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Wintersemester 2006/07 Spezielle Moraltheologie I Leben in Menschenhand Ethische Fragen der Medizin und Biotechnologie

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Page 1: Wintersemester 2006/07 Spezielle Moraltheologie I Leben in Menschenhand Ethische Fragen der Medizin und Biotechnologie

Wintersemester 2006/07

Spezielle Moraltheologie I

Leben in MenschenhandEthische Fragen der Medizin und

Biotechnologie

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Medeas

Verjüngungs-

zauber

Einleitung

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Medeas

Verjüngungs-

zauber

Einleitung

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Medeas

Verjüngungs-

zauber

Einleitung

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Medeas

Verjüngungs-

zauber

Einleitung

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1. Ethische Problemfelder der Biotechnologie und Medizin

1.1 Fragen am Beginn des menschlichen Lebens

- Verbrauch menschlicher Embryonen

im Zusammenhang der Stammzell-forschung und Stammzelltherapie.

Frage nach dem Status von Embryonen.

Ab wann ist der Mensch Person, ab wann ist er unbedingt schutzwürdig?

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- Selektion

im Rahmen der Präimplantationsdia-gnostik oder auch der Pränataldia-gnostik (prädiktive Medizin).

Ist die Unterscheidung von medizinisch-heilenden und eugenisch-verbessernden Zwecken wirklich klar zu ziehen?

- Manipulation menschlichen Lebens

durch Eingriffe in die Genstruktur: Somatische Gentherapie, Keimbahngentherapie, Klonen…

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1.2 Ethische Probleme am Ende des menschlichen Lebens

- Sterbehilfe

Wo liegen die Grenzen der Pflicht zur Lebenserhaltung?

Kann aktive Sterbehilfe die Würde des Patienten wahren?

Darf man schwerstbehinderte neu-geborene Kinder sterben lassen?

- Organspende

Problem des Hirntodkriteriums

Wie lässt sich die körperliche Integrität schützen und doch die Bereitschaft zur Organspende erhöhen?

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2. Zunehmende Verantwortung

- Mit dem zunehmenden technischen Können wächst auch unsere Verantwortung und die Frage, was wir dürfen.

- Wir können uns dann aber nicht mehr mit dem Hinweis auf die Unverfügbarkeit der Natur oder den Willen des Schöpfers aus der Verantwortung stehlen.

- Wir werden zunehmend vor die Frage gestellt, was der Mensch sein soll.

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3. Aufgabe der Ethik

- Was ethisch richtig ist, ist nicht mehr einfach durch das Ethos der Ärzte und Wissenschaftler gesichert.

Im Rahmen des Berufsethos gibt es ganz unter-schiedliche Auffassungen, was verantwortlich ist.

- Angesichts solcher Divergenzen ist Ethik gefragt

Normative Ethik prüft die verschiedenen Handlungs-möglichkeiten auf ihre Gültigkeit und sucht nach einer rationalen Begründung.

Theologischen Ethik klärt, auf welcher Ebene der Glaube in die Argumentation mit einfließen kann.

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1. Kapitel:Stammzellforschung / Stammzelltherapie

1.1 Stammzellforschung und Stammzelltherapie – Was ist das?

1.1.1 Was sind Stammzellen?

- Stammzellen sind solche Zellen, die die Fähigkeit haben, neue Zellen ihres eigenen Typs hervorzubringen.

Stammzellen haben damit die Fähigkeit und Aufgabe der Regeneration des Organismus.

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- Zu jeder unterschiedlichen Art von organischem Gewebe des Körpers gibt es entsprechende spezialisierte Stammzellen.

- Die Spezialisierung der Stammzellen vollzieht sich während der Embryonalentwicklung

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- Zu jeder unterschiedlichen Art von organischem Gewebe des Körpers gibt es entsprechende spezialisierte Stammzellen.

- Die Spezialisierung der Stammzellen vollzieht sich während der Embryonalentwicklung

von der totipotenten Zygote

über die pluripotenten Stammzellen in der Blastozyste

bis zur vollständig differenzierte Zelle im Körper des Fötus und des Neugeborenen.

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1.1.2 Was kann man mit Stammzellen machen?

- Durch die Zuführung gesunder Stammzellen soll geschädigtes Körpergewebe bei Patienten regeneriert und geheilt werden.

- Auf diese Weise sollen Krankheiten wie z.B. Alzheimer, Parkinson, Herzkrankheiten, Leukämie, Multiple Sklerose geheilt werden.

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1.1.3 Woher kann man Stammzellen gewinnen?

- Embryonale Stammzellen aus der Blastozyste

Nach einer künstlichen Befruchtung in vitro lässt man sich den Embryo bis zur Blastozyste entwickeln.

