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Wiedergesundung (Recovery) durch Selbsthilfe Bericht über die Selbsthilfe der Psychiatrie-Erfahrenen und einen Recovery-Prozess Sylvia Kornmann (Vorstandsmitglied des Landesverbandes Psychiatrie- Erfahrene Hessen e.V.)

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Wiedergesundung (Recovery)

durch Selbsthilfe

Bericht über die Selbsthilfe der Psychiatrie-Erfahrenen und einen

Recovery-Prozess

Sylvia Kornmann

(Vorstandsmitglied des Landesverbandes Psychiatrie-

Erfahrene Hessen e.V.)

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Ablauf des Vortrages

• Selbsthilfe,

• Trialog,

• Exkurs: Ex-In,

• Meine Recovery-Geschichte als

ein Beispiel,

• Fazit.

Sylvia Kornmann: Wiedergesundung (Recovery) durch Selbsthilfe

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Begriff: Selbsthilfe

• Es gilt das Prinzip: „Hilf Dir selbst, sonst

helfen Dir andere“.

• Im Bereich Psychiatrie heißt das: „Wenn

wir unsere Meinung nicht äußern, bilden

sich andere ihre Meinung für uns“.

• Wenn wir nichts sagen , erhalten wir

ein Angebot was wir nicht möchten.

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Selbsthilfebewegung

• Die Selbsthilfebewegung ist in den Angelsächsischen und Nordeuropäischen Ländern entsprungen.

• Seit den 90er Jahren gibt es immer mehr Selbsthilfeinitiativen in Deutschland, die sich hauptsächlich um gesundheitliche Themen befassen, aber auch um gesellschaftliche.

• Grund hierfür ist die Tatsache, dass sich der Staat immer mehr aus den Gesundheits- und Sozialaufgaben herausnimmt.

Sylvia Kornmann: Wiedergesundung

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Selbsthilfegruppen

• Eine Selbsthilfegruppe ist eine Gruppe von Menschen, die ein gleiches Problem oder Anliegen haben.

• Im Bereich Psychiatrische Erkrankungen sind dies z.B. Psychiatrie-Erfahrenen-Gruppen, Depressionsgruppen oder Borderline-Gruppen.

• Das Kennzeichen ist, dass alle Vollmitglieder Betroffene sind. Von Professionellen geleitete Gruppen sind keine Selbsthilfegruppen!

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Selbsthilfe der Psychiatrie-

Erfahrenen • Weltverband Psychiatrie-Erfahrener

(WNSUP: World Network of (Ex-)-Users and Survivors of Psychiatry),

• Europäisches Netzwerk der Psychiatrie-Erfahrener (ENUSP: European Network of (Ex-)-Users and Survivors of Psychiatry),

• Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE),

• Landesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (Lvpeh),

• Psychiatrie-Erfahrenen Selbsthilfegruppen.

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Der BPE e.V. • Der Bundesverband ist ein Lobbyverband

für Patienten und ehemaligen Patienten

der Psychiatrie (Psychiatrie-Erfahrene

PE).

• Gegründet wurde er 1991. Sein Sitz ist

Bonn. Die Geschäftsstelle befindet sich in

Bochum. Der BPE hat ca. 1.000

Mitglieder.

• Der BPE ist psychiatriekritisch – aber nicht

anti-psychiatrisch. Sylvia Kornmann: Wiedergesundung

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Aufgaben des BPE e.V.

• Der BPE e.V. nimmt Stellung zu Gesetzgebungsvorhaben und Verfahren des Bundesverfassungsgerichtes.

• Ein Ziel ist die Abschaffung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Der BPE e.V. orientiert sich in seinen Forderungen an die UN-Behindertenrechtskonvention.

• Ein weiteres Ziel ist die Abschaffung der Stigmatisierung Psychisch Kranker und die Erlangung bürgerlicher Rechte rechtlich Betreuter.

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Angebote für Mitglieder • Seminare zu verschiedenen Themen, wie

Medikamente, Selbsthilfegruppenaufbau,

• Jahreshauptversammlung mit kulturellem

Angebot,

• Juristische Beratung,

• Medikamentenberatung,

• Mitgliederzeitung.

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Die BPE e.V.

