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Joachim Fest Wege zur Geschichte Über Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt und Golo Mann

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Joachim Fest

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Joachim FestWege zur Geschichte

Über Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt und Golo Mann

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Joachim FestWege zur Geschichte

Über Theodor Mommsen,Jacob Burckhardt und Golo Mann

Mit einem Vorwort vonChristian Meier

Manesse VerlagZürich

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Inhalt

Christian MeierBegegnung mit vier Historikern 7

Pathetiker der Geschichte undBaumeister aus babylonischem Geist

Theodor Mommsens zwei Wegezur Geschichte 27

Das tragische und wunderbareSchauspiel der Geschichte

Versuch über Jacob Burckhardt 71

Der Historiker als Herr der Geschichte

Rede zur Verleihung des Goethe-Preisesan Golo Mann 113

Editorische Notiz 142

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Christian Meier

Begegnung mit vier Historikern

Leidend und groß sei das Jahrhundert gewesen.»Wir Heutigen, beansprucht wie wir sind von Auf-gaben, die an Neuheit und Schwierigkeit allerdingsihresgleichen suchen«, hätten keine Zeit und wenigLust, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vonseinem »wissenschaftlichen Stolz« spricht ThomasMann, man schreibt das Jahr 1933, der kompen-siert, ja überwogen worden sei von seinem Pes-simismus. Womit dann ein »Zug und Wille zumgroßen Format« zusammenhänge. »Welche Riesen-lasten wurden damals getragen, epische Lasten, imletzten Sinn dieses gewaltigen Wortes.«Es war zugleich das Jahrhundert der gerade neu ent-deckten Geschichte, einer Geschichte, in der alleVerhältnisse der Welt begriffen waren – und der Ge-schichtsschreibung. »Man übertreibt kaum mit derBehauptung, daß die bedeutende deutsche Literaturdes 19. Jahrhunderts ganz überwiegend Gelehrten-prosa ist; die Prosa vor allem von Historikern«,heißt es bei Joachim Fest in den »PolemischenÜberlegungen zur Entfremdung von Geschichts-wissenschaft und Öffentlichkeit«, die er unter demTitel »Noch einmal: Abschied von der Geschichte«veröffentlicht hat.Dieses Jahrhundert liegt weit zurück – so weit, daßman ihm inzwischen durchaus Gerechtigkeit wider-

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fahren lassen kann; was ja auch geschieht. Um dieGelehrtenprosa der deutschen Historiker steht es,wenn man von Ausnahmen absieht, schon langeschlecht. Und das nicht nur, weil es sehr viel be-deutendere andere Prosa gibt, sondern auch, weildie Historiker ihre Wissenschaft so sehr von denMethoden her zu bestimmen gelernt haben, daß dasGanze ihres Gegenstands sie höchstens noch alsAlptraum heimsucht; »Fußnotenseligkeit« (J. Fest),Wissenschaft als Betrieb, wenn nicht am Fließ-band, ist zur Regel geworden. »Großforschung«(Mommsen). Verzunftung. Es geht sehr viel mehrum das Beleg-, das Begründbare als – leider mußman das so trennen – um die Sache.Was immer den Historiker daran tief im Persönli-chen anrührt, beunruhigt, ängstigt; wie sehr immerer geradezu getrieben sein mag, seiner Sache eineForm zu geben, in seiner Einsamkeit, seiner Orien-tierungslosigkeit, seinem Aug-in-Auge mit dem»Chaos-Drachen« (Golo Mann) – das muß er nichtnur zurückdrängen, disziplinieren, sondern er darf eseigentlich gar nicht erst hochkommen lassen. Dennes stört den Betrieb. Und wenn er sich gar ein wenigauf Stil verstünde, so wäre es um so schlimmer. Wassollen da die Kollegen sagen? Ja, was sagen sie da?Außenseiter seien es, so Fest, von denen nahezu alleVersuche, die Geschichte der letzten Jahrzehnteoder wichtiger Teile davon im Zusammenhang dar-zustellen, stammten; Historiker, die dem Wissen-schaftsbetrieb nicht angehörten. Der Jurist ErichEyck, der Althistoriker (und Emigrant) Arthur Ro-

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senberg werden erwähnt, weiter fallen einem aufAnhieb Sebastian Haffner und nicht zuletzt JoachimFest selber ein. Ob Theodor Mommsen, als er die»Römische Geschichte« abfaßte, noch als Außensei-ter anzusehen ist (wie Fest auch meint), mag dahin-stehen. Ganz falsch wird es nicht sein. Allemal abergilt es von Jacob Burckhardt und Golo Mann.Die Studien über sie, die dieser Band vereinigt, le-sen sich zwischen den Zeilen als Werbung für einneues Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaftund Öffentlichkeit. Schon Burckhardt hatte be-klagt, daß Historiker vor allem für Historikerschreiben. In einer neueren Äußerung heißt es: »Essollte nicht dazu kommen, daß Wissenschaften Rie-senmaschinen gleichen, deren Ausstoß nur dazu daist, andere Maschinen zu füttern, deren Produkteebenfalls außerhalb des Betriebs nicht gefragt sind.«Wie wenn es nicht längst, zumindest annäherungs-weise, dazu gekommen wäre! Aber es geht nichtnur um die Öffentlichkeit, sondern – und zwar imgleichen Takt – um die Sache selbst, der man spezia-listisch um so weniger beikommen kann, je weiterhistorische Fragen in die Tiefe dringen. Es geht umdas Verhältnis des Historikers zu seiner Sache undzu seiner Gegenwart.Doch sind die drei Studien natürlich weit mehr alsnur ein Programm. Sie sind in erster Linie Versu-che, der Historie von drei bedeutenden Geschichts-schreibern auf die Spur zu kommen. Und sie sindnicht zuletzt auch als Selbstzeugnisse des vierten,der im Spiel ist, des Historikers Fest, zu lesen.

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Vielleicht darf man an dieser Stelle aus der Vielzahlder Fragen, zu denen sie anregen, einige herausgrei-fen und ein Stück weit verfolgen, indem man etwastut, was die Studien selbst ihren Anlässen gemäßnicht konnten, nämlich die drei Historiker mitein-ander vergleicht.Theodor Mommsen und Jacob Burckhardt, gebo-ren 1817 und 1818 im Abstand von weniger als ei-nem halben Jahr. Beide aus dem Pfarrhaus, der eineaus einer Kleinstadt im damals dänischen Holstein,der andere vom Münsterberg im schweizerischenBasel. Ähnliche Generationserfahrungen, mehroder weniger der gleiche humanistische Bildungs-hintergrund. Beide, wenn auch an verschiedenenOrten und mit ganz verschiedenen Schwerpunkten,der deutschen historischen Schule verpflichtet; siehatten übrigens auch einen ihrer Lehrer gemein,und das war kein Geringerer als Johann GustavDroysen.Getroffen scheinen sie sich nicht zu haben, ob-wohl sie im gleichen Jahr 1855 beide in Zürich Pro-fessoren waren; aber der eine hatte seine Zeltewohl schon abgebrochen, als der andere kam (undBurckhardt wäre, nach Werner Kaegis Vermutung,Mommsen wohl eher ausgewichen; ihr Urteil überdie damaligen deutschen Emigranten war gar nichtso unterschiedlich, nur könnte Burckhardt Momm-sen in das seine einbezogen haben).Jeder der beiden hat für eine der großen antikenEpochen die klassische historische Darstellung indeutscher Sprache verfaßt; hier wie dort der Zug

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und Wille zum großen Format, hier wie dort einegeradezu enzyklopädische Umfassung des Stoffes.Beide nicht nur große, bedeutende Historiker, son-dern auch begnadete Schriftsteller.Doch die Unterschiede, ja Gegensätze zwischen ih-nen hätten, bei so viel Gemeinsamkeit, kaum grö-ßer sein können. Mag sein, daß sie anfangs, wäh-rend der Studentenjahre und bald darauf, gar nichtso groß gewesen sind. Sie haben jedenfalls viel mitdem Fortschreiten des Jahrhunderts zu tun und mitden Positionen, die der eine und der andere darineinnahmen.Kaum ein größerer Gegensatz in litteris – wenn manhier von den politicis schweigen darf – als der, dersich zwischen Berlin und Basel damals, etwa seitden sechziger Jahren, auftat. Das eine von ungeheu-rer Dynamik platzend, planend, in großem Stil denFortschritt der Wissenschaft betreibend, nicht zu-letzt unter Mommsens Führung, von dem man sag-te, daß er die Altertumswissenschaft ganz ähnlichorganisiert habe wie der preußische Generalstab dieArmee. Das Ergebnis zum einen sowohl die großenCorpora der Inschriften, der Münzen etc. wie eineFülle methodisch immer anspruchsvollerer, teilskleiner, teils großer Spezialistenarbeiten (zu denenimmerhin auch Mommsens klassische Darstellungdes »Römischen Staatsrechts« gehörte). Zum an-dern jene Veränderung im geistigen Status derer,die diese Wissenschaft betrieben.Mommsen hat sie 1883 bei der Feier seines fünfzig-sten Doktorjubiläums resignierend mit den Worten

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beschrieben: »Unser Werk lobt kein Meister, undkeines Meisters Auge erfreut sich an ihm; denn eshat keinen Meister, und wir sind alle nur Gesellen

… Wir klagen nicht und beklagen uns nicht; dieBlume verblüht, die Frucht muß treiben. Aber dieBesten von uns empfinden es, daß wir Fachmännergeworden sind.« Mommsen brauchte im Kreis sei-ner Hörer nicht hinzuzusetzen, daß man in den»Fachmännern« die griechischen »Banausen« mit-zuhören hatte. 1895 spricht er von einem »schwerenund mit den Jahren immer sich steigernden Druck«!Je mehr aber in Berlin und von Berlin aus ins Werkgesetzt wurde, so hat man fast den Eindruck, um somehr zog sich Burckhardt in eine Art Schnecken-haus zurück. Ohnehin war Basel ein idealer Beob-achtungsposten, unmittelbar zu Deutschland wie zuFrankreich hin gelegen und doch außerhalb ihrer.Aber diese Stadt ermöglichte ihm zugleich in jenervorandrängenden, erschreckend rücksichtslosenZeit und in der Welt der gelehrten Apparate, der»archivalischen Forschungen, womit die Geschichte

… ist verumständet worden«, seine eigenen Wegezu gehen: Die Woge trieb ihn im Strudel dahin, under hatte trotzdem »den Trost, daß es ja lauter tägli-che Amtspflichten sind«.All das, was da so papierrasselnd (und gelegentlichja auch mit ganz schönem Imponiergehabe) daher-kam, Aufmerksamkeit für Spezielles und immerSpezielleres heischte, konnte er beiseite lassen undbewußt den Generalisten spielen, auch den Dilettan-ten. Genaugenommen war er es nur zusätzlich, denn

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er war ja durchaus ein glänzender, bis ins Speziellesich auskennender Gelehrter, der seine literarischenund bildlichen Quellen immer neu und immer ein-gehender studierte und sie am Ende in einer Weise zuZusammenhängen fügte, daß er in die Lage kam,seine großen historischen Darstellungen zu geben –freilich seit den späten sechziger Jahren nurmehr fürseine Studenten und für das Basler Publikum.Außenseiter mögen sich noch so stolz bestreben,mit sich allein zu sein: Wenn sie nicht gleich über al-le Stränge schlagen wollen, brauchen sie irgendwoeinen Rückhalt, und den eben fand Burckhardt aufnahezu ideale Weise in dem Stadtstaat, dem er vonHaus aus zugehörte und dessen Universität ihmschließlich als nicht nur irdisch wünschbar, sondernmetaphysisch notwendig erscheinen konnte.In diesem Basel durfte die Wissenschaft patrizisch,aristokratisch bleiben, während sie in Deutschlandegalitär wurde (was freilich nicht die Rangabstu-fungen zwischen denen, die sie betrieben, betraf –da war es eher umgekehrt, wie man sich ja auchdenken sollte). Wilamowitz mochte in einem An-flug gut berlinischer Verblendung von der »Grie-chischen Kulturgeschichte« meinen: »Dies Buchexistiert nicht für die Wissenschaft.« Indes gabes auch andere Stimmen. In Wirklichkeit hatteoffenbar jede der beiden Arten, Wissenschaft zutreiben, ihre Mängel und großen Gefahren. Wo die-se zu sehr ins einzelne ging, gewann jene ihrenReichtum im Universalen nur durch manche Ver-nachlässigung.

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Dort las man sich leicht »in irgendeiner Specialfor-schung blind und taub«; die Universität hätte Mü-he, jüngere Gelehrte zu finden, die das nicht getanhätten, meinte man in Basel. Andererseits – wiewollte man das Generelle, das Universale einer»Zunft« aufgeben, wo doch immer nur wenige ihmgewachsen sein können? Vorübergehend konnte die»allgemeine Bildung« der Spezialisierung nicht ge-rade ein Gegengewicht, aber doch ein Komplementsein. Doch auf die Dauer?Mommsens »Römische Geschichte« stammt nichtaus Berlin, sondern aus den Leipziger, Zürcher undBreslauer Jahren (1849 – 1856), und trotzdem unter-scheiden sich Burckhardt und er auch in ihren Ge-schichtsentwürfen, ihren Interessen, In-Eins-Set-zungen und Involvierungen in die Sache, ganz ent-sprechend den verschiedenen Ansätzen, für die unsBerlin und Basel stehen.Mommsens »Geschichte«, einer der größten Buch-erfolge im Genre großer Geschichtswerke, war fürsein Publikum auf eine kaum nachzuvollziehendeWeise erfreulich. Nicht nur durch ihren farbigenStil, ihr ganzes Temperament, sondern weil sie dieSaiten anklingen ließ, in denen dieses Jahrhundertseine Kraft, seinen Willen und seine Hoffnung fand.Ein ungeheurer Realismus scheint die ganze Dar-stellung zu durchwalten, aus vielen ihrer Sätzekönnte man ein ganzes Lehrbuch der Politik zusam-menstellen.Und trotzdem ist das Ganze von einer einzigen gro-ßen Illusion erfüllt, daß nämlich die Personen stets

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die Einsicht, die Macht und den Spielraum besitzenkönnen, die sie brauchen, um ihre Situationen zumeistern. Im Bild Caesars geraten diese Erwartun-gen vollends ins Wunderbare. Und aus dieser Illusionerwächst jener großartige schriftstellerische Habitus,mit dem der Autor seinen Personen stets aus demNachhinein sein Wissen mitteilt, so daß er ihr Versa-gen mit allem Spott, allem Hohn, allem Sarkasmus(an denen der Leser teilnehmen darf) geißelt, zu-gleich ihre Leistung hervorhebt, um ihnen schließ-lich vielleicht, ritterlich wie er ist – Joachim Fest zeigtdies besonders schön –, am Ende ein Stück Tragik zu-zubilligen. Das Illusionäre aber vermag als solchesnicht zu erscheinen; da ist der »Realismus« vor.Mit Ungeduld folgt Mommsen der Geschichte, ertreibt sie gleichsam voran, selbst stets auf das Neue,das Kraftvolle, das Frische erpicht, das er einfordert

– und das ihm notwendig erscheint, da das Altedoch allzu rasch, trotz all seiner Größe, morsch zuwerden pflegt. Ein Handlungs-, ein Möglichkeits-optimismus sondergleichen; eine Klarheit, wie sieselbst der Föhn im Alpenvorland kaum je hervor-bringt. Ein »Ganzes, das keine Sprünge hat und kei-ne Halbheiten kennt« (Alfred Heuß).Wie völlig anders das Bild, das Burckhardt zeich-net; und offenbar nicht nur, weil er, als er es tut,nicht mehr in den Dreißigern, sondern in den Fünf-zigern und Sechzigern ist. Nie, wie bei Mommsen,eine Menschheit, der sich Aufgaben stellten, son-dern ein überaus schwieriger, überaus kostenträch-tiger Prozeß aus Wirkungen und Gegenwirkungen,

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auch aus Nebenwirkungen, dessen Sinn ganz imdunkeln bleibt. Nicht der Gang der Geschichte daseigentliche Interesse, schon gar nicht die Ereignisse.Kein Vorwärtsdrängen, kein ungeduldiges Erwar-ten des Neuen; was könnte es schon an Besserungbringen? Drei der vier Bände der »GriechischenKulturgeschichte« sind systematisch und nur inner-halb der Kapitel, zumeist, historisch gegliedert, erstder vierte folgt der Geschichte und ist doch wieder-um eine Abfolge von Querschnitten. Das Vorstel-len, Sehen, Hören, Formen, das Glauben, das Ur-teilen, das Denken im Vordergrund – und wo es umden Ablauf geht, stets neben den Tätern die Opferim Auge, die »Summe von Verzweiflung und Jam-mer«, und dann auch die Frage nach dem »unsererAhnung zugänglichen Trost«. Überall die Taxationnach Glück und Unglück. Die Zeit des Perikles»vollends ein Zustand, dessen Mitleben sich jederruhige und besonnene Bürger unserer Tage verbit-ten würde …, selbst wenn er nicht zu der Mehr-zahl, den Sklaven … gehörte«; wobei Burckhardtfreilich nicht hinzuzufügen vergißt, daß dennochein Gefühl des Daseins in den damaligen Athenerngelebt haben müsse, das keine Sekurität der Weltaufwiegen könne.Eigenartig, daß gerade der Patrizier, der Aristokratso sehr die Leidenden im Auge hat. Daß er übrigensauch schon von der törichten Manier spricht, aufdie wir die Zukunft binden, »indem wir im Namendes Fortschritts für die kommenden GeschlechterSchulden machen«. Es muß mit seiner Position zu-

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sammenhängen. Was Guizot von Tocqueville ge-sagt hat, läßt sich mutatis mutandis auch auf Burck-hardt anwenden: C e̓st un vaincu qui accepte sa défaite.Denn auch wer derart in Frage gestellt ist, mitsamtdem Alten Europa, dem er sich zugehörig fühlt,kann damals als Besiegter gelten. Und obschon,wie Mommsens Beispiel zeigt, auch diejenigen, diesich auf der Seite der als Fortschritt verstandenenGeschichte fühlen, befähigt sind, klassische, groß-artige Geschichten zu schreiben, so haben die Be-siegten ceteris paribus doch noch einiges mehr dabeiaufzuwenden: Sie müssen verstehen, was ihnen –und was zu ihnen – nicht paßt und was doch ge-schieht und vor allem: als Wirklichkeit sich ein-führt. Sie müssen auch an sich selber (und ihren Ka-tegorien) arbeiten, um es anzunehmen – so daß esdann, wenn sie s̓ verstehen, ganz anders verstandenwird, als wenn einer ohnehin damit akkordiert.So kam der, der skeptisch das Neue beobachtete, in-dem er am Alten hing, dazu, eine Geschichte zukonzipieren, die zwar gegen ihre Zeit, aber dafürmehr zugunsten einer kommenden Zeit war als die-jenige dessen, der so kühn vorandrang. Wenigstenswill es mir so scheinen, und die Aktualität des an-thropologischen Interesses an Geschichte läßt sichimmerhin dafür zitieren.Und so konnte denn auch, wo Mommsen, wie imFolgenden nachzulesen, von den Riesenlasten fasterdrückt worden ist, Burckhardt letztlich zur Hei-terkeit des Erkennens gelangen – bei manchenSchrulligkeiten und Skurrilitäten, die er Basel

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schuldete. Während der Meister der neuen Ge-schichtswissenschaft sich immer mehr als Gesellewiederfand, konnte sein Basler Kollege »diesemganzen Wesen, dem wir als Menschen einer be-stimmten Zeit unvermeidlich unsern passiven Tri-but bezahlen«, in einiger Souveränität »beschau-end« gegenübertreten; konnte sehen, weise für im-mer zu werden. Wenn Historie, wie Polybios zuerstgesehen hat, ein besonderes Mittel ist, um Ge-schichte auszuhalten, so konnte sie Burckhardt dazudienen, durch Erkenntnis »Freiheit mitten im Be-wußtsein der enormen allgemeinen Gebundenheitund des Stromes der Notwendigkeiten« zu gewin-nen. Er brauchte die Historie – für sich.Hinter diesen Unterschieden aber wird letztlichnoch eine Jahrhundert-Gemeinsamkeit sichtbar:Geschichte schien eine Richtung zu haben, den ei-nen lieb, den andern bitter: Jene wußten sehr wohl,worauf sie hinauswollte, und diese mußten sehen,wie sie sich damit abfanden. Beide hatten sich dar-auf einzustellen.Wenn die Weise, auf die einer Historie schreibt,stets von der Zukunft bestimmt wird, die er erhofftoder befürchtet, so war diejenige Burckhardts da-durch gekennzeichnet, daß er sich – und seine Hörer

– für sie zu wappnen suchte, weil er sich allein ihrgegenüber sah, während Mommsen mitsamt seinerganzen Zeit in sie vordringen wollte.Unsere Zeit dagegen, »die Zeit, in der dies nieder-geschrieben wird, ist ratlos und ideenmüde; sieweiß nicht, worauf sie hinauswill. Folglich scheint

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alles in ihr möglich«, so liest man es in Golo Manns»Deutscher Geschichte«. Geschichte zu betrachten,zu schreiben, Position zu ihr zu nehmen, ja sich ihrgegenüber zu behaupten – das mußte für den 1909Geborenen etwas total anderes sein.Denn was war es damit nach Auschwitz? Wo dieganze Menschheit besiegt, in Frage gestellt war.Wo, wie man doch hoffen soll, das Äußerste ge-schah, worunter nachwirkend alle, nicht nur dieNachfahren der Täter und der Opfer, zu leidenhaben.Was, wo dann, was speziell die »Deutsche Ge-schichte« angeht, die Besiegten des Krieges sich mitden Siegern eher in eine Reihe stellten, und ja auchstellen durften, als ihre Rolle wirklich auszukosten;wo sie die Anerkennung des eigenen Unrechts sichgar nicht abzuringen brauchten, weil sie sie ziemlichKnall auf Fall einfach vollzogen, um künftig mög-lichst wenig damit zu tun zu haben, um es auszu-grenzen aus sich, wie übrigens sich aus ihm?Und es fragt sich ja auch, wie Geschichtsschreibungüberhaupt möglich ist, wo Wissenschaft als Betriebsoviel weiter fortgeschritten ist als im 19. Jahrhun-dert und auch das Gegengewicht einer halbwegsuniversalen Bildung nicht mehr vorhanden ist –oder, soweit es vorhanden ist, nicht mehr ausreicht,da die Welt der Geschichte inzwischen den ganzenGlobus umfaßt.Wie soll schließlich ein Historiker vor den Anforde-rungen unserer Zeit bestehen, da die existentielleIn-Frage-Stellung soviel weitergeht und es kein

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»Basel« mehr gibt, in dem man für eine souveräneGeschichtswissenschaft einen Rückhalt findet, dagegenüber dem, was etwa für Burckhardt »allerbit-terstes und furchtbarstes Schicksal« war (etwa dieEmigration eines Italieners in eine ihn freundlichaufnehmende Schweiz), heute nur ein Achselzuckendes »Eure Sorgen möcht᾽ ich haben« möglich ist?Kann man da überhaupt noch Geschichte zusam-menhängend darstellen, und so, daß sie in all ihrerVielfalt, ihrer Buntheit, ohne daß etwas Wesentli-ches fehlt, mithin als ein Ganzes ihre Form gewinnt;und so, daß sie einem breiteren Publikum zu ver-mitteln ist (was ja insgesamt aufs gleiche hinaus-läuft)? Muß nicht mindestens eine geheime Annah-me von Sinn und Richtung einem solchen Unter-nehmen zugrunde liegen?Es ist erstaunlich, aber wie Golo Manns Werk zeigt,kann man es. Was immer das Elternhaus dazu bei-getragen hat, Fest hat dazu das Nötige gesagt, wasimmer die Emigration, der Kontakt mit angelsäch-sischer Wissenschaft, das mag hier dahinstehen.Wichtiger an der Emigration scheint jedenfalls zusein, daß er sich zwischen 1933 und 1945 außerhalbdes Landes befand, nicht im geringsten also an des-sen namenlosen Untaten teilhatte. Aber das alleswaren ja nur Bedingungen der Möglichkeit.In der »Deutschen Geschichte« liest man zu seiner,von heute her gesehen, großen Überraschung,Mann habe Freude an der deutschen Geschichte zuwecken versucht durch die Vergegenwärtigung vonEreignissen, Szenen, Gestalten, »selbst da noch, wo

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sie in ihrer Gegenwart so ganz erfreulich nicht wa-ren«. Wobei freilich unser Jahrhundert eine Ausnah-me sei, und ein Kapitel daraus eine »besondere,schwarze Ausnahme«.Gewiß sind es Kunst, Phantasie und ganz beson-ders, wie von Joachim Fest mit gutem Grund insZentrum gerückt, ein starker Gerechtigkeitssinn;Urteilskraft, möchte man hinzufügen, ja Güte, washier am Werk ist.Gewiß ist auch im Spiel, was Golo Mann zu einem»verhinderten Erzähler« macht; wobei die Verhin-derung das Interessante ist, das Problem nämlich,wie sie sich aus mangelnder Erfindungsgabe undaus der Freude an der Begegnung mit vergangenemLeben mischt – so daß einem dann nichts übrig-bleibt, als wahre Romane mit Lücken zu schreiben.Ich weiß nicht, ob jemand weiß, was vergangenesLeben so ungeheuer faszinierend macht. Warumman als Historiker, als historisch Interessierter im-mer wieder wie die Fliege vom Licht von diesenToten und ihren Verhältnissen attrahiert wird; ihrlängst verflossenes Handeln, Denken, Fühlen, Vor-stellen, ihr Irren, ihr Leiden, ihre Verzweiflung neumit Leben erfüllen muß. Warum man so getriebenist, sich unter sie zu mengen. Woher diese kurioseWirklichkeitslust erwächst, die zugleich im Wort-sinn eine Passion zu sein scheint, weshalb sie denAbstand, das Vergangensein braucht. Und das allesunbeschadet der Tatsache, daß man, als Historiker,seine Wissenschaft treibt, daß man seinem Gegen-stand distanziert begegnet – und unter Umständen

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auch durchaus theoretisch – und seiner Gegenwartdamit zu nutzen sucht. Schließlich gehört zu jenerPassion auch die Orientierungsnot.Einer der Gründe wird wohl dieser sein: So viel wirunter Umständen, bei aller Kritik, bei aller Selbst-kontrolle, in sie hineinlegen, so sehr wir, bei allembewußt eingehaltenen Abstand, mit ihnen vertrautzu werden versuchen – sie bleiben doch andere, sieleisten uns durch ihre, wenn auch vergangeneWirklichkeit einen andern Widerstand, sie fordernganz anders unseren kriminalistischen Spürsinn her-aus, als das Gestalten unserer Phantasie tun könn-ten. Aber es kommt sicher auch ein anderer Grundhinzu: daß nämlich unter den Affekten, die Histori-ker in die Geschichte weisen, nicht zum wenigstendie Trauer zu vermerken ist. Trauer nicht zuletzt alsSolidarität der Sterblichen, also der Lebenden mitden Vorangegangenen. Und daß Trauer nicht ohneLiebe sein kann. Damit steht es heute vermutlichanders als noch bei Jacob Burckhardt, dessen Inter-esse für die Leidenden sich eher als eine, obzwar re-signativ getönte, Empörung äußerte.Die Trauer aber richtet sich besonders auf die Ver-geblichkeit und das immer wieder neue Sich-Auf-raffen, jenes ungeheuerliche und nicht nur in denPersonen, sondern auch in den Geschehnissen über-aus zwielichtige Schauspiel menschlicher Behaup-tung, das sich dann mitunter geradezu ausnehmenmag wie ein Triumph über die Trauer selbst; wennauch oft genug unter tragischen Umständen. Ande-re mögen weitere Gründe wissen.