Anschließend entnimmt man aus der inneren Zellmasse die Stammzellen, die dann weiter differenziert werden.

Dieses Verfahren ist mit der Zerstörung des Embryos (der Blastozyste) verbunden.

Problem: Da die Stammzellen nicht das eigene Genom des Patienten enthalten, kommt es zu Unverträglichkeiten und Abstoßungseffekten.

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Entnahme von Stammzellen aus der Blastozyste

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1.1.3 Woher kann man Stammzellen gewinnen?

- Embryonale Stammzellen durch „therapeutisches“ Klonen

Der Zellkern (das Genom) einer gesunden Körperzelle des Patienten wird in eine entkernte Eizelle eingebracht.

Diese entwickelt sich zur Blastozyste und dient zur Entnahme von Stammzellen.

Problem: Das aufwendige und mit hohem Embryonenverbrauch verbundene Verfahren

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1.1.3 Woher kann man Stammzellen gewinnen?

- Therapie mit adulten Stammzellen

Gesunde adulte Stammzellen des Patienten werden entnommen und ihre Spezialisierung rückgängig gemacht.

Anschließend werden sie in Richtung der benötigten Stammzellen wieder differenziert.

Probleme: Das Entwicklungs- und Therapiepotential dieser Zellen ist wahrscheinlich nicht so hoch wie bei embryonalen Stammzellen.

Um den Vorgang der Entdifferenzierung und Neudifferenzierung zu beherrschen, muss – wenigsten vorübergehend – mit embryonalen Stammzellen geforscht werden.

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1.1.3 Woher kann man Stammzellen gewinnen?

- Stammzellen aus dem Nabelschnurblut

Im Nabelschnurblut befinden sich gesunde Stammzellen des Fötus und könnte nach der Geburt eingefroren werden.

Es könnte dann als Gesundheitsreserve bei späteren Krankheiten dienen.

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1.2 Zur politischen und rechtlichen Situation der Stammzellforschung in Deutschland

1.2.1 Das deutsche Embryonenschutzgesetz

§1, Abs. 1, Nr. 2:

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …

… es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau

herbeizuführen, von der die Eizelle stammt,

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§2, Abs. 1 und 2:

(1) Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt, erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft bewirkt, dass sich ein

menschlicher Embryo extrakorporal weiterentwickelt.

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§ 6, Abs. 1:

Wer künstlich bewirkt, dass ein menschlicher Embryo mit der gleichen Erbinformation wie ein anderer Embryo, ein Fötus, ein Mensch oder ein Verstorbener entsteht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 8, Abs. 1:

Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorligen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.

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- Grundlage:

Grundgesetz § 1, Abs. 1: Unantastbarkeit der Menschenwürde

Grundgesetz § 2, Abs. 2: Fundamentales Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

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1.2.2 Die Frage nach Import von Stammzellen und die Stellungnahme der DFG

- Bereits bestehende Stammzelllinien, die nur noch pluripotent sind, zu importieren und daran in Deutschland zu forschen, ist durch das EschG nicht ausdrücklich verboten.

- Aber: Fördert ein unregulierter Import nicht letztlich den Markt im Ausland und unterstützt damit das, was bei uns verboten ist? (Vorwurf der Doppelmoral)

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- DFG hat in einer „Neuen Empfehlung zur Forschung mit menschlichen Stammzellen“ vom 3. Mai 2001 ihre ursprüngliche dem EschG verpflichtete Position verlasssen.

- Jetzt vertritt die DFG einen Drei-Punkte-Vorschlag:

● Import soll möglich sein

● Deutsche Wissenschaftler an Formulierung der Qualitätsstandards beteiligt

● In Deutschland werden embryonale Stammzellen aus „überzähligen“ Embryonen gewonnen.

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1.2.3 Die Beratung der Ethik-Kommissionen und das Stammzellimportgesetz

- Zwei Kommissionen haben sich mit der Importfrage befasst:

● Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags „Ethik und Recht der modernen Medizin –

● Nationaler Ethikrat.

- Enquête-Kommission sprach sich mehrheitlich (17:7) gegen den Import aus

- Nationaler Ethikrat mit knapper Mehrheit (14:11) für den Import unter Auflagen.

- Bundestagsbeschluss am 30. Januar 2002: Import soll unter strengen Bedingungen erlaubt werden.