• Nicht mit dem BPE e.V. zu verwechseln: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychiatrie-Erfahrenen arbeitet anti-psychiatrisch.

• Ist aus dem BPE e.V. entstanden, da einige mit der psychiatrie-kritischen Arbeitsweise des BPE e.V. nicht zurechtkamen.

• Herausgeber der PatVerFü®.

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LvPEH e.V.

• Landesorganisation des BPE e.V.

• Gegründet 1997 in Wiesbaden. Sitz ist in

Offenbach. Es gibt zwei Geschäftsstellen:

Hessen Süd in Taunusstein und ab Mitte

Juli Hessen Mitte in Wetzlar.

• Ca. 120 Mitglieder.

• Mitglied im Paritätischen Landesverband.

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Aufgaben des LvPEH e.V.

• Interessenvertretung der PE in Hessen. Vernetzung mit den Selbsthilfegruppen in Hessen. (Diese Aufgabe muss von uns noch stärker ausgebaut werden).

• Der LvPEH e.V. arbeitet im Fachbeirat Psychiatrie welches dem Sozialministerium angliedert ist, mit. Hier nimmt der LvPEH e.V. Stellung zu Gesetzgebungsvorhaben. Aktuell ist dies die Einführung des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes und das Maßregelvollzugsgesetz.

• Wir haben uns mit verschiedenen sozialen Institutionen vernetzt. So stehen wir u.a. in Kontakt mit dem Landesverband der Angehörigen Psychisch-Kranker, der DGSP (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie e.V.), dem LWV (Landeswohlfahrtsverband Hessen), der Diakonie und der Caritas.

• Wir möchten zusammen mit den anderen Trägern Alternativen finden, die für PE´s einen guten Platz in der Gesellschaft darstellen. Dazu gehören auch Beschäftigungsmöglichkeiten in der Selbsthilfe.

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Forderungen des LvPEH e.V.

Wir fordern:

• die Umsetzung des Persönlichen Budgets,

• Teilzeitausbildung für PE´s,

• Weg von der Arbeit in Behindertenwerkstätten hin zu Arbeitsplätzen

auf dem 1. Arbeitsmarkt,

• Bezahlte Aufgaben für PE´s (mit und ohne Ex-In-Ausbildung) im

sozialen Bereich,

• Leichterer Zugang zu Fördergelder für die Selbsthilfe (auch wieder

Geld vom Staat),

• Abschaffung von Zwang in Hessen,

• keine aufgezwungenen Betreuungen,

• echte Hilfen zum Leben in der Gemeinschaft.

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Angebote für Mitglieder

• Hessentreffen und Mitgliederversammlung.

• Beratung zu Psychiatriethemen: wie Medikamente,

persönliches Budget, Führerscheinentzug, Betreuung,

Psychiatrischen Krankheiten und Diagnosen.

• Kostenfreie Mitgliedschaft für BPE e.V. Mitglieder.

• Möglichkeit der Finanzierung der Teilnahmegebühren von

Seminaren und Tagungen für Mitgliedern.

• Neu: Geschäftsstellen mit Treffpunkten. In Taunusstein 2-mal

monatlich Frühstückstreff und in Wetzlar 2-mal wöchentlich

Spättreff. Geschäftsstellen sollen Anlaufpunkte werden für

regional sesshafte PE´s. Auch andere Mitglieder des LvPEH

e.V. sollen diese Angebote nutzen können.

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Trialog

• Hierbei geht es um die Auseinander-

setzung der Akteure im Psychiatrischen

Bereichs. Professionelle, wie Ärzte,

Krankenpfleger, Sozialarbeiter sollen mit

Psychiatrie-Erfahrenen und ihren

Angehörigen auf „Augenhöhe“ sprechen.

• Es gibt bereits vereinzelt Trialogtreffen

oder Psychoseseminare in Hessen.

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Probleme des Trialogs

• Es ist schwierig trialogische Veranstaltungen dauerhaft einzurichten.

Wie bei vielen Vereinen ist die Dauer immer davon abhängig, wie

sich Leute finden, die diese Treffen organisieren.

• Meist sind PE´s eher bereit an einem Trialog teilzunehmen. Auch

Angehörige sind öfters unter ihnen zu finden. Bei Professionellen

sind weniger Personen bereit, nach ihrer Arbeit an solchen Treffen

teilzunehmen.