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Wenn sich dies alles mit der Souveränität, der Frei-heit eines bedeutenden Historikers verbindet, inlanger Arbeit aus der unüberblickbaren Fülle desÜberlieferten und des Erforschten die wesentlichenLinien herauszuarbeiten, im Wunsch und mit derFähigkeit, das Ganze zu einem Bild zu formen,dann offenbar vermag auch dieses Jahrhundert – mitvermindertem wissenschaftlichen Stolz und einemin notgedrungen größerer Gelassenheit abgefeder-ten Pessimismus – große Geschichtswerke hervor-zubringen.Diese Geschichtsschreibung wird der Wirklichkeitgerecht, indem sie bescheidener ansetzt. Da darfnichts sein von dem gewaltigen Strom einer vor-wärtsdrängenden Geschichte, in dem sich dem »Ge-schlecht der Menschen …, sowie es am Ziele zu ste-hen scheint, die alte Aufgabe auf weiterem Feld undin höherem Sinne neu« stellt wie bei Mommsen.Und da darf es nicht um die große, alle Gebiete um-fassende Darstellung eines ganzen Volkes anhandseiner Kulturgeschichte und unter Vernachlässi-gung der Ereignisse gehen; es muß dies auch nicht,weil Geschichte heute sich nicht gegen so große An-sprüche zu behaupten hat. Da ist vielmehr nur eineGeschichte möglich, die den Menschen nur so vielabverlangt, wie sie leisten können – das freilich inaller Entschiedenheit –, die dem Geschehen geradeauch in seiner Zufälligkeit, seiner Begrenztheit, sei-nen vielen Aporien nahekommt.Golo Mann hält sich in einer Weise, wie wohl kei-ner sonst, auf der Bühne auf. Man sieht nicht nur

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das Geschehen, sondern auch den Autor in ständi-ger Bewegung, alles von wechselnden Seiten be-trachtend, auch in verschiedene Beleuchtungen rük-kend, sich stets mit seinem Publikum ins Benehmensetzend; somit auch die Gründe vorweisend, die ihnzu diesem oder jenem – und oft genug zu diesemund jenem – Urteil veranlassen; und dann immerwieder vor dem geheimnisvoll Bleibenden innehal-tend. Da sind die Grenzen des Historikers deutlichmarkiert, aber innerhalb dieser Grenzen alles derartbelebt und derart erfüllt, daß ein Ganzes heraus-kommt, soweit es möglich ist, ein Zusammenhang,nicht unbedingt ein Sinn. Insgesamt erscheint es alsSisyphus-Arbeit, den Deutschen Freude an ihrerGeschichte zu vermitteln. Auch wenn man sichnoch erst in den sechziger Jahren befand und derAbstand, mit dem das Entsetzliche größer statt klei-ner wird, noch geringer war.Natürlich könnte man den Vergleich zwischen dendrei Historikern und insbesondere auch die Reflexi-on über die Möglichkeit – und die Notwendigkeit –von Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert sowieüber die Frage, wie sie zu leisten ist, noch immerweiter fortsetzen. Allein, es sollten hier ja nur einkleines Stück weit die Wege begangen und weiter-gegangen werden, die in den drei folgenden Essaysangelegt sind.Es sollte nur in dürren Andeutungen ein wenig vor-weggenommen werden von dem, was folgt; indemeinige wenige der Themen dieses Buches angeschla-gen werden, dessen Reichtum sich dem Leser jetzt

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erschließen soll, der Reichtum der Begegnung einesHistorikers – und Schriftstellers – mit drei anderen.Und es sollte dem Autor ein Dank gesagt werden inder Form des Aufnehmens und teilweise auch derFortsetzung seiner Gedanken und seiner Anregun-gen. Es ist ein spannendes Gespräch, in das er gera-de den, der seine Essays im Zusammenhang liest,verwickelt.Wie soll ich schließen? Vielleicht mit einem Zitataus Fests Burckhardt-Essay: »Womöglich ist derAnachronismus, der ihm verschiedentlich vorge-worfen wurde, nichts anderes als die aus aller Zeit-genossenschaft immer heraustretende Unabhängig-keit des Denkens«? Denn es sollte in dieser Einfüh-rung ja auch vom vierten Historiker, der hier imSpiel ist, einmal etwas unvermittelter die Rede sein.Vielleicht aber auch mit Burckhardt selbst: »In denWissenschaften dagegen kann man nur noch in ei-nem begrenzten Zweige Meister sein, nämlich alsSpecialist, und irgendwo soll man dieß sein. Sollman aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Über-sicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so seiman noch an möglichst vielen andern Stellen Dilet-tant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Meh-rung der eigenen Erkenntniß und Bereicherung anGesichtspuncten, sonst bleibt man in allem, wasüber die Specialität hinausliegt, ein Ignorant undunter Umständen im Ganzen ein roher Geselle«?

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Niemand entkommt seiner Zeit. Wenn es richtigist, daß die größten Männer mit ihrem Jahrhundertdurch eine Schwachheit zusammenhängen, so giltdas für die Stärke auch. Zu der von Irritationennicht freien Anziehungskraft, die das 19. Jahrhun-dert inzwischen ausübt, gehört, was der Gegenwartverloren ging: sein ins Große gerichteter Wille, dieEnergie ins Monumentale, der Hang zu gewaltigenProjekten und unerhörten Vorhaben. Balzac plantedie »Comedie humaine« auf mehr als zweihundertBände, Ranke den aus genauester Detailforschungsich erhebenden Riesenbau einer Weltgeschichte,Richard Wagner »Das Gesamtkunstwerk«: allesUnmaß, alles Parforce und über Menschenkrafthinaus. Und wie im Kulturellen verhält es sich imMateriellen mit der expansiven Tüchtigkeit derEpoche, ihrem Ehrgeiz nach neuen Entdeckungenund immer weiteren Räumen.

Vieles blieb, so über jede Proportion hinaus er-dacht und gewollt, im Ansatz stecken und nur halb-vollendet: weitgezogene Fundamente oder gran-diose Steinbrüche, aus denen sich, in Abwandlungeines Wortes von Fichte, spätere Jahrhunderte Häu-ser bauen konnten. Die Bibliographie TheodorMommsens umfaßt mehr als fünfzehnhundert Ti-tel, darunter Werke wie »Das römische Staatsrecht«

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oder »Das römische Strafrecht«, die in der gesam-ten historischen Forschung nicht ihresgleichenhaben; und in der Literatur der zweiten Jahrhun-derthälfte gibt es kaum etwas, das in seinem sprach-lichen Rang, der plastischen Vergegenwärtigungs-kraft sowie seiner konzeptionellen Weite undGeschlossenheit: mit einem Wort dem, was mangroßen Stil nennt, der »Römischen Geschichte« andie Seite zu stellen wäre.

Und doch kann man sagen, daß die Wissen-schaftsgeschichte kein Lebenswerk verzeichnet, dasso unfertig und, bei aller Tendenz zum Kolossali-schen, so bruchstückhaft geblieben ist wie dasjenigeMommsens. Nur seine kategorische Persönlichkeit,die Überlegenheit seines Interesses sowie seine ubi-quitären Kenntnisse haben diesen Sachverhalt ver-deckt. Zu fragen wäre, um welchen Preis.

Mit ihm ging ein enzyklopädisches Zeitalter zuEnde. Schon als junger Rechtshistoriker betrieb erzugleich ein ausgedehntes philologisches Studium,bildete zusammen mit Theodor Storm und seinemBruder Tycho einen Dichterzirkel, der ein »Lieder-buch der Freunde« (1843) publiziert, übersetzteShakespeare und Byron, Carducci und Victor Hu-go. Darüber hinaus widmete er sich der Geschichte,doch betrachtete er sie als Ergänzungswissenschaftzum Studium des alten Rechts und der Philologie.In ihm präsentierte sich die Altertumswissenschaft,wie sie zu jener Zeit noch ohne jede spezialisierendeBezeichnung hieß, noch einmal als Einheit, als um-fassendes, alle Lebensbereiche von der Sprache bis

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zum Recht, von der Literatur bis zur Wirtschaft ein-schließendes Ganzes; mit ihm und nicht zuletztdurch ihn bricht sie aber auch auseinander.

Man ist mit diesem Hinweis fast schon im Zen-trum des Mommsenschen Lebensproblems. DieVielseitigkeit seiner Interessen und Begabungen,seine Strenge im Detail und seine Fähigkeit zu wei-testem Überblick, seine Forscherpassion und seinedarstellerische Kraft: mit alledem war er zum Ge-schichtsschreiber wie geschaffen. Und wenn er ineiner berühmten Rede bemerkt hat, daß der Histo-riker neben einer Vielzahl von Kenntnissen auchund vor allem Unerlernbares benötige, nämlichPhantasie, Künstlertum, Genie, so kann man davonausgehen, daß er sich selber, wenn auch unter gele-gentlichen Zweifeln, dies alles zugestand. Und dochblieb die »Römische Geschichte«, die ihn weltbe-rühmt machte, nicht nur sein einziges historiogra-phisches Werk im strengeren Sinn, sondern auch einTorso. Immer wieder widmete er sich anderenPflichten, unglücklich, sich Mut zusprechend, nachGründen für die selbstentfremdende Hingabe su-chend und wie auf der Flucht vor jener Aufgabe, inder er sein »Eigenstes und Bestes« geben konnte.

Man weiß von den Lebenszufällen, denen die»Römische Geschichte« die Entstehung verdankt.In einem Brief an Gustav Freytag aus dem Jahr 1877hat Mommsen berichtet, wie er im Jahr 1849, alsjunger Leipziger Dozent, der bis dahin in Italienalte Inschriften registriert, an einem RendsburgerLokalblatt als Journalist gearbeitet und an einem

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Altonaer Mädchenpensionat als Lehrer unterrichtethatte, einen Vortrag über die Gracchen hielt. Unterseinen Zuhörern befanden sich die beiden Inhaberder Weidmannschen Verlagsbuchhandlung, KarlReimer und Salomon Hirzel, die ihn kurz daraufmit der Frage aufsuchten, ob er bereit sei, für eineEdition populärer, aber anspruchsvoller histori-scher Darstellungen eine »Römische Geschichte« zuschreiben.

Mommsen sagte zu, aber zu fragen ist wohl, obdas Vorhaben je zustande gekommen wäre, wenn ernicht kurze Zeit später den Universitätsdienst hättequittieren müssen, weil er an den Leipziger Unru-hen vom Mai 1849 führend beteiligt gewesen war.Otto Jahn, auf den die Berufung zurückging, hattedem Freund gleich anfangs den Ratschlag gegeben,»für den deutschen Salat mehr Öl als Essig« aufzu-bringen, aber Mommsens leidenschaftliches politi-sches Temperament war für die Besonnenheit, wiesie ihm da nahegelegt wurde, nicht gemacht. Baldsah er sich mit seinem jähen, im Grunde einzelgän-gerischen Liberalismus, der die Demokraten als dieVertreter des »souveränen Unverstands« verspotte-te und die Regierung bezichtigte, sich dem deut-schen Einheitswillen zu widersetzen, zwischen alleStühle geraten. Die letzten Monate in Leipzig unddie zwei anschließenden Jahre in Zürich, inmittenzahlreicher Emigranten, deren Radikalismus ihm,wie er in einem seiner mißvergnügten Briefeschrieb, nur als die laut geratene Spielart der ausDeutschland bekannten servilen Haltung erschien,

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gaben dem ins Abseits Gedrängten die Muße, sichder »Römischen Geschichte« zu widmen und dieArbeit daran in wesentlichen Partien voranzutrei-ben.

Diese äußeren Umstände waren aber gewiß nichtentscheidend für den Entschluß, das Buch zu schrei-ben; sie begünstigten ihn nur. Ein großes Werk be-darf der ebenso großen Herausforderung, die ästhe-tischer, politischer oder wissenschaftlicher Natursein kann. Im Fall der »Römischen Geschichte«treffen, wie der genauere Blick lehrt, alle drei Be-weggründe zu.

Die Darstellung des Altertums war um die Jahrhun-dertmitte vor allem vom Werk Barthold GeorgNiebuhrs bestimmt, der, wie dann auch PhilippAugust Boeckh und einige andere, die ersten Ansät-ze zur Überwindung der klassizistischen und ästhe-tischen Betrachtungsweise jener Epoche geleistethatte. Die eigene Position im Widerspruch gegendas herrschende Kultbild der Antike formulierend,war ihnen aufgegangen, daß die Alten nicht jenefeierlich stimmenden Statisten des Wahren, Gutenund Schönen waren, zu denen die eigentlich deut-sche Renaissance des 18. Jahrhunderts sie stilisierthatte, und daß beispielsweise »die Athener von Ger-ste und Weizen lebten, nicht etwa von Poesie undPhilosophie«. Von tiefem Soupqon gegen dieTugend- und Heldenbilder des »klassischen Alter-tums« erfüllt, ausgerüstet mit der Fähigkeit zudurchdringender Kritik sowie dem Sinn für die

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politische und menschliche Realität, setzten sie dervon Winckelmann geprägten Idealvorstellung deralten Welt eine nüchternere Auffassung entgegen,Empirie gegen Mythos, Wissenschaft gegen wirk-lichkeitsentrückte Poesie.

Aber diese Umarbeitung einer ebenso majestäti-schen wie populären Legende war in vielfacher Hin-sicht in den Anfängen steckengeblieben. Zwar ver-fügte Niebuhr über ein breites Wissen, das er als Fi-nanzfachmann und später als Diplomat noch umzahlreiche praktische Erfahrungen erweitert hatte.Aber sein kritischer Vorsatz, »abgerissene und ärm-liche Nachrichten mit Sorgfalt und Anstrengung

… zu ergründen, zu verbinden und zu beleben«,hatte sich noch zu sehr durchs Gestrüpp falscheroder apokrypher Überlieferungen kämpfen müssenund war deshalb auch über die frühe Periode der rö-mischen Geschichte, die Zeit bis zum Ersten Puni-schen Krieg, nicht hinausgekommen. Schwererwog, daß ihm die wissenschaftlich zureichendeKenntnis des Rechts fehlte, das, unverfälschbar wiees seiner Natur nach war, der Auffassung Momm-sens zufolge, weitaus verläßlichere Auskunft bot alsalle anderen Quellen: »Es bedarf der Auseinander-setzung darüber nicht, daß die Verfassung und ihreWandlungen eben die Geschichte selber sind.« DasRecht setzte die Institutionen, regelte die öffentli-chen wie die privaten Angelegenheiten, es war derreinste, konzentrierteste Ausdruck jenes vergange-nen Lebens, dessen Vergegenwärtigung die Auf-gabe des Historikers war, zumal kein Volk der Ge-

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schichte so sehr zum Recht begabt war, so sehr imRecht sein Lebenselement gefunden hatte wie dasrömische. Erst das Recht öffnete den authentischenZugang zum Ganzen, den Inschriftenkunde undNumismatik, Archäologie und Papyrologie ebensoerweiterten wie die Zeugnisse der Literatur und derbildenden Kunst.

Hinzu kam, daß Niebuhrs Werk in einem um-ständlichen, gespreizten Stil verfaßt war, durchwu-chert vom Dickicht gelehrter Nachdenklichkeiten,ein »Labyrinth von Seyn und Nicht-Seyn«, wieGoethe schrieb, »von tausend Gegensätzen undWidersprüchen«, dessen Titel eigentlich nicht »Rö-mische Geschichte« hätte lauten dürfen, sondern»Kritik der Schriftsteller, welche uns die römischeGeschichte überlieferten«. Nicht nur die eigeneAusdrucksbegabung, die Mommsen während sei-ner journalistischen Tätigkeit mit rasch wachsenderFreiheit erprobt hatte, sondern auch das VorbildThomas Babington Macaulays offenbarten ihm,daß dem unbefangenen Zugriff, der die Wissen-schaft mit sprachlicher und dramaturgischer Mei-sterschaft verband, ganz neue Wege historischerDarstellung offenstanden. Mommsen hat denn auchwiederholt geäußert, daß der Geschichtsschreibermehr vom Künstler als vom Gelehrten haben müs-se; daß er »nicht in möglichster Vollständigkeit dasTagebuch der Welt wiederherzustellen« habe, son-dern das Gewesene durch jene Phantasie vergegen-wärtigen müsse, »welche wie aller Poesie so auchaller Historie Mutter ist«.

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Dieser Kunstgedanke erfüllt die »Römische Ge-schichte« im einzelnen wie im ganzen, und ihr Er-folg hat ebenso damit zu tun wie die prinzipielleKritik, auf die sie seit ihrem Erscheinen immer wie-der gestoßen ist. Die Fähigkeit, das Geschehene imVordergrund auf große Zusammenhänge zu be-ziehen, der glanzvolle Satz- und Periodenbau samtden rhetorischen Figuren von Wiederholung, Wort-spiel, Zitat oder sentenzhafter Verdichtung, derspannungssteigernde Einsatz andeutender Vorgriffeoder retardierender Einschübe, der Reichtum anBildern und glücklichen Metaphern oder die Kunstder Charakterisierung, die von Hannibal wie vonScipio Africanus, von Sully, Gracchus, Sertoriusund vielen anderen unvergeßliche Porträts gezeich-net hat: Mit alledem hat Mommsen das tote Mate-rial, dem sich jeder Historiker gegenübersieht, zuanschaulichstem Leben erweckt und aus Staub undAsche die alte Welt in allen ihren Farben wiederer-stehen lassen.

Mommsens Kapitelanfänge schlagen nicht seltenschon im sprachlichen Gestus den Ton des Kom-menden an, die beschließenden Sätze sind, demAktschluß eines Schauspiels vergleichbar, häufigauf den großen Effekt hin stilisiert oder, wie manfast sagen könnte, inszeniert, wie Mommsen dennüberhaupt mehr Dramatiker als Erzähler ist, der dieAbläufe komprimiert, die Positionen schroff gegen-einanderführt und die grellen Kontraste liebt.

Unter den vielen Distanzen, die ihn von Ranketrennen, ist diese nicht die geringste, und noch lan-

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ge nach Erscheinen des ersten Bandes der »Römi-schen Geschichte« beispielsweise quält der Gedankeihn, daß das Buch keinen wirkungsvollen Schlußhabe.

Durchweg zieht Mommsen, in der Kennzeich-nung einer Person oder eines Sachverhalts, diescharf modellierende, womöglich schneidende For-mulierung der episch beschreibenden Schilderungvor, immer befindet er sich mit ganzer Person mit-ten im Geschehen, und mitunter hat der Leser An-laß zu der Frage, was eigentlich dem Autor ebenden Abstand gewähre, dessen jede historische Dar-stellung bedarf: das wissenschaftliche Ethos oderder schriftstellerische Instinkt. So wenn er beispiels-weise noch dem verächtlichsten Charakter oder derverlorensten Sache einige ausgleichende Lichtpunk-te aufsetzt – ein Verfahren, das die ästhetische Regelebenso wie die historische Abgewogenheit des Ur-teils für sich hat.

Von Cato, über dessen Unbeugsamkeit und Prin-zipienstarre er Seite um Seite mit der Verständnislo-sigkeit eines Mannes urteilt, der sichtlich nichtwahrhaben will, daß auch der Widerstand gegen dieeigene Zeit sein Recht und seine Würde haben kann,den er als »Don Quichotte der Aristokratie« demSpott preisgibt, bemerkt er in einer resümierendenSchlußbetrachtung: »Die Republik war tot und nie-mals wieder ins Leben zu erwecken; was sollten dieRepublikaner noch auf der Erde? Der Schatz wargeraubt, die Schildwache damit abgelöst; werkonnte sie schelten, wenn sie heimging? Es ist mehr

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Adel und vor allem mehr Verstand in Catos Tode,als in seinem Leben gewesen war. Cato war nichtsweniger als ein großer Mann; aber bei aller jenerKurzsichtigkeit, jener Verkehrtheit, jener dürrenLangweiligkeit und jenen falschen Phrasen, die ihn,für seine wie für alle Zeit, zum Ideal des gedanken-losen Republikanertums und zum Liebling aller da-mit spielenden Individuen gestempelt haben, war erdennoch der einzige, der das große, dem Untergangverfallene System in dessen Agonie ehrlich und mu-tig vertrat … Weil alle Hoheit und Herrlichkeit derMenschennatur schließlich nicht auf der Klugheitberuht, sondern auf der Ehrlichkeit, darum hatCato eine größere geschichtliche Rolle gespielt alsviele an Geist ihm weit überlegene Männer.« Undvon den Samniten, die sich ähnlich blind gegendie vom Autor erkundeten Notwendigkeiten derGeschichte, der Einigung der italienischen Völkerdurch Rom, noch widersetzten, als sie ganz alleinstanden, heißt es: »Sie rüsteten sich zur hoffnungs-losen Gegenwehr mit jenem Mut freier Männer, derdas Glück zwar nicht zwingen, aber beschämenkann.«

Gewiß war in solcher sprachlichen Verzaube-rung, die einherging mit einer entschlüsselndenKraft der Erkenntnis, ein Gutteil des Erfolges be-gründet, den die »Römische Geschichte« bei einemliterarisch empfänglichen Publikum gefunden hat:»Die Republik schwankte nicht mehr bloß am Ran-de des furchtbaren Strudels, sondern der Schwer-punkt lag bereits über denselben hinaus, und der

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mächtige Bau, aus allen Fugen weichend, stürzteunaufhaltsam in die Tiefe.« Solche bildkräftigenMetaphern gehörten, solange das Bürgertum war,was es war, zum festen Bildungsbestand.

Aber dies war es nicht allein. Der Glanz der For-mulierungen kam weit eher und weit häufiger nochaus der Sicherheit des Urteils; aus der unbedingtenGewißheit des Autors, die Kräfte des historischenProzesses und folglich die Intention der Geschichteselber genauer als andere erfaßt zu haben. Es zähltschon zu den auffallenden Ausnahmen, wennMommsen beispielsweise über die Kämpfe derGracchen-Zeit schreibt, »Recht und Schuld, Glückund Unglück [seien] so ineinander verschlungen,daß es sich hier wohl ziemen mag, was der Ge-schichte nur selten ziemt, mit dem Urteil zu ver-stummen«. Die Regel dagegen bilden die ganz undgar apodiktischen Richtsprüche, die er über die Ak-teure und nicht selten auch über abweichende Auf-fassungen fällt.

Vielleicht wird nirgendwo Nähe und AbstandMommsens zur Gegenwart so deutlich wie an die-sem Punkt. Eine breite historische Literatur hat unsdamit vertraut gemacht, daß die Geschichte sich imnachhinein leicht als ein Gewebe aus Irrtum,Schwäche, Blindheit und Versagen durchschauenläßt. Aus der vermeintlichen Höhe der Spätergebo-renen, fern den Verworrenheiten des zurückliegen-den Geschehens, seinem unendlich komplexenKräftedurcheinander und den mühseligen Entschei-dungslagen von ehedem, scheint, was der Augen-

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blick verlangte, wie mit Händen zu greifen. Aussolcher Sicht nehmen sich alle Verstehenskategorienwie ein Akt der Untreue am Richteramt des Histo-rikers aus. Odo Marquard hat, für unsere Zeit, sehrtreffend von der »Tribunalisierung der Geschichte«gesprochen, diesem dauernd neu angestrengtenVerfahren aus dem Bewußtsein überlegener Ein-sicht, durch das dem Wort vom »Prozeßcharakter«der Vergangenheit ein neuer, überraschender Sinnzugekommen ist. Und Mommsen selber hat, inganz ähnlicher Weise, die Geschichte »recht eigent-lich ein Totengericht« genannt.

Der Abstand bleibt gleichwohl unübersehbar.Mommsens Weltbild war noch ganz dem 19. Jahr-hundert verhaftet, der Vorstellung, daß der Menschgrößer sei als die Verhältnisse, nicht ihr Produkt,sondern ihr Beherrscher. Eine scharf umrisseneIdealfigur tritt aus allem Urteilen hervor: einsichts-fähig, die eigene sittliche Vervollkommnung alsPflicht begreifend und mit dem Willen zu überper-sönlichen Zwecken ausgestattet. Roms Aufstieg zurWeltherrschaft war eben deshalb für Mommsen niezweifelhaft, weil er diesen Typus in der Stadt wiebei keiner der konkurrierenden Gegenmächte vor-herrschend sah; entscheidend gewesen sei die »sittli-che Energie, welche die Welt beherrscht, weil siesich selber zu beherrschen weiß, welche den einzel-nen aufhebt in dem größeren Ganzen und den engenEgoismus zum Nationalsinn läutert, diese eigent-liche Herrlichkeit und Gewaltigkeit der Menschen-natur, auf der der Staat ruht«.