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- Die Bedingungen sind vor allem:

● Die Stammzellen müssen vor dem 1. Januar 2002 erzeugt worden sein

● Sie müssen aus „überzähligen“ Embryonen gewonnen worden sein

● Für die Embryonen darf kein Entgelt gezahlt worden sein

● Angezielte Forschungsergebnisse sind auf keinem anderen Weg zu erzielen

● Es müssen hochrangige Forschungsziele sein

● Forschungsanträge müssen vom Robert-Koch-Institut oder vom Paul-Ehrlich-Institut genehmigt sein

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- Damit ist die 1. Stufe des Drei-Punkte-Vorschlags der DFG realisiert.

- Bereits am 31. Januar ließen deutsche Wissenschaft-ler verlauten, die Qualität der bestehenden Stamm-zelllinien (ca. 64 in den USA, einige in Israel) sei schlecht, so dass sich der Stichtag nicht aufrecht erhalten ließe. Dazu kommt, dass Stammzellen auch altern.

- Ist damit nicht schon die 2. Stufe des DFG-Vorschlags im Blick? („Rolltreppe“)

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1.2.4 Die Position der Kirchen

- Die Deutschen Bischöfe, Der Mensch sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin (7. März 2001):

Das Ziel, Krankheiten zu heilen, die bislang nur gelindert werden konnten, verfolgt man auch mit dem sogenannten „therapeutischen Klonen“. Der Ausdruck „therapeutisch“ ist hier allerdings irreführend. Einmal abgesehen davon, daß man noch gar nicht weiß, ob überhaupt und wenn ja, wann einmal auf diesem Weg Krankheiten geheilt werden, ist der Weg, auf dem man das Ziel erreichen will, ethisch unvertretbar. Dazu müssen nämlich durch Klonen menschliche Embryonen hergestellt werden. Diese dienen nur als Rohstoff zur Entnahme embryonaler Stammzellen. … →

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1.2.4 Die Position der Kirchen

- Die Deutschen Bischöfe, Der Mensch sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin (7. März 2001):

… Dabei darf nicht übersehen werden: Beim therapeutischen Klonen wird menschliches Leben, das immer zugleich personales und von Gott bejahtes Leben ist, zum Ersatzteillager degradiert. Auch medizinischer Nutzen kann kein Verfahren mit menschlichen Lebewesen rechtfertigen, das die unantastbare Würde dieses Lebens in Frage stellt. Hier ist den deutlichen Hinweisen zu folgen, dass sich die genannten medizinischen Ziele auf anderem Wege erreichen lassen; z.B. über die Gewinnung von Stammzellen aus dem Körper des erwachsenen Menschen (adulte Stammzellen).

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- Stellungnahme der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) zu Fragen der Bioethik (2001):

Dem werdenden Leben kommt schon in seiner frühesten Phase Würde zu, weil hier ein Mensch vollständig angelegt ist. Deshalb lehnen wir alle Praktiken ab, die den Embryo als ein beliebig manipulierbares Objekt behandeln. Dazu gehören die verbrauchende Embryonenforschung und das Klonen ebenso wie die Keimbahnmanipulation. ... →

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- Stellungnahme der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) zu Fragen der Bioethik (2001):

- … Das Engagement, mit dem medizinische Forschung betrieben wird, wird von der Bischofskonferenz begrüßt, sofern es fundiert ist in dem Wissen um die Verantwortung vor Gott und den Menschen. Dies bedeutet die Achtung des Grundgesetzes und der geltenden Gesetze (etwa zum Embryonenschutz) und die Achtung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, auch des noch nicht Geborenen.

- Vgl. weiterhin: Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der DBK „Gott ist ein Freund des Lebens“ (30. November 1989), VI,1.

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1.3 Zur ethischen Diskussion um die Stammzellforschung und Stammzelltherapie

1.3.1 Erste Diskursebene: Das Argument der Güter-abwägung

- Argument der Güterabwägung lautet:

Einerseits könnte vielen tausend Menschen in ihren Krankheiten geholfen werden, …

… andererseits muss nur eine geringe Anzahl von Embryonen für die Forschung verbraucht werden.

Muss man da nicht für die Forschung votieren? Sind wir nicht sogar dazu verpflichtet?

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- Dasselbe Argument gilt auch für das Gut der Forschungsfreiheit:

Ist sie nicht einer geringen Zahl von verbrauchten Embryonen vorzuziehen?

- Andererseits:

Alles Recht auf Gesundheit darf nicht auf Kosten des Lebens oder der körperlichen Integrität anderer Menschen verwirklicht werden.

Es gilt, andere Wege zu suchen, menschlich mit Krankheit und Leid umzugehen.

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- Voraussetzung dieses Einwands:

Man erkennt dem Embryo denselben Status und Lebensschutz zu wie einem Erwachsenen oder Neugeborenen.