• Vielleicht sollten Professionelle Punkte, wie für andere

Weiterbildungen wie Seminare erhalten. Evtl. sollten sie die

Besuche solcher Termine auch als Überstunden abrechnen können.

• Es nehmen i.d.R. auch nur solche PE´s und Angehörige an solchen

Veranstaltungen teil, die unzufrieden sind mit dem System.

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Probleme im Gesamtsystem

• Machtkämpfe: Es geht um das Leben von Menschen. Vielen ist nicht bewusst, wie sensibel viele geworden sind. In den Vorständen der Verbände und Gruppen herrscht ein Machtkampf, der teilweise Tote fordert. PE´s sind hier nicht besser als Profis!

• Machtstrukturen in Hessen: Hier gibt es anscheinend noch Relikte aus der Zeit um 1940: Es gibt immer noch Profis, die haben nicht verstanden, dass es auch PE´s gibt, die wissen was ihnen gut tut und was nicht, und auf welchen Gebieten sie Hilfe benötigen und wo nicht.

• Die meisten PE´s können oder wollen sich nicht für ihre Rechte einsetzen. So entsteht aber der Eindruck das momentane System funktioniert. Dies fördert aber die Selbststigmatisierung Betroffener!

• Das System ist schweineteuer und für Viele, evtl. die Meisten nicht sinnvoll! Es fördert die Armut und die Ausgrenzung der PE´s.

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Ex-In

• Bei Ex-In (Experienced Involvement) geht es darum das Expertenwissen durch Erfahrung von PE´s so zu nutzen, dass er mit dieser Erfahrung anderen PE´s helfen kann. Der Begriff Ex-In wird fast nur in Deutschland verwendet.

• Bereits in den 80er-Jahren machte man in Großbritannien, den Niederlanden und in Norwegen gute Erfahrung mit diesem Ansatz. Hier gibt es den Begriff des Peer Support oder Peer Counseling.

• In Deutschland wurde dieses Konzept zuerst in Bremen und Hamburg umgesetzt. In Hessen gab es bereits Kurse in Wiesbaden (Mainz), Wetzlar und Marburg.

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Ausbildung zum Genesungsbegleiter

• Um PE´s zu schulen, wurde ein Curriculum (Lehrplan)

entwickelt, um die fehlenden Qualifikationen zu

erlangen, um später auf diesem Gebiet tätig zu werden.

• Der Ex-In-Kurs besteht aus 12 Modulen, die vom Thema

vorgegeben sind. Bei den ersten Modulen handelt es

sich um Basismodule. Der Rest sind Aufbaumodule.

• An die Ausbildung für Genesungsbegleiter kann man

eine Ausbildung zum Dozenten Ex-In anschließen und

kann dann Genesungsbegleiter ausbilden.

• Im Rahmen der Ausbildung muss man 2 Praktika im

psychiatrischen Bereich absolvieren. Zum Abschluss

fertigt man ein Portfolio und eine Abschlusspräsentation

an. Sylvia Kornmann: Wiedergesundung

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Probleme der Ausbildung

• Bisher ist der Kurs noch nicht anerkannt. Man weiß noch nicht wie und wo man Ex-In-ler einsetzen kann.

• Wahrscheinlich wird versucht die Ex-In-ler als Sparmaßnahmen im System anzustellen. Unsere Forderung ist, mindestens die gleiche Bezahlung , wie eine andere Person auf diesem Posten erhalten würde.

• Nicht jeder kann sich eine Ex-In-Ausbildung leisten. Jemand der vom Jobcenter abhängig ist, kann nicht einfach so eine Ausbildung anfangen. Deshalb fordern wir als Verband auch Personen eine Chance zu geben, die diese Ausbildung eigentlich nicht brauchen, weil sie schon länger in der Selbsthilfe tätig sind.

• Viele ausgebildete Ex-In-ler verhalten sich gegenüber anderen Betroffenen oft als fachlich überlegen, weil sie diese Ausbildung haben. Sie wechseln auf die Profiseite und verhalten sich dann auch so gegenüber Profis.