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Mommsens permanent hoher, wie von heißemAtem erfüllter Ton hat die Vergangenheit ganz insGegenwärtige geholt und zugleich idealistisch über-baut. Damit kam er in einer Zeit der erwachten,zwar von mannigfaltigen Gegenkräften behinder-ten, aber doch als unaufhaltsam empfundenen Na-tionalstaatsidee mit einem romantischen Reichspro-spekt im Hintergrund den überschwenglichsten Er-wartungen entgegen. Die »Römische Geschichte«ist davon auch ein Spiegel, und ein Stimulans solltesie zudem sein. Auch das gehört zu ihrer Wirkungs-geschichte. Oder wie anders war es zu verstehen,wenn Mommsen angesichts einer der großen histo-rischen Entscheidungen Roms, dem Entschluß zumKampf gegen Karthago, schreibt: »Es war einer derAugenblicke, wo die Berechnung aufhört und woder Glaube an den eigenen Stern und an den Sterndes Vaterlandes allein den Mut gibt, die Hand zufassen, die aus dem Dunkel der Zukunft winkt, undihr zu folgen, es weiß keiner wohin.«

Die »Römische Geschichte« war und ist, auf einezeitgenössische Formel gebracht, »Historiographieengagec« reinsten Geistes, und nie jedenfalls isteinem Werk großer Geschichtsschreibung auf ein-drucksvollere Weise die Widerlegung des Satzes ge-lungen, daß Geschichte »sine ira et Studio« darzu-stellen sei: Sie sei, wie Mommsen erklärt hat, sowenig ohne Haß und Liebe zu schreiben, wie sie oh-ne Haß und Liebe gemacht werde. Die Vergangen-heit war, wie er es sah, vom gleichen Stoff wie dieGegenwart, nur Kostüm und Kulisse hatten ge-

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wechselt, eine Art Katalaunisches Feld, auf dem diegleichen Widersacher ohne Ende aufeinandertrafen,er selber mitten unter ihnen, streitend, leidend, par-teinehmend und mitunter sogar den Eindruck er-weckend, er wolle, was als historisches Faktumdoch unabänderlich war, zuletzt noch wenden. DieFiktion einer unbestechlich über die Geschichterichtenden Moral, aus deren Geist die Aufklärer bishin zu Schlosser schrieben, hat er ebenso preisgege-ben wie den Anspruch der »Objektivität«, und aufdiese Weise, was er an Besonnenheit opferte, an In-tensität vielfach zurückgewonnen.

Diese Tendenz zur äußersten Vergegenwärtigungder Geschichte kommt auf der begrifflichen ebensowie auf der politischen Ebene zum Vorschein. DerConsul wird zum »Bürgermeister«, der Proconsulzum »Landvogt«; es gibt »Generale« und »Admi-rale«, eine »Landwehr«, »Bataillone« und »Schwa-dronen«; Mommsen spricht von »Ingenieuren«,»Kapitalisten«, »Fabrikarbeitern«, von »Primadon-nen« und »Kurtisanen«. Daß diese Übersetzung insGegenwärtige aber nicht allein von der Absicht be-stimmt war, »die Alten lebendig zu machen, sie vondem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Massedes Publikums erscheinen, in die reale Welt … zuversetzen«, wird überall dort deutlich, wo Momm-sen politische, mit einem bestimmten Affektgehaltbesetzte Begriffe ins Altertum überträgt. Die Popu-lären werden zu »Anhängern der Volks- oder Fort-schrittspartei«, die Aristokraten zu »Junkern«, dieLinken heißen »bornierte Radikale«, die Rechten

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»Ultras«. Einen Schritt weiter bezeichnet er dasRom der Oligarchie als »Räuberhöhle«, spricht vondem »notorisch feilen Senatorengesindel«, von der»demokratischen Servilität, die zu allen Zeiten mitder höfischen gewetteifert« habe oder vom »Prole-tariat« mit »seiner Fratze der Volkssouveränität«.

Dieser Mommsensche »Gegenwartseifer« ist sobeherrschend, daß man nicht ganz ohne Grund be-haupten konnte, das Werk sei ihm weniger wichtiggewesen als das Wirken; er selber hat das in die Be-merkung gekleidet, es sei ihm mehr daran gelegen,»die sittlich-politische Tendenz meiner Arbeit aner-kannt zu sehen als ihren gelehrten Wert«. Durch-schlagend bleiben der Zorn und die Enttäuschungeneines Liberalen der vierziger Jahre des 19. Jahrhun-derts, der sich um seine Hoffnungen auf einen frei-heitlichen, nach innen gerechten, nach außen star-ken Einheitsstaat betrogen sah. »Mommsen konntekeine Seite Geschichte lesen«, hat Friedrich Gun-dolf geäußert, »ohne daß seine zeitgenössischenWunschbilder und Fratzen ihm vorschwebten …Da er seine Nöte im Altertum wiederfand, so weilteer dort nicht nur wie ein Humanist und Polyhistor,der sich in schönere Ferne geflüchtet unter erhabeneTrümmer, sondern als Hausherr. Keinem war je dasrömische Altertum so sehr vertrauter Umgang –den Schauer der Vorzeit, die Andacht zum Alter-tum als einem Altertum, die den Humanisten inne-wohnte, kannte Mommsen nicht mehr – ja er hat siezerstört und ersetzt durch die abstandslose Gegen-wart.«

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Merkwürdig zu denken, daß dieser politischeKopf mit seinem leidenschaftlichen Drang, dieKämpfe von einst noch einmal auszutragen, aus derRichtung Niebuhrs kam und Inschriftensammlung,Dialektforschung sowie strengste Quellenkritikzum Zwecke der Entmythologisierung des Alter-tums betrieb. Von noch größerem Gewicht als alleerwähnten Aspekte, unter denen er das Werk desVorgängers hinter sich ließ, war vermutlich, daß erauch mit dessen von der Überlieferung legitimier-ten Perspektiven brach.

Schon die Römer hatten ihre Geschichte im Sinneeines ebenso einfachen wie naheliegenden Deka-denzschemas interpretiert: Den Beginn machtenjene frühen, aus unverdorbenem Dämmer empor-tauchenden Zeiten, in denen moralische Stärke undpolitische Kraft das Wohl des Gemeinwesens eben-so wie dessen machtvolle Entfaltung befördert hatte,ehe nach einem kurzen und glanzvollen Höhe-punkt das eine wie das andere, sich wechselweiseuntergrabend, in Ermattung, Verfall und ein lang-anhaltendes, von inneren und äußeren Desasternvorangetriebenes Sterben überging.

Mommsen kehrte dieses Schema zwar nicht ein-fach um; kein Hegelianer, aber doch in der LuftHegels aufgewachsen, versuchte er vielmehr aufzu-zeigen, daß jede Epoche der römischen Geschichtemit einer nahezu gesetzlichen Zwangsläufigkeit ausden Triebkräften der vorausgegangenen Phase her-vorgehe: dem unter wechselnden Vorzeichen be-schwichtigten Konflikt zwischen Patriziern und

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Plebejern oder, wie es sehr modern schon heißt,zwischen Kapital und Arbeit, der in zunehmendkrisenhafteren Zuspitzungen ein unübersehbaresSklavenproletariat schuf, den Mittelstand ruinierteund das römische Gemeinwesen schließlich an denRand des Abgrunds trieb. Aber indem er seine Dar-stellung mit Cäsar enden, ja seine gesamte Konzep-tion auf ihn: den schlechthin vollkommenen Men-schen, wie er dem Historiker nur alle tausend Jahreeinmal begegne, zulaufen ließ, kam es doch auf eineArt Umkehrung hinaus, und jedenfalls ist durch alleWirren, Kämpfe und Intrigen, alle Bedrängnisseund Auflösungserscheinungen, die das Rom der un-tergehenden Republik ausmachen, ein apotheoti-scher Ton unüberhörbar.

Denn Cäsar ist der Held dieser Geschichte, dermenschlich wie politisch gleichermaßen grandioseZielpunkt einer Weltkultur: ein männlicher Cha-rakter, stolz, leidenschaftlich und großmütig; alsPolitiker ein Realist, dem »alle Ideologie und allesPhantastische … fern lag«, und als Staatsmann so-wohl mit der Einsicht wie mit der Fähigkeit ausge-stattet, »den ausgefällten Spruch der geschichtlichenEntwicklung« zu vollziehen. Alle Gegensätze derZeit wie der menschlichen Natur waren in ihm ver-eint und aufgehoben: »römische Energie und grie-chische Bildung, Wille zur Herrschaft und Gewährder Freiheit, Sachverstand und Phantasie, Ent-schlossenheit und Milde«, und mit alledem »regierteer die Gemüter der Menschen wie der Wind die Wol-ken zwingt«. Noch keinem sei es gelungen, meinte

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Mommsen schließlich, nicht ohne einen Untertonresignierender Bewunderung, das Bild dieses Man-nes anschaulich wiederzugeben: »Das Geheimnisliegt in dessen Vollendung.«

Gewiß hat Mommsen auch sein Cäsarporträt miteinigen Schattenpunkten versehen, aber nie hat manso deutlich wie in diesem Falle das Gefühl, daß esvor allem geschieht, um den Glanz der Figur nochstrahlender hervortreten zu lassen, und jedenfallsplagten ihn die pathetischen Zweifel nicht, dieschon bei Cicero greifbar sind und die – von Petrar-ca bis Voltaire und Edgar Quinet – noch jeder emp-funden hatte, der Cäsars überragende Gaben mitdem Gebrauch zusammenzureimen versuchte, dener vor allem mit dem Entschluß zum Bürgerkriegund zur Errichtung eines autokratischen Regimesdavon machte. Die tieferen Schatten holte Momm-sen sich vielmehr aus der krisenhaft verdüstertenSzenerie sowie vor allem von Cäsars Gegenspielern:von Pompejus oder dem jungen Cato etwa, vorallem aber von Cicero, gegen dessen jahrhunder-telang nahezu unangefochtene Autorität er seineganze literarische Verführungskunst sowie sein ad-vokatorisches Ingenium in so glanzvoller Weise auf-geboten hat, daß selbst das bessere Wissen nichtselten davon geblendet und überwältigt wird.

Die historische Stichhaltigkeit dieses Cäsarbil-des ist häufig und mit triftigen Gründen bestrittenworden; doch man tut gut daran, die dahinter wirk-same Geschichtsvorstellung selber als ein StückGeschichte zu betrachten. Wieviel Überwältigung

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durch das Einzigartige, wieviel staunende Lust ander Erscheinung in dieses Porträt auch eingegangensein mag: Kein Zweifel kann sein, daß eine elemen-tare politische Sehnsucht daran mitgewirkt hat.Verschiedentlich ist die Auffassung vertreten wor-den, Mommsens Cäsar sei ohne die ErscheinungNapoleons, der die Welt erst kurz zuvor gelehrt hat-te, was ein einzelner über den Geschichtsverlaufvermag, nicht zu denken, und einiges spricht dafür,daß er sich von einem Mann solcher Art die Zau-berformel für die hoffnungslos blockierten deut-schen Verhältnisse versprach.

Die Erfahrung des Jahres 1848 hatte ihn jedenfallsgelehrt, daß die Nation sich die Einheit nicht selbergeben, sondern nur durch einen rücksichtslosenWillen zusammengezwungen werden konnte. Ganzseiner Zeit und einem ihrer zentralen Gedanken ver-pflichtet, hat er das Ziel selber nie in Frage gestelltund in der staatlichen Einheit nicht nur die über-legene politische Organisationsform gesehen, son-dern auch eine höhere Stufe der Entwicklung: Erstdie Veranlagung zum Staat bewies die Kulturbega-bung einer Nation und war ihre Rechtfertigung vorder Geschichte.

Wie hoch Mommsen dieses Ziel bewertete, wirdan den Härten deutlich, die er dafür in Kauf zu neh-men bereit war. In dem mit bewegter Sympathieentworfenen Porträt Sullas beispielsweise hat erdessen Einigungswerk mit dem Bemerken kom-mentiert, es sei »mit endloser Not und Strömen vonBlut dennoch nicht zu teuer erkauft« gewesen. Sei-

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ne fast beziehungslose Fremdheit gegenüber derWelt der griechischen Stadtstaaten, sein Hohn überihre »zwerghafte Vergrößerungssucht«, ihren stör-risch würdelosen Egoismus im Umgang mit derWeltmacht Rom, geht nicht zuletzt auf deren Un-vermögen zurück, über die engsten Verhältnissehinauszudenken und einen ins Große zielenden poli-tischen Willen sei es selber zu entwickeln, sei es vonaußen hinzunehmen. Das »Treiben«, vermerkt ermit deutlicher Geringschätzung, »hätte Anspruchwo nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenndie Führer [der Achäer] zum Kampf entschlossengewesen wären und der Knechtschaft der Nationden Untergang vorgezogen hätten; aber weder [dieeinen noch die anderen] dachten an einen solchenpolitischen Selbstmord – man wollte wo möglichfrei sein, aber denn doch vor allem leben.« Aus dergleichen Vorstellungswelt stammt die Äußerungdes Politikers Mommsen: »Wenn der nationale Staatjede Wunde heilen kann, darf er auch jede schla-gen.«

Vor diesem Hintergrund hat man den häufig be-mängelten moralischen Relativismus dieses Cäsar-bildes zu sehen. Bezwungen von der menschlichenund historischen Größe seines Helden, hat Momm-sen ihm fast alle seine liberalen und demokratischenÜberzeugungen geopfert und gleichsam Vollmach-ten ausgestellt, die, gerade wegen der offenkundigpolitischen Intention seines Werkes, auch der er-schlichenen oder trügerischen Größe beim Publi-kum zugute kamen. Denn an der Machtfülle, über

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die Cäsar vom Jahre 45 an als Dictator perpetuusund Imperator, als Pontifex maximus, Träger dertribunizischen Gewalt und Oberster Gerichtsherrgebot, fiel für Mommsen weniger der Verlust derFreiheit als der Gewinn ins Gewicht, den der zu engund handlungsunfähig gewordene römische Natio-nalstaat im Übergang zum Weltstaat davontrug.Cäsar vollstreckte nur, was der »heilige Geist derGeschichte« verlangte, wie Mommsen verschie-dentlich mit einer wiederum fast hegelianischen Er-griffenheit formuliert hat. Im übrigen hat er dieFormel für die Größe Cäsars, neben dem Persön-lichkeitszauber, auf den Mann des Staates und densozialen Gesetzgeber verlagert und auch darin wie-der jenes Idealbild kenntlich gemacht, das er in dieVergangenheit projizierte und für die Gegenwarterhoffte.

Man hat damit schon einige der Gründe für dieviel erörterte Streitfrage zur Hand, warum Momm-sen die »Römische Geschichte« nicht weiterschrieb,sogar den dritten Band nicht mit der ErmordungCäsars enden ließ, sondern mit dessen Sieg beiThapsus, der ihm die Alleinherrschaft sicherte: DieFeier des großen Mannes konnte durch die Umstän-de seines Endes, die Motive der Verschwörer, nurSchaden nehmen, und mit ganz ungewohntem, fastergreifendem Sentiment hat Mommsen später be-kannt, er habe Cäsar nicht sterben lassen können.Es ist nur die andere Seite der gleichen Empfin-dung, wenn er seine Unlust, die Arbeit in die Kai-serzeit hinein fortzusetzen, mit der Verlegenheit

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begründete, den »unter der Schale elender Hofge-schichten sich verbergenden Kern herauszuschälen«und eine »Geschichte der Menschheit unter den rö-mischen Kaisern« zu entdecken.

Denn von dieser Geschichte der Menschheit soll-te die Fortsetzung handeln. Gerade indem er amEnde des dritten Bandes aus der Krise den Mannhervorgehen ließ, der die Fliehkräfte der verfallen-den Republik auffing, bündelte und in eine neueDynamik umwandelte, machte er seine konzeptio-nelle Vorstellung für den weiteren Verlauf desWerks erkennbar: daß er im Ende der Republik zu-gleich den Anfang einer neuen Weltepoche Romssah, deren Ausgangspunkt und groß ansetzendesVersprechen niemand anderes als Cäsar war. Auchweiß man, daß er über das historische Material auchund gerade der Kaiserzeit souverän gebot; die vonAlexander Demandt kürzlich aufgefundene Kolleg-mitschrift hat noch genaueren Aufschluß darübergebracht, und bei der ungemeinen Schnelligkeitseines Arbeitens wäre die Fortführung und Voll-endung des Werkes eine Sache von vergleichsweisekurzer Dauer gewesen.

Angesichts dieser und zahlreicher weiterer Grün-de macht es um so mehr erstaunen, daß Mommsenschon bald nach dem Abschluß des dritten Ban-des der »Römischen Geschichte« den erschrecktenFreunden erklärte, das Werk werde wohl für immerein Torso bleiben. Hier soll nicht die ewige Kontro-verse aufs neue ausgebreitet, vielmehr auf denschroffen psychologischen Widerspruch hingewie-

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sen werden, in den Mommsen damit zu sich selbertrat. »Ich habe … mein Bestes und mein Eigenstesin dieses Buch gelegt«, hat er bei Gelegenheit be-merkt, das heißt die Fähigkeit, ein immenses De-tailwissen zu groß entwickelten Konzeptionen zuordnen, die schriftstellerische Kraft sowie insbeson-dere die politische Leidenschaft eines Mannes zurGeschichte, der nach einem treffenden Wort demLicht der Erkenntnis weniger die Helle als die Glutentnahm: All das ließ er fallen und kam auch niemehr darauf zurück. Denn der sogenannte fünfteBand über die Provinzen des römischen Reiches,den er rund dreißig Jahre später gleichsam nach-schob, führte das Werk nicht eigentlich fort, son-dern fügte ihm lediglich einige buchstäbliche Rand-kapitel hinzu. Während des fast halben Jahrhundertsnach Erscheinen der »Römischen Geschichte« hatMommsen seine gewaltige Arbeitsenergie fast aus-schließlich der Forschung gewidmet. »Der Histori-ker«, hatte er einmal geschrieben, »soll uns nichtVorarbeiten, Excerpte geben, sondern seine Ansichtüber den Gegenstand«; jetzt zog er sich selbst in dieBeschäftigung mit den Vorarbeiten und Exzerptenzurück.

Mommsen hat seinen Abschied von der Ge-schichtsschreibung später mit dem Verlust der»Unbefangenheit und Unverschämtheit der jungenMenschen« oder, positiv gewendet, der »heiligenHallucination der Jugend« begründet, mit dem ver-minderten »coraggio d e̓rrare«, wie es in einemBrief an einen italienischen Freund heißt, sowie der

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abhandengekommenen Bereitschaft zu »fragwürdi-ger Gewißheit und subjektiver Willkür« – und mitalledem den Widerspruch nur noch krasser heraus-gestellt. Es ist der Widerspruch eines Menschen, dernicht nur über zwei gleichstarke Begabungen ver-fügte, sondern dessen Leben auch die Bruchstellezweier wissenschaftsgeschichtlicher Perioden über-spannte.

Für die ältere, bis auf die Antike zurückgehendeMethode war die Absicht bestimmend gewesen,das gesamte historische Wissen in großen, einsichts-vermittelnden Zusammenhängen darzustellen. IhrAnspruch zielte auf die Verbindung von Faktum,Deutung und hoher literarischer Form. Durch diekritische Geschichtsauffassung, wie sie mit Nie-buhr, Boeckh und Droysen einsetzte, geriet vonden Dreien das Faktum zunehmend in Verdacht,und mit dem Gefühl, daß »wir alle mehr oder weni-ger nur auf gut Glück hin unser Netz in dieses Meerwerfen«, wurde zugleich das Bedürfnis wach, derhistorischen Wissenschaft jene gesicherten Grundla-gen zu verschaffen, durch die sie sich erst als Wis-senschaft auswies. Bezeichnenderweise begannen inItalien, Frankreich und Deutschland etwa zur glei-chen Zeit jene ehrgeizigen Unternehmungen, dasauf die Gegenwart gekommene, in alle Winde ver-streute und vom Verlust bedrohte historische Mate-rial zu sichern und systematisch zu erfassen.

Ein vehementer, als Zeittendenz zu fassender»Trieb zur Empirie« kam darin zum Ausdruck, indessen Zeichen auch Mommsens wissenschaftliche

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Anfänge gestanden hatten. Schon seine ersten dreiVeröffentlichungen, noch während des Studiumsverfaßt, stützten sich überwiegend auf epigraphi-sches Material, desgleichen ist eines der zwei Kapi-tel seiner Dissertation der Erklärung einer lateini-schen Inschrift gewidmet, und wie ursprünglich,fast unabgeleitet, diese archivarische Leidenschaftwar, geht beispielsweise daraus hervor, daß er be-reits in seiner Schulzeit auf die Wahrnehmung hin,Goethes »Clavigo« habe bei seinem Erscheinen grö-ßeres Aufsehen erregt als der »Faust«, sogleich denPlan faßte, alle Belege dafür zusammenzutragen,»bevor sie verloren gingen«. Bald darauf machte ersich daran, eine Sammlung von Liedern und Zeug-nissen der Volkspoesie anzulegen sowie, zusammenmit Theodor Storm, Sprichwörter und Sagen ausSchleswig-Holstein aufzuzeichnen.

Es war denn auch nichts anderes als die Auswei-tung dieses frühen romantischen Interesses in deneigenen Lebensplan, daß er sich während seines er-sten Italienaufenthaltes, als Stipendiat des dänischenKönigs, auf eine Anregung Bartolomeo Borghesishin, entschloß, die in Neapel lagernden alten In-schriften zu sichten und zu katalogisieren. Und eswar nur der weitere folgerichtige Schritt auf demgleichen Wege, daß er schon damals den Vorsatzfaßte, alle auf Stein, Metall oder anderem Materialerhaltenen lateinischen Inschriften methodisch zusammeln und in einem umfassenden Werk nachdem Urtext zu veröffentlichen: eine Aufgabe, dieihm erst nach zehn Jahren zermürbender Auseinan-

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dersetzungen, Professorenintrigen und Quertreibe-reien übertragen wurde, deren Bewältigung indesseinen eigentlich wissenschaftlichen Ruhm begrün-det hat.

Die Behauptung ist sicherlich nicht übertrieben,daß wir von jenem Rom, über das die antiken Hi-storiker nicht berichten: dem privaten Dasein derMenschen, ihren alltäglichen Beschäftigungen, ih-ren Vergnügungen und Vereinigungen, ihremRecht, ihren Sitten, Geschäften und Umgangsfor-men bis hin zu ihren Jenseitserwartungen nur wenigwüßten ohne Mommsens aus allen Gegenden deseinstigen Imperium Romanum von Trümmerstät-ten, Grabsteinen und Tempelresten kopierten, ausalten Bibliotheken und Museumsdepots zusam-mengetragenen Corpus lateinischer Inschriften.

Bedeutung und fast legendärer Rang dieses Wer-kes sowie der zahlreichen anderen, von Mommsenangeregten Quellensammlungen: der »Auetores an-tiquissimi«, der »Chronica Minora«, dem »CorpusNummorum« oder »Papyrorum«, um einige weni-ge zumindest zu erwähnen, haben darüber hinausaber auch entscheidend dazu beigetragen, der Wis-senschaftsentwicklung eine neue Richtung zu ge-ben. Hatten Erforschung und Ordnung des Quel-lenstoffes bis dahin ihre Rechtfertigung nur ausihrer fundamentierenden Funktion für die histori-sche Darstellung bezogen, so wurden sie jetztgleichsam selber fundamental. In den Vordergrundrückte ein sich selbst genügendes antiquarisches In-teresse, das kein übergeordnetes Ziel mehr kannte

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und dessen Gegenstände beliebig waren oder dochunabhängig von jedem Erkenntniszusammenhang.

Die ungezählten, mit beispiellosem Aufwandverfertigten Akteneditionen, Regestensammlungenund Urkundenbücher aus der zweiten Hälfte desJahrhunderts, die sogenannten Monumenta, stehentrotz dieser Bezeichnung nur für sich selbst: bezie-hungslos auf dem Terram der Wissenschaft errichte-te, nicht ohne Willkür aufgetürmte Komplexe, de-ren oft imponierender Anblick den Verlust nichtvergessen machen kann, mit dem sie erkauft wur-den. Denn nicht das nackte Faktum allein, das inden »Real-Encyclopädien« gespeicherte Wissen,sondern auch und erst der Zusammenhang machtdie Geschichte. Mommsen selber war, trotz allem,sich der Überlegenheit des Zusammenfassenden ge-gen die Einzeluntersuchung immer bewußt: »Einzugleich geniales und methodisches Werk wird tau-send male mehr nützen«, schrieb er 1878 in einemBrief, »als alles Erbsen werfen und Schwärmer ab-brennen.«

Gleichwohl hatte er teil an jenem resignativenZug, der hinter all dem Monumentalehrgeiz derEpoche sichtbar wird. Ein sechs Jahre später ge-schriebener Brief macht das, neben vielen ande-ren Zeugnissen, überdeutlich: »Die Institutionen«,schreibt er da, »können wir einigermaßen begrei-fen; den Werkprozeß hat schon das Altertum nichtgekannt und wir werden ihn nie erraten.«

Zu sagen ist aber auch, daß dieser Gang der Din-ge von der Entwicklung vorgezeichnet, der Ansatz

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notwendig und die übertreibende Tendenz unver-meidlich war. Man kann in der Idee, daß die Quel-len, auch die Institutionen, überhaupt das Fixierbaredie Historie selber seien, während der Geschichts-schreibung nur die mehr oder minder dilettierendbetriebene Aufgabe zufällt, das Erforschte gefälligzu verbinden und in Lektüre zu verwandeln, eineSpielart des Prozesses sehen, der auf anderem Feldezum Gegensatz von reiner und angewandter Wis-senschaft geführt hat; und der gebieterische An-spruch, den jene Urkundskompilatoren und Spe-zialforscher erhoben, die auf zusehends enger gezo-genen Parzellen ständig tiefer gruben, rührte nichtzuletzt aus der vermeintlichen Gewißheit her, demreineren, selbstloseren Prinzip entsagungsvoll zudienen.

Es ist nicht ohne Ironie, daß die Altertumswis-senschaft (und bald die Geschichte im ganzen) gera-de von jenem Mann in Stücke gesprengt wordenist, der sie mit universaler Konsequenz aus ihrerBlickverengung erst vollständig befreit und, überalle politische Betrachtung weit hinaus, zur Sozial-,Wirtschafts- und Kulturgeschichte geöffnet hat;und daß der gleiche Mann auch die Trennung von»Forschung« und »Vermittlung« entscheidend vor-angetrieben hat, der diese mit jener wie kein andererverbunden und in der »Römischen Geschichte« fürmehrere Generationen eine Art »Hausbuch des ge-bildeten Bürgertums« verfaßt hat.