Dazu weitere Diskussion unter 1.3.2: Zweite Diskursebene

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- Erster Einwand:

Auch unter Voraussetzung des unbedingten Lebens-schutzes des Embryos ist eine Güterabwägung möglich. (Beispiel: Hartmut Kreß)

Denn: Auch in der Tradition der kath. Moraltheologie hat es Ausnahmen vom Tötungsverbot gegeben.

- Dazu:

Die kath. Moraltheologie kannte immer Ausnahmen vom Tötungsverbot. Aber diese Ausnahmen folgen einer bestimmten Begründungslogik.

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- Ausnahmen vom Tötungsverbot:

Die Tötung eines Menschen kann nur dann ethisch gerechtfertigt sein, wenn sie die ultima ratio ist, wie das gerade entgegen gesetzte Gut „Leben“ geschützt und gefördert werden kann.

Tötung des Angreifers als letztes Mittel der Notwehr ist erlaubt, weil durch ihn menschliches Leben bereits unmittelbar bedroht wird.

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- Nach dieser Begründungslogik lässt sich aber der Embryonenverbrauch nicht rechtfertigen. Denn:

Das Leben der vielen Patienten, die geheilt werden kön-nen, ist nicht durch die Embryonen unmittelbar, so dass man sich gegen sie zur Wehr setzen dürfte bedroht.

- Auch der Hinweis auf Akzeptanz des Schwangerschafts-abbruchs trifft nicht.

Bereits der § 218 unterscheidet zwischen rechtswidrig und straffrei.

Moraltheologisch ist Schwangerschaftsabbruch nur legitim, wenn nur so das bedrohte Leben anderer gerettet werden kann.

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- Zweiter Einwand:

Es geht um einen grundlegenden Wertekonflikt: Recht auf Gesundheit ↔ Sicherung der Menschenwürde.

In einem solchen Wertekonflikt kann man nicht von einer metaphysischen Wertehierarchie ausgehen. Vielmehr gilt das Prinzip der gegenseitigen Fundierung der Werte.

- Aber:

Ist das Prinzip der Fundierung wirklich auf alle Werte anwendbar?

Leben des Menschen ist das fundamentalste Gut. Es ist Voraussetzung der Verwirklichung aller anderen Güter.

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- Dritter Einwand:

Güterabwägung bei Terrorismus: Terroristen wurden nicht freigelassen. Es wurde in Kauf genommen, dass Geiseln getötet wurden.

- Dazu:

In-Kauf-Nahme der Tötung der Geiseln lässt sich nur so begründen, dass andernfalls der Terrorismus unterstützt und damit das Leben weiterer Menschen bedroht wäre.

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- Fazit:

Güterabwägung ist letztlich nicht der entscheidende Punkt der Diskussion.

Sie setzt – implizit – bereits ein Urteil über den moralischen Status des Embryos voraus.

Eine ethische Bewertung der Stammzellforschung darf sich um diese Frage nicht drücken, sonst klärt sie die eigenen Voraussetzungen nicht auf.

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1.3.2 Zweite Diskursebene: Der Streit um den moralischen Status des Embryos

- Frage: Ab wann kommt dem Embryo Personstatus zu? Dazu 6 Positionen :

● Kernverschmelzung ● Differenzierung von Plazenta und Embryo ● Ausschluss von Mehrlingsbildung ● Ausbildung von Hirnzellen ● Geburt ● Erwachen von Ich-Bewusstsein und Interessen

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- Grundlage:

Personstatus ist ein zugeschriebener Status. Unterschei-dung zwischen einem deskriptiven und einem präskrip-tiven Personbegriff.

Personwürde und unbedingter Lebensschutz sind darin begründet, dass der Mensch mögliches Subjekt eines moralisch guten Willens ist.

Immanuel Kant: Selbstzwecklichkeit des Menschen

Zweite Formel des Kategorischen Imperativs:

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS B 66f)

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- Erste Position: Mit dem Beginn personaler Vollzüge

- Prominentester Vertreter: Peter Singer

- Befürwortung auch der aktiven Tötung schwerstbehinderter neugeborener Kinder. Dies beruht

● auf seiner ethischen Grundposition: Utilitaristischen Kosten-Nutzen-Abwägung.

● darauf, dass er den Personstatus an den aktuellen Besitz personaler Vollzüge (Bewusstsein, Interessen, Zukunftsvorstellung) bindet.

- Umgekehrt schreibt er höheren Säugetieren (Walen, Menschenaffen) Personstatus zu.

Alles andere bezeichnet er als „Speziesismus“.

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- Singer kommt zu folgenden Konsequenzen:

● Menschlicher Fötus ist keine Person, weil ihm die entsprechenden Vollzüge fehlen.

