheit ist
nicht genug, sie muss permanent optimiert werden.
Das wird als Hindernis zur Familiengründung seltsamerweise nie diskutiert: wie ab-
schreckend der Trend zur perfekten Kindheit und zur perfekten Eltern-Kind-
Beziehung wirkt. In Wahrheit ist pädagogische und familiäre Perfektion stets erstre-
benswert, aber keine Bedingung für ein glückliches Leben. Wenn man heute im
Freundes- und Kollegenkreis mit erwachsenen Männern und Frauen über ihr Zuhau-
se und ihre frühen Jahre spricht, dann ist man oft erstaunt darüber, aus welch wind-
schiefen Verhältnissen ganz gerade Menschen wachsen. Menschen sind, das sollte
man beim Grübeln über die stete Verbesserung des Guten gelegentlich bedenken,
recht anpassungsfähige Säugetiere. Viele werden dort geboren, wo eigentlich gar
nichts in Ordnung ist.
Drohnenhafte pädagogische Präsenz
Aber das Streben nach einem Leben mit Kindern, in dem jeden Tag „alles gut“ ist,
beschränkt sich ja nicht nur auf die Familie, es weist erschreckenderweise auch noch
41
weit darüber hinaus. Kinder sind nicht nur der Schlüssel zu einem geglückten Leben,
sie gelten auch als die Rettung unseres Zivilisationsmodells oder am besten gleich
des Planeten. So sympathisch der dem Grönemeyer-Song entlehnte Ruf „Kinder an
die Macht!“ gemeint war - er entspricht auch einer Flucht der Erwachsenen vor ihrer
aktuellen Verantwortung. Auf den Wert von Kindern können sich in einer säkularen,
globalisierten und wertepluralistischen Gesellschaft alle einigen, und zwar recht
schnell, vielleicht auch nur noch darauf. Das kann aber auch zu einer Überforderung
des ganzen Instituts führen. Der Spruch, ohne den kaum noch eine politische Grund-
satzrede auskommt - „Kinder sind unsere Zukunft“ -, ist, bei aller lobenswerten Ab-
sicht, auch eine Belastung der Kinder, die in ihrer eigenen Gegenwart leben und
nicht nur für eine Zukunft, in der sie gar keine Kinder mehr sein werden. Und außer-
dem verklebt solch umfassendes Pathos gern die kleinen und ganz banalen Miss-
stände wie einstürzende Schulgebäude oder unterfinanzierte Nachmittagsbetreuung.
In den Kindergärten müssen sich die skandalös schlecht bezahlten Erzieherinnen
häufiger fragen lassen, wie die Kleinen denn heute gefordert und gefördert wurden.
Der Anblick einer irgendwie vor sich hin spielenden Bande macht manche Eltern ner-
vös. Offenbar haben diese Kinder Spaß, schön, aber ist es auch richtiger, wertvoller
Spaß? Eltern übertragen die eigene Fragilität und Unsicherheit einer die Gestalt im-
merzu wandelnden Berufswelt, in der permanent Leistung und Weiterbildung die Re-
gel ist, auf den Nachwuchs. Dabei ist die allerbeste Basis für späteres Wohlergehen
eine friedliche und fröhliche Kindheit, mit allem, was dazugehört. Und das suchen
sich die Kinder im Zweifelsfall selbst, ohne drohnenhafte pädagogische Präsenz. Sie
ist auch sachlich und fachlich unsinnig.
Fragen werden am besten dann entschieden, wenn sie sich stellen
Die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gehen so schnell vonstatten
und schreiten auf so gewundenen, unvorhersehbaren Pfaden voran, dass Fragen der
Berufsfindung am besten dann entschieden werden, wenn sie sich stellen. Und das
ist nicht im Vorschulalter der Fall. Unvergesslich auch die gequälte Frage eines be-
sorgten Vaters, der am Ende eines langen Informationsabends einer Montessori-
Schule aufstand und angsterfüllt rief: „Das gefällt mir alles sehr gut, aber wenn mein
Sohn später in den Härten des Berufs seinen Mann stehen muss?“ Es handelte sich
wohlgemerkt um eine Grundschule, der fragliche Sohn besuchte noch - hoffentlich
ahnungslos, welche volkswirtschaftlichen Großtaten von ihm noch erwartet werden -
einen Kindergarten. Er konnte dann von einem Vater beruhigt werden, der selbst auf
solch einer Schule gewesen war und heute Polizisten ausbildet. Seine verblüffende
Botschaft: Wie man als Erwachsener im Beruf reüssiert, entscheidet sich nicht im
Kindergarten, auch noch nicht in der Grundschule, sondern wenn es so weit ist, im
Beruf selbst.
Diese Lage ist bei all ihren Tücken das Resultat eines riesigen zivilisatorischen Fort-
schritts: Dass Kinder nicht mehr geschlagen, ausgebeutet und gedemütigt werden
dürfen, dass ihr Wohl ein hoher Wert ist und die Elternliebe nicht mehr als zu über-
windendes Gefühlsrelikt behandelt wird, zeichnet unsere Zeit vor allen anderen aus.
Aber der Wert dieser Anstrengungen ergibt sich nicht aus zu erwartenden Leistungen
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der Kinder, wenn sie groß sind. Das ist ein Wert an sich. Die Kindheit wird nicht auf
das Ziel hin gelebt, später schön, reich und berühmt zu werden; dann wären ja 99,99
Prozent der Erdenbewohner krasse Versager. Die Optimierung der Kindheit im Hin-
blick auf ein nach unseren heutigen Kriterien gelingendes Erwachsenenleben ist nur
in Maßen erfolgversprechend, es spielen einfach zu viel Faktoren hinein. Manche
Wissenschaftler halten ja auch die kindliche Peergroup, also die Spiel- und Klassen-
kameraden, die Kinder aus der Nachbarschaft, für einen ebenso wichtigen Einfluss
wie die Eltern. Denn wer weiß schon, ob man als Berufsberater der eigenen Kinder
das richtige Gepäck zusammenstellt?
Gegen eine Deutungshoheit von Schulnoten
Gorbatschow hat immer gesagt, seiner Mutter wäre es lieber gewesen, er wäre als
Funktionär im Kaukasus geblieben. In diesem Sinne müssen auch die Schulnoten,
freilich wichtig, nicht das ganze Leben hegemonial dominierend gedeutet werden.
Jeder Erwachsene kennt doch bewundernswerte Zeitgenossen, die einmal sitzenge-
blieben sind, ihre Mühe mit bestimmten Lehrern hatten oder sonst wie schlechte No-
ten produziert haben. Umgekehrt gerät manch allzu zurückgezogen aufgewachsener
Superschüler im späteren Leben, im Studium etwa, in soziale oder seelische Untie-
fen.
Klassenarbeiten wandern wie Schulzeugnisse früher oder später gesammelt in Kis-
ten und von dort in den Keller, wo sie friedlich vor sich hin schlafen. Noten sind nicht
der Dax des frühen Lebens, geben keine Auskunft über das Gelingen der Entwick-
lung. Sie sind nicht völlig irrelevant, und eine erfolgreiche Schullaufbahn ist eine
rundum begrüßenswerte Erfahrung; aber die ist eben auch eine Frage des elterlichen
Prismas. Wenn ein Schüler in einer fünften Klasse des Gymnasiums in Tränen aus-
bricht, wenn er in einer Klassenarbeit eine Drei geschrieben hat, dann ist daran am
allerwenigsten die Note besorgniserregend.