Daran ändert wenig, daß Mommsen selber dieseEtwicklung nicht wahrhaben wollte und den Zu-

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sammenhang, den eigentlich nur er noch darstellte,auch der Sache zuerkannte, die längst zu Bruch ge-gangen war. In einer Art Rückblick schrieb er: »Esist mir beschieden gewesen, an dem großen Um-schwung, den die Beseitigung zufälliger und zumguten Teil widersinniger, hauptsächlich aus den Fa-kultätsordnungen der Universitäten hervorgegan-gener Schranken in der Wissenschaft herbeigeführthat, in langer und ernster Arbeit mitzuwirken. DieEpoche, wo der Geschichtsforscher von der Rechts-wissenschaft nichts wissen wollte, in der derRechtsgelehrte die geschichtliche Forschung nurinnerhalb seines Zaunes betrieb, die Epoche, woes dem Philologen wie ein Allotrium erschien, dieDigesten aufzuschlagen, und der Romanist von deralten Literatur nichts kannte als das Corpus iuris,wo zwischen den beiden Hälften des römischenRechts, dem öffentlichen und dem privaten, die Fa-kultätslinie durchging, wo der wunderliche Zufalldie Numismatik und sogar die Epigraphik zu einerArt von Sonderwissenschaft gemacht hatte und einMünz- oder Inschriftenzitat außerhalb dieser Kreiseeine Merkwürdigkeit war – diese Epoche gehört derVergangenheit an.«

In der Tat hat Mommsen alle diese Verbindungs-türen geöffnet, aber durchschritten wurden sie imGrunde nur noch von ihm, und es definiert geradeseinen überragenden Rang, daß er mit seinem brei-ten, stets zum Ganzen drängenden Interesse jenespezialistische Verengung nicht kannte, die mit denEpigonen hochkam. In nahezu regelmäßigen Ab-

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ständen hat er daher auch die Einzelforschung zu-gunsten großer, zusammenfassender Werke verlas-sen und beispielsweise in dem fünfbändigen Werk»Römisches Staatsrecht«, aber auch im fünftenBand der »Römischen Geschichte« die Ergebnisseder Detailarbeit in ausgreifenden Überblicken dar-gestellt. Mitunter schien aber auch er, angesichtsder zunehmenden Isolierung eines selbst- und ziel-vergessenen Forschungsbetriebs, von Zweifeln er-füllt, zumal auch diese Arbeiten sich fast durchwegnicht an die gebildete Öffentlichkeit wandten, son-dern an den engeren Kreis der Fachleute und, andersals die »Römische Geschichte«, keineswegs nur dasfertige Bild vorwiesen, sondern in umfangreichenwissenschaftlichen Apparaturen auch gleichsam dieBedingungen und Schritte nachzeichneten, die zudessen Herstellung erforderlich gewesen waren.

»Wir versperren uns und anderen«, hatteMommsen bald nach dem Abschluß der »Römi-schen Geschichte« geschrieben, »mit unseren Bau-gerüsten mehr und mehr die Fassade, und es tut ein-mal not, die Sachen selbst in dem ganzen und gro-ßen Zusammenhang wirken zu lassen.« Von diesemaufklärerischen Impuls war er im ganzen immermehr abgekommen. Er sah es, erfaßte die proble-matischen Züge der Sache und kam doch davonnicht frei. Vielmehr trieb er sie mit einer geradezumanischen Energie noch unablässig voran. Und dieBesorgnisse, auch wo er sie öffentlich kundtat,kommen doch wie aus großer Höhe, wie Richtsät-ze, über deren Verbindlichkeit er selber jedenfalls

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hinaus war: »Wenn wir uns nicht selbst zu beschrän-ken verstehen«, wandte er sich an die Historiker,»so wird Staat und Publikum, deren Diener wirsind, in nicht zu kurzer Zeit uns im Stich lassen unddie wahren Resultate der Wissenschaft auch aufop-fern, um nur des wüsten Schutts endlich loszuwer-den.« Seine Bemerkung, daß an der Geschichte nurdas Handwerk erlernbar, alles übrige Genie sei, giltoffenbar auch für jenes Wissenschaftsprinzip, dasnur Handwerk zu sein scheint, dem er selber abernoch im entlegensten Teilstück, dem er sich wid-mete, die Ahnung eines umfassenden Welt- und Le-benszusammenhangs zu vermitteln wußte.

Insofern ist auch unbegründet, was im Befrem-den darüber zum Ausdruck kommt, daß Mommsenviele Jahre seines Lebens an eine Aufgabe ver-schenkt habe, die jeder umsichtige Organisatorebenso hätte wahrnehmen können: In seiner Personwar, was schon zerfiel, noch einmal groß und fastbeschwörend verbunden. Zwar hat er ursprünglichnicht daran gedacht, aus der Sammel- und For-schungstätigkeit eine Lebensaufgabe zu machen undfür das »Corpus Inscriptionum Latinarum« zu-nächst nur einen Zeitraum von vier bis sechs Jahrenveranschlagt. Aber mit dem Eintritt in die Preußi-sche Akademie der Wissenschaften (1858) und derÜbernahme des Ständigen Sekretariats verfügte erüber einen Apparat, den er, der Zeittendenz zumGroßstaat und zur Großindustrie ebenso wie derzum Gigantomanen folgend, zu einer gewaltigen,zuletzt auch international vielfach verflochtenen

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Organisation mit einem Riesenheer von viri doctis-simi als Arbeitern im wissenschaftlichen Großbe-trieb ausbaute. Von Berlin aus, so hat man, den zen-tralen Einfluß Mommsens treffend charakterisie-rend, gesagt, sei die Altertumswissenschaft wie dieArmee vom preußischen Generalstab dirigiert wor-den: Er vergab die Aufträge, lenkte die Forschungs-richtung und sprach, nicht immer glücklich, dochmit ungeduldiger Herrscherlaune operierend, beider Besetzung der Lehrstühle mit, auf die er ver-diente Epigraphiker hievte. Sicherlich hat er daherauch, allen Zweifeln zum Trotz, nie ernsthaft erwo-gen, Macht, Möglichkeiten und Prestige, die dasInstitut ihm und seinem zivil-cäsarischen Tempera-ment eintrugen, je aufzugeben.

Dennoch hat Mommsen unter der Tätigkeit desSammelns und Organisierens gelitten, die Belegedafür sind unübersehbar. Es mag noch scherzhaftgemeint sein, wenn er sich bei Gelegenheit als»Commis Voyageur der Kirchhofs Wissenschaft«bezeichnet. Aber an anderer Stelle heißt es, seineAufgabe bestehe oft nur darin, »den Schund desSchunds durchzuwühlen«, oder er schreibt: »Denganzen Tag mit nichtsnutzigen Arbeiten beschäf-tigt, als da sind Inschriften abschreiben, Corporaspoliieren, Graffite entziffern.« Am bekanntesten istjener metaphorisch eingekleidete Seufzer aus ver-gleichsweise früher Zeit geworden, der seine Dop-pelbegabung und die Konflikte sichtbar macht, indie er dadurch geriet. »Lesen Sie einmal«, schreibter einem Freund, »was die Götter aus mir machen.

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Das ist Glück, mich soll aber stracks der Teufelholen, wenn ich mich darüber freue; wieviel lieberals anderen Leuten Ziegel machen baute ich selbstHäuser.«

Was ihn dennoch aber, über alle Anwandlungender Unlust hinweg, bei der Sache hielt, waren ne-ben der Überzeugung von Sinn und Notwendigkeitder Aufgabe vor allem die asketische Willenskraftund sein Pflichtbewußtsein. Dergleichen klingt in-zwischen leicht pompös und hat den Beigeschmackder dekorativen Phrase. Gleichwohl hat es das, wasdamit gemeint ist, doch gegeben. Das Bürgertumverdankt dem unbedingten Ernst, mit dem es Be-griffe wie Arbeit, Pflicht oder Dienst an der Sachein die Lebenspraxis übernahm, alles, was es großgemacht hat, und nicht zufällig stellte Mommsen inWesen, habituellem Zuschnitt und Lebensform denTypus des Bürgers oder, zugespitzter noch, desbürgerlichen Professors in reiner, fast schon über-zeichnet wirkender Weise dar. Richard Wagnermeinte denn auch nach einem Zusammentreffen,die leicht karikatureske Aura der Erscheinung mo-kant erfassend, der Gelehrte sehe aus wie jemand,der in dieser Maske zum Redoutenball unterwegssei.

Was Mommsen auszeichnete und doch für vielegalt, war eine Mischung aus nüchternen und era-phatisch-zergrübelten, aus strengen und ätherischenZügen, alles rückstandslos aufgehend in dem, was,wie er glaubte, einfach getan werden mußte. »Ichwill das große Unternehmen, an das ich leider gera-

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ten bin, nicht fahnenflüchtig verlassen und was icheinmal übernommen habe, mit meiner letzten Kraftvollenden«, schrieb er 1873 an seine Frau, und:»Wahrhaftig, die Pflicht ist eine große Gottheit; ichführe ein Leben, schlimmer als ein Tagelöhner.«Man kann sicher sein, daß es so war. Als Dilthey1884 nach Berlin kam, machte Mommsen ihm denEindruck, daß er »müde und recht staubig von demWeg auf den Landstraßen der Philologie, Inskriptio-nen und Parteipolitik« sei. Aber sein Ruhm war ein-zigartig, Erfolge und Ehrungen häuften sich, undseine Autorität gewann fast mythischen Rang.

Dennoch war er, vor allem in diesen späten Jah-ren, zusehends von depressiven Stimmungen er-füllt, und man hat dafür, auf der Suche nach denMotiven, vor allem die politische Entwicklung desLandes seit der Reichsgründung verantwortlich ge-macht. In der Tat häufen sich seit den siebzigerJahren Mommsens Klagen über die »Erbärmlich-keit der Zustände«, die »Nichtswürdigkeit unseresRegiments und die Fäulnis der Nation«, und ernennt es ein »elendes Schicksal«, in diesem Staat als»Ornamentstück figurieren zu müssen«.

Gewiß fanden darin die Enttäuschungen einesMannes Ausdruck, dessen eigentümliches Naturelles war, zeitlebens von den heftigsten politischenEmpfindungen erfüllt und dennoch ohne eigentlichepolitische Begabung zu sein; er selber hat denn auch,obwohl zeitweilig Abgeordneter, seine Eignungzum Parlamentarier in Zweifel gezogen. Eine zu-sätzliche Rolle spielte aber sicherlich, daß die Be-

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schäftigung mit der Geschichte einen Hang zu mo-ralischen Werturteilen, zu strengen Grundsätzen undhohen Idealbildern in ihm geweckt oder verstärkthatte, vor dem die politische Wirklichkeit mit ihrenKompromissen und durchweg nur halbhohen Zie-len sich eher deplorabel ausnehmen mußte: Ein gutTeil seines abgrundtiefen Hasses gegen Bismarckwar zweifellos von solchen literarisch-wissenschaft-lich überzogenen Vorstellungen eingegeben.

Als Mommsen im Mai 1863 von Napoleon III.zur Audienz empfangen wurde, notierte er: »Ich ge-stehe, ich bin mit einem Gefühl von Neid wegge-gangen, daß das Schicksal uns nicht einmal einensolchen grand criminel zuwirft: was könnte der ma-chen …«

Tatsächlich war Mommsen, als das Schicksal soetwas wie ein Einsehen zeigte, als radikaler Anhän-ger der Einheitsstaatsidee zunächst auch überglück-lich. »Es ist ein wunderbares Gefühl«, schrieb ernach dem Sieg von 1866 an seinen Bruder Tycho,»dabei zu sein, wenn die Weltgeschichte um dieEcke biegt. Daß Deutschland eine Zukunft hat unddaß diese Zukunft von Preußen bestimmt wird, dasist nicht mehr eine Hoffnung, sondern eine Tat-sache, und eine gewaltige für alle Zeiten.« Aber indiesen Gefühlserhebungen, die sich mitunter zu derVorstellung erweiterten, Deutschland könne so et-was wie der Idealstaat der Zukunft werden, warmehr Studierstuben-Exaltation, mehr politischerRomantizismus, als die Realität je einlösen konnte.»Preußens Geschichte«, schreibt er schon bald nach

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Königgrätz, »scheint einen Verfasser zu besitzen,der für einzelne geniale Kapitel sich durch Bändevon Schund entschädigt.« Und einige Jahre späterversichert er in einem Gespräch: »Ja, dieser Bis-marck hat uns hassen gelehrt, wie wir nie geglaubthatten, einen fremden Menschen hassen zu müs-sen.«

Einmal steigerte er sich so sehr in Groll und Ab-scheu hinein, daß er, wie berichtet wird, nahezu»das Äußere eines Epileptikers zeigte«. Einen vor-läufigen Höhepunkt erreichte diese Dauergereizt-heit in einem Brief Mommsens an seine Frau vomMai 1885, der in Tonlage und Wortwahl schon dasberühmte Testament von 1899 vorwegnimmt: »Dassage ich Dir jetzt, und Du wirst mir gehorchen,auch wenn ich nicht mehr bin: Auf meinem Grabesoll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmalmein Name stehen, denn ich will von dieser Nationohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich ver-gessen sein und betrachte es nicht als eine Ehre inihrem Gedächtnis zu bleiben.«

Doch spricht einiges dafür, daß man MommsensDepressivität nicht ausschließlich und möglicher-weise nicht einmal überwiegend als politisch mo-tiviert deuten darf. Die Politik war, bei einempolitisch so reizbaren Temperament, nur der zu-nächstliegende Aggressionspunkt, und MommsensSchroffheit außerdem in den Augen seiner Ge-sprächspartner sicherlich spektakulärer, auch über-lieferungstauglicher, als die privaten, auf Familie,Freunde, Tätigkeit sowie die eigenen Lebensum-

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stände zielenden Verdikte. Daß sie auftraten, istnicht zweifelhaft, doch hat die nächste Umgebungdie Diskretionsbedürfnisse eines im Persönlichen soscheuen Menschen wie Mommsen pietätvoll re-spektiert. Immerhin finden sich in den Briefen sei-ner Frau sowie in den Aufzeichnungen seinesSchwiegersohns, Ulrich v. Wilamowitz-Moellen-dorff, unmißverständliche Hinweise darauf, undWilamowitz hat auch berichtet, wie Mommsen,nach einem Ohnmachtsanfall während eines Rekto-ratsdiners, auf dem gemeinsamen Heimweg, wie zusich selber sprechend, in verzweifeltes, offenbarweit über alle politischen Anlässe hinausgehendesReden verfiel. Aber »nie und zu niemandem«, ver-merkte er, »ist auch nur eine Andeutung von demüber meine Lippen gekommen, was ich wider sei-nen Willen, sein Bewußtsein gehört hatte, nie wer-de ich ein Wort verraten.«

Man muß infolgedessen wohl tiefer ansetzen, alses meist geschieht, um den VerdüsterungenMommsens einigen Grund abzugewinnen. Zwei-fellos war eine Veranlagung dazu vorhanden, dieschon im Vater hervortrat und, weit stärker undins Krankhafte übergehend, in Mommsens Bruderwiederkehrte. Aber bestimmender für diese schwe-ren, einbruchartigen Gemütsbedrückungen war of-fenbar doch das Bewußtsein der verfehlten Biogra-phie. Mommsens Anfänge hatten ganz im Zeichenromantischer Hochgestimmtheiten gestanden, dievon den Freundschaftsbünden, wie er sie auf nahe-zu jeder Lebensstation schloß, den Empfindungen

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von Aufbruch und gleichgesinnter Idealität, inspi-riert und getragen wurden. In einigen frühen Brie-fen hat er das Ansinnen zurückgewiesen, »Karriere«zu machen, seine Vorstellung ging auf anderes, aufetwas Ungebundenes, Großes, er wußte vermutlichselbst nicht was. Aber daß das Leben nicht gemachtwar, auf einem Professorenstuhl zu enden, schienihm gewiß. Es ist dieser Zug ins leidenschaftlichUnbestimmte, von der Wirklichkeit Abgehobene,der den Typus des romantischen Jünglings im gan-zen kennzeichnet, und Mommsen nimmt sich indieser Umgebung wie eine etwas streng geratene,in seinem Sanguinismus, seinem Pathos aber durch-aus legitime Variante davon aus. Gewisse grundie-rende Elemente aus diesen Jahren hat er sich bis zu-letzt bewahrt, angefangen von der urromantischenNeigung, die lang vergangene Zeit gegen die eigeneauszuspielen, bis hin zu dem Bedürfnis, sich ge-dichtweise zu äußern, dem er noch im hohen Altermit amateurischer Hingabe genügte.

Genausowenig wie solche frühen Einflüsse gingihm auch die Idee vom großen und, wie es in einemRomantikervers heißt, »zur Ewigkeit erhöhten« Le-ben je verloren. So unbestimmt und irreal diese Ideegewesen war, so vage blieb auch das Gefühl, imFortgang der Jahre etwas preisgegeben zu haben,was mehr bedeutete als aller Erfolg und weltweiterRuf. Am Ende war er doch mehr Gerüstbauer ge-wesen (oder geworden) als Architekt glanzvollerFassaden vor weiträumigen, palastartigen Gebäu-den, Organisator eines gewaltigen Ruinenfeldes,

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zwar nicht mehr wüsten, sondern geordnetenSchutts. Aber die Träume der Aufbruchsjahre lagendarunter begraben. Einmal zwar hatte er sein »Be-stes und Eigenstes« gegeben, doch auch dies warunabgeschlossen geblieben, ein grandioses Bruch-stück, dann hatten ihn die Entwicklung der Wissen-schaft, das Verlangen nach Einfluß, sein Hang zumGemeinnützigen, aber auch Hausstandssorgen undTagessachen von seinen Anfängen entfernt: Es warder gewöhnliche Weg, der alle Romantik zuletzt inirgendein Biedermeier führt, auch wenn es wie hiereher strenge und pflichtschuldige Züge trägt. Zu-rückgeblieben jedenfalls war das Gefühl, zuviel ver-tan, versäumt und nicht sich selbst gelebt zu haben.

Unnötig zu sagen, daß man sich mit alledem aufspekulativem Grund bewegt. Aber nicht zuletztMommsens Testament, das bei seinem Bekannt-werden nach dem Zweiten Weltkrieg so viel Aufse-hen erregt hat, stützt diese Deutung. Zwar hat dieKontroverse, die es entfachte, ihr Augenmerk sogut wie ausschließlich den politischen Passagen desDokuments geschenkt, doch hat man darin eher ei-nen Ausdruck des verbreiteten Bedürfnisses jenerJahre zu sehen, Kronzeugen und Kassandren des na-tionalen Irrwegs ausfindig zu machen. Diese um-strittenen Sätze lauten:

»Politische Stellung und politischen Einfluß habeich nie gehabt und nie erstrebt: aber in meinem in-nersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten, wasin mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewe-sen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht

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möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne,auch der Beste, über den Dienst im Gliede und denpolitischen Fetischismus nicht hinauskommt. Dieseinnere Entzweiung mit dem Volke, dem ich ange-höre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Per-sönlichkeit, soweit mir dies irgend möglich war,nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor demmir die Achtung fehlt. Ich wünsche, daß auchnach meinem Tode dasselbe mit meiner Individuali-tät sich nichts schaffen mache. Meine Bücher magman lesen, solange sie eben dauern; was ich gewe-sen bin, oder hätte sein sollen, geht die Leute nichtsan.«

Nicht nur die Wendung »was ich hätte sein sol-len« läßt aufmerken. In der Begründung für seinVerlangen, die biographische Behandlung seinesLebens nach Möglichkeit zu verhindern, bezeich-nete Mommsen diese politischen Überlegungenausdrücklich als etwas zweites, Hinzukommendes.Das gewichtigere Argument steht im vorangehen-den Absatz:

»Ich habe in meinem Leben trotz meiner äußerenErfolge nicht das Rechte erreicht. Äußerliche Zufäl-ligkeiten haben mich unter die Historiker und diePhilologen versetzt, obwohl meine Vorbildung undauch wohl meine Begabung für beide Disziplinennicht ausreichte, und das schmerzliche Gefühl derUnzulänglichkeit meiner Leistungen, mehr zuscheinen, als zu sein, hat mich durch mein Leben nieverlassen und soll in einer Biographie weder ver-schleiert, noch manifestiert werden.«

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Es ist gewiß nicht nur Mommsens skrupulöseBescheidenheit, von der diese Sätze zeugen. Eherschon hat man es mit einem Nachhall jener soge-nannten »romantischen Disproportion« zu tun,dem unheilbaren Bruch zwischen Ideal und Wirk-lichkeit, auf den die depressiven Schübe, unter de-nen Mommsen litt, zum Teil zumindest, zurückzu-führen sind. Am Ende tritt darin aber auch jenerRiß hervor, der durch das Jahrhundert im ganzengeht und an dem er teilhatte wie kaum ein anderer.Vielleicht ist es die eigentliche Anstrengung seinesLebens und deshalb auch sein letzter, über denTod hinausgehender Wille gewesen, diese Wider-sprüche zu verdecken. Versöhnen konnte er sienicht mehr.

Für die zwei Wege zur Geschichte: den auf Totalbildzielenden, die verworrenen Ereignisse in großenDeutungen verklammernden Epochenentwurf ei-nerseits und die spezialistische, vom Pathos des De-tails ergriffene Einzeluntersuchung andererseits, hatMommsen mit seinem Werk Markierungen gesetzt,wie sie auf diesem Felde und mit dieser Kompetenznicht noch einmal auszumachen sind. Einem tref-fenden Wort seines Freundes Jacob Bernays zufolgewar er ein »König und Kärrner zugleich«.

Auch dies gehört schließlich zum Charakter des19. Jahrhunderts: daß einer der Erste sein will undder Letzte auch. Es steht ein zum durchweg Äußer-sten drängender Wille dahinter, ein Ehrgeiz von im-mer aufs neue imponierender Kraft und Vitalität.

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Aber etwas rät uns, nicht allzusehr davon beein-druckt zu sein. Denn es ist ein Ehrgeiz aus gleich-sam babylonischem Geist: maßlos, zum Unfertigenverurteilt und endend in grenzenloser Sprachver-wirrung. Mit den Folgen haben wir zu tun.

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Das tragische und wunderbare Schauspiel der GeschichteVersuch über Jacob Burckhardt

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Unter den rund fünfunddreißig Zuhörern des Kol-legs »Über das Studium der Geschichte«, das JacobBurckhardt im Winter 1870 in Basel hielt, befandsich auch der im Jahr zuvor an die Universität derStadt berufene Friedrich Nietzsche. »Zum erstenMal habe ich ein Vergnügen an einer Vorlesung«,notierte er, und einem Freund schrieb er, die Gedan-ken Burckhardts kämen »völlig aus unserem Denk-und Gefühlskreise heraus«.

Es war die Vorlesung, die später, nach dem Toddes Gelehrten, zusammen mit zwei gleichzeitig ent-standenen Vortragstexten unter dem Titel »Weltge-schichtliche Betrachtungen« veröffentlicht wordenist. Der Eindruck, den das Kolleg auf Nietzschemachte, hat in dessen »Zweiter unzeitgemässer Be-trachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historiefür das Leben« seinen Niederschlag gefunden. »Biszu welchem Grade das Leben den Dienst der Histo-rie überhaupt brauche«, heißt es da, sei »eine derhöchsten Fragen und Sorgen in Betreff der Gesund-heit eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur. Beieinem gewissen Übermaß« an geschichtlicher Zu-wendung, fährt der Text fort, »zerbröckelt und ent-artet das Leben.«

Man kann Nietzsches Argument mit guten Grün-den umkehren und im Zerbröckeln und Entarten

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des Lebens eine der Ursachen für die gesteigerteHinwendung zum Vergangenen sehen. Wenn dieKräfte zu schwinden beginnen und ein Gefühl aus-rinnender Lebenssubstanz sich breitmacht, tritt dasGewesene beherrschender ins Bewußtsein, und ausden aureatisierten Bildern drängen die Fragen nachden Ursachen seines Vergehens hervor und welchemächtigeren Kräfte das Mächtige immer wieder zuFall gebracht haben. Die ganze Geschichte, soweitdas Auge reicht, erscheint dann als eine riesigeSchattenbühne mit dem Aufstieg und Fall von Staa-ten, Reichen oder Kulturen, und darin eingeschlos-sen die Empfindung, daß auch die eigene Epocheihren nur befristeten Auftritt habe. Historisches In-teresse solcher Art kommt aus dem Vorauswissenvom unvermeidlichen Ende jeder Form des Lebensund sieht sich vom Vergangenen als einem ewigenMetaphernspiel des Vergänglichen angezogen. DerAnwendungsfall für diese Überlegung ist JacobBurckhardt.

Sein Leben fiel in eine äußerlich ruhige Zeit, in jenes19. Jahrhundert, das in seiner ersten Hälfte von bie-dermeierlichen Zügen und später ganz überwiegendvon großartigen Stimmungen des Aufbruchs undder Zukunftserwartung geprägt war. Nach Stu-dienaufenthalten in Berlin und zwischendurch inBonn zog er sich früh ins abseits gelegene, von allerEpochenunruhe verschonte Basel zurück, die Ange-spanntheit, Nervosität und pompöse Hektik desGroßstadtwesens waren ihm zeitlebens nicht geheu-

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er, und von Richard Wagner meinte er bezeichnen-derweise, er habe eigentlich nach Berlin gehört.Und in Basel, wo seine Vorfahren seit dem begin-nenden 16. Jahrhundert als einflußreiche Handels-herren, humanistische Gelehrte, Professoren undPrediger gewirkt hatten, blieb er dann zeitlebens,wenn auch nicht ohne Anfälle von Mißgelauntheitüber die Stadt, die ihn »so langweilig und phili-strös« anblicke, wie er einmal schrieb, und unterderen »Geldbrozen« es kein rechter Mensch aushal-ten könne. Aber er war eingebunden in jene altestädtische Tradition, die von der eigenen Familiemitgeprägt war, sowie ausgestattet mit den mate-riellen und sozialen Sicherheiten, die mit einer patri-zischen Herkunft verbunden sind.

Doch zugleich nahm er überall die Bilder vonAuflösung und Zerfall wahr und lebte in demSchrecken einer Endzeit. Die Schwermut und dasVergänglichkeitsbewußtsein, die den anderen, heu-te verstärkt hervortretenden Zug des 19. Jahrhun-derts ausmachen, haben in Jacob Burckhardt, nebenTocqueville, den sicherlich ahnungsvollsten Zeugengefunden: »Mich überkommt bisweilen ein Grauen,die Zustände Europas möchten einst über Nacht ineine Art Schnellfäule überschlagen, mit plötzlicherTodesschwäche der jetzigen scheinbar erhaltendenKräfte.« So wenig er das optimistische Grundgefühlder Zeit teilte, so wenig konnte er, anders als dieMehrzahl der Historiker neben ihm, an eine leitendeIdee der Geschichte glauben oder gar an einen Fort-schritt im Bewußtsein der Freiheit. Seinem verglei-

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chenden Blick erschien keine Epoche als Vorstufezur jeweils folgenden, es gab kein Vorankommen,alles war nur Hochgetriebenwerden und Zurückfal-len, Auftürmen und Erschöpfung, und das immerwieder eingeführte Bild dafür jene Welle, »auf wel-cher wir im Ozean treiben«, und die wir gern ken-nen möchten: »Allein, wir sind diese Welle selbst.«Dieses überwältigende Grundgefühl erlaubte ihmnicht einmal, wie der geschichtsfromme Ranke,dessen Vorlesungen er in Berlin besucht hatte, eineArt harmonischen Ausgleichs in allen historischenWechselbewegungen zu erkennen. Er sah sich im»bloßen Zwischenakt« eines gewaltig dramatischenProzesses und überall die Kräfte am Werk, die blindund ruhelos auf die Katastrophe hinarbeiteten.