● Dem Fötus kommt kein unbedingter Wert, wohl aber ein abgestufter Wert zu.

● Personstatus wird vom Menschsein unterschieden.

● Auch ein neugeborener Mensch ist noch keine Person.

● Legales Recht auf Leben sollte erst 1 Monat nach der Geburt beginnen.

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- Problematik:

● Schwierigkeit des empirischen Nachweises für personrelevante Eigenschaften.

● Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für demente Menschen? Lässt sich hier noch von eigenen Interessen und von Selbstbewusstsein sprechen?

Page 49: Wintersemester 2006/07 Spezielle Moraltheologie I Leben in Menschenhand Ethische Fragen der Medizin und Biotechnologie

- Zweite Position: Ab der Geburt

- Prominentester Vertreter: Norbert Hoerster

- Tötungsverbot ist allein durch das Überlebensinteresse begründet.

Ein solches Interesse haben nur solche Lebewesen, die einen Überlebenswunsch und zukunftsbezogene Wünsche haben.

Dies setzt Ich-Bewusstsein voraus.

Personstatus und Lebensrecht beginnen erst einige Zeit nach der Geburt. Auf Föten trifft dies jedoch mit Sicherheit nicht zu.

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- Durch die Tötung eines Fötus wird kein Überlebensinteresse verletzt,

lediglich das Interesse der späteren Person, die aber durch die Tötung gerade nicht existieren wird.

- Obwohl das Lebensrecht erst einige Zeit nach der Geburt beginnt, setzt Hoerster die Geburt als Grenze an.

Aus drei Praxisgründen:

● Der Mensch ist vor der Geburt noch keine Person.

● Die Geburt ist ein Einschnitt, der sich problemlos feststellen lässt.

● Geburt ist vom tatsächlichen Auftreten des Selbstbewusstseins nicht sehr weit entfernt.

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- Problematik:

● Während einer Frühgeburt etwa in der 27. Woche schon Lebensrecht zukommt, ist dies für einen Fötus in der 37. Woche nicht der Fall.

● Die pragmatische Festsetzung hat in Interessen der Gesellschaft ihren Grund. Diese können sich auch ändern.

→ Willkürliche Festlegung, die nicht in der Sache ihren Grund hat.

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- Dritte Position: Mit der Ausbildung des Hirnstamms

- Vertreter: Hans-Martin Sass

- Unterscheidung

von Hirnleben I: biologisch ist das Zellmaterial vorhanden, aus dem sich später das funktionierende Gehirn entwickelt (ab 57. Tag p.c.)

und Hirnleben II: Beginn der neuronalen Vernetzung (ab 70. Tag p.c.)

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Hirnleben I Hirnleben II

Empfängnis 57. Tag 70. Tag

- Bis zum 70. Tag - auf keinen Fall aber bis zum 57. Tag - ist keine Hirntätigkeit beim Fötus vorhanden.

- Wie nach dem Hirntod nicht mehr von Person gesprochen wird, so auch vor dem Hirnleben nicht.

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- Problematik:

● Die symmetrische Parallelisierung des Zustands nach dem Hirntod und vor dem Hirn-leben scheint unangebracht. Man muss die Entwicklungsrichtung sehen:

Nach dem Hirntod sind personale Vollzüge endgültig nicht mehr möglich, vor dem Hirnleben geht die Entwicklung auf personale Vollzüge hin.

● Hier wird nicht mit der Aktualität personaler Vollzüge argumentiert, sondern bereits nur noch mit der Potentialität personaler Vollzüge.

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- Vierte Position: Mit der Differenzierung von Embryo und Plazenta

- Solange noch keine Differenzierung von Embryo und Plazenta stattgefunden hat, kann man kein Personstatus zuschreiben.

Sonst muss man erklären, wieso aus Zellen, denen man Personstatus zugesprochen hat, Zellen entstehen, die keinen Personstatus haben.

1) Trophoblast

2) Embryoblast

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- Einwände:

● Dass man dem Embryo Personstatus zuschreibt, bedeutet nicht, dass jeder einzelnen Zelle dieser Personstatus zukommt.

● Plazenta ließe sich als vorübergehendes Organ des Fötus verstehen.

1) Trophoblast

2) Embryoblast

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- Fünfte Position: Wenn Zwillingsbildung nicht mehr möglich ist

- Argument: Solange noch zwei oder mehrere Individuen aus dem Embryo hervorgehen können, kann man noch nicht von einem menschlichen Individuum sprechen und deshalb auch keinen Personstatus zuschreiben.