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Abgrenzung Selbsthilfe zu Ex-In

• Die Selbsthilfe ist eine Zusammenkunft von

Betroffenen mit dem Ziel, dass System

zugunsten von Betroffenen zu ändern. In

erster Linie geht es nicht ums Geld

verdienen.

• Ex-In hat grundsätzlich nichts mit Selbsthilfe

zu tun. Hier geht es um Geldverdienst-

möglichkeiten für Betroffene. Die Betroffenen

möchten im System arbeiten.

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Begriff Recovery

• Recovery kann man als (Wieder)genesung beschreiben.

• Im Psychiatrischen Bereich bedeutet dies soviel, wie wieder am Gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

• Grundsätzlich kann man von jeder psychiatrischen Erkrankung wieder genesen. Dies kann sehr lange dauern, oder auch plötzlich geschehen.

• Im Gegensatz zu somatischen Erkrankung kann man selbst etwas dafür tun, dass man wieder auf die Beine kommen kann.

• Manchmal benötigt man aber Hilfen, dass man wieder für sich selbst sorgen kann. Bei manchen Menschen müssen die vorhandenen Ressourcen erst aufgedeckt werden. Die meisten sind lernfähig und können fehlende Fähigkeiten und Kenntnisse sich noch aneignen. Es gibt viele gute Angebote im sozialen Bereich, für einige sind sie aber nicht hilfreich.

• Die Selbsthilfe ist auch eine Möglichkeit zu „genesen“ .

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Meine Recovery-Geschichte

Kindheit - Jugend • Ich habe eine relativ behütete Kindheit und Jugend gehabt.

• Bin in Wetzlars Altstadt aufgewachsen und habe zwei Brüder.

Ich bin das Sandwich-Kind.

• Mein Vater war Elektriker, meine Mutter Hausfrau. Wir lebten

mit Oma und Opa in einem Haus.

• Reich waren wir nicht, wir hatten keine Heizung, kein Bad und

keine Kinderzimmer. Wir fuhren auch nicht in den Urlaub.

• Im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde, hatte ich eine

intakte „typische“ Familie. Wir hatten auch Kontakte zu

einigen Verwandten. Familienfeiern waren bei uns häufig.

• Bis zum Abschluss der Schule lief bei mir alles im normalen

Bereich.

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Erste „Krankheitsphase“

• 1986-1987 erste „Episode“.

• Nach meinem Abi fuhr ich nach England, da ich keine Lehrstelle gefunden hatte. Zuerst arbeitete ich als Erntehelferin und dann als Au-pair.

• Ich hatte nicht viel Glück mit meinen Familien. Vielleicht war ich auch nicht der Familientyp. Ich machte den Tag zur Nacht. Irgendwann entwickelte ich eine Psychose.

• Meine Eltern holten mich in London ab und nach einer, nicht geschlafenen Nacht, schleppte mich meine Mutter zum Psychiater. Dieser wies mich nun in die Psychiatrie ein.

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Erster Psychiatrie-Aufenthalt

• Kam aufgrund meines Verhaltens sofort auf die Geschlossene,

• wurde fixiert und bekam eine Haldolspritze,

• kann mich nicht erinnern, dass ich einen Richter gesehen habe,

• Die Mitarbeiter haben nachgeschaut, ob ich Geschlechtsverkehr hatte, kann mich noch an das Staunen erinnern, dass ich noch Jungfrau war,

• ich weiß nicht wie lange ich fixiert war,

• Ich bekam Ausgangssperre und wurde zwangsmedikamentiert,

• das Essen war schlecht, einmal spukte mir jemand auf den Teller,

• man sprach nicht mit mir, weder Ärzte, noch Patienten,

• nur im Raucherraum konnte man kommunizieren,

• es ging erst „bergauf“ als ich eine engagierte Betreuerin fand, die mir die Spielregeln in der Klapse erklärte,

• meine Verwandten hatten Angst mich zu besuchen,

• 8 Wochen blieb ich drin.

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Die Zeit danach • Andere Frauen bekommen Kinder, bei mir war es die Psychiatrie: Ich kam als Jugendliche rein

und war dann schlagartig erwachsen.