In der zivilisationskritischen Unterströmung, diedas ganze 19. Jahrhundert begleitet, nimmt JacobBurckhardt eine ebenso herausragende wie außen-seiterische Stellung ein. Seine Verdikte über die»Jetztzeit«, wie er, eine von Jean Paul geprägte undvon Schopenhauer höhnisch verwendete Worterfin-dung aufgreifend, mit Vorliebe formulierte, sindnicht weniger schneidend als die aller anderen, vonder Zukunft beunruhigten Köpfe. Aber stärker alsanderswo ist bei ihm der diagnostische Grund spür-bar, aus dem die Ängste kommen, sie sind ein Er-gebnis leidenschaftsloser oder jedenfalls von allemEpochenüberschwang unbeirrter Beobachtung,und was ihn beispielsweise von dem mit so weithindröhnendem Echo wirkenden Julius Langbehn so-wie überhaupt von der kulturpessimistischen Rich-

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tung in Deutschland unterschied, war insbesonderedie Unangefochtenheit von allen dumpfen, antiin-tellektualistischen und schließlich nationalaggressi-ven Begleittönen. Das sentimentale Zurückrufen ei-ner urtümlichen Lebensform, des Bäuerischen undErdigen, das dort beschworen wurde, die bemüh-ten Remythologisierungsversuche blieben ihm zeit-lebens eine finstere Marotte. »Der Weg zu den An-fängen führt überall zur Barbarei«, meinte er mitNietzsche, und statt einen idealen Urzustand her-beizuträumen, ängstigte Burckhardt sich in der alsunvermeidlich erkannten Modernität um den Rangdessen, was Europa einzigartig gemacht hatte: eineals nur dünner Firnis die animalische »Garantielo-sigkeit« des Menschen verdeckende Tradition derBildung, der Kunst und der humanen Maßstäbe,dies alles hervorgegangen aus der rivalisierendenFarbigkeit sehr verschiedenartig ausgezeichneterNationen.

Außenseiterisch war seine Stellung auch in derWissenschaft. Die vor allem von Mommsen voran-getriebene große Bewegung des 19. Jahrhundertszum organisierten Wissenschaftsbetrieb mit einemwachsenden Heer hochspezialisierter Fachleute warihm nicht nur fremd, sondern auch zuwider, und erhielt sich nicht wenig darauf zugute, gegen alleZeittendenz den Typus des altmodischen Univer-salgelehrten mit breiten Kenntnissen und Neigun-gen zu verkörpern. Immer wieder stößt man aufironische Bekundungen der eigenen »Unwissen-schaftlichkeit«, auf Beißendes über die »Quisqui-

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lienforschung« und den Hochmut der Fachgelehr-ten, »die der liebe Gott gemacht habe, weil er bis-weilen auch seinen Jocus« haben wolle. Den For-scher, dessen Existenz rückstandslos im Erforschtenaufgeht, hielt er für eine deformation professionelle,und auf dem Grunde aller Objektivitätstheorienwitterte er einen Mangel an Persönlichkeit und anlebendiger Wertvorstellung, der das Bewußtseinder eigenen Unzulänglichkeit zum Studierstuben-ethos stilisierte. Das war gegen Mommsen so gutwie gegen Ranke gerichtet. Mit der provozierendenLaune, die ihn oft überkam, stellte er sich gegendas ganze Wissenschaftspathos der Zeit, wenn erschrieb, wir sollten nicht vieles wissen, sondern vie-les begreifend lieben.

Aus dem gleichen Grunde pflegte er sich als »Di-lettanten« zu bezeichnen, und einer seiner Schülerhat die Äußerung überliefert, daß er zwar das Wis-senschaftliche liebe, »aber nicht das Streng-Wissen-schaftliche!« Die Spezialisierung habe einen Punkterreicht, wo mancher »die Fähigkeit der allgemei-nen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßt,während er in allem übrigen nicht einmal Dilettant,sondern Ignorant ist«. In die gleiche Richtung zielteseine Bemerkung, es sei »der Schande werth, daßdie Werke der meisten deutschen Historiker nurvon Gelehrten gelesen« würden. Im Gegensatz dazuwende er sich an die Gebildeten; dieses »Gelübdehabe ich mir gethan«, schreibt er schon in jungenJahren, er wolle nicht eine Schule gründen, was im-mer nur die Sache mittelgroßer Köpfe sei, sondern

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Menschen mit der Fähigkeit zu selbständigem Den-ken heranbilden.

Es war, faßt man alles zusammen, dem Inhalt,der Methode und dem Ziel nach Geschichtsstudiumin weltbürgerlicher Absicht, was er betreiben undlehren wollte. Auch darin wird Burckhardts Di-stanz zur eigenen Epoche spürbar. In der Vorrede zuseinem ersten großen Werk, der Arbeit über dasZeitalter Constantins des Großen, heißt es, er wollenicht eine »Enzyklopaedie des Wissenswürdigen«vorlegen, sondern »die bezeichnenden, wesentli-chen charakteristischen Umrisse der damaligenWelt zu einem anschaulichen Bilde« sammeln. ImGegensatz zu dem Quellenfuror der Zeit, der dieAufgabe der Wissenschaft im Aufspüren, Ordnenund Klassifizieren des Unentdeckten sah, beharrteer darauf, daß es weniger darauf ankomme, dieQuellen zu vermehren als die vorhandenen zu be-nutzen, und sah beispielsweise in den jedermannzugänglichen Kunstwerken einer Epoche gänzlichunausgeschöpfte und überdies von jeder Verfäl-schungsabsicht freie Materialien, die man nur lesenkönnen müsse. Was statt dessen hochkam und indie vielen »Monumenta« einging, nannte er, bei al-len Verdiensten im einzelnen, »subalternes« Spezia-listentum und »Schuttschleppen«. Umgekehrt äu-ßerte sich der führende Hellenist der Zeit, Ulrichvon Wilamowitz-Moellendorff, über Burckhardts»Griechische Kulturgeschichte«, wie das »strenge«Fachgelehrtentum über alle seine Werke urteilte:daß sie für die Wissenschaft nicht existierten.

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Auch Burckhardts anderes großes Werk der frü-hen Jahre, »Die Kultur der Renaissance in Italien«,das ihn mit einem Schlage berühmt machte, zeich-net sich weniger durch neue Funde und For-schungsergebnisse als durch die Originalität derEinsichten aus, die er dem überwiegend Bekanntenabgewann. Mit Bedauern sprach er von den jungenHistorikern, die aufopfernd entlegene Inschriftenentzifferten, aber Herodot nicht kennten und nichtdie Fülle des Überlieferten. Und als wolle er denWiderspruch zur Fachwissenschaft auf die Spitzetreiben, verwendete er für die Renaissancedarstel-lung ausschließlich gedruckte, jedermann zugängli-che Quellen, während alle Welt die methodische Er-rungenschaft gegenüber der Vergangenheit geradein der Erforschung ungedruckter Quellen und nieeingesehener Archivbestände sah. Aber selbst dieeinen wie die anderen Materialien, alles Geschriebe-ne überhaupt, kam für Burckhardt nicht einmal anvorderster Stelle, es wurde den Makel des Papiere-nen nicht los. Viel wichtiger waren ihm die Neugiersowie die Fähigkeit, das Überlieferte mit dem Blickdes ersten Mals zu lesen und die Kunst der Frage-stellung zu beherrschen.

Wie ein Ausdruck derselben Widersetzlichkeitwirkte es auf die historischen Schulen gleich wel-cher Richtung, daß er die politischen und wirt-schaftsrevolutionären Vorgänge der Renaissancenur nebenhin, vor allem in ihren Wirkungen auf dieMenschen oder die Kultur behandelte. Darüber hin-aus mißachtete das Werk aber auch die Schnitt-

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linien, an denen jene Konflikte entbrannten, die derGegenstand des herkömmlichen historischen Inter-esses waren, wo Völker oder Nationen aufeinander-stießen, Stände oder Konfessionen sich in tödlicheStreitereien verstrickten. Angesichts des Jahrhun-derts von Michelangelo und Alberti, das er darstell-te, von Raffael und Bramante, gerieten ihm solcheGegensätze aus dem Auge. Was er erstehen ließ,war ein Kapitel gemeinsamer europäischer Her-kunftsgeschichte, und deren Krise hatte, damals wiegegenwärtig, so meinte er, viel mehr mit demDauergegensatz zwischen der Kultur und den Kräf-ten ihrer Verneinung zu tun.

Sein Zugang zum historischen Stoff war eherkünstlerisch, und tatsächlich hatte er, wie manchandere Historiker des 19. Jahrhunderts, in jungenJahren einen Gedichtband veröffentlicht und einigeZeit sogar geschwankt, ob er zum Dichter berufensei. Der Schritt in die Geschichte entstammte dennauch nicht nur der Einsicht in das unzureichendeKunsttalent, sondern war ein Versuch, die wissen-schaftlichen mit den unaufgegebenen poetischenNeigungen zu verbinden. An der Geschichte liebteer folglich die Bilder mehr als das System, zu demsie sich ordnen ließen, und wo er einen Vorgang, ei-nen Charakter oder Zusammenhang mit dem Augefassen konnte, bildeten sich wie von selbst dieSchwerpunkte seiner Darstellung.

Nicht zuletzt diese an herrscherliche Willkürgrenzende Eigenart hat ihn von Hegel und aller ge-schichtsphilosophischen Betrachtungsweise über-

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haupt getrennt, deren offenste Hypothesen sichnoch den Anschein gaben, die Einsicht in den Gangder Dinge zu besitzen. Im schroffsten Gegensatz da-zu beschied Burckhardt kurzerhand, der Mensch sei»nicht eingeweiht in die Zwecke des Weltplanes«.Von allem Anfang an hielt er sich denn auch vonden scharfsinnigen, ihm aber nur beliebig scheinen-den Konstruktionen über den Geschichtsverlauffrei, stellte die notgedrungen perspektivischen Ver-zerrungen durch eine bestimmte Zeitgenossenschaftin Rechnung und vermied die großen Worte sei esder Bewunderung, der Entrüstung oder der Allwis-senheit. Was ihn letzten Endes zur Geschichte ge-bracht hatte und zugleich von allen spekulativenNeigungen freihielt, hat er in einem Brief an KarlFresenius aus dem Jahre 1842 formuliert: »Die Ge-schichte ist und bleibt mir Poesie im größten Maß-stab; wohl verstanden, ich betrachte sie nicht etwaromantisch-phantastisch, was zu nichts taugenwürde, sondern als einen wundersamen Prozeß vonVerpuppungen und neuen, ewig neuen Enthüllun-gen des Geistes. Ihr Philosophen dagegen geht wei-ter, Euer System dringt in die Tiefen der Weltge-heimnisse ein, und die Geschichte ist Euch eineErkenntnisquelle, eine Wissenschaft, weil ihr dasprimum agens seht oder zu sehen glaubt, wo fürmich Geheimnis und Poesie ist.«

Was man an Burckhardts Darstellung zu Rechtimmer wieder gerühmt hat, ist denn auch die Fähig-keit, komplexe historische Stoffe in schriftstelleri-sche Form zu übersetzen und aus Wissenschaft

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Kunst zu machen. Der Puls und die Farbe stammtendaher, daß die Geschichte für ihn kein abgetanesGeschehen, keine vergangene Vergangenheit war,sondern ein Überlieferungszusammenhang, in demer selber lebte und wirkte. Mittelalter, Renaissance,die Machtkonstellationen des 18. Jahrhunderts oderdie Französische Revolution: es war alles Biogra-phie. Formal kam ihm dabei die Bildhaftigkeit sei-ner Sprache, das Vermögen, Licht und Dunkel zuverteilen, sowie ein bohrender psychologischerSpürsinn zugute, und alles zusammen bewirkte,daß er Menschen und Zeiten aus den Schatten, indie das Vergangene stets zurückfällt, wieder ins Le-ben holte. Im Grunde war die besondere Plastizitätseiner Darstellung nur die Spiegelung des eigenen»enormen Durstes nach Anschauung«, von dem erfrüh gesprochen hat. Er könne nichts leisten, heißtes einmal, wo er nicht »ein Bild aus seinem Innernaufs Papier bringen« müsse, jeden seiner Gedankenhabe er »an etwas Äußeres« anzuknüpfen. Infolge-dessen glaubte er auch, zum philosophischen Den-ken unfähig zu sein.

Dennoch war er kein Erzähler. Schon der Anlagenach zeigen seine Darstellungen den Vorrang desGedanklichen, der Reflexion und des Vergleichs.Immer wieder treten interessante Nebenaspekte insBild, psychologische und quellenkritische Erwä-gungen, und alle Lust am Räsonnement hindert ihnnicht, die eigenen Zweifel aufzudecken. Im ganzenist es, auch in der Kunst des Weglassens, ein eherzeichnerisches Verfahren, das er anwendet, mehr

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Essay als Epos, und es hat zur Folge, daß Burck-hardt weniger Prozesse und den Gang des Gesche-hens nachbildet, als vielmehr die Zeit für einen,meist mit dramatischem Sinn gewählten, Augen-blick stillstellt, um nach Art eines Porträtisten inscharfen, charakteristischen Momentaufnahmen ihrWesen zu enthüllen. Dabei sind der Mittelgrundund alles, was dahinter liegt, nicht weniger bedeut-sam als der Vordergrund mitsamt den beherrschen-den Akteuren, den »Zeugen ersten Ranges imgroßen Verhör«. Treffend hat Erwin Rohde, derFreund Nietzsches, Burckhardts Stil als »in An-schauung denkend« bezeichnet.

Es hat nicht zuletzt mit diesem darstellerischen Ver-fahren zu tun, daß Burckhardt als Historiker jeneZeiten bevorzugte, die eine große Kultur im Au-genblick der Euphorie zeigen, an deren Farbigkeiterst dem späteren Betrachter die Zeichen exzentri-scher Überspannung aufgehen, und wieviel fiebrigeAgonie in dem Glanz war, den sie verbreiteten:Epochen des Verfalls vor allem oder doch des Über-gangs. Die hellenische Antike, die constantinischeEpoche, die italienische Renaissance. Droysen hatvon Burckhardts Vorliebe für »verrottete Zeiten«gesprochen. Gleichzeitig und sogar mehr noch aberhatten diese Vorzugsthemen mit seinem Hang zum»Parallelisieren« zu tun, von dem er gesprochen hat,dem dauernden Bemühen, im Veränderlichen dasBleibende zu entdecken. In den Zeiten, die »ritt-lings über der Scheide zweier Epochen schweben«,

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erkannte er die eigene wieder. Und wenn man seinLeben, wie vor allem die Briefe bezeugen, als eineanhaltende, verzweifelte Anstrengung gegen denNiedergang und die Tendenzen kultureller Auflö-sung ansehen kann, die er überall wahrnahm, warer doch fasziniert von den Prozessen der Alterungdes Lebens.

Die große Parabel war die Antike, und mit derimmer wieder neu und anders ansetzenden Fragenach den Ursachen ihres Untergangs hat er sich indas nie abreißende, von Polybios und Augustinüber Dante und Machiavelli bis hin zu Montesquieuund Gibbon geführte, europäische Romgesprächeingeschaltet. Die Antwort, die er fand, war so cha-rakteristisch wie hoffnungslos für die eigene Zeit.Es war nicht so sehr die Überwältigung von außenoder, wie noch Gibbon behauptet hatte, die zerset-zende Macht des Christentums, die Roms Ruin her-beigeführt hatte, sondern innere Zerrüttung, ausge-gebene Kraft und zu Ende gelebtes Leben. Auchhierin drängten sich ihm die anthropomorphen Bil-der auf: Wie der Mensch seine Zeit habe bis zu Ent-kräftung und Sterben, so auch die Völker und Kul-turen. Jacob Burckhardt sprach vom »Todesbett desAltertums«.

In alledem steckte eine merkwürdige Mischungvon Fatalismus und Aufbegehren. Für kurze Zeit,während seiner studentischen Jahre, hatte JacobBurckhardt sich von den liberalen und demokrati-schen Stimmungen der Epoche erfassen lassen unddanach seine politischen Neigungen sogar kenntlich

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gemacht, indem er, neben den ersten Vorlesungenan der Universität seiner Heimatstadt, für die kon-servative »Basler Zeitung« als Redakteur arbeitete.Er blieb liberal, soweit es gegen Polizeistaat, Zensurund andere Formen der Unfreiheit ging. Gleichzei-tig aber graute ihm vor allem Radikalismus, vorden Eruptionen der Massenseele, der »republikani-schen Zankfähigkeit«, er habe den Volksmännern,wie er schrieb, »ins wüste, versoffene Auge gese-hen«. Als Basler und Schweizer hatte er aber auch,wie Hermann Heimpel einmal bemerkt hat, im Un-terschied zu seinen deutschen Freunden, die Mög-lichkeit, konservativ zu sein, ohne für die Monar-chie eintreten zu müssen.

Doch im Grunde war und blieb ihm die politischeUnruhe der Zeit und worauf sie, über die Verfas-sungsrechte hinaus, gerichtet war, diese ganze, insMassenhafte gehende Mixtur aus politischer Sehn-sucht und materieller Glückserwartung, zutiefstfremd, er sah darin nichts anderes als die Anzeicheneiner Krise, die »Alteuropa«, wie er mit schon weh-mütigem Blick zurück zu sagen pflegte, zugrunderichten würde. Als er daher nach wenigen Monatenseine Tätigkeit für die »Basler Zeitung« wieder auf-gab, war dies nicht nur, »aus der Notwendigkeitmeiner Natur«, die Lossage von der aktuellen, par-teinehmenden Politik. Die Entscheidung war vonprinzipiellerer Art. Sie wandte sich gegen die Über-macht des Politischen überhaupt, sein Eindringen inalle Verhältnisse, sogar in die Wissenschaft, wie einevor allem von Deutschland her ausgreifende Ge-

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schichtsauffassung offenbarte, die sich zunehmendvon Rankes universalen Kategorien entfernte undallem ihre nationalen Aspirationen unterlegte. ImGegensatz dazu hielt er daran fest, daß die Gegen-wart den Blick fürs Gewesene nur schärfen, nichtperspektivisch verändern dürfe, so wie die Vergan-genheit den Blick fürs Gegenwärtige auszubildenhabe. Als Aufgabe trat ihm immer deutlicher insBewußtsein, im Einstigen das Eigene, die dauerndeBewegung von Aufstieg und Abgang der Kulturensichtbar zu machen, das zähe Aufderstelletreten inallem Vorwärtsdrängen.

Es war diese Einsicht, die ihn gegen den Opti-mismus der Zeitgenossen wappnete; das Neue wardas Neue nicht, sondern nur das Alte in andererDrapierung und überdies erkauft mit Verlusten undAbschieden, die den Handelnden so leicht fallen wiesie die Betrachtenden schmerzen. Insoweit war derRückzug aus der Politik zugleich die Abwendungvon der Geschichte der politischen Fakten, derDynastien, Bündnisse und Bataillen. In den Vor-lesungen an der Universität lehrte er sie zwar wei-terhin, das erhaltene Verzeichnis vermerkt immerwieder die »Geschichte des Revolutionszeitalters«sowie Themen zur politischen Geschichte der Neu-zeit. Aber im Persönlichen, auch in seinen Publi-kationen, bedeutete es methodisch die Wendungvon der Ereignis-Geschichte zur Darstellung vorallem exemplarischer Zustände. Inhaltlich war esdie Entscheidung für die Kulturgeschichte und fürdie Kunst als deren glanzvolle Hinterlassenschaft.

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Es war ein Rückzug, sogar eine Flucht, und diekritischen Einwände, die immer wieder und bisheute gegen Burckhardts Wendung ins Apolitischeund sogar Antipolitische laut wurden, treffen sämt-lich zu: daß er den Geist der Zeit verabscheut, dieIdee von Fortschritt und Massenglück als Irrwegangesehen und sich vor dem Neuen, das da herauf-kam, in ein Zauberreich des Schönen und Kontem-plativen zurückgezogen habe; sogar der Gedankeder Massenbildung schien ihm unerträglich und einWiderspruch in sich. Wo die Bildung als Menschen-recht gefordert werde, sei sie nur »verhülltes Be-gehren nach Wohlleben« und schaffe »bloß herauf-geschraubte Mediokritäten«, schrieb er so oderähnlich immer wieder. Seine Verteidiger, die ange-sichts seiner zahllosen weiteren, ungeniert »reaktio-nären« Einlassungen auf die »differenzierte« Persön-lichkeit, ihre Ängste und Widersprüche verweisen,gehen, wie ungewollt auch immer, von der Be-rechtigung des Vorwurfs aus, daß der Affekt gegendie Politik ein Versagen vor den Forderungen desTages einschließe, ganz, als ob die Erkenntnisarbeitnicht auch ihre Forderungen und Ansprüche kenne.Burckhardt kam aus alten Verhältnissen und wußte,daß die Leidenschaft für das Denken keine andereLeidenschaft neben sich duldet, ohne zumindest Ge-fahr zu laufen, sich zu korrumpieren. Infolgedessensah er sich durch die Kritik, soweit sie damals schonlaut wurde, gerade ins Recht gesetzt.

Auf der anderen Seite stand hinter seinem »Malis-mus« gegen die moderne Zeit die Vorstellung, daß

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mit der Französischen Revolution ein Krisenprozeßeingesetzt habe, der, aller trügerischen Augen-blicksruhe zuwider, noch lange nicht auf dem Hö-hepunkt angelangt sei und den Bruch mit allembringen werde, was Europa groß und verehrungs-würdig gemacht habe: »Es ist ein und derselbeSturm, der seit 1789 die Menschheit erfaßt hat undauch uns weiterträgt.«

Was als gemeinsamer Antrieb von der Politik bishin zur Kunst den prekären, immer gefährdetenGrund allen Daseins unterhöhlte und dem Unter-gang überantwortete, war die Erhebung des Sub-jekts, seiner Launen und Egoismen, zum letztenMaßstab. »Die furchtbar gesteigerte Berechtigungdes Individuums«, schrieb er 1842 an Gottfried Kin-kel, »besteht darin: cogito (ob richtig oder falschgilt gleich) ergo regno.«

Die Folge mußte jene »tabula rasa aller Verhält-nisse« sein, auf die er die Dinge zutreiben sah. Das19. Jahrhundert, klagte er, besitze seither keinenGrund mehr, keinen Stil, keine Würde und habe die»Reversibilität von allem und jedem« zu seinerMaxime erhoben. Eben dies trenne die Gegenwartvon jeglicher Vergangenheit, in der Überlieferun-gen und Traditionen ein nie in Frage gestelltes, wiebrüchig auch immer gelegtes Fundament hergaben.Er zog sogar die eigene Wissenschaft in diesenZweifel hinein und meinte, die historische Leiden-schaft des Jahrhunderts sei nichts anderes als einSymptom für den Verlust der Geschichte als leben-diger Zusammenhang. Vergangenheitslos und folg-

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lich ohne Orientierung gehe jetzt jedermann zur»Partei« der Politik, der Geschäfte und des schnellenReichtums über und keine Verbindlichkeit halte dasBegehren auf. Von Deutschland heißt es einmal, essei dabei, den Weg von der Kulturnation zur bloßenStaatsnation zu gehen, aber es habe nun einmal »diePolitik zu seinem Prinzip gemacht, es wird’s nuntragen müssen«. Solche und andere Äußerungenklingen mitunter, bis in die Formulierung hinein,wie ein Vorecho auf die Abwehrreflexe eines ande-ren, sehr verschiedenen und doch verwandten un-politischen Betrachters.

Jacob Burckhardts Sorge, auf dünnem Grundüber »furchtbaren Spalten und Klüften« zu stehen,»welche unser Leben unterirdisch durchziehen«,sein Endzeitbewußtsein, ließ ihn noch einmal zu-rücksehen, damit, wie er bei Ranke gelernt hatte,das Erlebte nicht wieder verlorengehe und eine irdi-sche Unsterblichkeit entstehe. Angesichts der Zei-tenkehre, deren Symptome er überall wahrnahm,der Wendung von »Geist« und »alteuropäischer Bil-dung« zum »Stoff«: zu Geld, Verkehr und Kapita-lismus, zu Militärmacht, Nationalismus und De-mokratie mitsamt der Aufzehrung des Individuel-len, die für ihn daraus folgte, verfestigte sich seineÜberzeugung, daß Erkenntnis soviel wie Zurück-rufung heiße und der denkende zugleich der sicherinnernde Mensch sei. Die vielfältigen Gründe fürseine frühe Abkehr von der Politik und die Hinwen-dung zu dem, was ihn fortan beschäftigte, hat derAchtundzwanzigjährige 1846 in einem Brief an

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Hermann Schauenburg zusammengefaßt, der zuden Schlüsseldokumenten seines Lebens zählt:

»Ich glaube in Euern Augen einen stillen Vor-wurf zu lesen, weil ich so leichtfertig der südländi-schen Schwelgerei, als da sind Kunst und Altertum,nachgehe, während die Welt in Geburtswehen liegt

… und die Vorboten des sozialen jüngsten Tagesvor der Tür sind. In Gottes Namen! Ändern kannichs doch nicht und, ehe die allgemeine Barbarei(denn anderes sehe ich zunächst nicht vor) herein-bricht, will ich noch ein rechtes Auge voll aristokra-tischer Bildungsschwelgerei zu mir nehmen, umdereinst, wenn die soziale Revolution sich einenAugenblick ausgetobt hat, bei der unvermeidlichenRestauration tätig sein zu können … Ihr werdet se-hen, welche sauberen Geister in den nächsten zwan-zig Jahren aus dem Boden steigen werden! Was jetztvor dem Vorhang herumhüpft, die kommunisti-schen Dichter und Maler und dergleichen, sind bloßdie Bajazzi, welche das Publikum vorläufig dispo-nieren. Ihr alle wißt noch nicht, was Volk ist, undwie leicht das Volk in barbarischen Pöbel um-schlägt. Ihr wißt nicht, welche Tyrannei über denGeist ausgeübt werden wird, unter dem Vorwand,daß die Bildung eine geheime Verbündete des Kapi-tals sei, das man vernichten müsse. Ganz närrischkommen mir diejenigen vor, welche verhoffen,durch ihre Philosopheme die Bewegung leiten undim rechten Gleise erhalten zu können. Sie sind diefeuillants der bevorstehenden Bewegung; letztereaber wird sich so gut wie die Französische Revolu-

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tion in Gestalt eines Naturereignisses entwickelnund alles an sich ziehen, was die menschliche NaturHöllisches in sich hat. Ich möchte diese Zeiten nichtmehr erleben, wenn ich nicht dazu verpflichtet wä-re; denn ich will retten helfen, so viel meines schwa-chen Ortes ist … Untergehen können wir alle; ichaber will mir wenigstens das Interesse aussuchen,für welches ich untergehen soll, nämlich die Bil-dung Alteuropas.«

Man kann diesen Brief und die depressive Ge-reiztheit der Vorhersagen unschwer als Ausdruckder großen Angst abtun, die das bürgerliche19. Jahrhundert beherrscht hat. Aber zu Recht hatWerner Kaegi darauf hingewiesen, daß der Irrtumnur »die zu kurz gesehenen Zeiträume« betrifft.Wichtiger ist, daß der tiefe Pessimismus, der JacobBurckhardt schon früh erfaßt hat, zu den Vorausset-zungen seiner Produktivität zählt und auch hinterder unermüdlichen Leidenschaft des Sammelns undBeschreibens steht, die »die Herrlichkeiten dieserWelt« wenigstens im Wort festhalten wollte, die inder Wirklichkeit verloren schienen.