- Es ist vielmehr vom „Prä-Embryo“ zu sprechen.

- Vertreter (z.B.): N. M. Ford, Th. A: Shannon, A. B. Wolter, J. Gründel, Franz Böckle, Karl-Heinz Peschke

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- Einwand:

Die Zwillingsbildung spricht nicht gegen die Individualität des Embryos.

Vielmehr ist die Teilung die Weise, wie sich Lebewesen in diesem Stadium vermehren können. Aus einem Individuum geht ein weiteres hervor.

Page 59: Wintersemester 2006/07 Spezielle Moraltheologie I Leben in Menschenhand Ethische Fragen der Medizin und Biotechnologie

- Sechste Position: Ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung

- Zuschreibung des Personstatus vom frühest-möglichen Zeitpunkt an:

Verschmelzung der beiden Zellkerne zu einem neuen Genom.

- Kirchliche Texte:

● Gott ist ein Freund des Lebens“ (VI,1)

● Enzyklika „Evangelium vitae“, Nr. 60

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- Kirchliche Position:

Der Embryo entwickelt sich nicht erst zum Menschen und zur Person, sondern von Anfang an bereits als Mensch und als Person.

- Begründung durch den Hinweis auf

● die Potentialität des Embryos zu personalen Vollzügen,

● seine von Anfang an gegebene Individualität,

● die Kontinuität seiner Entwicklung.

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- Das erste Argument: Potentialität

Auch wenn der Embryo nicht aktuell personale Vollzü-ge zeigt, besitzt er doch bereits die Potentialität dazu.

- Erstes Gegenargument (z.B. Peter Singer) :

Prinz Charles ist zwar potentieller König von England, besitzt aber noch nicht die Rechte des Königs von England.

- Dagegen:

Unterscheidung von aktiver und passiver Potentialität

nur der Möglichkeit nach und schon der Möglichkeit nach (Aristoteles, Metaph., IX)

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wirkliches

Seiendes

schon der Möglichkeit nach

mögliches

nur der Möglichkeit nach

Aktive Potentialität: Etwas hat den Grund seiner Entfaltung in sich selbst

Passive Potentialität: Der Grund der Entfaltung kommt von außen

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- Zweites Gegenargument (z.B. Christian Kummer):

Die befruchtete Eizelle enthält noch nicht die volle Potentialität zur Entfaltung zum Menschen. Es müssen noch Informationen des mütterlichen Organismus hinzukommen.

- Dagegen:

Ist biologisch nicht so eindeutig zu sagen. Gegenbeispiel: Embryoidkörper.

Weitere Informationen, die den räumlichen Aufbau des Embryos steuern, werden nicht einseitig vom mütterlichen Organismus hinzugefügt, sondern kommen in einem „embryo-maternalen“ Dialog hinzu.

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- Drittes Gegenargument (z.B.: Chr. Kummer, Trutz Rendtorff) :

Die für die Stammzellentnahme hergestellten Embryonen werden gar nicht mit dem Entwicklungsziel eines menschlichen Individuums hergestellt.

- Dagegen:

Die psychologische Absicht kann nicht über den Status des erzeugten Lebewesens bestimmen.

Welchen entsprechenden Grund gibt es dafür, die aktive Potentialität zur Entfaltung eines Menschen nicht zur Auswirkung kommen zu lassen.

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- Das zweite Argument: Individualität

Von der Kernverschmelzung an kann man bereits von einem Individuum sprechen.

- Erster Einwand (Richard Hare):

Wenn die Eizelle nach der Kernverschmelzung aufgrund ihrer Potentialität unbedingt schutzwürdig ist, warum dann nicht auch Ei- und Samenzellen vor ihrer Vereinigung? Auch sie enthalten bereits die gleiche Potentialität.

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- Dagegen:

Erst mit der Kernverschmelzung liegt das neue Genom vor, das die Individualität des neuen Menschen wesentlich prägt.

„Befruchtung“ ist ein Vorgang, der von der Imprägnierung (Eindringen des Spermiums in die Eizelle) bis zur Kernverschmelzung ca. 24 Stunden dauert. Erst mit der Kernverschmelzung liegt das neue Genom irreversibel fest.

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- Zweiter Einwand:

Individualität ist erst nach der Differenzierung von Embryo und Plazenta bzw. nach Ausschluss der Möglichkeit zur Zwillingsbildung gegeben.

- Dagegen:

Es geht weder um einen biologischen Essentialismus noch um Singularität.

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- Dritter Einwand (Reinhard Merkel):

- Im Achtzellstadium kann man eine der Zellen aus der Eihülle entnehmen und anschließend wieder einfügen.