• Ich ging nach der Entlassung zum niedergelassenen Psychiater, den meine Mutter ausgesucht

hat. Der sagte: „Ich bin jetzt geistig behindert und kann keine Ausbildung mehr machen und

müsste jetzt mein Leben lang Medikamente nehmen“. Ich ging raus und schmiss meine Tabletten

in den Müll.

• Ich habe Anfangs nichts erzählt. Aber ich habe meinen Freundeskreis nicht verloren. Die Zeit

danach war eigentlich mit die schönste meines Lebens.

• Ich fand relativ schnell eine Ausbildungsstelle, musste zwar einmal den Arbeitgeber wechseln,

konnte aber trotzdem meine Ausbildung gut abschließen.

• Nachdem ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte begann ich mein BWL-Studium. Es war eine

schöne Zeit. Ich rechnete gar nicht damit, dass ich mein Studium abschließe. Erstens war ich

schon recht alt und musste mein Studium selbst finanzieren. Ich kam aber relativ finanziell

zurecht, da ich in meinem Ausbildungsbetrieb weiter arbeiten konnte und Bafög bekam.

• Bereits 1992 kurz bevor ich nach Wien als Praktikantin fuhr bekam ich Probleme mit der

Schilddrüse. Was die Ursache hierfür war, weiß ich nicht. Es kann erblich bedingt gewesen sein,

da meine Oma väterlicherseits auch Probleme hatte. Oder es kam von den Neuroleptika, die ich

zwangsweise nehmen musste.

• Einen ersten Versuch bei der Abschlussprüfung konnte ich noch unternehmen. Dann musste ich

operiert werden. Ich bestand drei von 5 Prüfungen, was damals aber normal war.

• Kurz nach der Operation habe ich mich wieder merkwürdig verhalten. Ich habe es noch geschafft,

mich krankschreiben zu lassen und meine Freundin schaffte mich zur Caritas in Gießen.

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Die Zeit zwischen den Prüfungen • 1996 kam ich dann wieder in die Klinik, kurz bevor meine Krankenakte vernichtet

wurde. Man behandelte mich aufgrund der Datenlage von 1986, berücksichtigte aber

dabei nicht, dass ich mich weiterentwickelt habe.

• Zuerst kam ich in die Uniklinik. Dort fiel mir auf, dass ich nun die Möglichkeit hatte,

mit den Ärzten und Krankenpflegern zu reden. Ansonsten war die Behandlung

ähnlich und sie dauerte genauso lange. Ich wurde auch zwangsmedikamentiert und

hatte Ausgangssperre.

• Nach Entlassung ging ich zu einem niedergelassenen Psychiater und bekam eine

Depotspritze. Danach rastete ich wieder aus und kam dann in die Vitos Klinik. Dort

wurde ich mit Haldol behandelt.

• Ich wurde zum Drehtürpatient. Mal war ich in der Klinik, mal kurz Zuhause. Setzte die

Medikamente ab, weil sie nur Nebenwirkungen hatten. Bekam eine Betreung. Diese

wurde wieder abgesetzt usw. Mein Studium hatte ich unterbrochen. Ob ich überhaupt

es zu Ende bringen konnte, war fraglich. Zu den gesundheitlichen Problemen, kamen

nun auch finanzielle.

• Irgendwann hatte ich es geschafft, Kontakt zur Uniklinik aufzunehmen, da ich dort

besser behandelt wurde. Ich hatte Glück. Der Leiter nahm sich Zeit. Ich bekam

Gespräche mit einer Psychologin und lernte anders als vorher an mein Lernmaterial

ranzugehen. Im Juni 1999 bestand ich meine Prüfungen.

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Die Zeit nach der Prüfung

• Nach der Prüfung viel mir ein Stein vom Herzen. Ich feierte monatelang, bis ich anfing in Frankfurt zu arbeiten und ich meinen häutigen Mann kennenlernte.

• Leider war mir berufliches Glück vergönnt. Meine Karriere entwickelte sich anstatt nach oben, nach unten.

• Am 12.09.2001 löste ich meine schöne Altstadtwohnung aus finanziellen Gründen auf und zog „zu meinen Eltern“ zurück. Michael und ich machten eine Ehe „auf Probe“. Außerdem entschied ich mich, nicht mehr ganztags in Frankfurt zu arbeiten.