Die nahezu programmatische Bedeutung, die derBrief im Lebensentwurf des Verfassers besitzt, wirdnoch dadurch unterstrichen, daß Burckhardt weni-ge Tage später zu einem längeren Aufenthalt nachItalien aufbrach, ins »bessere Jenseits«, wie erschrieb. Zunächst nach Mailand, dann »über Genuaund Livorno unaufhaltsam vorwärts nach dem ewi-gen, unparteiischen, unmodernen, tendenzlosen,großartig abgetanen Rom« – und jedes der Adjek-

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tive, mit denen er die Stadt kennzeichnete, hatte et-was von einem Bekenntnis zu den Dingen, an die ersich künftig halten wollte.

Doch war Burckhardts Italienerlebnis nicht nurgelehrter und allenfalls genießender Art. Vielmehrumfaßte es darüber hinaus alle Motive, die für diedeutsche Sehnsucht nach dem Süden immer bedeut-sam gewesen sind: nach Befreiung von der Schwereund Verbindlichkeit sozialer Normen, nach lichte-ren Schatten, schärferen Konturen und, vor gro-ßen Hintergründen, entspannteren Daseinsformen,kurz: nach jener Mischung aus kultureller Verfeine-rung und vitaler Ursprünglichkeit, die den Begriff»Italien« für das bürgerliche Zeitalter mit einem soelementaren Herkunft- und Heimatgefühl ver-knüpft hat. Der Satz, daß jeder Mensch zwei Vater-länder habe, von denen das eine Frankreich sei, ent-stammt einer späteren, politisierten Zeit, hinter dieBurckhardt gerade zurückwollte. Für ihn war dasandere Vaterland immer Italien.

Und Italien ist auch, auf die eine oder andereWeise, der Hintergrund aller Werke, die er innerhalbweniger Jahre veröffentlicht hat: der »Zeit Constan-tins des Großen« (1853), des »Cicerone« (1855), derGenerationen als Anleitung und »Stationenbuch« zuden Sehenswürdigkeiten des Landes gedient hat,der »Kultur der Renaissance in Italien« (1860) sowieder »Baukunst der Renaissance« (1867). Zwar istdie Forschung über viele der darin enthaltenen Deu-tungen unterdessen hinweggegangen, doch hat dasden Büchern selber keinen Abbruch getan. Inter-

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pretatorische Energie, Einfühlungsvermögen undliterarischer Rang haben sie die Zeit überdauern las-sen, als Kunstwerke der Wissenschaft. Auch habensie der Forschung Richtungen gewiesen und Begrif-fe vermacht; erst mit Burckhardt beginnt das syste-matische Studium der italienischen Kunst, durchihn erst erlangt »die Renaissance«, die bis dahinüberwiegend als ausgehendes Mittelalter oder be-ginnende Neuzeit gesehen wurde und jedenfallsnicht als Epoche aus eigenem Recht, den seithergültigen Umriß, und Wendungen wie »Der Staatals Kunstwerk« oder »Die Entdeckung der Weltund des Menschen« sind durch ihn geradezu zu For-meln aufschließenden Verständnisses geworden.Bezeichnenderweise sind alle späteren Versuche, dieKultur der Renaissance in Italien, gestützt auf dieinzwischen gewonnenen Einrichtungen, im ganzendarzustellen, gescheitert. Burckhardts Werk ist dereinzigartige Fall, daß ein Gelehrter eine Wissen-schaft begründet und zugleich mehr oder minderabschließt.

Womöglich hat dies auch mit der unwiederholba-ren Lebensstimmung zu tun, die das Werk erfülltund die noch einmal, schon im Abgang, jenes klas-sische Ideal beschwört, dessen Zeit mit Winckel-mann begann und das in Burckhardt seinen letztenAnwalt hatte. Er verwirft Michelangelo, der nichtdas Menschliche gesteigert, sondern statt dessen dasÜbermenschliche, Nicht-Geheure nur gedämpfthabe und der Kunst dämonisch imponieren wollte,desgleichen das »verwilderte« Barock mit dem

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leichtsinnigen, »frechen« Virtuosen Bernini vorne-an, aber auch den »pöbelhaften« Rembrandt, derdie Linie dem krassen Lichteffekt geopfert habe undin sein »gemeines Gesicht« vernarrt gewesen sei,wie es von dem Selbstbildnis im Palazzo Pitti heißt.Dem Verdikt verfallen alle Werke, in denen das Ge-nie oder der Blick auf grelle Wirkungen sich überdie strengere Regel hinwegsetzen, in der Gegenwarthielt er Delacroix und Richard Wagner für die Pro-tagonisten einer plebejischen Dekadenzkunst. Da-hinter stand ein vorromantischer, ganz und gar un-gebrochener Begriff des Schönen, der die Kunst alsTrost, Verschleierer des Häßlichen und »Erleichte-rer des Lebens« verstand. Nietzsches Satz aus den»Unzeitgemäßen Betrachtungen«: »Damit der Bo-gen nicht breche, ist die Kunst da«, kommt ebensoaus dieser Denk- und Empfindungswelt wie dessenverwandte Formulierung, daß niemand, der an derWahrheit leide, den Schein der Kunst entbehrenkönne, auch wenn Burckhardt diesen Gedankennoch um die Überlegung erweiterte, daß erst dieTröstungen der Kunst den Menschen in die Lageversetzten, den Blick in die Abgründe auszuhaken.Er liebte Raffael und vor allem Rubens, dem er inspäten Jahren einen von soviel Anschauungsglückwie Bewunderung zeugenden Huldigungsessay ge-widmet hat.

Mit der »Baukunst der Renaissance in Italien« bra-chen Jacob Burckhardts Publikationen unvermitteltab, nicht einmal den geplanten und sogar angekün-

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digten Band über die bildende Kunst der Renaissan-ce, der das Hauptstück der Gesamtdarstellung wer-den sollte, verfaßte er noch. Statt dessen lebte ervon da an ganz seiner Lehrtätigkeit sowie den Vor-trägen vor der Basler Gesellschaft. Den Zeugnissenzufolge, die wir besitzen, war das Katheder sein ei-gentlicher Ausdrucksort, die Farbigkeit der Be-schreibung und die Kunst der Nuancierung verban-den sich, bei genauester Kenntnis der Quellen, mitgelegentlichen Einschüben des Feierlichen zu dem,was als die »Zauberkunst seines Erzählens« bezeich-net worden ist, in dem die großen Abgänge miteinem wirkungsvoll gesetzten Zitat so wenig fehl-ten wie die geistvoll-derben Überzeichnungen, sowenn er Heinrich VIII. ein »Stück Speck in Gold-stoff« oder »Lümmel und Teufel zugleich« nannteund Cromwell eine Mischung aus geistlicher »Er-wecktheit und Flegelei«.

Bei allem Ernst, den er seiner akademischen Auf-gabe widmete, ist der plötzliche Verzicht auf dieliterarische Öffentlichkeit nach den zurückliegendenErfolgen dennoch überraschend. Aber anders als beiMommsen hat das abbrechende Interesse an breite-ren Wirkungen nichts mit einer Verlagerung seinerwissenschaftlichen Zielsetzung zu tun, sondern mitseinem nie veränderten, nur vom frühen Ehrgeizabgelenkten Wissenschaftsbegriff. Denn er war derÜberzeugung, daß die Bücher eine Endgültigkeitvortäuschten, die in der Wissenschaft nicht erreich-bar war, sofern sie statt der toten Details, die denSpezialisten so teuer waren, das lebendige Ganze zu

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überblicken suchte. Er selber hat seine Werke dennauch »flüchtige Improvisationen« genannt und ineinem späten Lebensbericht davon wie von etwasBeiläufigem gesprochen, das ihm überdies das Da-sein getrübt habe. Die Rechte trat er bereitwillig anVerleger oder junge Wissenschaftler ab, half auchmit Nachträgen und Korrekturen aus und meintejeweils schon nach kurzer Zeit, die Bücher hättensich überlebt. Den »Cicerone«, der als Reisebeglei-ter Auflage um Auflage verlangte, nannte er gering-schätzig den »verstorbenen Tschitsch und dessenIgnoranz«.

Aber ein frühzeitig resignativer Zug, der Burck-hardt wiederum aus seiner Zeit entfernt, ist indiesem Vorbehalt gegenüber dem literarischenWerk doch unübersehbar. Da er Diogenes liebte, indem er sein Ideal von Bedürfnislosigkeit und skepti-scher Freiheit verkörpert sah, hat man davon ge-sprochen, daß er sich in seine »Basler Tonne« ver-krochen habe, um von dort aus die Welt und dieGeschichte zu betrachten. Jedenfalls besteht seinGesamtwerk zu einem erheblichen Teil aus postu-men Veröffentlichungen, und auf dem Manuskriptder Vorlesung »Über geschichtliches Studium«,das der Neffe Jacob Oeri 1905, acht Jahre nachBurckhardts Tod, unter dem Titel »Weltgeschicht-liche Betrachtungen« aus dem Nachlaß herausgege-ben hat, stand der Vermerk des Verfassers: »ZumVerbrennen.«

Der Text, von dem Herausgeber nur an wenigenStellen zur besseren Lesbarkeit ergänzt, hat, in

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Anlage und Durchführung, den freien, improvisiertwirkenden Charakter einer Vorlesung bewahrt, diesich zur Aufgabe setzt, »eine Anzahl von geschicht-lichen Betrachtungen und Erforschungen an einenhalb zufälligen Gedankengang anzuknüpfen, wieein andermal an einen anderen«. Große Passagen er-wecken den Eindruck eines souveränen, aus anhal-tendem Umgang mit den geschichtlichen Erschei-nungen geführten Selbstgesprächs. Und wenn esbei so viel Detailwissen und so überlegener Freiheitder Betrachtung einen leitenden Gedanken daringibt, dann ist es die nun mit der Autorität großerAltersweisheit vorgetragene Erkenntnis des Durch-gehenden im einzelnen und der Dauer im Wechsel.Denn Subjekt und Objekt, Akteur und Opfer derGeschichte sei durchweg der Mensch, sie kenne we-der einen Sinn noch einen Weltgeist und dessen wis-sende oder unwissende Geschäftsführer. So heißt esgleich zu Beginn: »Unser Ausgangspunkt ist dervom einzig bleibenden und für uns möglichen Zen-trum, vom duldenden, strebenden und handelndenMenschen, wie er ist und immer war und sein wird;daher unsere Betrachtung gewissermaßen patholo-gisch sein wird.«

Das alles läuft auf den entschiedensten Gegensatzzu Hegel und dem optimistischen Diktum von derunendlichen Perfektibilität des in der Geschichtewirkenden Geistes hinaus. Der Geist, hält Burck-hardt dagegen, sei von jeher »komplett« gewesen.Alle Geschichte sei nur Blühen, Wachsen und Ver-gehen, nicht die Vernunft herrsche in ihr oder gar

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eine Idee, sondern ebensooft das Verhängnis oderirgendeine blinde, zu immer anderen Erscheinun-gen drängende Kraft. Alle zusammen wälzten sichin ewigem Wechsel fort, gründend und zerstörend,ohne Ziel, ohne Sinn, und immer nur darauf aus,das widerstrebende Alte zu stürzen und neue For-men hervorzutreiben, die wiederum im Triumphdie Agonie ahnen ließen. Denn »der Geist ist einWühler und arbeitet weiter«.

Hauptstück der »Weltgeschichtlichen Betrachtun-gen« ist das Kapitel »Von den drei Potenzen«, dengeschichtlichen Hauptkräften Staat, Religion undKultur in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Dabei be-greift Jacob Burckhardt den Staat und die Religionals die beiden »stabilen« Mächte, die ihren Grund indem politischen und metaphysischen Bedürfnis desMenschen haben. Ihnen steht die Kultur als Reichder Freiheit gegenüber, des Beweglichen, Farbigen,Verschiedenartigen. Kultur ist Sprache, Geselligkeitund Technik, die Kunst und die Wissenschaft, sie istdas »europäische« Prinzip, das in naturgegebenemStreit mit den »orientalischen«, »barbarischen« undauf Zwangsgeltung pochenden Potenzen des Staatesund der Religion liegt. Beide entstehen nur in gro-ßen, furchtbaren Augenblicken, und diese Entste-hungsart haftet ihnen für immer an, treibt sie zurUnterdrückung alles Spontanen und Individuellen,das seine Sphäre im Kulturellen hat, und zur Aus-dehnung der Macht, die »eine Gier und eo ipso un-erfüllbar« sei, böse an sich, unglücklich und folglich

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unglücklich machend. Doch wird die Macht nichtmoralisierend gegenüber der Kultur abgewertet.Selbst das Böse ist ein, wie es heißt, »Teil dergroßen weltgeschichtlichen Ökonomie«, und »diewichtigsten materiellen und geistigen Besitztümerder Nationen [entwickeln sich] nur an einem durchMacht gesicherten Dasein«. Das eine wie das anderehabe sein Recht, es sei nur darauf zu achten, daßkeines das Übergewicht erlange.

Der pessimistische Grundton, der in den »Welt-geschichtlichen Betrachtungen« wie in keinem an-deren Werk Burckhardts durchschlägt, kommt ausder Beobachtung, daß in jener andauernden Ausein-andersetzung, auch in der Gegenwart wieder, diestabilen Potenzen, vor allem der Staat mit der Ten-denz zur totalen Macht, im Vordringen seien. Wieeh und je betreibe er, wenn auch unter anderer Ver-kappung, die »Abdikation des Individuums«, dies-mal sei es dessen Einbindung in nationale Zweckeund die Entwertung des einzelnen durch denDauerappell an Hingabe und Dienst im heraufkom-menden Kasernenhofstaat. Die Welt, so heißt eseinmal, treibe der »Alternative zwischen völligerDemokratie und absolutem, rechtlosem Despotis-mus« entgegen, und die eine Vorstellung ängstigteBurckhardt so sehr wie die andere.

Denn beide liefen am Ende auf dasselbe hinaus.Das demokratische Gleichheitsprinzip mitsamt derpolitischen und sozialen Nivellierung führte, wie eres sah, gerade nicht zu selbständigem Denken undHandeln, sondern, bei steigender Abhängigkeit und

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Verführbarkeit der Massen, zu einer wachsendenMachtausdehnung des Staates und damit zu einerneuen Form der Tyrannei. In einem berühmt ge-wordenen Brief, den Jacob Burckhardt zur Zeit der»Weltgeschichtlichen Betrachtungen« unter demEindruck des Krieges von 1870/71 schrieb, hat erden Charakter dieser Tyrannei, die das »Militär-wesen« zum »Muster allen Daseins« machen werde,in seherischen Worten gezeichnet. Nicht nur Ver-waltung, Bildung und Arbeit würden nach diesemVorbild umgestaltet werden: »Ich habe eine Ah-nung, die vor der Hand noch völlig wie Torheit lau-tet und die mich doch durchaus nicht loslassen will:der Militärstaat muß Großfabrikant werden. JeneMenschenanhäufungen in den großen Werkstättendürfen nicht in Ewigkeit ihrer Not und ihrer Gierüberlassen bleiben; ein bestimmtes und überwach-tes Maß von Misere mit Avancement und inUniform, täglich unter Trommelwirbel begonnenund beschlossen, das ist’s, was logisch kommenmüßte.«

Den Betrachtungen über die gegenseitige Ver-flechtung der drei Grundkräfte Staat, Religion undKultur folgt im Fortgang des Buches eine Abhand-lung über die beschleunigten Prozesse der Ge-schichte, die historischen Krisen, die Revolutionen,Kriege und Restaurationsphasen, auch dies eher ei-ne Pathologie menschlicher Unrast und ihrer Um-wälzungsbedürfnisse, die unablässig auf den besse-ren Zustand drängen, aber doch nur den anderen,anders maskierten erreichen. Einige Passagen dar-

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aus gehören, seit sie bekannt wurden, zum Reper-toire der großen Zitate politischen Denkens: »Wasdie Anfangsphysiognomie der Krisen betrifft, sotritt zunächst die negative, anklagende Seite zutage,der angesammelte Protest gegen das Vergangene,vermischt mit Schreckensbildern vor noch größe-rem, unbekanntem Druck … Fataliter helfen hiebeibesonders alle diejenigen Aufgeregten mit, welchedann von den ersten Exzessen an in Heuler um-schlagen. Die um einer Sache willen beginnendeKrisis hat den übermächtigen Fahrwind vieler an-dern Sachen mit sich, wobei in betreff derjenigenKraft, welche definitiv das Feld behaupten wird, beiallen einzelnen Teilnehmern völlige Blindheitherrscht. Die Einzelnen und die Massen schreibenüberhaupt alles, was sie drückt, dem bisherigenletzten Zustand auf die Rechnung, während esmeist Dinge sind, die der menschlichen Unvoll-kommenheit als solcher angehören … Endlich abermachen alle mit, welche irgend etwas anders habenwollen, als es bisher gewesen ist. Und für den gan-zen bisherigen Zustand werden durchaus dessendermalige Träger verantwortlich gemacht, schonweil man nicht nur ändern, sondern Rache übenwill und den Toten nicht mehr beikommen kann.«Und schließlich, mit der Skepsis des Mannes, dergerade aus der Betrachtung der historischen Krisen-prozesse soviel Einsicht wie Distanz gewonnen hat;»Um relativ nur Weniges zu erreichen … brauchtdie Geschichte ganz enorme Veranstaltungen undeinen ganz unverhältnismäßigen Lärm. Dasselbe

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Phänomen kommt schon im Leben des Einzelnenvor: mit Anspannung des größten Pathos werdenEntscheidungen getroffen, aus welchen Wunderwas hervorgehen sollte, und aus welchen dann einordinäres, aber notwendiges Schicksal folgt.«

Jacob Oeri hat dem Text der Vorlesung in derVeröffentlichung noch zwei Vorträge hinzugefügt,die Burckhardt etwa zur gleichen Zeit außerhalb derUniversität vor einem größeren Publikum gehaltenhat. Der eine trägt den Titel »Das Individuum unddas Allgemeine« und beschäftigt sich mit der histo-rischen Größe, der Verdichtung geschichtlicher Be-wegungen in bedeutenden Individuen, in denen»Zeit und Mensch in eine große, geheimnisvolleVerrechnung« treten: neben den Dichtern undKünstlern vor allem die großen Männer der histori-schen Weltbewegung. Zwar mutet die Frage danachin einer Zeit, in der sozialhistorische und struktur-geschichtliche Ansätze das Feld beherrschen, eigen-tümlich überholt an. Denn der Tendenz, die Ge-schichte als strenge, von Gesetzmäßigkeiten be-stimmte Wissenschaft zu betreiben, muß das »großeIndividuum« als eine Art Störfall erscheinen. DieWillkür, mit der es agiert, die selbstgesetzten Ur-sachen, die nicht fortgedacht werden können, ohnedaß ein erheblich verändertes Bild der Ereignissezutage träte, sowie die Macht, die es, bei allem Ein-gebundensein in die Zeitverhältnisse, über die Ge-schichte demonstriert, sind nicht rekonstruierbarund verweigern sich jedem nur rationalen Deu-tungsschema. Vielleicht liegt in dieser Notwendig-

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keit, dem gleichsam »aleatorischen« Prinzip, das diegroße Persönlichkeit immer wieder in den Ge-schichtsverlauf einführt, einer der Gründe dafür,warum sie nach wie vor gleichwohl auf ein so un-vermindertes historisches Interesse stößt und dieFrage nach ihrer Rolle und Bedeutung nicht veral-ten kann; als wüßten die Menschen besser als dieWissenschaft, daß die Geschichte nicht in vernunft-gemäßen Formeln aufgeht und die Determinations-zwänge, auf die alles Denken in Strukturen hinaus-läuft, ihr die Freiheit und die Farbe entziehen, dieihr Wesen ist.

Gleichzeitig aber faßt Burckhardt auch die andereSeite des Problems ins Auge, das Vergöttlichungs-verlangen derer, durch die das große oder nurscheinbar große Individuum, die bloß »kräftigenRuinierer«, erst zur Größe kommen: Wir entdecken»in uns ein Gefühl der unechtesten Art, nämlich einBedürfnis der Unterwürfigkeit und des Staunens,ein Verlangen, uns an einem für groß gehaltenenEindruck zu berauschen und darüber zu phantasie-ren. Ganze Völker können auf diese Weise ihre Er-niedrigung rechtfertigen …«

Dem Kapitel über die großen Individuen folgtschließlich die Abhandlung »Über Glück und Un-glück in der Weltgeschichte«, eine Art Schule derhistorischen Betrachtung: über die optischen Täu-schungen, die sich so leicht einstellen, die Inter-pretationsverzerrungen aus Ungeduld, Mitleid undpolitischer Voreingenommenheit, den Einfluß ir-gendwelcher »Wünschbarkeiten«. Immer sei es die

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Ursache historischer Falschbewertungen, einenGrundgedanken in die Geschichte hineinzudenken.Doch meldet sich sogleich auch die Überlegung, obdie Frage nach Glück und Unglück überhaupt zu-lässig sei. Nicht anders als Hegel wußte auchBurckhardt, daß die Weltgeschichte nicht der Bo-den des Glücks ist. Glück setzt Beharrung voraus,ein Zurruhekommen aller Spannungen und weiter-drängenden Energien, während Leben, »nur in derBewegung [ist], so schmerzlich sie sei«. Am Endesteht die bezeichnende Erwägung, daß man ver-suchen müsse, den Begriff des Glücks im Völker-leben überhaupt loszuwerden und nur den des Un-glücks beizubehalten. Denn die Geschichte sei, vomMenschen her gesehen, fast nur Tragödie undSchrecken. Glück dagegen sei, wie es in den feier-lich bewegten Schlußsätzen der »Weltgeschicht-lichen Betrachtungen« heißt, nur in der für irdischeWesen freilich nicht zugänglichen Erkenntnis des»wunderbaren Schauspiels« zu finden, wie der Geistder Menschheit sich immer neue Wohnungen baut.Das gälte auch für die eigene Zeit der Krisis und desSchwankens aller Verhältnisse. »Wer hievon eineAhnung hätte, würde des Glückes und Unglückesvöllig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieserErkenntnis dahinleben.«

Man hat den Betrachtungen vorgeworfen, sie sei-en ein Buch »ohne Metaphysik«, auch ohne Idee,und leugneten den Prozeßcharakter der Geschichtezum immer Neuen, so daß sie schließlich als sinnlo-ses, blutiges Kreislaufen erscheine. Vielleicht hat ein

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Teil dieser Vorbehalte damit zu tun, daß Burck-hardt keiner Schule angehörte und mit seinen Kate-gorien ebenso wie mit seinen Urteilen quer zu allenherrschenden Auffassungen des Historismus wiedes Hegelianismus stand. In der Tat war die Ge-schichte für ihn nichts anderes als eine Flucht wech-selnder Bilder auf meist düsterem Grund, und indem anderen bedeutenden, postum veröffentlichtenWerk, der »Griechischen Kulturgeschichte«, hat erauch die klassische Antike in sein pessimistischesWeltbild einbezogen und, in Anknüpfung an seinenBerliner Lehrer August Boeckh, das von Winckel-mann und der deutschen Klassik herstammendelichte Bild eines ewigen Arkadiens ins Schwärzlicheumgefärbt: in der Beschreibung der »großartigenund zugleich schrecklichen Polis«, den Überlegun-gen zum agonalen Trieb der Griechen, der sichnicht, wie man lange gemeint hatte, vorwiegend inPolitik, Dichtung und Kunst äußerte, sondern auchim wütenden Dauerkrieg zwischen Hellenen undHellenen mit seinen Gewalttätigkeiten und Men-schenopfern und der, aufs furchtbare Ganze gese-hen, weniger ein Eroberungs- und Herrschaftsehr-geiz war als vielmehr eine zerrüttende Krankheit.Die »Griechen, also erstens Mörder von Mitgrie-chen und zweitens kunstsinnig«, heißt es einmal,und Burckhardt hat diesen Widerspruch nie aufzu-lösen versucht, sondern ihn mehr und mehr alsGrundfrage schlechthin empfunden: Was die Lei-stungen der Kultur an Leiden gekostet haben undüber welchen Abgründen sich erhebt, was dem spä-

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teren Betrachter nur noch Gefühle des Staunens undder Bewunderung abnötigt.

Es sei von »diesem feindseligen, alten Pessimistenso gut wie nichts zu lernen«, schrieb eine großeamerikanische Zeitung 1943, als die erste englisch-sprachige Übersetzung der »WeltgeschichtlichenBetrachtungen« erschien. Aber das war noch vonjenem zukunftsgewissen Hochmut getragen, derEuropa etwa um die gleiche Zeit abhanden kam.Friedrich Meinecke jedenfalls sprach gegen Endedes Krieges einmal, im Blick auf Jacob Burckhardt,von »Rankes gar zu leicht erobertem Welttrost« undfragte einige Zeit später sogar, ob Burckhardt nicht»am Ende wichtiger werden« könne als Ranke.

Eine Zeitlang war er es auch. Die Erfahrungender ersten Jahrhunderthälfte schienen wie eine Be-stätigung seiner Katastrophenahnungen. Aber esblieb bei satzweisen Zitaten. Der antipolitische Af-fekt Jacob Burckhardts, der ein Element aristokrati-schen Unverständnisses für die demokratische Epo-chentendenz enthielt, schuf viele Vorbehalte, zumalman darin eine der wenn auch anderswo hervorge-tretenen Ursachen für manche autoritären und spä-ter sogar totalitären Anfälligkeiten erkannte. Undals Ende der sechziger Jahre, im Zeichen all derAufbrüche ins Utopische, ein schwärmerischeroder auch erbitterter Optimismus vorherrschendwurde und in der Wissenschaft die Sozialgeschichtemit ihren Optimismen das Terrain besetzte, gerietJacob Burckhardt mitsamt seinem wunschfreien Al-tersrealismus wieder in jene Außenseiterposition,

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die er schon zu Lebzeiten eingenommen hatte. Woalles sich an emanzipatorischen Prozessen orientier-te und deren Horizont mit verheißungsvollen Lich-tern besetzte, mußte ein Denken merkwürdig ana-chronistisch wirken, das in der Geschichte ewigeWiederholungen, sinnlose Spasmen, nichts als Wel-lenbewegungen sowie das schöne und schrecklicheSpiel von Naturkräften erkannte und sich eine Hei-lung nur davon erhoffte, daß »endlich der verrückteOptimismus bei groß und klein wieder aus denGehirnen verschwände«. Und wo Bildung als»Bürgerrecht« proklamiert wurde, nahm seineÜberzeugung sich absurd aus, daß sie zu mühsamzu erwerben und zu schwer zu lieben sei, als daß sieje Allgemeingut werden könnte.