Diese Handlung müsste 1. als Klonen und 2. als Tötung eines Embryos bestraft werden.

- Dagegen:

● Warum ist das absurd?

● Ist das nicht ein biologischer Essentialismus?

● Welchen Grund gibt es, so etwas zu tun?

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- Das dritte Argument: Kontinuität

- Es gibt keine Entwicklungssprüngen oder für den Personstatus relevanten Entwicklungseinschnitten.

- Historisches:

Aristoteles und Thomas von Aquin: Gedanke der Sukzessivbeseelung.

Dagegen: Albert der Große (Simultanbeseelung).

Sukzessivbeseelung wurde erst 1679 von Innozenz XI endgültig aufgegeben.

Erst 1869 verbannte Pius IX. diese Unterscheidung auch aus dem Bereich kirchlicher Rechtsprechung.

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- Gegen die aristotelische Lehre richtet sich auch der sog. Präformismus.

- Dagegen:

Entdeckung der weiblichen Keimzelle 1827 durch Karl Ernst von Baer.

- Anschließend verbreitete sich der sog. Epigenismus (vertreten z.B. von Ernst Haeckel, 1834-1919).

Endgültig widerlegt durch die Erkenntnisse der Genforschung.

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- Weitere Einwände:

- Auch bei kontinuierlicher quantitativer Entwicklung kann es qualitative Sprünge geben.

Aber: Warum sollte dies auch vom Personstatus gelten?

- Parallelität von Embryonalentwicklung und zunehmender Werthaftigkeit.

Aber: Dies ist lediglich eine Intuition und kein Argument.

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- Grundsätzlicher Einwand (gegen die theologische Sicht):

Auch natürlicherweise nistet sich die Mehrzahl der befruchteten Eizellen nicht ein.

Wenn Gott das zulässt, kann der Wert von frühen Embryonen nicht unbedingt sein.

Aber:

Dies ist ein naturalistischer Fehlschluss. Sonst könnte man aus Naturkatastrophen schließen, dass das so sein soll.

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- Fazit:

- Die Diskussion um den moralischen Status des Embryos hat sich festgefahren. Um weiterzukommen ist auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Argumentation zu achten.

● Die Vertreter der Position „Von Anfang an“ verstehen die PIK-Argumente als Zusammenhang, die Gegner separieren sie und widerlegen sie getrennt.

● Die Vertreter der Position „Von Anfang an“ sehen den Embryo in einem Entwicklungsprozess, die Gegner achten nur auf den momentanen Entwicklungsstand.

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- Die Frage nach dem moralischen Status des Embryos ist keine Frage des logisches Beweises, sondern eine Frage der Deutung und des Verstehens

(nicht der Analytik, sondern der Hermeneutik)

- Ob man einen Achtzeller als Zellhaufen oder als Mensch im Werden bezeichnet, lässt sich nicht aus den biologischen Fakten ableiten, sondern ist eine Frage der Deutung,

wohl unter Bezugnahme auf die biologischen Fakten, aber nicht von ihnen erzwungen.

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1.3.3 Dritte Diskursebene: Das unterschiedliche Vorverständnis der Wirklichkeit

- Unterscheidung von zwei Zugangsweisen zur Wirklichkeit des Embryos

1) empirisch-beobachtend (Reden über ...)

2) kommunikativ-teilnehmend (Reden mit ...)

- In der beobachtenden Perspektive ist der Embryo ein Achtzeller, in der teilnehmenden Perspektive kann er antizipatorisch als personales Gegenüber wahrgenom-men werden.

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Empiristischer und relationaler Personbegriff

Empiristischer Personbegriff:

- Liegt der Aktualitätsthese (Singer / Hoerster) zugrunde.

- Herkunft: John Locke

Locke versteht Person nicht mehr substanzhaft, sondern als ich-hafte Subjektivität. Die Identität der Person ist erst Resultat des Selbstbewusstseins und der Erinnerung.

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- Problem:

Personale Identität ist von der Kontinuität des Selbstbewusstseins und der Erinnerung abhängig.

Was ist mit Menschen im Koma oder im Schlaf?

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Relationaler Personbegriff:

- Personsein ist wesentlich als Bezug verstanden. Die Person ist nicht erst mit sich identisch und tritt dann in Beziehung zu anderen, sondern gewinnt sich überhaupt erst aus diesem Bezug.

Also nicht:

Sondern:Person

Person

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- Grundlegend für dieses Personverständnis ist der Personbegriff der Christologie und Trinitätslehre.

Unterscheidung von Person und Natur: Person ist nicht ein konkretes Exemplar der Natur, sondern der einmalige und unvertretbare Träger der Natur.