• Ich machte einen Absetzversuch, weil meine Medikamente vom Markt genommen wurde. Mein Arzt wusste Bescheid. Er unterstützte mich aber nicht dabei.

• Außerdem lebte ich zu dieser Zeit relativ ziellos. Ich hatte keine Alternative im Kopf, da Familie für mich nicht möglich war und beruflich wusste ich auch nicht weiter.

• Nach 2 Jahren Ruhe kam ich wieder in die Psychiatrie.

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Neuorientierung / Selbsthilfe /

Recovery • 2001 recherchierte ich im Internet und fand etwas über Selbsthilfe im psychiatrischen

Bereich. Ich war nicht die Einzige, der so etwas passierte.

• Ich nahm an dem Verbandstreffen des BPE e.V. teil und trat in den Verband ein. Kurzum wurde ich auch Mitglied im Vorstand des LvPEH e.V., der damals sich schon fast aufgelöst hatte.

• In Gießen gab es eine große Selbsthilfegruppe in der ich auch Mitglied wurde.

• Nun hatte ich wieder ein Ziel: Die Selbsthilfe in Hessen mit Anderen aufzubauen! Arbeit, die mir Spaß macht, wo ich gefordert werde und ich viele Leute kennenlerne. Einziger Wermutstropfen: Ich kann (noch) kein Geld damit verdienen.

• Zu dieser Zeit nahm ich auch wieder mein Hobby auf: Das Malen und Gestalten. Inzwischen habe ich schon einige Ausstellungen gegeben. Vielleicht lässt sich das auch weiter ausbauen.

• Bis zum Jahr 2007 hatte ich noch einige viele Aufenthalte in der Vitos in Herborn und in der Gießener Uniklinik. Schon lange gehe ich nicht mehr zu einem niedergelassenen Psychiater, da ich dort nur negative Erfahrungen gemacht habe. Eine Betreuung habe ich nicht mehr. Meinen Führerschein habe ich auch noch. Inzwischen habe ich eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht.

• 2013 – 2015 nahm ich an einer Ex-In-Ausbildung teil. Mein Ziel war weniger der Abschluss, sondern die Neugierde was ist das ? Die Ex-In-Schiene kann genau das gleiche bezwecken wie die Selbsthilfe, nämlich die Selbststigmatisierung verhindern oder beseitigen. Es ist ein anderer Ansatz, mit dem Ziel Geld zu verdienen.

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Fazit

• In die Psychiatrie zu kommen kann jedem passieren. Es wäre schön gewesen, wenn ich vorher

gewusst hätte, wie man sich dort verhält, dann hätte man vielleicht mich anders diagnostiziert.

• Es gibt und gab viele Fehlentwicklungen auf dem Gebiet der Psychiatrie. Zwang gehört

abgeschafft. Zwang macht krank. Ich denke, mir hätte man ohne Medikamente besser geholfen.

Gespräche hätten mir beim ersten Aufenthalt noch etwas genutzt.

• Es gibt zum Glück die Selbsthilfebewegung, denn ohne Gleichgesinnte hätte ich mir wohl

irgendwann eingeredet ist bin doof und hätte mich selbst-stigmatisiert und mich eventuell

suizidiert.

• Es gibt nette Institutionen und Angebote. Aber mir fehlten weder Freunde, Tagesstruktur und ich

konnte meinen Haushalt immer selbstständig führen. Das Einzige was mir immer und zum Teil

auch noch heute fehlt, sind sichere finanzielle Mittel!

• Ich bin seit ca. 8 Jahren nicht mehr eingewiesen worden. Noch nehme ich Medikamente, hoffe

aber irgendwann mal jemanden zu finden, der mich beim Absetzen unterstützt.

• Ich bin froh, dass es eine Selbsthilfebewegung gibt, sonst wäre ich nicht dort wo ich heute bin. Ex-

In steht noch am Anfang. Ich hoffe sehr, dass in Zukunft echte Arbeitsplätze für Betroffene

eingeführt werden. Es gibt noch viel zu tun und ich denke wir sind auf dem richtigen Weg. Reden,

Reden, Reden und dabei etwas tun ist wichtig und zwar im Trialog. So können Fehlentwicklungen

verhindert werden.

Sylvia Kornmann: Wiedergesundung (Recovery) durch Selbsthilfe

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