Dennoch könnten ihm die Umstände zu uner-warteter Resonanz verhelfen. Aber diesmal wärenes weniger Pessimismus und Untergangsempfin-dung, die ihn dem Bewußtsein näherrückten. Wor-in die Gegenwart sich wiedererkennt, hat mehr mitseinem Argwohn gegenüber allen geschichtsphilo-sophischen Konstruktionen zu tun. Was er in einzel-gängerischem Skeptizismus formulierte, ist unter-dessen, wenn auch bisher noch widerstrebend hin-genommen, eine sich verfestigende Gewißheit füralle geworden. Denn mit dem Zusammenbruch desKommunismus ist nicht nur eine weltliche Heils-lehre zugrundegegangen sowie ein Imperium, dasdarauf gründete. Dergleichen füllt nur den Vorder-grund des Geschehens, dessen Zeugen wir sind.Zur Epochenzäsur wird es, weil damit zugleich je-

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ner Glaube an die Allmacht von Mensch und Ver-nunft endet, der die gesamte Neuzeit beherrschte.Sein stolzer Kardinalpunkt war, die Entwicklungs-gesetze und damit das Ziel der Geschichte erkennenzu können, und alle großen Welterklärungsformeln,bis hin zu Karl Marx und den bis gestern noch soselbstbewußten Exegetenscharen in seinem Gefol-ge, gaben eben dies zu wissen vor. Mit ihrem Schei-tern endet eine Zuversicht, die weit und bis zumBeginn der Neuzeit zurückreicht.

Auch jene neuere These, die daraus die Folgerungzu ziehen schien und das »Ende der Geschichte«ausrief, war nichts anderes als ein Nachläufer desBedürfnisses, dem Gang der Dinge eine plausibleDeutung abzugewinnen. Insoweit entstammte sienoch ganz dem Zeitalter, dessen Abschluß sie de-kretierte. Zugrunde lag ihr noch immer die zuse-hends brüchiger werdende Überzeugung, daß derMensch in der unendlichen Bilderwoge der Ge-schichte einen Orientierungspunkt zu fassen ver-möge, während Burckhardt nichts anderes entdeck-te als elementar sich umwälzende Kräfte, derenBewegung das einzige, erkennbare Ziel war.

Der Blick auf die wechselhafte, zwischen Annä-herung und Unverständnis schwankende Rezep-tionsgeschichte Jacob Burckhardts lehrt im Grundenur, daß es damit noch kein Ende hat. Gerade diesaber könnte zugleich ein Indiz dafür sein, daß ernicht der Autor einer bestimmten Zeit, sondern al-ler Zeit ist. Dem »subalternen Geist«, dessen Herr-schaft er mit häufig aus der Resignation in Zorn

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umschlagendem Schrecken heraufkommen sah,hielt er gern entgegen, daß er den Widerspruchnicht ertrage und nur das Übereinstimmende geltenlasse. Womöglich ist der Anachronismus, der ihmverschiedentlich vorgeworfen wurde, nichts ande-res als die aus aller Zeitgenossenschaft immer her-austretende Unabhängigkeit des Denkens.

Infolgedessen kann auch dahingestellt bleiben, obJacob Burckhardt der Gegenwart wieder näherge-rückt ist. Was sein Werk, jenseits aller zeitabhängi-gen Verschiebungen, vermitteln kann, sind der Sinnfür Distanz und die wirkliche Freiheit des Urteils.Auch Skepsis den Erscheinungen wie den eigenenBefangenheiten gegenüber, an denen der Zeitgeist,seine Theorien und die Vorzeichen, unter die erdas Denken stellt, auf vielfach verschlungenen, oftkaum wahrnehmbaren Wegen mitwirkt. Auch dieWissenschaft hat ihre Moden und ihre Mitläufer,und wie überall gilt auch für die gelehrte Republik,was Jacob Burckhardt in einer der häufig aus Sorgeund Hohn gemischten Verächtlichkeiten über dieheraufziehende Massengesellschaft formuliert hat:»Es wird dahin kommen mit den Menschen, daß sieanfangen zu heulen, wenn ihrer nicht wenigstenshundert beisammen sind.«

In den biographischen Studien und Essays überJacob Burckhardt ist der Pessimismus, der ihn soauffällig beherrscht und in die vorderste Reihe derapokalyptischen Denker des 19. Jahrhunderts stellt,vielfach verkleinert worden. Gleichzeitig hat manversucht, die Kraft der Bejahung, die er in der

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Kunst, im Erlebnis des Südens oder im geselligenUmgang mit Freunden und Schülern gefunden hat,dagegenzusetzen. Richtig daran ist, daß er, andersals beispielsweise Theodor Mommsen, keine de-pressiv gestimmte Natur war. Sein Pessimismuskam nicht aus seinem Wesen, sondern aus der Er-kenntnis: vom Blick auf die Welt, auf Blindheit undSelbstzerstörungsdrang der Menschen, auf das dau-ernde Geschiebe zum Abgrund hin. Für die Grie-chen hat er den Widerspruch, der auch sein eigenerwar, auf die Formel gebracht, sie seien im DenkenPessimisten, im Leben dagegen Optimisten gewe-sen. Aus dem Schatten der Trauer, den er am ge-senkten Haupt des vatikanischen Hermes entdeckte,hat er schon früh den Zusammenhang von Denkenund Verzweiflung abgelesen.

Daher kann man seinem Werk, wie manche esversucht haben, auch nicht eine Art Rettungs-botschaft entnehmen, wonach die Kontinuität dereuropäischen Bildung und die Rückbesinnung aufdas klassische Menschenbild jene Bedrohnisse ab-fangen würden, die er herannahen sah. Denn derTrost, den er suchte, war nicht von so einfachappellativer Art. Er hoffte auf »das Leidliche, wo-möglich in freundlicher Gestalt«. Daneben glaubteer, daß die Verdüsterungen, die aus dem Denkenkommen, ein Preis seien, der hinreichend Gewinnbringe. »Was einst Jubel und Jammer war«, schrieber einmal, »muß Erkenntnis werden.« Jenseits vonGlück oder Unglück. Mehr kann nicht sein.

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Der Historiker als Herr der Geschichte

Rede zur Verleihung des Goethe-Preises an Golo Mann

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Mancherlei Hemmungen sind im Spiel, die Erinne-rung an den Tag vor sechsunddreißig Jahren herauf-zurufen, als Thomas Mann den Goethe-Preis derStadt Frankfurt erhielt. Und doch wird niemandhier im Saale sein, der nicht die hagere Gestalt desDichters vor sich hätte, in ihrer schon der Gebrech-lichkeit abgerungenen Würde, und wie er von die-ser Stelle aus seine große Rede über den Namensge-ber dieses Preises hielt. Sie, verehrter Herr Mann,der Preisträger dieses Jahres, sind heute in fast ge-nau dem Alter, das Ihr Vater damals hatte.

Das ist keine absichtslos heraufgeholte Reminis-zenz, wiewohl es schon bemerkenswert ist, daßzwei Träger des gleichen Namens, Vater und Sohn,einen der bedeutendsten Kulturpreise des Landes er-halten. Es hat Gründe darüber hinaus. Denn dieübermächtige Gestalt Thomas Manns hat Sie Ihrganzes Leben lang in mehr als einem Sinne begleitetund tut es noch heute. In solche Daseinsumständehineingeboren zu sein, ist nicht so sehr ein Privileg,wie mancher meinen mag, sondern weit eher eineBeschwernis.

Jean-Paul Sartre hat in seinem Erinnerungsbuch,bei gänzlich andersartigen Verhältnissen, den Sohneinmal mit Äneas verglichen, der, den Vater Anchi-ses auf dem Rücken, die Strecke vom einen Lebens-

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ufer zum anderen zurücklegen muß: eine Last, fastüber das Menschenmögliche hinaus. Und wer hättenicht, bei weit geringeren Bewandtnissen schon,die Beispiele dafür vor Augen und, in den größe-ren, die zu einer besonderen Typologie des Schei-terns ausweitbaren Fälle: Titus Rembrandt, dieBach-Söhne, August Goethe. Sie, verehrter HerrMann, haben es besser gemacht als jene, denen, wiesehr sie sich auch mühten, die Last auf ihrem Rük-ken zu schwer wurde. Sie haben sich behauptet.Zwar gibt es, noch nicht lange zurück, eine Äuße-rung von Ihnen, wonach Sie mehr und Besseres er-reicht hätten, wenn Sie »in einem normalen, gesun-den, schlichten Bürgerhaus aufgewachsen« wären.Darüber ließe sich streiten. Aber daß wir Sie heutehier ehren, bezeugt aufs Sichtbarste, daß Ihnen weitmehr gelungen ist als nur der Schritt aus dem Schat-ten des Vaters heraus. Dieser Preis und diese Feierbeglaubigen ein unverwechselbar eigenes, bedeu-tendes Lebenswerk.

Das wiegt um so mehr, als Sie es sich, zu allemhin, auch schwergemacht haben. Denn wer könntenicht nachempfinden, was der Entschluß bedeutet,mit der Feder umzugehen, wenn man den NamenMann trägt. »Historiker? Das geht ja noch!«, sollIhre Mutter, dem Vernehmen nach, geäußert ha-ben, als sie von Ihrer Absicht hörte, sich der Ge-schichte zuzuwenden. Denn mit diesem Namenwaren zwei herausragende, mit wenn auch unter-schiedlichem Gewicht in die große Literatur desJahrhunderts reichende Œuvres verbunden: das von

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Thomas und das von Heinrich Mann. Inzwischensteht ein drittes daneben. Die Philologen mögen Fa-milienähnlichkeiten aufspüren. Aber es steht da ausganz und gar eigenem Anspruch und eigenemRecht.

Wenn man dergleichen wünschen könnte, habenSie einmal geäußert, hätten Sie am liebsten als Pri-vatgelehrter im Deutschland der Jahrhundertwendegelebt, in zurückgezogenem Dasein, Büchern undFreundschaften zugewandt. Doch als Sie erwachsenwaren und Ihr Studium mit der Promotion bei KarlJaspers abgeschlossen hatten, war es mit solchenWünschen vorbei. Die »große Urkatastrophe desErsten Weltkriegs«, von der George F. Kennan ge-sprochen hat, samt all den nationalistischen und re-volutionär vermummten Entladungen, die ihr folg-ten, hatte diesen Traum unerreichbar gemacht, viel-leicht nicht einmal nur in Deutschland. Aber inDeutschland hat sie das Unterste nach oben ge-kehrt.

1933 verließen Sie, wie Ihre Familie auch, dasLand, es kamen die Jahre der Emigration: in derSchweiz, in Prag, in Frankreich und den Vereinig-ten Staaten. Was hier, stationsweise aufgezählt, sonüchtern klingt, reicht in Wirklichkeit sehr tief. Eshat Sie für immer geprägt: ein traumatisches Inein-ander von Flucht, Angst und enttäuschten Hoff-nungen, von neuerlicher Flucht, Empörung undScham. In einer Rede, 1966 in Brüssel, haben Sievon dieser Erfahrung und ihrer lebensbestimmen-den Wirkung gesprochen, in Sätzen, die Sie aus-

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drücklich als Bekenntnis bezeichnet haben: »Ichweiß nicht«, heißt es da, »ob ich zu sehr viel Le-bensfreude überhaupt bestimmt war. Aber ichweiß, daß das Maß an Lebensfreude, das ich je be-saß, durch die Erfahrungen der dreißiger und vier-ziger Jahre, vor allem durch den Judenmord, sehrstark reduziert wurde und reduziert bleiben wird.Durch andere grausame Irrsinnstaten auch, auchsolche, die nicht von Deutschen vollbracht wurden,auch solche, die gegen Deutsche vollbracht wurden

… Die Hypothek auf meinem Leben werde ichnicht mehr los … Trauer wird immer mit uns sein,und Furcht vor einem neuen Ausbruch des Vulkansauch. Wo das möglich war, wird immer alles mög-lich sein.«

Man kann solche Sätze psychologisierend deuten:als die Reaktion eines pessimistisch gestimmtenTemperaments, das sich von den Erfahrungen dereigenen Lebenszeit in seinen Bitternissen bestätigtsieht. Aber so, für derart melancholische Triumphewaren Sie nicht gemacht. Und auch nicht für denFatalismus, zu dem solche Zeitgenossenschaft ver-führen kann, obwohl Sie verschiedentlich von derVersuchung zur Resignation gesprochen haben, derSie zu widerstehen hatten. Was immer jedoch eswar, es unterschied sich auf merkliche Weise vonder vorherrschenden Art, mit den Erfahrungen derHitlerjahre umzugehen und die Folgerungen darauszu ziehen.

Denn die Zeit der Emigration war, über alle Ver-düsterungen des Gefühls hinaus, für einen Men-

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schen Ihres Alters auch eine hohe Schule der Ein-sicht, der politischen insbesondere. Thomas Mannhat davon gesprochen, daß damals die in den Tu-multen der Epoche verlorengegangenen oder imblasierten Disput zerredeten, sehr einfachen Unter-scheidungen zwischen Gut und Böse, zwischendem Dienlichen und dem Verstiegenen, wieder zu-rückgekehrt seien. Was Sie selber angeht, so erfülltein Nachhall davon das gesamte Werk.

Von daher kommt die klare, kräftige Sprache, dieden Leser, bei aller Kunst der Differenzierung, nieim Ungewissen läßt, worauf eine Sache, ein Argu-ment hinauswill, und worauf nicht. Von daher aberauch eine häufig ungehalten hervortretende Abnei-gung gegen alles Ideologiewesen: im Politischen,wo die Verheerungen, die es anrichtete, unüberseh-bar waren, aber im Denken auch. Ideologien, des-gleichen Systeme als Ausgangspunkt erkennenderTätigkeit, das hat der erzwungene Abstand vonDeutschland womöglich erst in ganzer Schärfesichtbar gemacht, tun der Fülle der ErscheinungenGewalt an. Sie unterschieben dem Geschehen eineneinzigen, zumindest bestimmenden Antrieb oderSinn, und fast immer steht ein politischer Vorsatzdahinter. Die Integrität der Wahrnehmung in Be-trachtung der Weltläufe aber duldet solche Vorga-ben nicht, und wer die Ereignisse aus einem Haupt-punkt erklären will, ist im Grunde schon verloren.

Man kennt das Argument dagegen: daß die be-hauptete Ideologiefreiheit nichts anderes als eine ab-gefeimte Spielart ideologischer Maskerade sei.

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Aber Golo Manns Werk belegt, daß es so nicht seinmuß. Am greifbarsten tritt das naturgemäß in derEssayistik hervor, dieser in Deutschland von derVorliebe für die strengere wissenschaftliche Ab-handlung stets verdrängten und nur außenseiterischbetriebenen Kunstform des zu pointierten Einsich-ten drängenden Gedankenstücks. Von Golo Mannliegen drei Essay-Bände vor, viel Bewundernswür-diges darunter wie die Betrachtung über »SchloßArenenberg«, über »Max Weber« oder »Tacitus«.Bei aller Vielfalt der Themen lehren diese Arbeitenimmer das eine: was Freiheit der Beobachtung undFreiheit des Urteils wirklich ist. So die beißende Po-lemik gegen A. J. P. Taylor und dessen scharfsinni-gen Unverstand, so auch die Versuche über Hein-rich Heine oder Georg Büchner, deren Bild allerrevolutionsideologischen Inanspruchnahme entzo-gen und in seiner Gebrochenheit, seiner Unruheund nervösen Schwermut wiederhergestellt wird.Einmal setzt der Verfasser sich höchst kritisch mitHannah Arendt auseinander, ein anderer Essay han-delt von Ernst Jünger, dem voraufgegangenen Trä-ger dieses Preises, in dem der Riesenabstand, derden Autor vom Betrachteten trennt, in keiner Zeileverschwiegen und doch ein immer »lebendiger,sensibler, neugieriger Geist« geehrt wird, dessenIrrtümer dem Denkenden mehr zu sagen haben alsdie Klugheit der »falsch Allwissenden«. Und so,oder ähnlich, leitmotivisch immer wieder.

Es steckt viel Einzelgängertum in alledem, ausVeranlagung schon, doch aus Lebenserfahrung

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auch. Aber man soll es damit nicht abtun. Denn dieUnabhängigkeit des Denkens ist nichts, was einemeinfach zufällt, und oft ist es schwer, in den Wahr-heiten von heute die Irrtümer von morgen, oderauch die von gestern, zu erkennen. Die erstenNachkriegsjahre stehen seit einiger Zeit als Phaseder Restauration in Verruf. Doch seltsamerweisehaben diejenigen, die ihr das nachsagen, mit un-gleich größerem Aufwand, ungleich größerem Er-folg auch, auf ihre Weise nichts anderes als die Re-stauration des Abgelebten betrieben. Golo Mann istmehrfach, mit beunruhigtem Erstaunen, der Fragenachgegangen, wie es zu jener merkwürdigen Re-naissance des Marxismus hat kommen, wie seineHeilsparolen so neue, schwindelnde Suggestion ha-ben gewinnen können, nachdem sie eine Generationzuvor schon intellektuell kompromittiert und er-storben schienen.

Es war wie eine Gespenstererweckung. Undwenn sie ihn mit Sorge erfüllte, so weil er auch dasGegengespenst vor Augen hatte, mitsamt der Er-fahrung, daß beide im Ringen gegeneinander erststark zu werden pflegen: Erleben der Älteren, dieSpuren noch sichtbar, und doch wie in den Windgeschrieben. Am beklemmendsten war denn auch,daß offenbar keine Lehre der Geschichte das Verlan-gen nach einer der weltlichen Verheißungsideolo-gien hatte stillen können, wie sie unserer Epoche ei-gentümlich sind; daß die Droge Utopie noch immerihre Wirkung tat und selbst der tägliche Augen-schein nicht dagegen aufkam: daß schließlich die

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Einsicht vergeblich war, wonach der Weg in solcheNiemandslande, ist er einmal eingeschlagen, allenstolzen Prophetenworten zum Trotz, den geduck-ten Gang und Schlimmeres verlangt.

Fatalismus oder Realitätsverweigerung: Es sind diesdie beiden im Deutschen vorherrschenden Weisen,mit der Wirklichkeit umzugehen, und wir wissenlange, wie sehr sich das eine im anderen wiederfin-det. Unleugbar ist Großes daraus hervorgegangen,bedeutende Gedanken, gleißende Konstruktionenvon Geschichte und Gesellschaft. Aber nur wenigdarunter von praktischem Gewinn für die Men-schen, wie sie wirklich sind, und weit mehr dabei,was nichts anderes ist und sein will als das Entzük-ken des sich selbst betrachtenden Geistes.

Von alledem hat der hier zu Feiernde sich stetsferngehalten. Auch das war in der Fremde gewon-nene oder durch die Fremde begünstigte Erkennt-nis. Seine Schriften verraten durchaus spekulativeEnergie, aber immer bindet er, was zu sagen ist, ansVernünftige, Wirkliche. Insoweit steht er nicht nuraußerhalb des nationalen Herkommens, sondernaußerhalb gleichsam auch der Familientradition.Thomas und Heinrich Mann, der eine wie der ande-re, waren tief unpolitisch oder apolitisch, Zeit ihresLebens. Alle ihre Einwürfe zum Tage, sei es an-fangs, bei dem einen jedenfalls, in »reaktionäremTrotz«, sei es in später gleichgestimmter Gutartig-keit, kamen wie aus weiter, unbegriffener Ferne,und man rettet sie ins Politische nur um den Preis

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der Verwechslung von guter Gesinnung und politi-schem Sinn.

Sehr anders der Sohn und Neffe. In einem Auf-satz aus dem Jahre 1938 schrieb er: »Der denkendeMensch ist so beschaffen, daß er mit seinem Den-ken nützen will.« In dieser verallgemeinerndenForm würde er das heute sicherlich nicht mehr gel-ten lassen; zuviel Erfahrung mit exaltiertem, radika-lem Selbstverblendungsbedürfnis steht dagegen.Aber als Aufforderung, sich den Fragen der Machtund ihrer Wirkungsweise, dem komplexen Geflechtder Gruppen und Interessen, ihrem Streit und Aus-gleich oder auch der Rolle des einzelnen zuzuwen-den, ohne dabei die Menschen mit ihren Hoffnun-gen, Ängsten und Widersprüchen aus dem Auge zuverlieren – in diesem appellierenden Sinne würde ergewiß nach wie vor dazu stehen. Bei allem Lebens-verlust, den die Jahre der Emigration bedeuteten,waren sie auch eine Zeit des Gewinns. Erworbenwurde der Sinn für die Politik, für das Mögliche,das so schwer zu erkennen ist, für das Recht der ei-nen wie der anderen Seite und die Mechanik desKompromisses. Man kann auch sagen: für das, wasPolitik ist, und für das, was sie im Praktischen, dasheißt im Menschlichen, verlangt.

Davon zeugt die einfühlsame Studie »Vom GeistAmerikas«. Davon zeugt auch, auf andere Weise,das erste große Werk des Historikers, die Biogra-phie »Friedrich von Gentz«, 1938 bis 1941 geschrie-ben, ein Buch der unverlorenen Empfindung fürdas eigene Land, der Selbstermutigung auch und

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der schicksalsverwandten Nähe, über die Zeitenhinweg, zu seinem Gegenstand. Der starrsinnigeCharakter dieses Mannes, sein in aller Vereinzelungzäh durchgehaltenes Widersachertum gegen Napo-leon, die Demoralisierung der europäischen Mäch-te, die Einsamkeit der Gegenspieler, Ohnmacht undZorn: in alledem schien die eigene Situation vor-weggenommen.

Unter den Hunderten von Briefen und Denk-schriften, die Gentz als Hauptbetreiber des Wider-stands gegen den Diktator verfaßt hat, »der größtepolitische Schriftsteller deutscher Sprache«, wieGolo Mann ihn nennt, finden zahllose sich, die vomAutor selber, aus der Zeit der Niederschrift die-ser Biographie, stammen könnten: »Mein Haß«,schreibt Gentz, »gegen diesen treulosen, eitlen,kleinherzigen, durch die Infamie der Zeitgenossenerst bis zur Größe, dann bis zum Wahnsinn derGröße hinaufgeschraubten, übermütigen, gottes-lästerlichen, bübischen Usurpator, ist eine Leiden-schaft, jetzt meine einzige, geworden, die meinInnerstes verzehrt. Wenn mir heute jemand mitGewißheit vorausverkündigen wollte, daß ich nie et-was zum Sturze dieses Ungeheuers beitragen wür-de, so wäre mir das Leben ein Ekel und eine Last …Ich kann mir, wenn ich den Grund meines Herzensdurchwühle, nicht verhehlen, daß das Entsetzlichste

…, ein so ungeheures und namenloses [Unglück],wie selbst der Untergang eines ganzen Sonnensy-stems nicht sein würde, für mich in aller Ewigkeitdas bleibt, daß solche Canaillen recht behielten.«

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In der Tat: Aus diesen aufgewühlten, katarakt-artig sich überstürzenden Sätzen spricht niemandanders als der Autor selber. Golo Mann hat bei Ge-legenheit bemerkt, es sei ein innerlich gespanntesBuch, geschrieben von Gentz aus. Aber zugleichauch, mehr als jedes andere, von der eigenen Situa-tion, der eigenen Gemütsverfassung her, die äußer-ste Ineinssetzung mit dem Porträtierten. Und wennjene Vergangenheit in so vielem eine Vorwegnahmewar: Warum nicht auch im endlichen Triumph überden Unterdrücker, auch wenn dessen Macht damalsnoch fulminierte und gerade erst über Europa aus-zugreifen begann?

Das Buch ist voll von solcher, aus der Geschichtebegierig aufgenommener Hoffnung. Aber zugleichimmer wieder Abstand nehmend, die hellen mitden trüben Tönen mischend, bis gegen Ende hin,nach der Überwindung Napoleons, als Gentz zum»Sekretär Europas« geworden war und zum BeraterMetternichs, die dunklen Farben fast die Überhandgewinnen. Seine Schuld sei zu lehrreich, meint derAutor, als daß man sie verkleinern dürfe. Wie über-haupt, bei allem Pathos des Werkes, aller zeitbe-dingten Erregtheit, die wohltuende Kühle wissen-schaftlichen Geistes darin herrscht, die Kunstdurchschauenden Abwägens von Zusammenhän-gen und Motiven, so daß der Leser immer wiederdas Elementarerlebnis gelungener geschichtlicherDarstellung hat: wie Anteilnahme sich in Denkenumsetzt, Empfinden in Erkenntnis, Erleiden in Er-klären. Die spätere Meisterschaft auf diesem Felde

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ist schon in diesem frühen Buch ganz entfaltet, nurbewegter als beispielsweise in der »Deutschen Ge-schichte des 19. und 20.Jahrhunderts« oder dem»Wallenstein«, weniger gelassen. Damit hat zu tun,daß einiges Geringfügige der Kritik inzwischennicht mehr ganz standhielt, vornehmlich der desAutors, aber was weit nachdrücklicher im Bewußt-sein haftet, ist, überblickt man das Ganze, das un-beirrbare, die Dinge ständig neu bedenkende Be-mühen um Gerechtigkeit.