Die Person verwirklicht sich zwar in der Natur, aber kann sich zugleich vollständig zu ihr verhalten. Sie ist Selbstbesitz und Selbstbestimmung.

Die Person gewinnt sich selbst vollständig im Bezug zum anderen: Der Sohn ist Sohn ganz aus dem Bezug auf den Vater, und der Vater ist Vater ganz aus dem Bezug auf den Sohn.

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- Für die menschliche Person bedeutet das:

Sie ist nicht bloß eine konkrete Ausprägung der Natur des Menschen.

Sie besteht nicht einfach in sich, sondern gewinnt sich vom anderen her.

Vater Sohn

Hl. Geist

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- Zu Grunde liegende Perspektive:

Dem empiristischen Personbegriff liegt die Beobachterperspektive zu Grunde,

dem relationalen Personbegriff die Teilnehmerperspektive.

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- Neutralisierung oder Personalisierung des Embryos

Die Unterscheidung der beiden Sichtweisen und der unterschiedlichen Aussagen über den Embryo ist solange unproblematisch, wie nicht eine von beiden absolut gesetzt wird.

Wenn die beobachtende Perspektive zur allein neutralen und ideologiefreien Sichtweise erklärt wird, ist wissenschaftstheoretisch Skepsis angebracht.

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Die Beobachtung des Embryos nimmt ihn aus dem unmittelbaren Erfahrungskontext heraus.

Wird dennoch diese Sichtweise für die einzig neutrale erklärt, wird der Embryo nicht neutral betrachtet, sondern neutralisiert.

Normalerweise bleibt in der Medizin der notwendige beobachtende Zugang zum Menschen in den fundamentaleren Zusammenhang der teilnehmenden Beziehung eingebunden.

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- Gründe für die personalisierende Sichtweise

Erster Grund:

Wird die neutralisierende Sichtweise als maßgeblich akzeptiert, gibt es keinen prinzipiellen Grund, der eine Ausweitung der Neutralisierung des Menschen verbieten könnte.

Zweiter Grund:

Personalisierende Sicht ist Ausdruck einer Solidarität mit allen Menschen, auch mit denen, die ihre Rechte selbst noch nicht – oder auch nicht mehr – zur Geltung bringen können.

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Diese Solidarität erfährt durch den christlichen Glauben und die Gewissheit der unbedingten Zuwendung Gottes eine motivierende Vertiefung.

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1.4 Weitere Fragen zur Stammzellforschung

1.4.1 Mögliche nicht gewollte Folgen der Embryonen-forschung

- Wenn man jetzt Forschung mit embryonalen Stammzellen zulässt und sich später das Verfahren des therapeutischen Klonens als die erfolgreichste Therapiemethode herausstellt,

wie will man gegen den gesellschaftlichen Druck verhindern, dass dieses Verfahren dann auch eingeführt wird?

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1.4.2 Was bedeutet die fehlende jüdisch-christliche Tradition?

- Es gibt nicht die jüdisch-christliche Tradition.

Im orthodoxen Judentum gilt der Lebensschutz ab der Geburt,

im Mittelalter gibt es die Vorstellung der Sukzessivbeseelung.

- Wird Offenbarung als „Selbstmitteilung Gottes“ verstanden, ist Entfaltung ethischer Implikationen des Glaubens im Verlauf der Geschichte aufgrund jeweiliger Herausforderungen denkbar.

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1.5 Zusammenfassende Thesen zu den drei Ebenen des Diskurses um die Embryonenforschung

1. These:

In der politischen und ethischen Diskussion wird meist versucht, Stammzellforschung mit dem Argument der Güterabwägung zu legitimieren. In einer solchen Abwägung wird freilich immer schon ein Urteil über den moralischen Status des Embryos vorausgesetzt.

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1.5 Zusammenfassende Thesen zu den drei Ebenen des Diskurses um die Embryonenforschung

2. These:

Die Diskussion über den moralischen Status des Embryos hat sich im Austausch logischer Argumente festgefahren. Diese Situation macht deutlich, dass es letztlich um eine Frage der Deutung biologischer Fakten und damit um eine Frage des Wirklichkeitsverständnisses und der Sinngebung geht.

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1.5 Zusammenfassende Thesen zu den drei Ebenen des Diskurses um die Embryonenforschung

3. These:

Auch die anscheinend objektive und neutrale beobachtende Sicht der Biomedizin enthält – gewollt oder ungewollt – ein bestimmtes, von ihr selbst nicht mehr begründbares, reduziertes und abstraktes Wirklichkeitsverständnis. Sie neutralisiert und vergegenständlicht den Embryo restlos.