Wie schreibt man Geschichte? Golo Mann hat dar-über, sei es in den Essays, sei es in manchen betrach-tenden Einschüben seiner großen Darstellungen,immer wieder nachgedacht. Dies ist nicht der An-laß, seine Überlegungen im Zusammenhang vorzu-stellen. Aber einige Hauptstücke daraus doch.Die Gerechtigkeit zählt, obenan, dazu. Er hat siean den Historikern, denen seine Bewunderung ge-hört, durchweg gerühmt: an Ricarda Huch zumBeispiel oder an Lord Acton. Sie kommt aus derBereitschaft, immer das Ganze zu sehen, Vorzügeund Schwächen, Recht und Unrecht einer Sacheoder einer Person, weshalb denn auch Golo MannsSympathie durchweg den zwielichtigen, eingedun-kelten Figuren gehört, den »zeitkranken Indivi-duen«, Gentz eben, oder Wallenstcin oder Bismarckauch, den er einmal, »trotz allem«, seine Lieblings-gestalt in der Geschichte genannt hat. Natürlich hatdies, neben vielem anderen, mit dem dramatischenVerstand des geborenen Schriftstellers zu tun, der

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weiß, daß die strahlenden Helden, wenn sie immernur strahlen, zur Darstellung kaum taugen. Aberzugleich ist es in jener Moralität begründet, die Ge-rechtigkeit überhaupt erst möglich und den Histori-ker zum »Herrn der Geschichte« macht. Die Wen-dung stammt, wie man weiß, von Thomas Mann,Pathos und Glück seiner Produktivität kamen vonda her. Sie stammte natürlich aus anderen Zusam-menhängen und meinte das Erfinderrecht des Ge-schichtenerzählers. Aber »Herr der Geschichte« istder Historiker auf seine Weise auch, obwohl es indiesem Fach nichts zu erfinden gibt. Vielmehr ist esder Wille zur Gerechtigkeit, der ihm den Anspruchdarauf gibt.

Dieser Wille ist der gegenwärtigen Geschichts-schreibung auf vielfältige Weise abhanden gekom-men. Bei einigen Historikern stößt man auf eineNeigung zur Parteilichkeit und zum Gewaltantun,die ohne allen abwägenden Ernst ist. Was sich kriti-sche Geschichte nennt, offenbart häufig wenigerKraft zur Unterscheidung als zur Verdammung,und kein Respekt vor dem Stummsein der Totenmacht den Anklägern die Schuldsprüche schwer.Vielmehr ist es, als werde die Vergangenheit alsRichtstätte betrachtet, auf der, um im Bilde zu blei-ben, eine Art Standrecht herrscht, mit kurzem Pro-zeß. Statt zahlreicher Beispiele kann man auf vielesverweisen, was unlängst, aus Anlaß der 40. Wieder-kehr des 20. Juli 1944, geschrieben worden ist.

Doch nicht nur der Hang zum Tendenziösen mitall seinem moralischen Schreibtisch-Rigorismus hat

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die Gerechtigkeit aus der Geschichte verdrängt. Sieist auch von der Gegenseite her bedroht: durch ei-nen empirischen Positivismus, der unablässig neueDaten und statistische Kolonnen auswirft, ein mitunendlichem Fleiß zusammengetragenes Material,das sich der Wahrheit der Geschichte um so mehrvergewissert glaubt, als der Autor weit dahinter zu-rücktritt.

Aber in Wahrheit tritt der Historiker bei dieserMethodik nicht zurück, sondern versteckt sich nur.Längst weiß man, in welchem Maße Untersu-chungsansätze oder Parameter in die Ergebnissehineinwirken, wie lückenhaft alles Zahlenwerk ist,und daß, wer eine Zeit begreifen will, aus diesen pe-dantisch archivierten Skeletthaufen kein lebendigesBild gewinnen kann. Er bleibt zuletzt doch auf denInterpreten angewiesen, der die toten Bestände insLeben zurückholt, sie zum Sprechen bringt, ihnenFarbe gibt und auch dem »Schweigen der Geschich-te« Deutungen abverlangt.

Man muß nicht eigens hervorheben, daß die er-forschende Einzeluntersuchung wichtig ist. Aberdie Arbeit des Historikers als Geschichtsschreiberbeginnt erst jenseits davon, zumindest wo sie aufDarstellung, sei es einer Epoche, sei es eines bedeu-tenden Individuums hinauswill. Da helfen die iso-lierenden Studien nicht weiter und machen auch inder Summe noch kein Bild, weil alles in bewegtemZusammenhang steht, das eine aufs andere wirktund alles mit unterschiedlicher Kraft aufeinander,bis am Ende doch immer wieder das Überraschen-

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de, ganz und gar Unvorhergesehene eintritt. »Daswahre Faktum steht nicht in den Quellen«, hatDroysen bemerkt. Das heißt nichts anderes, als daßzu den Materialien hinzutreten muß, was nur derAutor beisteuern kann: die Entwirrung des zu-nächst Unüberschaubaren, Kombinations- und Un-terscheidungsvermögen, Begriffe, Verstehensener-gie, Urteilskraft, man kann auch sagen: Phantasie.

Mich hat schon vor Jahren ein Zusammenhang be-eindruckt, den ich jetzt in Golo Manns Essay über»Schiller als Geschichtsschreiber« wieder las: WieSchiller, als er den »Dreißigjährigen Krieg« verfaßteund darin das Porträt Wallensteins entwarf, sich engan die verfügbaren Quellen hielt und daraus einezwar überaus plastische, im Grunde aber doch wi-dersprüchliche Figur verfertigte, deren Ungereimt-heiten er zum Schluß selber einräumte. Und wie erJahre später, den Stoff in der Tragödie wieder auf-greifend, bei unverändert dürftigem Forschungs-stand und ohne beispielsweise einen der charakteri-stischen Briefe des Feldherrn je gelesen zu haben,nicht nur psychologische Details aufspürte, sondernauch, bei nunmehr befreiterer Phantasie, Absichten,Motive und geradezu Wörtliches von ihm erriet,wofür die Belege erst geraume Zeit danach, mit dereinsetzenden Wallenstein-Forschung, entdeckt wur-den.

Alle bedeutenden Historiker, von Gibbon überMommsen und Burckhardt bis hin zu dem französi-schen Sozialhistoriker Marc Bloch, haben die Ge-

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schichtsschreibung als Kunst betrachtet, undenkbarohne einen »Anteil an Poesie«, und im Grunde derLiteratur näher als der Wissenschaft. Von dieser ent-leiht sie die Methoden, von jener hat sie das Ideal,und der Unterschied läuft am Ende darauf hinaus,daß die Literatur die Wahrheit im Erfundenen, dieGeschichtsschreibung sie dagegen im Geschehenenausfindig zu machen sucht.

Golo Mann hat diese Linie noch weiter ausgezo-gen. Im Widerspruch gegen eine moderne Auffas-sung, wonach die Geschichte eine Wissenschaft imstrengen Sinn sei wie Medizin oder Physik auch,nur unfertiger, doch zum Fertigen drängend, hat erderen Wissenschaftscharakter rundheraus bestrit-ten. Denn die Geschichte habe mit dem Einmaligenzu tun, die Wissenschaft mit dem Prinzip der Wie-derholung, jene suche und finde im Ähnlichen dasimmer Neue, diese das Gesetz. Und dann, sehr apo-diktisch: »Die Historie ist eine Kunst, die aufKenntnissen beruht, und weiter ist sie gar nichts.«Bezeichnenderweise hat er denn auch den »Wallen-stein« einen »historischen Roman« genannt. Wederdie jahrzehntelangen, im Grund von Jugend auf be-triebenen Studien, noch der rund 140 Seiten umfas-sende Anmerkungsteil oder die Sorgfalt im histo-risch Handwerklichen, die selbst für geringfügigeEinzelheiten nicht anders als für das scheinbarErfundene die Quellen vorweisen kann, machendaraus Wissenschaft; einen »gewaltigen fremdenMenschen« nennt der Autor ihn, trotz aller for-schenden Gedankenmühe. Und weil es um Kennt-

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nisse und Kunst geht, zeigt er sich durchweg be-strebt, den Fleiß, die Anstrengung und Geduld, diein das Werk eingegangen sind, dem Leser nicht auf-zudrängen.

Denn das verlangt der Geist der Erzählung, derimmer auch der Geist großer, einen Zeitzusammen-hang erfassender Geschichtsschreibung ist. GoloMann hat sich einmal einen »verhinderten Erzähler«genannt, das sei so etwas wie das »Geheimnis seinesLebens«. Doch wenn es je ein Geheimnis war, hat eres schon in der »Deutschen Geschichte«, die einMusterfall erzählerisch umgesetzter universaler Ge-lehrsamkeit ist, aller Welt offenbart. Und natürlichim »Wallenstein«. Wie er die Geschichte vom Auf-stieg des namenlosen böhmischen Landadligen zumGeneralissimus und mächtigsten Mann des Reichesanheben und den bizarren Charakter allmählich ausdem Geschehen heraustreten läßt, wie er Atmo-sphäre und Lebensstimmung der Zeit spürbarmacht, die Akteure gegeneinanderführt und dieEntwicklung vorwärtstreibt, sie um neue themati-sche Linien erweitert, erste, bald sich verstärkendeDissonanzen einfügt, bis die Darstellung, zwischenBeschleunigung und retardierenden Elementen,schließlich dem schrillen Ende zustrebt, das so vieleEmpfindungen der Unvermeidbarkeit wie, allen ir-ritierenden Zügen des Helden zum Trotz, auch desMitgefühls, sogar der Trauer weckt, das hat denAtem großer epischer Erzählung und sicherlich, soweit man sich auch umtun mag, nichts, was ihmgleichkäme.

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Die Einwände gegen diese Art historischer Dar-stellung sind bekannt: Sie sei überholt, perspek-tivenarm, formalistisch. Aber nichts davon trifft zu.Immer wird es Menschen geben, die eine Geschich-te erzählt haben wollen. Dergleichen ist von keinerZeit, so modern sie sich auch dünkt, zu überholenund geradezu ein menschliches Urbedürfnis.

Und dieses Erzählen kann schlechterdings jedePerspektive erfassen, selbst die ökonomische undsoziale, weil Geschichte auf jedem Felde Geschich-ten enthält. Es gibt die Anekdote von den zwei hi-storisch beflissenen englischen Damen, die neben-einanderher eine Napoleon-Biographie lesen; undvon denen die eine, ergriffen vom Ende des Kaisers,der Niederlage bei Waterloo und der Gefangenset-zung auf St. Helena, der anderen darüber Andeu-tungen macht, von dieser aber zurechtgewiesenwird: Sie wisse das alles, aber, for God’s sake, mandürfe von einer Geschichte doch nicht verraten, wiesie ausgeht. Da tritt, in eher erheiternder Form, die-ses Urbedürfnis zutage. Es ist ja kein Bedürfnisnach der bloßen Chronik. Die ist im Lexikon zu fin-den. Und auf irgendeine Art Untergang läuft es amEnde immer hinaus. Was die Erwartung wirklichweckt und Befriedigung noch im Allerbekanntestensucht, hat vielmehr mit der Kunst zu tun, die derAutor aufbringt, aus anderer Zeit, mit anderenUmständen und anderen Figuren, ein Stück vonuns selbst zu erzählen.

Zutreffend ist, daß ein starker Formwille in GoloManns Darstellungsart steckt. Aber es fällt schwer,

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darin einen Einwand zu erkennen, zumal in einerZeit, die gerade zu ahnen beginnt, in welche Sack-gassen die Auflehnung gegen die Form geführt hat.Im Grunde geht es auch um weit mehr als ein ästhe-tisches Prinzip, um mehr als Kunstspielerei. Dahin-ter steht die Überzeugung, daß Form und der Wi-derstand, den sie bereitet, auch Erkenntnis schaffen;daß gelungene Form, darüber hinaus, die Entfrem-dung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeitüberwinden helfen kann, die viel beklagt und unab-lässig weiter vertieft wird. Und daß schließlich, aufder subjektiven Seite, alles, die Ängste und gedank-lichen Belastungen, denen jeder ausgesetzt ist, nurauszuhalten sind, indem man ihnen Form gibt. Go-lo Mann hat bei Gelegenheit bemerkt, daß alles Er-zählen, auch und gerade im Historischen, sich derformlosen Unendlichkeit des Lebensstoffes gegen-übersehe, ihn in Sätze, Rhythmen, Sprache füge,um, wie es dann in einem hochgezogenen Bildeheißt, »den Chaos-Drachen zu bannen«, wenigstensfür eine Zeit.

Auch da wirken offenbar die prägenden Ein-drücke früher Jahre mit, die Erfahrungen von Kon-fusion, Willkür und intellektueller Phantasterei,von dieser ganzen deutschen Dauerromanze mitdem Irrationalen, die, wie wir wissen, noch immernicht zu Ende ist. Viel spricht dafür, daß in solchenunvergessenen Lektionen auch Golo Manns Kon-servatismus begründet ist: seine Sympathie für ge-wachsene Ordnungen, für emotional verankertesoziale Bindungen und Traditionen, denen er den

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Vorrang gegenüber den Ideen einräumt. Sein amEnde doch größeres Vertrauen in die aufhaltendenals in die vorwärtsdrängenden Kräfte. Burke, Toc-queville und Jacob Burckhardt nennt er einmal »diegroßen Meister und Warner«. Starke Phantasie ma-che konservativ, heißt es bei Hugo von Hofmanns-thal, und tatsächlich läßt sich, woran die großenVorantreiber des historischen Prozesses, die Revo-lutionäre und Utopisten, sei es selber, sei es mit ih-ren Absichten, gescheitert sind, immer wieder aufihren Mangel an Phantasie zurückführen. Dochvielleicht bedarf es dieser Phantasie nicht einmal.Vermutlich reicht die Lebenserfahrung. Die Ge-schichte ist ein Teil davon.

Die oft erörterte Frage, ob aus der Geschichte zulernen sei, beantwortet Golo Mann daher auch ent-schieden zustimmend. Sie lehrt, über alle Wieder-holungen und Vergleichbarkeiten hinweg, das Ein-zigartige jedes Augenblicks. Sie lehrt den Zweifelund den denkenden Umgang mit der Welt. Auchdaß alle großen Vorhaben und Unternehmungen,Revolutionen oder Gegenrevolutionen, nie zumgedachten Ziel führen, und der Mensch, allem ver-meintlichen Vorauswissen zum Trotz, stets gewär-tig sein muß, dem gänzlich Unvermuteten gegen-überzustehen. Sie ist ein Mittel gegen falscheZuversicht wie gegen übertriebene Ängste. Es sindsolche allgemeinen Einsichten, die sie, ungeachtetallen Wandels, aller Bereicherung in den Fragestel-lungen, vermittelt. Nicht mehr, nicht weniger. Sie

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finden sich, oft zu sentenzhaften Formeln verdich-tet, in den großen Geschichtswerken von Thuky-dides und Tacitus an. Man stößt auf sie immerwieder, auch bei Golo Mann, der stärkere Gründeals alle seine Vorgänger für diese Neigung geltendmachen kann. Denn sie erinnern nicht nur an dieSubstanz, sondern, mehr noch, an die Grenzenhistorischer Einsicht. Sie ergänzen das »tief Unter-haltende« aller Geschichte und erweitern es ins Be-lehrende.

Der Blick ins Gewesene lehrt auch den Pessimis-mus, der Gedanke taucht in den Schriften GoloManns immer wieder auf: wieviel Schwerfälligkeit,Schwäche oder Aggression die bessere Sache ver-derben, und welcher fragwürdigen Mittel sich diegute Sache bedienen muß, um zu ihren oft flüchti-gen Erfolgen zu gelangen. Schon im »Gentz« heißtes, dieser habe »kein geschichtliches Buch lesenkönnen, ohne daß quälende Einsichten ihn befie-len«. Auch da wird der Autor von sich selber ge-sprochen haben. Gewiß ist viel Freude an der Far-bigkeit, der skurrilen Bilderfülle und an der Ironiedes Lebens in seinem Werk. Aber doch mehr Leidenan der Zeit, Verachtung der Dummheit, der Mittel-mäßigkeit und der rechthaberischen Schreierei.Trauer darüber, daß die Menschen sind, wie siesind; eher zum Scheitern als zum Gelingen be-stimmt. »Tempora mutantur?« schrieb Lessing.»Ich bitte Sie, legen Sie doch die Vorurteile des Pö-bels ab! Die Zeiten ändern sich nicht!« Und den-noch ist bei Golo Mann von der Hoffnung die

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Rede, daß der historisch informierte Politiker weni-ger Unheil anrichten werde als der historisch ah-nungslose. Es ist nur eine Hoffnung, schwach, unddie Besorgnisse nicht beschwichtigend. Aber docheine, die durch keine widersprechende Erfahrunghinfällig würde.

In dieser Skepsis, diesem pessimistisch getöntenKonservatismus, ist der Preisträger von heute demNamensgeber des Preises nahe. Er ist es auch imWeltbürgerlichen, in der Urbanität von Kenntnisund Gesinnung. Und denkt man an Vergleichbares,so ist, um Weiteres zu nennen, auffallend auch, hierwie dort, die künstlerische Verwendung der All-tagssprache, die das Kolloquiale zur Stilformmacht, abgehoben einzig durch eine Vorliebe für ar-chaisierende Wendungen und Begriffe.

»Manchmal geht die Knappheit der Worte an dieäußerste Grenze, nur, wo er beschreibt, was ihmnicht liegt, können es ihrer zu viele werden. Immergenügen sie, um im Leser die Atmosphäre, dasHalbdunkle, das schwefelfarbene Licht zu reprodu-zieren, wie sie in der Seele des Schreibenden sind.«Da ist ganz offenbar von Golo Mann die Rede, aberes stammt von ihm selber, aus dem »Versuch überTacitus«. Ich bin mir nicht sicher, wie sich für denZeitgenossen der Tonfall ausnähme, in dem sich derGoethe der späten Gespräche mit Eckermann, Rie-mer oder dem Kanzler von Müller äußerte. Aberder Goethe früher, emphatischer Jahre war das nichtmehr. Sondern ein ausnehmend distanzierter, wennauch niemals kühler Beobachter, der in gänzlich na-

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türlicher Weise das Vernünftige sagt und dessenWeisheit immer unangestrengt klingt; der den frei-en Blick auf Menschen oder Umstände hat und, beialler oft barsch anmutenden Teilhabe, durchweg ei-ne Stufe des Lebens sichtbar macht, die zu heraus-gehoben, zu fern den Interessen und dem »Gedrän-ge der Weltbegebenheiten« ist, um anderes als daserkannte Wahre der Mühe für wert zu erachten; fürden der Widerspruch, der sich gegen ihn erhebt, nurnoch das Bewußtsein souveränen Gleichmuts ver-stärkt.

Golo Mann erwähnt einmal beifällig Lord Acton,der für das alte Österreich, diesen großen, bunten,vergangenheitsschweren europäischen Staat par ex-cellence, eine besondere Anhänglichkeit empfand;und der auf den Einwand, dieses Österreich sei poli-tisch nichts anderes als ein sinkendes Schiff, entgeg-nete: »I am afraid, I am a partisan of sinking ships.«Darin kommt soviel Trauer wie Unvermeidlich-keitswissen zum Vorschein, aber Widerstrebenauch. Die genauere Betrachtung wird im einen wieim anderen etwas vom Temperament Golo Mannsselber entdecken: die Überzeugung, daß bei denverlorenen Sachen, für die sich kaum eine Stimmeerhebt, mehr Würde sein kann als bei den verworre-nen Kommandos des Zeitgeists, dem alle hierhinund dorthin nachlaufen; daß man sich der Gegen-wart dennoch nicht entziehen, sich mit ihr aberauch nicht überwerfen soll.

Gewiß lassen sich aus alledem Vergleichspunktezwischen dem Preisträger und dem, auf den der

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Preis zurückgeht, finden. Doch eine wirkliche Ver-wandtschaftsbeziehung ergibt sich daraus kaum.Golo Mann erhält die Auszeichnung überdies fürsein historisches Werk. Goethe dagegen war, wasimmer die Zitatenschätze hergeben mögen, ohneeigentlich geschichtlichen Sinn, auch darin fremdin einer Zeit, die soeben »the charms of history«zu entdecken begann. »Es geht wirklich ins Ko-mische«, schreibt er gegen Ende seines Lebens ineinem Brief, »wenn man überdenkt, wie manvon längst Vergangenem sich mit Gewißheit über-zeugen will.« Herauszufinden sei dabei besten-falls »nichts anderes als eine große Wahrheit, dielängst entdeckt ist und deren Bestätigung man nichtweit zu suchen braucht«. Gemeint sei, wie er höh-nend bemerkt, »die Wahrheit nämlich, daß es zu al-len Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesenist«.

Und doch gibt es wohl niemanden, der bestreitenwürde, daß der Preis auf den Mann gefallen ist, demer vor jedem anderen zukommt. Das hat mit unge-suchter, aber zugestandener Autorität im Geistigenzu tun, wie sie aus großer, teilnehmender Unabhän-gigkeit herrührt, und aus der Fähigkeit, durch dieKraft und Distinktion der Sprache zur Erhellungder Welt beizutragen. Da liegt auch die Nähe, mehrals irgendwo sonst.

Golo Mann hat einmal, aus anderem Anlaß, davongesprochen, daß er nach 1945, angesichts des Ge-schehenen, nie mehr ganz heimgekehrt sei. Und

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dennoch haben ihn, überblickt man sein Werk, fastausschließlich deutsche Themen ergriffen und be-schäftigt. So wenig wie irgendeiner aus den Gene-rationen derer, die in diese Zeit hineingerieten, kamer von den Fragen los, die sie aufgeworfen hatbis heute. Da hatte die Gegenwart selber dem Er-kenntnisverlangen etwas unerhört Zwielichtiges,Widriges aufgegeben, das verstanden sein wollte, soweit historische, menschliche Wirklichkeit über-haupt zu verstehen ist; und der Rest an unauflös-barem Unsinn und Widersinn war, wie es geht, zuertragen.

Das war die Forderung des Tages, der GoloMann mit großem Ernst nachgekommen ist. Aberdie stärkeren, in Wesen und geistiger Herkunft be-gründeten Neigungen gingen auf anderes: aufs Ver-gangene in seiner ganzen Vielfalt, das ohne Sympa-thie, wie es einmal heißt, unbegreifbar bleibt. Er istbelesen wie kein anderer, und zu seinen Vorliebenzählt nicht zuletzt die Literatur. Es gibt kaum einenKenner des romantischen Gedichts wie ihn, dochhat er auch Horaz übersetzt und neben vielen ande-ren, soeben noch, Gedichte von Antonio Machado.Die letzte Strophe der Horazschen Ode an Lenco-noe beginnt mit der Mahnung zur Weisheit; daß derMensch sich keiner trügerischen Hoffnung hinge-ben und die flüchtende Zeit nicht vergeuden solle.Das anschließende berühmte Carpe diem lautet inder Übersetzung Golo Manns: »Freue Dich heut’.«Aber dann folgt und steht da wie als Summe lebens-langer Erfahrung: »Traue dem Morgen kaum.«

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In Golo Mann ehren wir einen großen Historikerund Schriftsteller, einen Mann von Skepsis, Ver-nunft und Gerechtigkeit. Die Begründung desPreis-Kuratoriums nennt ihn einen »Erneuerer« dergroßen Tradition deutscher Geschichtsschreibungund greift damit wohl voraus. Immerhin gibt esAnzeichen dafür, daß eine wachsende Zahl von Hi-storikern sich der Verluste bewußt wird, die mit derPreisgabe dieser Tradition einhergegangen sind.Vielleicht ist einiges vom Verlorenen, dank derbewahrenden Anstrengung Golo Manns, dochnoch zurückzuholen, zu unser aller Gewinn. Wirwünschten, es wäre so.

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Editorische Notiz

»Pathetiker der Geschichte und Baumeister ausbabylonischem Geist«: Vortrag unter dem Titel»Theodor Mommsen; Zwei Wege zur Geschichte«,gehalten am 24. Juni 1982 vor der Berliner Wissen-schaftlichen Gesellschaft. In gekürzter Form abge-druckt in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«vom 31. Juli 1982.

Neben der vierbändigen, leider nicht ganz zuEnde geführten Darstellung von Lothar Wickert:»Theodor Mommsen. Eine Biographie«, Frankfurtam Main 1959 ff., wurden vom Verfasser vor allemherangezogen: Alfred Heuß: »Theodor Mommsenund das 19. Jahrhundert«, Kiel 1956; Friedrich Gun-dolf: »Caesar im 19.Jahrhundert«, Berlin 1926;Albert Wucher: »Theodor Mommsen. Geschichts-schreibung und Politik«, 2. Aufl., Göttingen 1968;Friedrich u. Dorothea Hiller v. Gaetringen (Hrsg.):»Mommsen und Wilamowitz«, Berlin 1935.

»Das tragische und wunderbare Schauspiel derGeschichte«: Nachwort zu Jacob Burckhardt:»Weltgeschichtliche Betrachtungen«, veröffentlichtin der Reihe »Klassiker des modernen Denkens«,Gütersloh 1987; anschließend in gekürzter Form er-schienen in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«vom 14. März 1987 unter dem Titel »Das tragischeSchauspiel der Geschichte. Über Jacob Burckhardt

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und den ewigen Anachronismus des unabhängigenDenkens«.

Unentbehrlich für die genauere Kenntnis vonLeben und Werk Jacob Burckhardts ist die breitangelegte, materialreiche Darstellung von WernerKaegi: »Jacob Burckhardt. Eine Biographie«, Bde.I-VII, Basel 1947-1982.

An Primärquellen sind neben den in zahlreichenAusgaben greifbaren Werken vor allem die Briefewichtig, in denen Burckhardt mit dem ganzenReichtum seiner Persönlichkeit sichtbar wird:»Briefe, Bde. I-VI. Vollständige und kritische Aus-gabe. Mit Benützung des handschriftlichen Nach-lasses bearbeitet von Max Burckhardt«, Basel,Stuttgart 1949-1966. Eine wissenschaftliche, sehrfachliche Studie liegt von Wolfgang Hardtwig vor:»Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa undmoderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit«,Göttingen 1976. Kompetente biographische Skiz-zen stammen von Hermann Heimpel in: »Die gro-ßen Deutschen«, Bd. IV, S. 11ff, und von HannoHelbling in: »Die Großen der Weltgeschichte«,Bd. VIII, S. 227ff.

»Der Historiker als Herr der Geschichte«: Lauda-tio, gehalten am 28. August 1985 in der FrankfurterPaulskirche aus Anlaß der Verleihung des Goethe-Preises an Golo Mann, veröffentlicht in der »Frank-furter Allgemeinen Zeitung« vom 31.8 1985.

Der Beitrag von Christian Meier wurde eigensfür diesen Band geschrieben.

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Fest, Joachim:Wege zur Geschichte: über Theodor Mommsen,

Jacob Burckhardt und Golo Mann / Joachim Fest.Mit einem Vorw. von Christian Meier. –

Zürich: Manesse Verlag, 1992(Manesse Bücherei; Bd. 47)

isbn 3 - 7175 - 8197 - xne: gt

BuchgestaltungBrigitte und Hans Peter Willberg, Eppstein

Copyright © 1992 by Manesse Verlag, ZürichAlle Rechte vorbehalten

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Es ist ein spannendes Gespräch, in das der Autor gerade den, der seine Essays im Zusammenhang liest, verwickelt.

Christian Meier

isbn 3 - 7175 - 8197 - x